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Zweites Capitel.

 

Wer nicht seine Gedanken in die Ferne trägt,
hat den Gram in der Nähe.

Khung-Fu-Dsii.

 

Gylluspa's Reize umschloß ein kleines Zimmer, das durch mehrere Vorhänge von dem Lager ihrer Väter geschieden war. Wir können jetzt zum erstenmale einem Wesen unsre ungetheilte Aufmerksamkeit schenken, dem wir im Verlauf dieser Erzählung noch oft, und zwar immer im Vorgrunde begegnen werden. Könnten wir eine schönere Stunde, als die der Nacht dazu wählen, um die seltene Schönheit dieses Zöglings der asiatischen Alpen, ihre Gefühle, ihre Träume und ihre Hoffnungen zu belauschen?

Tibet ist das Land der Weiber-Emancipation. Hat der berühmte Orientalist St. Martin die Religion dieses Volkes als eine überraschende Annäherung des Katholizismus empfohlen, so wundert es mich, daß die St. Simonisten diesen Staat noch nicht citirt haben, um einige ihrer, die Weiber betreffenden Lehren zu erläutern. In Tibet hört die Bevormundung auf, die die Männer fast überall über die Frauen ausüben. Die prüde Sittenrichterei über den Wandel einer Unverehelichten ist hier unbekannt; man gewährt sich unter einander die Freiheiten, die man sich selbst nimmt, und verlangt von dem Weibe erst dann Enthaltsamkeit und Beschränkung, wenn sie in eine Familie als Gattin eingeführt ist, – eine Ceremonie, die übrigens in den einfachsten, factischen Formalitäten, ohne alle Herbeiziehung priesterlicher Symbolik, besteht. Das abenteuerliche Institut der Vielmännerei kömmt allen Verirrungen entgegen, macht sie nicht nur unschädlich, sondern benimmt auch den ehelichen Verbrechen jeden Reiz, der in dem Verbote immer liegen wird. Allerdings sinkt dadurch die Liebe auf die niedere Stufe der Alltäglichkeit herab; aber erwägt man auf der einen Seite, daß einem Priesterstaate nichts willkommener seyn kann, als die Erstickung der Leidenschaften, die eine Übertretung des gesetzlichen Cölibats herbeiführen, und auf der andern Seite, daß die Liebe an der Hand einer unerklärlichen Macht, der gegenseitigen Achtung und der Gewöhnung geht, und niemals ausbleiben wird, wo noch zwei Herzen in einem Freundschaftsbunde ihren Himmel sehen: so läßt sich nicht zweifeln, daß auch in Tibet der süße Quälgeist der Herzen seine Wunden schlägt, seine Siege und Triumphe feiert. Sollten die Frauen denn aufhören, warm und zärtlich zu lieben, wenn ihnen die Wahl unter den Männern erleichtert wird? Sollten sie gegen die Treue gleichgültig werden, wenn sich an die Untreue keine Strafen, nicht einmal die Verachtung mehr knüpfen?

Gylluspa war in der ganzen Freiheit und Unabhängigkeit einer National-Tibetanerin erzogen worden. Der frühe Tod ihrer Mutter gab ihr die Zügel ihres eigenen Wollens und Wünschens in die Hand; und doch konnte sie zum Muster dienen, daß die Freiheit nicht immer mit dem Mißbrauch derselben verbunden ist. Die Liebe und Sorgfalt, mit der sich während der ganzen Zeit ihres jungen Lebens vier Väter befleißigten, sie zu zu überschütten, gewöhnte sie früh daran, alle Dinge mit einem eigenen Gefühl von Hingebung und Zärtlichkeit zu betrachten. Die Eindrücke, die sie selbst empfangen, war sie auch nur im Stande, Andern wiederzugeben. Sie gewöhnte sich bald an alle die Tugenden, die sonst nur im Gefolge einer berechnenden Ueberlegung oder einer ernsten Erfahrung einzutreten pflegen. Zu diesen Vorzügen des Charakters gesellten sich die Vollkommenheiten einer ausgezeichneten Erziehung. Wer hätte in ganz Klein-Tibet so kunstvolle Charaktere auf Seidenpapier zeichnen können, als des Götzenfabricanten Hali-Jongs geistreiche Tochter? In feine Baumrinde verstand Gylluspa mit einem silbernen Stifte die artigsten Gemälde von Vögeln, Blumen, Göttern zu ritzen; sie malte mit einem dreihärigen Pinsel auf geglättetes Holz, und hatte viele Bilder, die in den fernsten Gegenden wie vom Himmel gefallen angebetet wurden, mit ihrer seltenen Kunstfertigkeit geziert. Was soll ich von dem Scharfsinne ihres Geistes, von der Feinheit ihrer Rede sagen? Sie wußte die Sagen der Götter schon in ihrem zehnten Jahre zu erzählen, in ihrem zwölften zu besingen, und in ihrem vierzehnten war sie Meister in der Fertigkeit, die alten Dichtungen eben so geläufig von hinten herzusagen, als sie es schon vor vier Jahren von vorne konnte. Auch die Gabe der Verse fehlte diesem seltenen Kranze von Tugenden nicht. Sie wußte mit dem Sloka, den die tibetanische Poesie aus Hindostan adoptirt hatte, so vortrefflich umzuspringen, als nur je Valmiki oder der bayerische Lieutenant Graf Platen. Ihre Bilder ließen an Präcision nichts zu wünschen übrig. Den Muth verglich sie mit einem großen wilden Hunde, die Nachgiebigkeit mit der biegsamen Pflanze Pia, den Anlauf des Kampfes mit der Angst der Geburtswehen, und die Stärke mit dem Felsen Fatausatau. Wann das Laub von den Aesten fiel, und das große Herbstfest Mullaum eintrat, dann sang man in Paro nach den althergebrachten heiligen Weiheliedern stets die Dichtungen, die aus Gylluspa's kunstreicher Rohrfeder geflossen waren. Nie ist der Kampf des Durga mit Sumne Sum, dem Haupte der Racusses, schöner beschrieben worden, als von ihr.

Was ist aber alles dieß gegen den Zauber ihrer äußern Erscheinung? Wenn die Jünglinge aus der Hauptstadt Tassissudon kamen und die Männer von Paro beneideten, daß sie in dem ewigen Anschauen einer solchen Schönheit leben konnten? Gylluspa besaß alle die Körperreize, die für den Mittel-Asiaten so unwiderstehlich sind. Das dunkle schwarze Haar in zwei mächtige Zöpfe geflochten, die tief herabhängend am untern Ende mit Korallenschmuck, Türkissen, Seemuscheln geziert sind. Oben verband sie ein scharlachrothes Tuch, das geschmackvoll auf dem schönen Kopfe befestigt war. Für die Augen einer Tibetanerin fehlt es den Europäern vielleicht an Empfänglichkeit, aber die künstliche Richtung, die ihnen früh nach dem Ohre zu gegeben wird, macht auf den Eingebornen einen um so stärkern Eindruck, je kürzer die Entfernung zwischen dem Augenwinkel und der Ohrtrommel ist. Vielleicht liegt in dieser Annäherung die symbolische Lehre, daß namentlich die Frauen auf nichts hören sollen, was sie nicht auch zu gleicher Zeit mit ihren Augen wahrnehmen.

