Karl Gutzkow
Imagina Unruh
Karl Gutzkow

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4.

Das fühlte sie nun wol am Abend, in der Nacht und am Morgen, daß Das nimmermehr ihre Welt werden könne! Sie besaß zu wenig Erfahrung, ihrem Misfallen einen bestimmten begründeten Ausdruck zu geben. Sie hätte Das nimmermehr sagen können, was sie fühlte, aber behaglich war ihr Nichts, Feodore ausgenommen, die sich ihrem Gemüthe wirklich eingeschmeichelt hatte. Das, was ihr immer fehlte, eine ältere und doch jugendliche Freundin, Das, behauptete wenigstens August, hatte sie in Feodore gefunden. Die Baronin ist von dir hingerissen, sagte er. Vertraue dich ihr an, laß dich von ihr leiten, sie hat die Welt gesehen, sie weiß, was der gute Ton erfordert, du kannst dich glücklich schätzen, bei deiner Jugend in diese bildenden Hände zu gerathen. Wenn jemand aus dir etwas machen kann, die ist's!

Sie glaubte das in vertrauensvoller Unschuld. Man beschloß, der Baronin einen Anstandsbesuch zu machen. Sie erwartet uns, sagte August, und um so eher müssen wir zu ihr gehen, als es Zeit ist, das Hotel zu verlassen und eine Privatwohnung zu nehmen, die sich im ersten Stock des von der Baronin bewohnten Hauses nicht gelegener bieten kann.

Imagina trennte sich ungern von der kleinen Häuslichkeit, die sie sich schon begründet hatte, allein sie hatte von Feodore selbst so viel Schönes über deren Wohnung bereits gestern vernommen, daß sie ihren Gedanken gern eine andere Richtung gab und mit der ihr eignen Befangenheit dem jungen Gatten, der ihr im Grunde so beängstigend neu und mit jedem Tage fremdartiger wurde, folgte. Gerade jemehr sie sich an ihr plötzlich geändertes Lebensloos gewöhnte, desto beklemmender waren die Betrachtungen, die sie dann bei sich im Stillen anknüpfen mußte.

Nach einigem Harren in einem Vorzimmer empfing Feodore das junge Paar mit unbeschreiblicher Grazie und Freundlichkeit. Sie umarmte Imaginen und führte sie in ihr Wohnzimmer, dessen Fenster mit Blumen verbaut waren und eine liebliche Aussicht auf das terrassenförmig gebaute Städtchen und die aus den Büschen hervorschimmernde neue Trinkhalle gewährten. Ein kleiner bellender Spitz wurde von August, der hier schon völlig heimisch war, zum Schweigen gebracht. Die Baronin klingelte. Ihr Kammermädchen mußte dem Wirth ankündigen, daß die Herrschaft da wäre, welche oben den ersten Stock miethen wolle.

Liebe Freundin, sagte die Baronin französisch, wir wollen uns das bequemste und anmuthigste Leben etabliren. Heut' Abend erscheinen Sie zum ersten Male im Conversationssaale, wo die Zimmer rechter Hand der gewähltern Gesellschaft gehören; morgen machen wir eine Partie nach Eberstein und für übermorgen ist ein großer Pickenick nach der Schloßruine angesagt. Der Graf hat sich schon erklärt, daß er für seinen Theil den Champagner liefern wolle.

Die achtzehnjährige junge Frau lächelte beklommen und wußte sich nicht anders zu helfen, als daß sie von dem phantastischen Schlafrocke der Baronin sprach, den sie wunderbar schön fand.

Die Baronin küßte Imagina die Hand und antwortete erst kurz: O, wie lieb' ich Sie! Dann aber begann sie den Anzug der Gräfin zu mustern und entwickelte nun ein sehr feines kritisches Talent, welches aber heute nicht mehr die schmeichelhaften Resultate wie gestern hatte.

