Karl Gutzkow
Imagina Unruh
Karl Gutzkow

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8.

In Italien soll der Mensch im Freien leben. Ein Zimmer in Italien ist immer nur ein Schutz gegen die Launen des Himmels, kein zu dauerndem Aufenthalt einladender gemüthlicher Versteck.

Glücklicherweise gab eine kleine Terrasse und ein darüber gespanntes Zeltdach dem Zimmer Imaginens in dem Albergo della Santa Croce ein wohnliches Ansehen, denn an und für sich war es, ohnehin in einem unbekannten Mittelgasthofe, ohne alle Bequemlichkeit.

Am Tage nach der Vesuvpartie nahm Otto von Sudburg vor Imagina auf einem gebrechlichen alten Polsterstuhl noch aus spanischen Zeiten Platz, er voll innerer Bewegung und sie nicht minder in Verlegenheit...

Eine Erörterung konnte nicht peinlicher angesponnen werden.

Gräfin, begann mit zitternder Stimme Otto, wenn wir in diesem Augenblick, so wie jetzt, in einer berliner oder breslauer Gesellschaft uns gegenübersäßen, so würde man uns für die ausstudirtesten Heuchler halten, die nur je vor der Welt Komödie gespielt haben. Denn das wissen Sie doch, daß ich das Glück habe, oft mit Ihnen zusammengenannt zu werden?

Imagina, die sich kaum fassen konnte, sagte leise irgend eine unverständliche Entgegnung. Als Otto schwieg und einen langen seelenvollen Blick auf der reizenden jungen Frau ruhen ließ, sammelte sie sich und sagte: Sie haben mir geschrieben, Sie hätten Fragen an mich zu richten. Und da ich bis jetzt selbst vermieden habe, nach Deutschland hin einige Antworten zu geben, die wahrscheinlich mit den von Ihnen beabsichtigten Fragen in Verbindung stehen, so hab' ich mir, so peinlich es sein mußte, doch die entsetzliche Pflicht auferlegt, mit Ihnen über Dinge zu reden, an welche ich seit einem halben Jahre mich gezwungen habe, nicht einmal zu denken. Also! Welche Fragen haben Sie?

Gräfin, fragte Sudburg, ich bin wegen meiner Beziehungen zu Ihnen zur Rede gestellt worden; woher kennen Sie mich?

Imagina lächelte mit verlegener Miene, die sich endlich in einen schmerzlichen Zug auflöste. Haben Sie mich nie gesehen? fragte sie nach einer Pause.

Zu Baden-Baden, sagte er, auf der Schloßruine, zuweilen im Conversationshause; flüchtige, aber freundliche Worte haben Sie mit mir gewechselt, unvergeßliche, aber wirklich flüchtige. Desto befremdlicher war mir's, in Deutschland, von wo ich komme, zu hören, daß ich um das Glück beneidet werde, Sie sogar in Breslau schon gekannt zu haben.

Ihr Zartgefühl, sagte Imagina, macht einen langen Umweg, um zu Dem zu kommen, was doch wol eigentlich auf Ihrer Zunge schwebt.

Ja, Gräfin, fuhr Otto ermuthigter fort, ich bin nicht nur um das Glück Ihrer Freundschaft, das ich nie genoß, beneidet, sondern sogar von einem ehrenwerthen Mann, dem Landrath von Unruh, Ihrem Vater, bin ich zur Rede gestellt worden, wie ich es wagen könnte –

Wie, fuhr Imagina erschrocken auf, zur Rede gestellt?

Fürchten Sie keine feindliche Begegnung, sagte Otto. Ich habe einmal ein schaudervolles Unglück im Zweikampf gehabt. Seitdem dräng' ich mich nicht mehr dazu und ziehe jeder Gewaltthat friedliche Verständigung vor. Aber denken Sie sich meine Lage, was ich auf schuldlose Beschuldigungen, die mich von Ihrem Vater, von Feodore Zaluska trafen...