In allem Uebrigen entsprach Gylluspa den Anforderungen, die der verwöhnteste Europäer an eine Grazie nur machen darf. Regelmäßig gezeichnete starke Augenbrauen, lange Wimpern über den Sternen, blendende Zähne, ein schlanker, unmerklich mit dem Nacken sich verschmelzender Hals, ein hoher Wuchs, und ein Fuß, der sich von der in Tibet einreißenden chinesischen Mode des mumienartigen Verkümmerns desselben gänzlich frei erhalten hatte. Würde man das Bild der jetzt auf einem Löwenfelle hingestreckten Nymphe gezeichnet haben, so durfte der Künstler hinter den Vorhängen die versteckten Amoretten nicht vergessen, die sich an dem Anblick dieser Formen, an dem leisen, schwellenden Athmen des hingegossenen Körpers lüstern und wonnetrunken weideten.

Ungeachtet Gylluspa nach der beschwerlichen Reise und dem ungewohnten Ritte der Ruhe bedürftig war, so umschlangen sie doch die Arme des Traumgottes nicht so fest, daß sie hätte einschlafen können. Gaukelnde Bilder zogen an ihrer Seele vorüber, und verscheuchten die Genien, die sich auf ihren Augenliedern ruhen wollten. Die Erscheinung der Sunneassers und der Tanz des jungen Schamanen hatten den lebhaftesten Eindruck auf sie gemacht, und in ihr Erinnerungen geweckt, an die sich eine lange Kette von Klagen und Seufzern schloß. Sie richtete sich von ihrer Decke auf, und das Haupt in ihre Hand legend sann sie den Zufällen nach, die ihr junges Leben betroffen und die schönsten Hoffnungen desselben zerstört hatten. Dieser Tänzer ließ sie wieder einen Augenblick in das Paradies blicken, das sie auf ewig für sich geschlossen glaubte; sein leidenschaftliches Auge, seine kräftige Gestalt, die finstere Stirn, das Meisterstück seiner bewunderten Kunst erinnerten sie lebhaft an frühere verschwundene Tage, wo sie den Schaman in der Nähe eines ihr Theuren und nach seinem Verlust Unersetzlichen gesehen hatte. War es der nicht, den sie glaubte, so ließ sich jetzt die Geschichte der Vergangenheit, die in der stillen Einsamkeit der Nacht an ihr vorüberzog, nicht mehr dämmen, sondern eine Erinnerung erzeugte die andere; immer neue Hüllen sprangen ab, und zeigten neue, die sich wieder zu andern Betrachtungen lösten, und zuletzt ein schwaches, verwundetes, gepeinigtes Herz zurückließen.

Ein dämmernder, halbwacher Traum legte sich endlich auf Gylluspa's brennende Augen, aus dem sie zuweilen durch die tiefen Seufzer ihres Vaters, die aus dem dritten Zimmer bis zu ihr drangen, geweckt wurde. Sie träumte von den Tagen ihrer ersten Jugend, die sie auf dem hohen Schlosse von Dukka Jeung mehr verlebt hatte, als in den geräuschvollen Werkstätten Hali-Jongs. Sie träumte von den kindischen Spielen, die sie mit Maha Guru und seinen Brüdern getrieben, von den tausend Belustigungen, die sie als Kinder entzückten, und erst dann aufhörten, als Maha Guru nicht mehr in die Lieder einstimmen konnte, weil seine Stimme männlicher wurde, und in der Uebergangsperiode nur rauhe, unmelodische Töne von sich gab. Ihr Herz pochte stärker, als sie der einsamen Wanderungen in den Eichen- und Buchen-Wäldern um Dukka Jeung gedachte, und der trauten Gespräche, der Ahnungen einer künftigen heißen Leidenschaft; wie Maha Guru's zweiter Bruder sie oft überraschte, wenn das zärtliche Paar sich an einen einsamen Ort begeben hatte, um sich von den Göttern, von den Thieren, den Pflanzen, Steinen, von den Theilen des menschlichen Körpers, von der Seele, von den Gefühlen des Herzens zu unterhalten. Wohin war jetzt Maha Guru, der geliebte Lehrmeister, gerathen? wohin seine Brüder? Sollte sich Gylluspa nicht getäuscht haben, wenn sie in dem jungen Schamanen eine Aehnlichkeit mit dem ältern Bruder finden wollte?

Diese Fragen konnte sie sich nur wachend aufwerfen, denn Hali-Jong hatte einen so unruhigen Schlaf, daß er sich im Traume wälzte und streckte, und zuweilen laut sprach. Ihre Phantasie führte ihr dann neue, und doch immer wieder die alten Bilder vor. Sie träumte sich in der großen Götzenhalle von Dukka Jeung, wie sie mit Maha Guru vor das Bild des Dewta Tschugtschu die heilige Lotospflanze stellte, die er im Teiche gebrochen; wie sie sich niederwarf, wie es ihr dann däuchte, als sey Maha Guru an die Stelle des Dewta Tschugtschu getreten, und werde von ihr an seinen glänzenden Füßen mit andächtigster, liebeseliger Hingebung geküßt. Es rauschte der Vorhang, der vor dem Fenster hing und der Halle ihr geheimnißvolles Dunkel gab; sie wandte sich im Traume um, und erblickte den Schamanen, wie er das Gewebe zurückbog und durch die Oeffnung stieg, um den Götzen umzustürzen; da rief Hali-Jong seufzend: »um zwei Linien verfehlter Proportion den Feuertod!« Sie erwachte. Sie hatte mit offenem Auge geträumt; denn bis auf Maha Guru, den Götzen Tschugtschu und die Lotospflanze hatte ihr die Phantasie nur Wirkliches gezeigt. In der That, an dem Vorhange des Fensters zeigte sich das dunkle Antlitz des Schamanen.

Ein Mädchen, im Schlafe von einem Manne überrascht, wird immer zusammenschrecken, sie mag am Orinoko, an der Spree, an der Hudsonsbai oder auf den Voralpen des Himalaya geboren seyn. Aber das Indecente eines solchen Besuchs kann man nur in Tibet so rasch vergessen. Der Fremde blieb auch dieß nicht länger für Gylluspa. Als er ihr zugerufen hatte: »fürchte dich nicht, du Taube von Paro!« und der Mond seine Strahlen auf das blasse, ernste Antlitz des Besuchers fallen ließ, da erkannte sie die Wahrheit ihrer Vermuthungen, folgte ungesäumt der Aufforderung des Schamanen, in die Mondnacht hinauszusteigen, und sprang, freudig über dieß unverhoffte Wiederfinden, von ihrem Löwenfelle auf. Einen langen persischen Shawl um ihre schönen Glieder werfend, stieg sie mit Hülfe ihres Begleiters die Leiter herab.