Sie sagte: Herrliches, bestes Wesen! Sie kleiden sich nicht gut. Wir müssen nach Strasburg fahren und Stoffe für Sie kaufen. Blond und blau ist zu jugendlich, zu mädchenhaft. Man verbindet jetzt schwarz mit blond; Sie behalten ja den Vortheil Ihrer achtzehn Jahre immer darum doch ungeschmälert, wenn Sie auch wie einundzwanzig aussehen. Nicht wahr, Graf Wartenberg?

Allerdings, bemerkte dieser, der sich daran zu weiden schien, eine Frau zu haben, die beinahe noch ein Kind war. Die Baronin, kaum älter als vierundzwanzig Jahre, nahm darum, daß sie Imaginen erzog, noch nicht das Aussehen einer Bonne an. Sie bat, ihr zu erlauben, einige kleine Bemerkungen über die neueste Mode der Saison zu machen. Während Imagina ihrem Unterrichte zuhorchte, zupfte die Baronin bald da, bald dort an ihren Kleidern und erklärte die Taille derselben für ebenso verfehlt, wie den Ausschnitt der Brust nicht schließend genug. Ach, recht armselig, unbedeutend und kindisch kam sich Imagina vor, als sie die Stufen hinaufstieg, die in den ersten Stock führten. Sie hätte weinen mögen, als ihre Blicke auf August fielen. Sie begriff gar nicht, wie sie dazu käme, sein unwürdiges, unerzogenes und unbedeutendes Weib zu sein. Die Wohnung wurde für zweckmäßig erkannt, behandelt und noch im Laufe desselben Tages bezogen.

Eine neue Wohnung ist uns nur dann heimisch, wenn wir zum ersten Male in ihr geschlafen haben. Für Imagina reichte aber schon ein Lindenbaum, der eines ihrer Fenster beschattete, hin, es ihr traulicher zu machen, als den Gedanken, noch heute der großen Welt mit ihrer ungenügenden Toilette Anstoß zu geben. Sie sah beruhigt ihrem Gatten nach, der allein ging und dann Feodoren begleitete. Sie blieb daheim, und als am folgenden Vormittage die Baronin erschien, um einen Gegenbesuch zu machen und das Verschieben der ebersteiner Partie um einige Tage anzukündigen, als sie in einer Fülle von kleinen Artigkeiten wieder von der strengen Weltdame hören mußte, daß sie das Französische nicht fashionable geläufig genug spräche, da war ihr gleichsam außer dem Verbot, sich irgendwo öffentlich sehen zu lassen, auch der Befehl gegeben, überall zu schweigen. Imagina's Hände zitterten in denen der Baronin. Sie hatte keinen Muth mehr, dieser Frau einen Willen gegenüber zu stellen, sie dankte mechanisch für die Bücher, die sie ihr zu lesen geben wollte, sie hörte wie abwesend, was sie über die Bequemlichkeiten des Hauses und der Ménage von ihr mitgetheilt bekam. Es war das nicht Bosheit, nicht Hochmuth, sondern rein tödtliche Verlegenheit, als sie der Baronin auf diese Mittheilungen wegen Frühstück, Mittagessen, Wäsche erwiderte: Wollen Sie das nur meiner Kammerjungfer sagen.

Die Baronin biß sich aus Aerger auf die Lippen und empfahl sich kalt. Imagina bekam durch Andres einen Pack französischer Bücher, der so umfangreich war, daß der schlesische Landsmann seine Verwunderung äußerte, die Gräfin würde doch bei dem schönen Wetter nicht anfangen zu lesen. Ueberhaupt, sagte Andres, sitzen Sie viel zu viel zu Hause! Sie haben sich ja ganz umgekehrt. Landrath würden das kaum glauben. Gehen Sie doch mehr aus! Es sind viele Schlesier hier und auch Breslauer. Manche Gesichter kann ich gar nicht wieder hinbringen, wo ich sie zuerst gesehen habe. Es sind gewiß auch ehemalige breslauer Studenten hier.

Dem guten Andres ging eben nichts über breslauer Studenten. Sie waren ihm die Zierde jeder Gesellschaft, die eigentlichen Söhne der Götter, die überall das Vorrecht hatten, den feinsten Ton anzugeben. Als Imagina lächelnd an der Anwesenheit von breslauer Studenten zweifelte, sagte Andres: Nein wirklich, gnädige Frau, es sind welche hier, aber verkleidete.