Feodore? Sie kennen Feodore, ich weiß es! beantwortete sich selbst Imagina.

Feodore Zaluska... o Gräfin, ja dies ist Acedia, die siebente Todsünde!

Das war zu grausam für Imagina. So hatte man ihre Geheimnisse misbraucht, so selbst einen ihr wildfremden Mann in die tiefsten Gründe ihrer Seele blicken lassen...! Sie sprang an den Balcon, um Luft zu schöpfen, sie hätte über Neapel hinweg vor Schmerz schreien mögen, die Brust zersprengen, sterben – und erst den Worten Otto's: Fürchten Sie nichts, Gräfin! Nur die dunkelste, die verworrenste Vorstellung hab' ich von diesen Märchenträumen! gelang es, sie zur Besinnung zurückzuführen.

Als sie sich wieder auf dem Sopha niedergelassen, auf dem sie vor Otto saß, fuhr dieser fort: Ich höre von einem Tagebuch, einem Gedicht, einem Roman, in dem meine Person Ihnen durch Zufall werth genug erschienen ist, genannt zu werden... Man hat mir einige Stellen daraus mitgetheilt, die ich für Erfindung halten muß, und doch, Gräfin, sind diese Stellen so im Einklang mit der innersten Entwickelung meines Lebens, daß mein Erschrecken, als ich sie las, mein Zittern, mein Beben erneuten Verdacht gegen Sie weckte und ich einer förmlichen gerichtlichen Vernehmung nur durch plötzliche Abreise von Breslau entgangen bin.

Sprachen Sie meinen Gatten? fragte Imagina vernichtet.

Niemals, berichtete Otto. Er war den ganzen Winter in Berlin. Sie wissen, daß er in Baden das Wort gegeben hatte, den Winter in Berlin zuzubringen.

Das Wort? Wem?

Wem anders, als Feodoren?

Imagina hatte inzwischen Welt genug gesehen, um durch diese Erwiderung nicht überrascht zu werden. Und doch erschütterte sie die Bestätigung ihrer Ahnung.

Feodore Zaluska ist meine Nebenbuhlerin, sprach sie gefaßt.

Ja, Acedia! sagte Otto mit gezogenem Ton und einstimmend in ihr schmerzlich lächelndes Erstaunen.

Warum trifft für Sie diese Bezeichnung zu? fragte Imagina verwundert.

Für mich? entgegnete Otto. Wenn diese Frau nicht die Gattin des Grafen von Wartenberg wird, wird sie die meinige!

Imagina sah den jungen Mann starr an. Was ist das? Sie könnten sich eine Frau erwählen, die im Begriff ist, Sie zu verrathen? sagte sie.

Otto schwieg, stützte sein Haupt auf die Lehne des Sessels und sagte: O, das sind dunkle Lebenswege!

Aber klären Sie mich darüber auf! drängte Imagina, und als Otto noch immer schwieg, fragte sie: Sie lieben Feodoren?

Nicht mehr! sprach er bestimmt und ein tiefer Seufzer entrang sich seiner Brust. O, daß ich erlöst würde, fuhr er nach einer Weile fort, von Qualen, die mein ganzes Leben zu zerstören drohen! Hören Sie, wie ein junges Herz in die Strudel des Lebens gerathen kann! Hören Sie ein aufrichtiges Bekenntniß und verzeihen Sie, wenn Ihr reines Ohr durch Verhältnisse und Schilderungen beleidigt wird, deren Möglichkeit Sie in Ihren mir räthselhaften badener Blättern dichterisch geahnt haben.