Der Schaman hatte seine abenteuerliche Tracht abgelegt, und sich in einen weiten dunkelrothen Mantel gehüllt. Wie ernst auch seine Züge blieben, so war die Freude des Wiedersehens doch in ihnen unverkennbar. Er schloß Gylluspa zärtlich in seine Arme, und hörte lange nicht, daß sie ihn schon mit tausend Fragen bestürmt hatte, die auf nichts zurückkamen, als auf Maha Guru. Der Bruder wich diesen Fragen aus, vertröstete sie auf baldigen Bescheid, und sagte: »Soll ich von Hoffnungen früher sprechen, meine Gylluspa, als von dem Wesen, das sie noch hegen kann? Was erwartest du in Lassa? Was wird dein Vater zu seiner Vertheidigung thun können?«

Gylluspa blickte den Schamanen betroffen an. »Du zweifelst an dem glücklichen Erfolge dieser Reise?« sagte sie. »Du warst in Lassa, man kann das Verbrechen meines Vaters nicht größer machen, als es ist, und die Strafe nur im Verhältniß zur Geringfügigkeit seiner Schuld verhängen.«

»Du hältst deine Wünsche für die gewissesten Erfolge,« war die wenig beruhigende Antwort.

»Die Feinde deines Vaters werden mächtig seyn, wenn wenn seine Freunde ihn auf einen Moment aus dem Auge verlieren.«

»Was Feinde? Was Freunde?« entgegnete ungläubig Gylluspa; »es ist der Vorwurf seines Verbrechens selbst, der ihn schützen muß. Die erleuchtete Weisheit der Hohenpriester von Lassa wird den Knaben nicht verdammen, wenn ihm sein Ball in einer andern Richtung fliegt, als die er beabsichtigte.«

»Diese Weisheit, meine kluge Freundin, ist dem Knaben um so gefährlicher, je erleuchteter sie ist.« Doch setzte der Zweifler hinzu: »Ich will deine Besorgnisse nicht vermehren, weil in Einem Falle nichts zu fürchten ist. Denn so lange der Regent, der die Stelle des Lama bis zu seinem Wiedererscheinen im Fleische vertritt, noch unter den Lebenden ist, läßt sich nur eine billige Gerechtigkeit erwarten. Diesen Fall wird das gütige Schicksal binnen einem Monate noch nicht aufheben. Und kömmt er wieder, der Herr der Welten, und würdigt die Völker, ihre Gestalt anzunehmen –«

Der Schaman beendigte diesen Perioden nicht, sondern beschloß ihn mit einem leisen, fast spöttischen Lächeln. Gylluspa konnte darin nur eine Beruhigung finden; denn mußte sie nicht schließen, daß Niemand die bösen Gedanken von den unschuldigen besser zu trennen wüßte, als der Gott, welcher den Schlüssel zu allen Herzen hat? Sie ging einen Augenblick schweigend neben ihrem Begleiter, um die Frage nach dem Schicksale seines Bruders nicht zu rasch an das ihres Vaters zu reihen; aber dieser erleichterte ihr den Uebergang. Sie standen hinter den Gärten des Dorfs, die von blühenden Himbeerhecken eingefriedigt waren, und einen würzigen Duft in die stille, nächtliche Gegend, die in diesem Thale, und unter der Beleuchtung des Monds, den wilden, schroffen Charakter gänzlich verloren hatte, ausgossen.

Der Schaman zog Gylluspa an seine Brust, küßte die nicht Widerstrebende, und begann sein Loos zu beklagen, das ihn und die Brüder von Dukka Jeung entfernt, und in eine von der alten Einsamkeit so verschiedene Laufbahn geworfen hatte. »Dennoch, Gylluspa,« fuhr er fort, »haben wir dich nie aus den Augen verloren. Ich war oft in deiner Nähe und belauschte dich in den Beschäftigungen, die an die Stelle unserer frühern Spiele getreten waren. Ich suchte die Oerter auf, die alle durch deine Fußtapfen geheiligt waren, und brachte Kräuter, Gräser, Blumen zu den Brüdern zurück, die, wenn sie welk waren, von Maha Guru's Thränen wieder erfrischt wurden.«

»Aber warum verbergt ihr euch? Warum verließet ihr plötzlich Dukka Jeung? Warum kehrte Maha Guru nicht wieder zurück?«

»Mein Bruder? Er kann in den irdischen Wohnungen nicht mehr wechseln, weil er sie alle verlassen hat.«

»Er ist todt?«

»Er lebt, und ist gestorben: erst dann wird er sterben, wenn er zu leben wieder anfangen wird.«

»Du sprichst in Räthseln, die ich nicht lösen kann.«

»Wer, meine Gylluspa, hat je die Windungen der Räthsel verfolgen können, die sich auf dem Simnu, dem Götterberge, angelegt haben? Maha Guru ist das Räthsel der Welt, Niemanden verständlich, als ihm. Du frägst, wo du ihn findest? Ich hab' ihn in meine Arme geschlossen, ihn mit meinen Liebkosungen bedeckt; und lagen dann Hunderte von Felsenspitzen zwischen mir und seinem Nachtlager, da ich ihn in der Frühe gesehen, so hatt' ich ihn noch immer in meiner Nähe. Die duftige Staude an der Felswand? Was ist sie? Ein süßer Hauch seines Mundes. Die sprudelnde Quelle, die sich durch die Steinritze drängt? Was trink' ich an ihr? Das Athmen seines göttlichen, seligen Lebens. Der Vogel in der Luft, der Mond am Himmel, die Tag- und Nachtgleiche, ein Stück wollenes Zeug? Was hab' ich daran? Alles, was da ist und seyn wird; ich bin der Zwillingsbruder aller Dinge. Gylluspa, deine Augen, deine Wangen, dein dunkles Haar? Sie sind nicht dein, sie sind Maha Guru's, du selbst bist sein Ebenbild, das ich anbetete. Der Bruder sinkt vor dem Bruder in den Staub. O großer König, gib mir deine Liebe!«

Gylluspa erschrack vor dieser wahnsinnigen Irrrede, und wehrte den Schaman ab, der vor ihr niedergefallen war, und den äußersten Saum ihres Shawls berührte, als gält' es den Pantoffel des Papstes zu küssen. Sie flehte und beschwor ihn, seine Besinnung zu sammeln, und seines enthusiastischen Irrthums mächtig zu werden. Der Niedergesunkene erhob sich, seine Feierlichkeit war verschwunden, und er sagte: »Freundin, das ist das Räthsel Maha-Guru's, das du selbst für unauflöslich erkennen wirst. Ziehe in Frieden mit deinen Vätern gen Lassa! Sind Hali-Jongs Götzenbilder auch in der Form, die er ihnen eigenmächtig gegeben hat, göttlicher Kraft und Gewalt, so werden sie den Meister, der sie geschaffen hat, in ihren Schutz nehmen, und sich damit selbst den Stempel ihres göttlichen, unantastbaren Rechtes aufdrücken. Sey unbekümmert um die Zukunft deines Vaters und um die deinige, selbst dann, wenn die Priesterschaft für ihren Wahnsinn ein Opfer haben will! Maha Guru? Du wirst ihn wieder finden. Die Strahlen einer großen Sonne werden in Lassa dein Auge blenden.«