Mehre Tage brachte Imagina damit hin, die ihr von der Baronin geliehenen Romane zu lesen. Sie waren von George Sand und regten ihre Phantasie, die ohnehin zum Hinüberschweifen nur zu geneigt war, wie Opiumrausch auf. Eines Abends hatte sie »Jacques« beendigt und alle Pulse flogen ihr. Sie fühlte, daß sie diesen Zustand einer freiwilligen Verbannung nicht länger aushielt, raffte sich mit schnellem Entschlusse auf und hatte die Absicht, das Wildeste zu thun, was bis jetzt in ihrer jungen Ehe nicht geschehen war, nämlich in der Abenddämmerung mit ihrem Kammermädchen allein auszugehen. Wo August weilte, wußte sie ja nicht. Die Vormittage war er unten bei der Baronin, die Nachmittage schlief er und des Abends kam er vor elf Uhr nicht nach Hause. War er im Conversationssaal, so gefiel sie sich in der Idee, ihn dort zu überraschen. Sie setzte keck den Fuß auf die leergewordene Kieselpromenade vor dem Portal des Saales. Sie folgte dem Glanz der Kronleuchter, stieg einige Stufen empor und betrat das glatte Parquet des von der Menschenmasse rauschenden großen Saales. Sie wußte nicht, welche Keckheit heute über sie gekommen war. Die Lorgnetten und unverschämten Blicke der Dandies kümmerten sie nichts. Sie drängte sich sogar in die Nähe der Spieltische. An dem Roulett ging sie vorüber, weil es zu besetzt war. Aber im Nebensaale, wo ein gleichmäßig kaltmonotones: Rouge gagne, perd la couleur variirt wurde, machte sie Halt, sah auf dem grünen Tuche kleine Haufen Goldes und Silbers, irrte in den Physiognomien der Spielenden flüchtig umher und zuckte erschrocken auf, als sie einen jungen, blassen Mann mit schwarzem Haar, starkem Bart, eleganter weißer Weste, in die er nachlässig die Finger steckte, erblickte. Prinz Wismuth! hauchte sie mit sonderbarem Gefühl vor sich hin, schwankte einige Schritte zurück und zitterte nicht wenig, als August, der Feodoren führte, sie plötzlich leise auf die Schulter schlug. Aufgeregt stotterte sie den Grund ihrer Anwesenheit, ließ sich von der Baronin, die ganz außer sich vor Entzücken über ihre Begegnung schien, durch die Säle führen, vermied aber, noch einmal dem Tische zu begegnen, wo sie sich so plötzlich überzeugt hatte, daß Andres für ehemalige breslauer Studenten ein merkwürdig untrügliches Auge hatte. Denn den Gedanken an Prinz Wismuth, den Sohn des Königs Kobalt, und die für ihn bürgenden sieben Todsünden gab sie natürlich sehr bald auf. Sie hatte nun den Studenten erkannt, den sie vor fünf Jahren zum ersten Male erblickt und dessen sie später, wenn die Pension vor den Thoren spazieren ging, noch öfter ansichtig wurde und dem sie manche geheime Träumerei gewidmet hatte.

August schien von dem kleinen Beweis von Selbständigkeit, den Imagina eben gegeben hatte, zum Verdruß der Baronin ganz außerordentlich erfreut. Noch mehr verwunderte es ihn, im Kreise von schöner Welt, die sich um sie sammelte, sie so beredt, so angeregt, so theilnehmend zu finden. Das eben beendete Werk der George Sand entfesselte auch die Sprachgeläufigkeit der Zunge, die heute das fließendste Französisch sprach. Zwar zupfte die Baronin zuweilen das junge elektrisirte Wesen und sagte ihr heimlich ins Ohr: Man sagt nicht im Französischen dies, man sagt nicht das – aber Imagina hörte nicht auf diese ewige Bevormundungs- und Erziehungswuth einer Frau, die ihr keine Verehrung mehr abgewinnen konnte. Die Baronin verstummte.