Ich bin, sagte er nach einiger Sammlung, in Siebenbürgen geboren und von meinem Vater, einem Nachkommen der vor Jahrhunderten in jene Karpatenländer eingewanderten Deutschen, zum Bergbau bestimmt. In Breslau studirte ich Mineralogie und vervollkommnete mich zu Freiberg in Sachsen für meinen künftigen Beruf. Hier auf der Akademie war es, wo ich ewige Freundschaft mit einem jungen, liebenswürdigen, aber sehr leichtsinnigen Polen, Zaluski, schloß. Nach Kronstadt in Siebenbürgen zurückkehrend, trat ich die Erbschaft meines inzwischen verstorbenen Vaters an und machte dann eine meiner Wissenschaft gewidmete größere Reise durch Europa. Gleich aber in Wien angekommen, fesselten mich schon die Reize des Vergnügens und mehr als Alles mein Freund Zaluski, der sich seit drei Jahren mit einer allbewunderten jungen, liebenswürdigen Kurländerin Feodore verheirathet hatte. Nach wenig Wochen hatte Zaluski einen vollkommen begründeten Argwohn gegen die Treue seiner Frau und seines Freundes. Ich war verblendet genug, die gerechte Ursache seiner Eifersucht zu sein. Zaluski spielte. Die mit raschgefolgten zwei Kindern einsam gelassene, vergnügungssüchtige junge Frau wurde von mir besucht, bis eines Tages Zaluski, unmuthig über größer und größer werdende Verluste, die sein ganzes Vermögen raubten, uns überraschte und in seinem Zorn mich so beleidigte, daß wir uns schossen. Ich, der Schuldige, verwundete ihn tödtlich. Sterbend legte er meine Hand in Feodorens, nahm mir einen feierlichen Schwur ab und verschied. Dieser Schwur lautete, entweder Feodoren sogleich oder nach Ablauf von fünf Jahren in dem Falle zu heirathen, daß für sie und die Zukunft seiner Kinder dann noch nicht gesorgt wäre. Wir gaben diese Kleinen in Pension und reisten von Wien ab. Der dunkle Schatten des gemordeten Freundes verfolgte mich ruhelos, dennoch verheiratheten wir uns nicht. Feodorens Charakter entwickelte sich zu einem unglaublichen Leichtsinn. Ich selbst, in meiner Moralität geknickt, vermochte ihr keinen Widerstand zu leisten, und so haben wir zusammen in Paris, London, Turin und einigen Theilen Deutschlands ein Leben geführt, das ich Ihnen nicht schildern darf, weil Sie keine Ahnung von solchen Verirrungen an sich vielleicht gutgearteter Gemüther haben werden. Erwägen Sie nur dies Eine, daß ich mein Vermögen verausgabt hatte und zwei Jahre nur vom Spiel lebte, bald darbend wie ein Bettler, bald wie ein Fürst Das vergeudend, was ein glücklicher Zufall rasch gespendet hatte. Von Treue war bei Feodorens leichtsinnigem Charakter nicht die Rede, auch bei meinem nicht. Wir trennten, wir vereinigten uns, wie die Umstände es gaben. Oft hätt' ich Gott auf den Knien danken mögen, wenn ich von ihrer nagenden, verzehrenden Nähe befreit war! Dann warf ich mich mit Leidenschaft in wissenschaftliche, mich noch immer fesselnde Thätigkeit, machte kleine Reisen in merkwürdige Gebirgsformationen und kam mir dann wie verjüngt, wie rein und edel vor! Plötzlich aber stand Feodore wieder vor mir und die Macht ihres Zaubers auf mich war – ist so groß – daß selbst jetzt – nein, nein, unmöglich, jetzt nicht mehr! Nachdem ich in Ihnen eine reinere Frauennatur kennen gelernt habe, kann mich ein solches Wesen nicht mehr fesseln. Wol gedenk' ich des Augenblicks, als ich auf der Schloßruine mir sagte: Wer ist dieses sanfte, himmlisch milde Mädchen! Denn daß Sie Frau, daß Sie zu der wilden Gesellschaft unter den Eichbäumen gehörten, wäre mir nicht beigefallen. Feodore trat uns entgegen. Das Glas entsank ihrer Hand. Sie hatte nicht geglaubt, daß ich von Paris, wo wir uns nach einer heftigen Scene trennten, ihr je wieder folgen könnte. Aber so ängstlich, so zärtlich war meine Sorge um sie, daß ich zitterte, sie könnte vielleicht darben, und was hatte ich selbst ihr zu geben? Ich mußte spielen. Ich war nicht glücklich in Baden. Einsam streift' ich oft in den Bergen umher und saß verzweifelnd auf einem Steine, während Feodore in der Gesellschaft lachte und tändelte. Und dennoch liebte sie mich! Ich wußte, daß unter allen Umständen ich vor jeder andern Verbindung den ersten Platz behielt. Das sah ich, als ich eines Abends zu ihr trat und eine nach vielem Misgeschick endlich mühsam erspielte Summe vor ihr auf den Tisch rollte. Hätt' ich ahnen können, daß Sie damals vielleicht den Klang dieses Goldes hörten! Otto, sagte an jenem Abend Feodore sicher und fest zu mir, Otto, ich nehme dies zum letzten Mal von dir, aber ich gelobe, daß wir uns nun für immer trennen! Zornig loderte ich auf. Beruhige dich, antwortete sie, mein Herz wird dir bleiben, aber meine Hand gedenk' ich in die eines Mannes zu legen, der spätestens in einem Jahre von einem in keiner Hinsicht ihm angemessenen Verhältnisse frei wird. Sie nannte mir den Namen Ihres Gatten, eines jungen Mannes, dessen guten, aber unbedeutenden Sinn ich schon auf der Universität kannte, einen Bequemlichkeitsmenschen, der eine Frau nur zu seiner Unterhaltung haben will und mit dem allerdings die ewig aufgeregte und Andere aufregende Feodore besser stimmt, als mit einem Wesen, das selbst Aufmerksamkeit und Liebe verlangt. Dieser Erklärung setzt' ich in meiner damaligen Verblendung noch die heftigsten Einsprüche entgegen. Da aber Graf Wartenberg reich, da durch ihn für meines unglücklich geopferten Freundes Zaluski Kinder am väterlichsten gesorgt werden kann, so sah ich allmälig dieser Schicksalswendung mit stumpfer Gleichgültigkeit zu, bis ich Andeutungen einer wunderbar seltsamen Beziehung zu Ihnen selbst empfing. Feodore, die nicht ahnte, daß die Ursache eines wirklichen Bruches des von ihr untergrabenen Bundes ich selbst werden konnte, wurde von der heftigsten Eifersucht ergriffen, schrieb mir Alles und verzweifelte über eben Das, worüber sie triumphirte. Ich hatte zur Vervollständigung meiner geognostischen Studien noch Sicilien zu bereisen und gelobte mir nicht eher zu ruhen, bis ich in Ihre Nähe kam, Sie sähe, Ihnen... doch es ist gelungen, ich sehe Sie... in demselben Augenblicke, wo mein Loos entschieden ist, jetzt vielleicht doch Feodoren zu meiner Gattin nehmen zu müssen.