Gylluspa weinte, denn sie war unfähig, aus allen diesen verworrenen Aeußerungen, hinter denen eine unläugbare Wahrheit verborgen liegen mußte, einen Schluß zu ziehen, der ihr verständlich gewesen wäre. Ihr Scharfblick, der sich in so vielen Fällen bewährt, und ihr den Ruf einer Turandot verschafft hatte, scheiterte an der Rede und dem seltsamen Benehmen des Schamanen. Dieser geleitete sie wieder zur Leiter, die in ihre Kammer führte, zurück, brach eine Lilie, die am Wege stand, und verließ sie mit den Worten: »Ich habe nur einen Staubfaden aus dem Kelche dieser Blume gerissen. Befeuchte sie mit dem frischesten Thau, und dennoch wird sie morgen todt und welk in deiner Hand liegen.«

In dieser Art von Räthseln war Gylluspa erfahrner, sie beschloß darüber nachzudenken, während schon der festeste Schlaf ihrer Erschöpfung zu Hülfe kam. Der Schaman kehrte unter die steif aufgepflanzte, schnarchende Horde der Sunneassers zurück; er allein durfte sich zu Boden legen, weil er weder Geistlicher, noch Büßender war.

Endlich brach der Morgen an, von dem Hali-Jong wohl wußte, daß mit ihm der jüngste Tag seiner Freiheit gekommen war. Mit dem Abend dieses Tages zog man in Lassa ein, und über Nacht schon konnte das peinliche Verfahren der tibetanischen Inquisition seinen Anfang nehmen. Er ließ Alles um sich geschehen. Sonst gewohnt, nichts unbeachtet zu lassen, jeden Sattelgurt zu prüfen, an jeder Arbeits-Verrichtung seiner Diener etwas zu tadeln, hier etwas höher, dort etwas tiefer geschnallt, hier etwas offen, dort etwas bedeckt zu wünschen, sah er heute in die Welt, die ihn verrathen hatte, mit gläsernen matten Augen hinein. Er bemerkte Alles und bemerkte Nichts. Er ließ minutenlang sein Auge auf Gylluspa ruhen, und hätte mit derselben Zärtlichkeit den Schweif seines Pferdes ansehen können; denn er unterschied nichts mehr. Die Dinge hatten ihre Umrisse, die Umrisse ihre Farben verloren; er war von einem grauen Nebel umhüllt, und sank in seine eigne Ohnmacht hin. Die Brüder mußten ihn auf den Sattel setzen, die Reitgerte in seine Hand legen, und ihm sogar ihren Mund leihen, um dem Pferde das Zeichen des Abmarsches zu geben.

Die Polizei ist nicht immer die nothwendige Folge des Despotismus. Wo die Völker für Fesseln, die sie tragen, kein Gefühl und keinen Zorn haben, da bedarf es keiner Zwangsmittel, keiner Trabanten, die den Leib des Herrschers und den Geist seiner Gesetze bewachen. In Europa lodert die Freiheitslust am hellsten, und wir besitzen die organisirteste Polizei: die türkische steht schon auf einer niedrern Stufe, weil sie weniger zu thun hat: die tibetanische –? Diese existirt gar nicht, obschon der Despotismus der dortigen Hierarchie für uns unerträglich wäre. Wir sehen einen Verbrecher in ruhiger Ergebung und Erwartung einer Leibes- und Lebens-Strafe nach dem Orte seiner Verurtheilung hinpilgern, ohne vorgeschriebene Reiseroute, ohne Ablieferung an die Behörden, ohne Commissäre, ohne Gendarmen und requirirte Bauerwagen. Der Gedanke einer Flucht kann in einem tibetanischen Verbrecherkopfe nie entstehen, weil die Hand Gottes, der Priesterschaft, überall ist, weil Dalai Lama über dreißig Millionen Königreiche der Erde herrscht, und weil die Geographie in diesem Lande eine noch unbekannte Wissenschaft ist. Man hat gesagt: verbreitet die Aufklärung, und die Gerechtigkeit wird leichter verwaltet werden. Jetzt lernen wir, daß nichts so sehr zur Vereinfachung der Polizeipflege dient, als die Beschränkung des Unterrichts. Wer von einem Hamburg und dem Dampfboote nichts weiß, wird keine Extrapost nehmen, um sich dahin mit untergeschlagenen Geldern aus dem Staube zu machen. Ich predige so loyale Lehren, daß ich mit Vergnügen sehe, wie sich die Polizei-Präsidenten beeilen, auf meine künftigen Schriften zu pränumeriren.

Hali-Jongs Stumpfheit rächte sich bald. Die Tanguns-Pferde mit ihrem starken Halse, kleinen Füßen und kurzem Leibe sind zu kühn, als daß sie einer schläfrigen Hand gehorchten. Sein Roß bäumte sich, warf sich auf die Seite, und lief dann mit einer Heftigkeit auf dem gefährlichen Pfade fort, daß sich jeden Augenblick ein Sturz in die Tiefe befürchten ließ. Sein Reiter verlor den Zügel, seinen spitzen Hut, seine Stellung und lag mit dem Rücken auf dem wilden Thiere, das die Zurufe und der Lärm der Nachfolgenden nur noch heftiger anspornten. Es war ein Anblick, der Lachen erregen konnte, wie der ungeschickte Reiter die erste Widerspänstigkeit zu zügeln versuchte, dann sich verloren gab, die Beine in die Luft streckte, die kläglichsten Schreie ausstieß, sich mit den Händen rückwärts am Schweif des Thieres zu halten suchte, und endlich, um seine Anstrengungen zu krönen, zur Erde fiel. Glücklicherweise geschah diese Trennung von dem wilden Pferde einen Augenblick früher, ehe es in die Tiefe stürzte und zerschmettert den Abgrund erreichte. Der bleiche, zitternde Hali-Jong blickte seine nachgeeilten Gefährten mit bewußtloser Miene an; auf der Gränze zwischen Tod und Leben befindlich, setzte ihn jede Gefahr in Zweifel, ob er dem einen noch angehöre oder dem andern schon verfallen sey. Nur die Bemühungen seiner Brüder, der Anblick des zerschmetterten Pferdes, die Zurichtung eines neuen, gaben ihm die verlorne Besinnung wieder. Er faßte dießmal die Zügel fester, und begann wieder einige Worte von sich hören zu lassen, womit er seine besorgte Familie über Alles erfreute.

»Die Ereignisse dringen auf mich ein,« sagte Hali-Jong; »ich kann mich allmählich daran gewöhnen, ihnen zu unterliegen.«

»Die Gnade der Götter muß groß seyn über dir;« entgegnete der erste Bruder.

»Dein Glück ist mächtiger als alle die Zufälle, die es bedrohen,« der zweite.

»Man konnte nicht dem Verderben näher seyn, wunderbarer nicht gerettet werden,« der dritte.

Diesen Bemerkungen ließ sich nichts entgegen stellen; denn Hali-Jong fühlte sich gesund und wohlbehalten in seiner Haut. Er fühlte auch die Beziehung, welche die Brüder ihrem Erstaunen auf die bevorstehende Katastrophe von Lassa gaben; aber hier schien es ihm Vermessenheit, den Willen des Schicksals günstig deuten zu wollen.