Am folgenden Morgen erklärte auch Imagina, sie würde an der für heute bestimmten Partie nach Schloß Eberstein Theil nehmen. August machte dazu ein lächerlich befangenes Gesicht und schickte den Bedienten zur Baronin hinunter, ihr diesen Entschluß seiner Frau anzukündigen. Es währte nicht lange, so erschien diese selbst, warf sich Imagina an den Hals und vergoß einen Strom von Thränen: Gerechter Gott, was ist Ihnen? fragten die beiden jungen Ehegatten.

Ich fühle, sagte Feodore zu Imagina, daß ich Ihnen nicht gefalle, daß Sie kein Vertrauen zu mir haben und meine Freundschaft nicht erwidern. Wären Sie gestern nicht zur Gesellschaft gekommen, so hätte ich mich Ihnen heute zu Füßen gestürzt und Sie um Theilnahme an dieser Partie gebeten. Ich habe nie ein weibliches Wesen auf den ersten Blick so liebgewonnen, als die Gräfin Imagina, die in Allem vor mir bevorzugt ist. Ich will leiden, dulden; ich will nicht verzweifeln, wenn Sie meine Liebe nicht erwidern; aber diese Liebe aussprechen muß ich, Imagina, Sie haben keine größere Freundin auf der Welt, als die arme Feodore Zaluska.

Dem guten August standen über diese gefühlvolle, hingebende Frau die Thränen in den Augen. Er ärgerte sich über die Kälte und Befremdung Imaginens, die, mehr erschreckt als erfreut, der Baronin die Hand reichte und leise erwiderte: Ich will mich bemühen, Ihre Freundschaft zu verdienen. Dafür küßte ihr Feodore die Hände und sagte: Von dem heutigen Tage an wolle sie das Glück ihres Lebens berechnen.

Der Wagen fuhr vor, Andres stand in Livree hinten auf. Feodore und Imagina im Rücksitz, August ihnen gegenüber. In der Lichtenthaler Allee stießen die andern Theilnehmer der Partie zu ihnen und hinauf ging es durch sich schlängelnde Pfade, bald durch liebliche Wiesen, bald durch schattiges Gebüsch, bald steil, bald sanft sich hebend, bis empor zu dem wiederhergestellten Residenzschlosse des Großherzogs mit seiner wunderbaren, nur mit der Salzburger Ebene zu vergleichenden Aussicht in das reizende Murgthal.

Bei einer für die Rosse zu beschwerlichen Stelle stieg man aus. Hier kam es, wo Imagina zur Linken des Wegs und durch den Wagen getrennt die Baronin und August zur Rechten gingen. Wie sie so langsam in der heißen Sonnenhitze emporstiegen, zeigte Andres, der hinter Imagina ging, auf einen Mann, der linker Hand vom Wege tief in einer untern Schlucht des Berges, unter rauhem Gestein, verweilte und sagte: Sehen Sie Den, der hat in Breslau studirt! Imagina blickte hinunter und sah den jungen Mann von gestern, der dicht in einer schroffen Felsenwölbung stand und mit dem Hammer eines kleinen Spazierstöckchens so prüfend an die Steine pochte, als wollte er sagen: Thut euch doch auf, ihr Berge, und laßt mich einziehen in euern Schoos!