Und warum das? fragte Imagina hastig.

Ist Ihnen unbekannt geblieben, fuhr Otto von Sudburg fort, daß Ihres Gatten Trennung von Ihnen an unübersteigbare Hindernisse gebunden ist? Der Staat scheidet nicht, ohne einen vom Gesetz vorhergesehenen Grund, der den fernern Bestand des ehelichen Friedens unmöglich macht. Der Advocat, der Ihre Sache führt, erklärt Ihre Tagebuchblätter für eine Phantasie, für eine dichterische Eingebung und beweist durch die geschicktesten Entwickelungen Ihres Geistes und eines schon früh sich zeigenden Talents, daß Sie einen Roman zu schreiben beabsichtigten, den Sie selbst nicht erlebt hätten. Ihre eignen Erklärungen sind so ausweichender Natur gewesen, daß kein Zeugniß einer gegen August bewiesenen Untreue vorliegt, und die Trennung findet unter diesen Umständen um so weniger statt, als sich der Graf bei seiner Anwesenheit in Berlin überzeugt hat, wie ungern der Hof, dem er vorgestellt wurde, von Ehetrennungen in der hervorragenden Gesellschaftssphäre etwas hören will. Die Aussicht, den Kammerherrentitel zu erhalten, ist ihm zu lieb, als daß er noch wagen dürfte, in dieser Sache weiter zu gehen, als seine Ehre verlangt. Feodore resignirt, Gräfin von Wartenberg zu werden, und mein dem sterbenden Freund gegebenes Gelübde zwingt mich, den Irrfahrten seiner Gattin und der bedrohten Zukunft seiner Kinder fünf Jahre nach seinem Tode dadurch ein Ende zu machen, daß ich mein Wort erfülle, in meine Heimat zurückkehre und einen Bund fürs Leben schließe, der, ich ahne es, noch die Quelle der unsaglichsten Leiden für mich werden wird, vielleicht mein früher Tod.