»Nein, meine Brüder,« sagte er; »ich bin den Göttern als ein Opfer bestimmt, das sie jetzt nur gerettet haben, um später seiner desto gewisser zu seyn. Ich trage mich nicht mehr mit schmeichelhaften Erwartungen. Mein Leben hat die göttliche Ordnung der Welt gestört, gleichviel ob die verbrecherische Proportion ein Werk meiner Blindheit, oder meiner Vermessenheit, oder meiner Unvorsichtigkeit gewesen ist; deßhalb muß ich durch meinen Tod dafür sühnen. Dieß ist ein alter Brauch, den wir nicht antasten wollen, weder mit Werken, noch mit unsern unheiligen Worten.«

Die abergläubischen Brüder wagten gegen solche Schlußfolgen nichts einzuwenden; sie vermochten sich nicht in Hali-Jongs Seele zu versetzen, der alle seine Beweisführungen nur deßhalb machte, damit man sie widerlegen sollte. Und da dieß Niemand konnte, die Brüder vielmehr dumm und verdutzt schwiegen, so fuhr der Arme fort: »Ich habe mein Haus bestellt. In meinen letztwilligen Verfügungen ist nichts enthalten, das eines frommen Lamaiten unwürdig ware. Mein Vermögen ist in zwölf Portionen getheilt, von denen ich acht für euch, meine Brüder, und für dich, Gylluspa, die Tochter eines unwürdigen Vaters zurück gelegt. Mit dem übrigen Drittel will ich mir die Gnade erkaufen, daß meine Seele nicht in die Luft verschwindet, sondern bei ihrer Wanderung erhalten wird. Ach! möchte mich der große Lama dessen würdigen, daß ich einst in einem fremden Leibe, und sey es in dem eines Hundes oder einer Katze, Ruhe finde! Alle meine Lämmerheerden opfr' ich dem Kloster in Tassissudon, sollt' es mir da nicht vergönnt werden, in die Wolle eines bis jetzt noch ungebornen Schafes zu wandern! Die Früchte meines Obstgartens bestimm' ich für den Zempi von Bukadewar, für einen heiligen Mann, dessen Bitten die Götter noch nie etwas versagt haben. Meine Kleider vererb' ich für zehn Pilgrime, die für mein Seelenheil sich im Ganges baden sollen, und für zehn andre, die neun Jahre und einen Tag auf einem Bein stehen, und kein Wort von ihren Lippen verlieren sollen. Endlich setz' ich eine Anzahl Lämmerfelle, persischer Shawls und chinesischer Seidenzeuge zu dem Zwecke aus, daß ein neues Handbuch für Ciseleurs in den Götzenmanufacturen geschrieben wird, um sie über die Distanzen einer dogmatischen Nase und eines kanonischen Mundes, kurz über ihr Seelenheil aufzuklären. Für dieß Alles verlang' ich nichts, als daß die Götter, wenn sie auf dem Simnu über meine Seele Rath halten, sie nicht zur Verflüchtigung in den endlosen Aether verdammen; (ach, ich fühle die Pein einer solchen Strafe!) sondern ihr einen seligen Uebergang in ein neues Leben verleihen möchten, und sey es in den Körper einer Maus oder in das Gehäuse einer Schnecke.« Auch den Brüdern lief es kalt über den Rücken, als Hali-Jong von der Verflüchtigung in den öden, leeren Raum sprach, und selbst Gylluspa legte flehend ihre Hände zusammen, und murmelte still ein Gebet, daß sie einst ein Vogel in der Luft seyn möchte, um vor Maha Guru's Fenster zu singen, oder eine Schwalbe, um ihm die Fliegen aus der Stube wegzufangen. Dann aber richtete sie ihr schönes Haupt auf, und sprach in Worten, die süß an das Ohr ihres Vaters klangen: »Vor allen Dingen, du Guter, bittet dich die, welche unzweifelhaft die Tochter deiner Mutter und nicht ohne Wahrscheinlichkeit auch die deinige ist, auf den Tritt deines Rosses zu sehen, und die Zügel, wenn die eine Hand müde ist, und du die andere nimmst, nicht immer zu lang zu fassen. Dann aber fordert sie dich auf, die Wolken, die sich in den Furchen deiner Stirne gelagert haben, durch einen heitern, vertrauenden Blick in die Zukunft zu verscheuchen. Hätt' ich dich zum Tode begleitet, so würdest du auf meinen Thränen nach Lassa geschwommen seyn. Aber ich folgte dir, um deinen Triumphzug zu genießen, der großen Rechtfertigung, welche dir geschehen wird, beizuwohnen. Nein, mein Vater, du stehst unter dem Schutze deiner Unschuld und einer Gerechtigkeit, welche sie anerkennen wird. Nicht auf deine Vertheidiger, sondern auf deine Richter vertraue! Die Weisheit des Regenten ist allen Ländern auf den Flügeln des Rufes bekannt, deine Sache hat, noch ehe du vor deinen Anklägern stehst, eine seltene Berühmtheit erlangt, und alle Welt sieht hin auf die Entscheidung, die eine weise Mäßigung ihr geben wird. Du hast die heiligen Schriften nicht gelesen, aber eine Ahnung ihrer Grundsätze hat mich durchdrungen. Glaubst du, daß ich es nur in meiner Demuth weiß, was sie über den Gebrauch der Gesetze lehren? Kleingläubiger Thor, der Stellvertreter des Lama führt die Wage der Gerechtigkeit; und wenn du in die eine Schale alle Beschuldigungen, die dich getroffen haben, und alle Vergehen, die ihnen einen Schein von Wahrheit geben, legst, so wird sie dennoch leichter seyn, als in der andern die Billigkeit und die Mäßigung, welche unsre alten Lehrer den Gesetzgebern zur Pflicht gemacht haben. Auf die Tugenden des Regenten baue deine Hoffnungen!«

Hali-Jong war gewohnt, die Worte seiner Gylluspa wie die Weissagungen einer Seherin zu verehren. Die Erwähnung des Regenten öffnete ihm einen ganz neuen Kreis für seine Combinationen, und um darin völlig sicher zu seyn, suchte er noch den letzten Zweifel zu zerstören: »Meine Tochter,« entgegnete er, »was ist die Mücke auf dem Ohre des Elephanten? Kann der, welcher das Auge des Weltalls vertritt, von einem Sonnenstäubchen geblendet werden? Die Gylongs von Lassa haben mich vor ihren Richterstuhl gezogen, sie werden meine Berufung auf den Regenten verwerfen.«

»Aber der Regent ist von deinem Handel unterrichtet, und es ist seinem Amte und seiner Tugend gemäß, darüber zu wachen, daß er nicht zu deinem Nachtheile geschlossen wird.«

Gylluspa's Beredsamkeit konnte Hali-Jong unmöglich widerstehen; denn die Brüder schlugen die Hände über ihren Häuptern zusammen, sich hoch verwundernd über die Worte, die aus des Mädchens Munde kamen. Der alte Neuerer und Ketzer wider Willen setzte sich in aufrechte Positur, und stachelte sein Pferd mit sichtlichem Wohlgefallen über diese neue Ansicht seines bedenklichen Verhältnisses.