Imagina sah den jungen Mann voll schmerzlichsten Mitleids an. Als ihre Mienen auszudrücken schienen, ob hier keine Rettung wäre, reichte ihr Otto einen Brief Feodorens, den sie in großer Aufregung durchflog. Sie schrieb, daß August ohne den offenbarsten Beweis gegen Imagina für sie verloren sei. Sie fuhr fort, daß sie diesen Verlust ertragen würde, wenn sie ihn nicht durch die Qualen der Eifersucht erkaufen müßte. Sie würde sich nie von Otto trennen, sie würde nie zugeben, daß eine Andere sich seines Besitzes rühmen dürfe, sie beschwöre ihn bei dem blutigen Haupte ihres von ihm geopferten Gatten sein Gelübde zu erfüllen und im Augenblick von dem ihr jetzt verhaßten italienischen Boden heimzukehren.

Und Sie zittern jetzt vor diesem Bunde? fragte Imagina nach einer langen Pause nachdenklich, indem sie Otto betrachtete, der allerdings ein Antinous an Schönheit und wol fähig war, einer Frau werthvoller zu bleiben, als die glänzendste Verbindung.

Er wird den Fluch meines Lebens erfüllen, rief Otto schmerzlich aus. Hinschmachten werd' ich in den Fesseln dieses dämonischen Weibes, das den Zauber besitzt, mitten in ihren Herzlosigkeiten mich wieder an sich zu fesseln. Ein elendes Leben werd' ich hinsiechen an der Seite einer Frau, der der Friede meiner Heimat, der Beruf meiner Existenz nie genügen wird. Fort vom heimischen Herde wird sie mich führen, in alle Strudel eines wilden, genußsüchtigen Lebens wieder stürzen; ich werde entweder den unterirdischen Gewalten oder in einem Moment der Verzweiflung, dem Nichts verfallen.

Imagina warf einen langen mitleidsvollen Blick auf den jungen, an Schwäche des Herzens leidenden Mann, dem der Gram doch schon bedenkliche Furchen über die edle hohe Stirn gezogen hatte. Ein gewaltiger Entschluß kämpfte in ihr, dann erhob sie sich, sagte, Otto möchte eine Weile in den auf dem Tische liegenden Zeichnungen blättern, und versprach, das Zimmer verlassend, in wenig Augenblicken zurückzukehren.

Otto sah sie im Nebenzimmer verschwinden und, überwältigt von ihrem Zauber, breitete er die Arme hinter ihr aus ins Leere. So blieb er eine Weile wie ein Verzückter stehen und sank erschöpft auf seinen Sessel zurück.