Die Weiterreise ging ohne Hindernisse von Statten. Lassa liegt in der Ebene. Die Reisenden würden diesen heiligen Sitz des verkörperten Gottes schon in der Ferne gesehen haben, wenn die einbrechende Dunkelheit sie nicht daran verhindert hätte.

Unter Hali-Jongs Dienern befand sich einer, der die Gegend und Lassa selbst kannte und vor Jahren schon einmal die Seligkeit empfunden hatte, dreitausend Schritte vom Palaste des Dalai Lama die Erde mit seiner Stirn zu berühren. Dieser hatte seinem Herrn viel von dem Anblick, den die heilige Residenz in der Ferne gewähre, erzählt, daß Hali-Jong darin eine wehmüthige Vorbedeutung sah, es nicht so anzutreffen. Statt der goldnen im Sonnenscheine glänzenden Spitzen und Thürmchen, die in der Erzählung des Dieners die erste Spannung erregten, erschien unsern Reisenden nur eine finstere Nacht, in der sich nichts natürlicher zu verbergen schien, als das Verderben, der Tod. Hali-Jong war in solchen Auslegungen und Deutungen ein unübertrefflicher Meister.

»Täuschen mich meine Augen nicht« sagte einer von seinen Brüdern, »so flimmert weit über diese rabenschwarze Finsterniß ein dämmernder, beweglicher Lichtstreifen.«

»Wo? wo?« rief Hali-Jong, dem eine solche Erscheinung nur fehlte, um in seiner Symbolik günstigere Resultate zu finden; »ich sehe nichts. Das ist Alles schwarz ohne Unterschied: Schatten ohne Licht.«

»Hili-Jong hat wahr gesprochen,« bemerkte Holi-Jong; Heli-Jong sagte auch, daß Holi-Jong dem Hili-Jong ein richtiges Zeugniß gegeben hatte.

»So will ich doch erblinden,« rief Hali-Jong, der ein schwaches Auge hatte, und richtete sich dabei von seinem Sattel so in die Höhe, daß er bald übergestürzt wäre. »Ihr müßt durch weiße Gläser sehen, oder Fries an euren Augen haben. Sagt mir nur nicht, daß das kein Schwarz ist, was verderbenschwanger vor uns liegt. Gylluspa, mein Kind, Falkenauge, was siehst du?«

Gylluspa, die sich in süße Träume und in die nahen Ueberraschungen von Lassa gewiegt hatte, bestätigte jetzt die Aussage ihrer übrigen Väter, von deren Richtigkeit sich auch zuletzt Hali-Jong überzeugen mußte.

Ein Lichtmeer wogte in der Ferne über dem dunklen Raum. Der Widerschein einer Flamme konnte diese Beleuchtung nicht seyn, weil sie ungeachtet eines heftigen Zugwindes sich nicht flackernd bewegte, sondern in derselben ruhigen, weder zu- noch abnehmenden Lage und Stärke verblieb.

»Wir haben vor Kurzem erst das Frühlingsäquinoctium gefeiert,« sagte Hali-Jong, sich nachdenklich über die Stirne fahrend; »der Sommer kann nicht aus dem Kalender gestrichen seyn; aber es scheint fast, als feiere man in dem heiligen Lassa das Todtenfest früher als in Tassissudon. Wäre das nicht auch eine Neuerung?«

»Es müssen andere Ursachen zu dieser Beleuchtung seyn,« sagten die Brüder, und Gylluspa fügte hinzu: »Wir stoßen in Lassa auf ein großes Unglück; die Stadt ist in Trauer. Hört, welche Klagetöne durch die Luft dringen!«

Den Reisenden war der Weg versperrt. Heulende Banden zogen über die Straße, schlugen mit entsetzlichen Gebärden auf ihre Rücken, zerrauften das Haar, und stießen Töne aus, die mit dem schmetternden, zerreißenden Schalle ungeheurer Metallbecken in grausenerregender Disharmonie standen. Der Reisezug mußte sich dicht zusammen drängen, um von den schwärmenden Haufen nicht auseinander getrieben zu werden. Hali-Jong, der es seiner Frömmigkeit für angemessen hielt, in den Ausdruck eines gränzenlosen Schmerzes auch mit seiner Stimme einzufallen, war in der peinlichsten Verlegenheit, weil er nicht wußte, über wen er dieß tiefe Wehe anstimmen sollte. Er fragte links und rechts; aber entweder hatten die Angeredeten vor dem entsetzlichen Lärm das Gehör verloren, oder sie verstanden den butanischen Dialekt nicht, oder sie hüteten sich, einen Augenblick in ihrem Geschrei inne zu halten.

Hali-Jong sah, daß es einer ungeheuern Klage galt, er besann sich nicht länger, sammelte alle Kraft, die in seinem ausgetrockneten Körper zu finden war, füllte die Luftröhre mit allem Winde, der sich nur in ihm auftreiben ließ, und stieß diese Masse mit einer so fürchterlichen Vehemenz von sich, daß sein Roß zusammen schreckte und mit ihm einige verdächtige Sprünge machte. Es war ein Instinct, der ihn trieb, in diese unbekannte Trauer mit einzufallen, und nur die besorglichen Bewegungen seines Pferdes hielten ihn ab, noch einmal auf diese Weise seinem tiefgefühlten Schmerze Luft zu machen.

Endlich hatte sich der Haufe verzogen, und die Reisenden gingen ungehindert durch das Thor der beleuchteten Stadt. Ueberall brennende Kerzen, Pechfackeln, Lampen; eine Illumination, wie sie an dem Geburtstage deutscher Fürsten nicht glänzender seyn kann. Aber in Tibet ist die Illumination noch nie ein Ausdruck der Freude gewesen, sondern noch immer der Dolmetscher eines Schmerzes, der sich in Worten nicht hinlänglich wiedergeben ließ. Das herbstliche Todtenfest wird auf diese Weise gefeiert, daß ein Jeder zum Andenken seiner Geschiedenen Kerzen anzündet und sein Klagelied dazu anstimmt. Was war in Lassa geschehen, das seine Bewohner in solche Trauer versetzte?

Hali-Jong hatte schon längst in dieser Verwirrung die Besinnung verloren. Seine Brüder mußten wieder an seiner Statt handeln. Der in Lassa bekannte Diener führte die Reisenden an einen zur Herberge schon vorher bestimmten Ort; aber erst in dem Augenblick, als die Thiere in den Stall gezogen wurden und Hali-Jong am Arme seiner Brüder, von seinem Gastfreunde längst bewillkommnet, auf die Schwelle der neuen Wohnung getreten war, wußte er, was mit ihm geschah. Mit den Händen um sich schlagend, sprang er auf die Straße zurück, und rief wie wahnsinnig: »Ihr Elenden! wollt ihr mich zu neuen Gesetzesübertretungen verführen? Ist euer Haus nicht unrein, wenn ich es mit dem Athem meiner verbrecherischen Seele verpeste? – Mein Nachtlager ist in dem Kloster der schwarzen Gylongs, und zugleich mein Sterbelager, wozu sich Lassa schon mit einer Illumination vorbereitet.«

Bis auf den Schluß war Vernunft in dieser Rede, denn denn Hali-Jong hatte von seinen Anklägern den Bescheid erhalten, sich bei seiner Ankunft in Lassa augenblicklich in das Kloster der schwarzen Gylongs zu verfügen, und bei Todesstrafe keine andere Herberge zu wählen. Die Brüder erinnerten sich dieses Bescheids, und Gylluspa, die über Nacht in keinem Mönchskloster bleiben durfte, weinte, daß sie den Vater verlassen mußte. Sie schlossen alle einen Kreis um ihn, begleiteten ihn an die Pforte des genannten Conventes, durch die er nach tausend Umarmungen, tausend Wünschen und Versprechungen endlich verschwand. Die Uebrigen kehrten in die Wohnung des Gastfreundes zurück. Es war Hali-Jongs Commissionär, der auf seine Rechnung in Lassa den Götzenhandel trieb, und ihnen jetzt seine Ställe, seine Speisekammer und seine oberen Stockwerke, die für Fremde leer standen, mit innigstem Vergnügen öffnete.

Hali-Jong war in eine Vorhalle getreten, die er zwar prächtig erleuchtet, aber Niemanden darin fand. Da war kein Vorübergehender, kein Pförtner, an den er sich hätte wenden können, sondern nur der Widerhall einer religiösen Ceremonie, die, wie immer bei den Tibetanern, in einem übermäßigen, von den lärmendsten Instrumenten begleiteten Geschrei bestand. Er warf sich zur Erde nieder, um in dieser Stellung vielleicht einem Herantretenden aufzufallen, und um die Dinge befragt zu werden, die er sich scheute, selbst zu offenbaren. Wie sollt' er sich auch ankündigen? Als einen Verbrecher, dessen That im ganzen Lande berüchtigt wäre? Oder sollt' er von seiner Jugend, seinem Vater anfangen, um zuletzt bis auf sein jetziges Geschäft zu kommen? Aber Niemand redete ihn an. Er stand wieder auf und maß ängstlich seine Schritte, die er nun über den Hof zu setzen wagte. Dieser war rings mit Lampen erhellt, und in seiner Mitte brannten mehrere hochlodernde Pechschalen. Hali-Jong lauschte an der Thüre, die zu dem innern Heiligthume des Tempels führte. Der alte Mann war so erschrocken von dieser Art des Empfangs, den er sich vorher nur über ihn herfallend, harpyenartig gedacht hatte, daß er in diesem Augenblicke sich mit Mühe darauf besann, ob der Lamaismus einem Laien den Eintritt in das Allerheiligste eines Klosters gestatte. Er schlug sich vor den Kopf, als ihm einfiel, zu wie viel hundert Malen er vor Mahamuni's Bilde im innersten Tempel von Tassissudon gekniet habe, und daß selbst den Frauen bei Tage erlaubt ist, in einem Mönchskloster zu verkehren. Er öffnete also unbedenklich die Pforte, bog den Vorhang, der das dunkle Vestibul von der Rotunde trennte, zurück, und schwamm jetzt in einem Meere von Licht und aufgeschreckten Tonwellen. Welches andächtige Geschrei! welches wehmuthsvolle Paukengelärm! Eine unabsehbare Menge von schwarzgekleideten Gylongs lag vor einem ungeheuren Götzenbilde, das blau und roth angestrichen, mit untergeschlagenen Beinen, und die Fingerspitzen an die beiden Nasenlöcher gehalten, auf die Schreienden herabsah. Rings um es herum brannten unzählige Opferschalen, und zwei erhöhete Estraden standen für die Musiker an seiner Seite. Aus sechsfüßigen Trompeten klangen Töne, die das Weltgericht hätten ankündigen können; die Kesselpauken und die Metallbecken, Gongs genannt, wurden dazu mit einer Precision geschlagen, die auf ein tiefes Studium dieser Instrumente schließen ließ.

Hali-Jong wagte es nicht, zu den Mönchen hinabzusteigen, sondern er hielt sich auf der hölzernen Balustrade, die sich rings an der Wand des Gebäudes entlang zog, und einem christlichen Chor ähnlich sah. Er trat nur mit den Fußzehen auf, und hätte doch den marmornen Schritt des Comthurs aus Don Juan haben können, ohne in diesem Gewoge gehört worden zu seyn. Jetzt stand er dicht bei dem Kolosse, der die Gefühle der zahllosen Menge elektrisirte. Ein Blick, ein Kennerblick, und Hali-Jong sank zu Boden, überwältigt von dem Gefühle, ein Kunstwerk von seiner Hand hier, in dieser Umgebung, unter diesen Umständen wiederzufinden. Ja, dieses Götterbild hatte er entworfen, er hatte die Proportionen gemessen und den Thon zu dieser Gestalt geknetet. Es war ein Tag der Erwartung, ein festlicher Tag gewesen, als die siebenfach im Feuer geläuterte Mischung aus dem glühenden Ofen in die harrende, gebrannte Form hineinzischte, und aus zwei Theilen geschaffen, das hehre Götterbild dastand, nichts mehr erwartend, als blau und roth angestrichen, verkauft und angebetet zu werden. Alle Bewohner von Paro waren damals in die Manufactur gekommen und vor dem noch ganz frischen, dampfenden Götzen niedergefallen, eine Huldigung, die für den Meister zwar sehr schmeichelhaft war, ihm aber damals nicht behagen wollte, weil die Leute nichts dafür bezahlten, und er gewärtigte, daß die Anbetung den Gott abnütze und er dadurch als ein schon gebrauchter im Preise sinken konnte. Dieß Alles stand jetzt wieder vor seiner Seele, und er murmelte die stillen Worte vor sich hin: »Porungher, du treuer Freund deines Freundes, was muß ich dir danken für deine Sorgfalt, die mein schönstes Werk an diesen heiligen Ort verhandelte. Ach, hinfort wirst du meine Waaren nicht mehr zu so billigen Preisen – was sag' ich? du wirst sie gar nicht mehr verkaufen können, denn ich werde den Austritt von diesen geheimnißvollen Hallen nicht erleben. Wie würdest du für mich gesorgt haben, wenn ich das freundschaftliche Anerbieten deiner Herberge hätte annehmen dürfen! Da lieg' ich nun hier, wie ein zertretener Wurm, getrennt von meinen Lieben, die meines Rathes, meines Anblickes bedürftig sind. Wirst du auch für sie redlich sorgen? Wirst du ihnen nichts abgehen lassen? Wirst du ihnen nicht altes Mehl zu ihrem Thee geben? Werden sie Hammelfleisch so viel haben, als ihres Herzens Begehr ist? Meine Gylluspa, daß ich deinen Trost entbehren muß! Wo streckst du jetzt deine weißen Glieder? Ist dein Zimmer von Ungeziefer rein? Hast du ein Kohlenbecken, um dich zu wärmen? Geliebtes Kind, weht auch kein Zugwind durch deine Ruhestätte, und sitzen keine Motten in den wollenen Vorhängen?«