Es währte lange, bis Imagina zurückkehrte. Er griff nach einem kleinen Portefeuille und blätterte in den zierlichen saubern Bleistiftskizzen. Ein phantastisches Blatt fesselte ihn. Von sinnigen Arabesken eingerahmt, sah er ein Mädchen, das Imagina glich, in einem Schachte schlummern. Ein Engel schwebte ihr zu Häupten und deutete mit einem Lilienstengel an die Felsenwand, die sich zu öffnen schien, denn der kluge Kopf eines Zwergen lauschte aus ihr hervor. Er schlug um. Dasselbe Mädchen in einer Stalaktitengrotte, lauschend hinter einem förmlichen Strauch von sauber und richtig gezeichneten Erzblumen, lauschend einer Versammlung des Königs der Elfen. Ein drittes Blatt behielt dieselbe Scene, aber dem gekrönten Haupte stand in Flammen ein Riese gegenüber, der, umgeben von Teufelslarven, in Verhandlungen mit den guten Geistern begriffen schien. Für das Verständniß des Einzelnen fehlte ihm der Schlüssel, aber ein Student im altdeutschen Rock rief ihm seine holde breslauer Jugendzeit zurück! Als er in den Arabesken die charakteristisch angedeuteten sieben Todsünden erkannte, fiel es ihm heiß aufs Herz. Er sah sich auf einem andern Blatt als Spieler, sah sich irrend im Gebirge und Steine suchen, sah sich auf der Schloßruine und immer deuteten die um die Zeichnung gaukelnden Arabesken, diese kleinen Larven und Thiere und Metalle und Figuren, wie ein Commentar den Zusammenhang der sinnigen Geschichte an. Auf jedem Blatte hatte der Fürst der Hölle eine seiner Todsünden schon zurückerhalten, bis nur noch die letzte in der Gewalt seines bekümmerten Vaters blieb, Acedia, die blasirte Herzensgleichgültigkeit, das leibhafte Antlitz Feodore Zaluska's.

In dem Augenblicke, als er schaudernd die Macht seines Schicksals fühlte, kehrte Imagina zurück, zeigte ihm einen eben versiegelten Brief und sagte: Lesen Sie diese Abschrift, die ich zurückbehalten.

Otto las: »An den Justizrath D. in Breslau. Ew. Wohlgeboren geb' ich hiermit nach langem und hoffentlich nicht zu spät kommendem Zögern die Erklärung, daß ich meinen Rechtsanwalt beauftragen werde, die Form seiner bisherigen Vertheidigung fallen zu lassen. Ich fühle mich des gegen mich erhobenen Verdachts schuldig und ersuche Sie auf Grund einer von mir begangenen Untreue, die ich eingestehe, den Richter zu bestimmen, mich vom Grafen von Wartenberg, wie er gleich anfangs gewünscht, zu scheiden. Mit Achtung zeichnend Imagina Unruh.«

Otto fühlte die Folgen dieser hochherzigen Erklärung. Besinnungslos hielt er das Papier in der Hand und stammelte unhörbar: Gerechter Gott – Sie könnten –

Nein, ich thue, was ich muß, sagte Imagina. Ich will Sie ja nur erlösen, lächelte sie. Dann fuhr sie ernster fort: Was uns selbst wahr ist, sei es auch der Wirklichkeit und wirklich sei es aller Welt. Feigheit dünkt mich, zu sagen: Was ich schrieb, das waren Träume! Es sind Träume gewesen; aber kann uns das Unsichtbare gehören, wenn wir unsere Träume verachten? Was ich mit den Gedanken durchlebt habe, ist so gut eine That, wie Das, was ich mit meiner Hand vollführe. Ich bekenne mich schuldig; ich muß es, um mich selbst zu achten.

Imagina! rief Otto überwältigt und stürzte der Gräfin zu Füßen.

Stehen Sie auf! sagte sie beklommen.

Nein! rief Otto. Machen Sie Ihre Träume vollends wahr! Lassen Sie sich von meinen Lippen das Geständniß einer über den Tod hinausgehenden Liebe gefallen! Veredeln Sie mich durch ihre Liebe!

Stehen Sie auf! sagte Imagina sanft. Warum den Dank in dieser Form?

Nein, ich bin gerettet, aber ich erhebe mich nicht früher, fuhr Otto leidenschaftlich fort, bis ich weiß, ob die reinste, edelste Flamme der Liebe die Schlacken meines vergangenen Lebens vollends verzehren und ich in dem heiligen Namen Imagina wieder neu geboren werden darf!