Eine plötzlich erneuerte furchtbare Explosion der frommen Andacht störte unsern alten Freund aus seinen grübelnden ungewissen Fragen; er richtete sich auf, drückte sich an die Wand, und sah, wie die Gylongs aufstürmten und sich eine Treppe zur Balustrade herausdrängten. Dann wandten sie sich hinter dem Bilde weg und stürzten mit einem aufrührerischen Geschrei auf eine andere Stiege, die sie betraten, als gält' es, sie im Sturm zu erobern. Doch blieb eine große Zahl im Tempel zurück, die übrigen schienen eine neue Ceremonie beginnen zu wollen. Hali-Jong war, wie die Natur des Alters es ist, neugierig, und ging mit Vorsicht den sich Entfernenden nach. Die letzte Scene hatte ihm Muth eingeflößt; ein gewisser Stolz über die Ehrfurcht, die man seinem Werke erwies, war sehr verzeihlich, und wir wünschen ihm denselben in einem solchen Grade, daß er anfinge, über sein Schicksal beruhigter zu werden. »Wie?« dachte er bei sich selbst, »kann ich mich nicht jetzt ohne Umschweife zu erkennen geben? Ich bin der Schöpfer eures Allmächtigen, der noch vor Kurzem den Enthusiasmus dieser Männer in eine solche Wuth versetzte. Was hab' ich zu fürchten?«

Unter solchen Betrachtungen, die sein Herzklopfen zur Ruhe brachten, bestieg Hali-Jong die zweite Treppe, die ihn wieder in ein Vorzimmer brachte, das durch einen Vorhang von einem großen Saal getrennt war. Hier bot sich ihm ein neuer Anblick dar. Die Beleuchtung dieses Saales ging von einer sonderbaren Vorrichtung aus, die in der Mitte desselben angebracht war. Ein Herd von Backsteinen trug einen ungeheuren Kessel, der aus einer Höhlung in der Unterlage geheizt werden konnte. Der Rauch des Feuers ging an die Decke des Gemaches, und fand durch eine Oeffnung an derselben, die den freien Himmel sehen ließ, seinen Ausweg. Der dämmernde Lichtschein, der sich von diesem einzigen Punkte aus über die Halle verbreitete, gab den versammelten Mönchen in ihren langen schwarzen Kutten, mit den todtenbleichen, von Kasteiungen zerstörten Gesichtern, ein gespenstiges, grausenhaftes Ansehen; dazu kamen die seltsamen Gebärden, die sie machten. Sie schlossen einen großen Kreis, gaben sich zu zweien die Hände, und liefen, tausend Verwünschungen und heilige Flüche ausstoßend, um den lodernden Herd herum. Endlich blieben sie stehen, hoben ihre Hände empor, und flehten alle Martern und Qualen auf einen Gegenstand herab, den sie mit euphemistischen Ausdrücken umschrieben und verdeckten.

Hali-Jong, in dem Dunkel, das sein Versteck war, begriff von dem Allem nichts. Das Räthselhafte dieses Schauspiels fesselte ihn, und er ließ keine der Bewegungen unbeachtet, deren Verständniß ihn über den Sinn dieser tumultuarischen Procession hätte aufklären können. Ein Gylong brachte jetzt einen großen Korb herangeschleppt, der mit unaufhörlichen Anklagen und Vorwürfen in die Mitte des Kreises an den Herd gestellt wurde. Was enthielt er? Hali-Jong strengte sich an, darüber Gewißheit zu erhalten. Er wagte sich einige Schritte aus der schützenden Finsterniß hervor, und wie schwach sein altes, an der Feueresse ausgetrocknetes Auge war, so gab es doch gewisse Dinge, die er in der entlegensten Ferne erkannte, die ihm schon durch ein Fernfühlen verständlich wurden. Es war kein Zweifel, daß dieser Korb mit Götzenbildern angefüllt war. Eine feierliche Stille trat ein. Ein Gylong, an dessen Mütze sich die Zeichen eines höhern Ranges erkennen ließen, trat mit Würde hervor, hob einen Gott aus dem Korbe, hielt ihn in die Höhe, wurde von den verdammenden Kehlen acclamirt, und warf ihn in den siedenden Kessel.

Du unglücklicher Hali-Jong, wie grausam verfolgen dich die Wechselschläge des Schicksals! Noch von dem stolzen Bewußtseyn getragen, der Beglücker einer seligen Menge gewesen zu seyn, siehst du in demselben Augenblicke ein Strafgericht über die Werke ergehen, die von derselben kunstfertigen Hand geschaffen sind! Recke nur den Hals; ja, sie sind es, deine unheilvollen Fabricate, nach dem Willen der Priesterschaft auf dem ganzen Erdboden confiscirt, und hier demselben Feuer übergeben, das ihnen einst das Leben einhauchte!

Und Hali-Jong erkannte sie alle, die Octav- und Duodez-Götter, und die Götter im Taschenformat; er sah auf hundert Schritte den Stempel seiner Fabrik, der ihnen allen in einer hintern Gegend des Körpers eingedrückt war, und, ein Vater, der die eignen Kinder vor seinen Augen schlachten sieht, stieß er einen herzzerreißenden Schrei des Entsetzens aus. Die Mitglieder dieses heiligen Autodafe's würden ihn nicht gehört haben, hätten sie gerade einen in den Schmelztiegel fliegenden Gott mit ihren Flüchen begleitet. So aber entlud sich Hali-Jongs beklommene Brust in demselben Augenblicke, als der Ketzerrichter einen neuen Unangemessenen in die Höhe hielt und auf die Neuerung der Nasen- und Mund-Bildung zeigte. Die Versammelten stoben auseinander, Hali-Jong wurde entdeckt, ergriffen und an den Herd geführt, um des Frevlers, der eine kirchliche Handlung zu stören wagte, ansichtig zu werden. Man zerrte ihn, man frug ihn, was er wolle? wer er sey? warum er sich hier einschleiche? warum er geschrien hätte? und Hali-Jong, schon besorgend, daß der Meister seinen Werken in den Feuerpfuhl nachfolgen würde, fürchtete sich, auf alle diese Fragen zu antworten. Erst als der Oberpriester die unberufenen Schreier zurückgewiesen hatte, fielen aus Hali-Jongs Munde allmählich die Geständnisse in einzelnen, zerbröckelten Bruchstücken heraus. Er sagte mit erstickter Stimme, daß er der unwürdige Vorsteher der Götzenmanufactur von Paro wäre.

Dieß war genug, um die leidenschaftliche fanatische Menge in die äußerste Wuth zu versetzen. Die Priester fielen wie die Henkersknechte über den unglücklichen Mann her, rauften an seinem grauen Haare, zerrissen seine Kleider, und schleppten ihn nach dem Befehle des Ketzerrichters im Triumphe davon. Das ganze Kloster war in Aufruhr, und begleitete den Gefangenen in ein finsteres Gefängniß unter dem tausendfach wiederholten Ausrufe: »Er ist gerichtet, der Ketzer, der die Autorität des Lama und der Concile verworfen hat! Er ist gerichtet, der Verfertiger falscher Propheten!«

 


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