Sie sind frei, Otto von Sudburg, sagte die Gräfin ohne Leidenschaft, Sie haben das Gelübde an Ihren sterbenden Freund gelöst. Feodore wird die reiche Gräfin von Wartenberg werden. Ziehen Sie in Ihre Berge, werfen Sie sich an das Herz der guten Mutter Erde, werden Sie in ihrem Beruf wieder jung, werden Sie hoffnungsvoll, werden Sie ein Mann!

Otto erhob sich und konnte in seinem Auge die Thränen nicht verbergen. Das Gedicht dieser Blätter wollen Sie nicht völlig wahr machen? fragte er; Ihr Herz soll Dem nicht gehören, von dem es träumte?

Mit verklärtem heiligem Lächeln antwortete Imagina: Es muß nicht Alles irdisch enden! Was ist es denn, das uns zusammenführte? Sagt' ich denn: ein leerer Traum? Nein, ich glaube an eine Geisterwelt, an der wir selbst einst Theil nehmen werden. Ich glaube, daß Millionen Neigungen und Empfindungen unsichtbar in den Lüften schweben und holdselige Amoretten oft mit ihren Rosenbanden Wesen verflechten, die in der sichtbaren Welt stumm und kalt aneinander vorübergehen müssen. Dort dereinst treten diese verborgenen Freuden und Leiden, diese ungestandenen Neigungen ebenso in eine ungeahnte neue Wirklichkeit, wie, zur Strafe freilich, mancher hier zurückgehaltene böse Haß und Groll... Für diese Welt... leben Sie wohl!

Otto konnte sich nicht trennen. Er ergriff ihre Hand und benetzte sie mit heißen Thränen.

Vergebens, sie blieb bei ihrem Entschluß und bat mit sanfter Milde: Ich habe Sie von Ihrem Schicksal erlöst. Ziehen Sie in Ihre Berge!

Als aber Otto nicht nachgeben, nicht in seinen Bitten um Liebe sich mäßigen konnte, da kam ihr ein heiliger Gesang zu Hülfe, der die Straße herauftönte. Eine glänzende feierliche Procession wallte einer nahegelegenen Marienkirche zu und in den heiligen Klängen, die der himmlischen Liebe geweiht waren, mußten die Bitten der irdischen verstummen. Imagina trat hinaus, neigte ihr Haupt auf die Lehne des Balkons, kniete, und da sie im Gebet verharrte, so lange Otto blieb, da sie nicht wieder aufsah und er nicht wagte, ein Wesen, das ihn gerettet hatte, von ihrer stillen Andacht abzuziehen, so trat er nur noch leise zu ihr heran, sagte: Imagina, ich hoffe auf die Zukunft! und entfernte sich feierlich wie aus einem Gotteshause.

Als er fort war, athmete Imagina wie befreit auf und bereitete ihre Rückreise nach Rom vor, wo sie seither, bald darauf wirklich von August, der Feodoren heirathete, geschieden, nur der Kunst lebt. Seither sind zwei Jahre verflossen... In der Kunst durfte sie mit Recht die wahre Bedeutung und Verklärung ihres Wesens finden. Unter vielen treffenden und sinnigen Rechtfertigungen ihres Entschlusses an ihre Erzieherin und den wohlwollend gebliebenen Vater findet sich auch folgende Stelle, mit der wir dieses Gemälde eines poetischen Lebens, das wir vielleicht später einmal durch die Geschichte der zweiten Ehe August's ergänzen, vorläufig schließen wollen:

»Die Grenze, die dem Ideal das Dasein zieht, erscheint uns nur dann nicht mehr grausam, wenn sie sich zu einer schönen Form in der Kunst verkörpern kann. Wer diese Grenze mit dem Pinsel oder der Feder, mit einem Instrument oder dem schönen Ton der eignen Stimme, wer sie auch nur mit dem gesprochenen Wort und dem sich selbst beschränkenden schmucklosen und darum eben schönen Erguß des Herzens beschreiben kann, der ist wahrhaft ein Dichter und, was mehr ist, ein glücklicher Mensch.«


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