Imagina starrte. Der weltberühmte Virtuose aber, der die Partie mitmachte, sprang hinzu und bot sich keuchend der an Bergsteigen gewöhnten jungen Gräfin zur Unterstützung an. Wenn sie wirklich wie gelähmt still stand, so war es nicht die Erschöpfung von der Sonne und dem Wege, sondern der Schreck über dieses wunderliche Zutreffen jener Erscheinung unten mit den mystischen Voraussetzungen, die ihr nun einmal an diesen jungen Mann geknüpft waren. Sie war vernünftig genug, an keine ins Leben hereinragende Wunderwelt zu glauben, und doch war dieses Klopfen und Pochen des Prinzen Wismuth an seine Heimat, das Reich der Gesteine, so bedeutsam wunderbar, daß sie über den Witz des Zufalls nicht zu lachen wagte. Der Virtuose sprach wieder von quatre mains und von seinen Transscriptionen, und bemerkte mit schmerzlichstem Bedauern, daß ihn das Schicksal an den Wagen einer russischen Knäsin fessele, die hinter ihnen herfahrend, aus den ihrer wohlbeleibten Fülle entquellenden feurigen Augen schon giftige Blicke der Eifersucht schleuderte. Mais, mon cher Udolpho, schrie die Knäsin, vous serez incurablement fatigué! Regardez vos concerts, vos soirées, vos discours solennels, vos toasts philanthropiques, vos mille et une fatigues! Es half nichts: der weltberühmte Virtuose kehrte seufzend in sein bewunderndes Sibirien zurück. Imagina aber, den Sitz ihres Wagens wieder einnehmend, träumte von dem Jünglinge, dem es vielleicht wehe wurde auf dieser Erde und der sich sehne, zu seinem Vater heimzukehren, zu seinen geliebten Zwergen unter ihrem theuern Bischofswalde, und die Thränen standen ihr in den Augen, sodaß sie sich abwenden mußte, und für den fernern Verlauf der Schloß Eberstein'schen Partie war die Hoffnung vergebens, aus Imagina den kecken liebenswürdigen Uebermuth von gestern wieder hervorbrechen zu sehen. Was sie gestern in der großen Welt gewonnen hatte, verlor sie heute wieder. Sie war in völlig träumerische Abwesenheit versunken und blickte, als man oben unter kühlenden Linden ein ländliches Dejeuner einnahm, sinnend die hohe Terrasse hinunter in die tiefe malerische Ebene mit den grünen Ufern des sich schlängelnden Stromes und den langen, gelblichen Flecken, wo schon das Korn gemäht war. Kapellen blickten still und fromm herauf aus den Gebüschen und hellgestimmte Glocken drangen, das Herz bewegend, empor in die frivolen französischen Gespräche, die Imagina nicht hörte.

Am folgenden Tage fand der große Pickenick auf der alten Schloßruine statt. Imagina schwankte, ob sie an der Verwirklichung dieser Idee, die durch das Organisationstalent der Baronin hervorgerufen war, Theil nehmen sollte. Lächelnd aber sagte sie sich, vielleicht find' ich den Sohn des Königs Kobalt wieder, den unglücklichen, in diesem Spielbade verdorbenen Prinzen Wismuth, oder ich überzeuge mich, ob er gestern Einlaß fand zu seinem theuern Vater und den Kampf mit dem Fürsten der Hölle aufgegeben hat. Andres ängstigte sie auch mit seinen aufgerafften Erzählungen von schrecklich viel verspielten Geldsummen. Der breslauer Student, fügte er hinzu, hat gestern gewiß da unten in der Höhle gedacht, neue Dukaten zu finden. Der spielt auch schmählich. Gestern Abend hab' ich's durchs Fenster gesehen, da wir dienende Menschenklasse Abends in den Conservationssaal (so nannte ihn Andres) nicht hineindürfen. Solche Spieler sehen ganz verbiestert aus, wie immer unser Gendarme Fritze zu Hause sagte. So ein Mensch grüßt nicht, selbst wenn er Einen noch von Breslau her kennen thäte. Und wenn's ihnen 'mal recht schief geht und sie nichts mehr zu verspielen haben, ich glaube, die könnten stehlen, morden und todtschlagen. Andere gehen gleich drüben in den Rhein.

August hatte den ganzen Morgen zu dieser Partie schon nichts Anderes im Kopf, als den Champagner, den er für den Pickenick liefern wollte. Aus allen Gasthöfen lieh er sich Gefäße zum Abkühlen und von Morgens früh schon an saß er im Keller des Hauses vor einem Berge von Eis, um seine sechzehn Flaschen, die er in die Freude lieferte, im feurigsten Zustande vorzuzeigen; denn, sagte er, Champagner ist nur dann feurig, wenn er eiskalt ist. Die russische musikenthusiastische Knäsin hatte von Strasburg Gänsleberpasteten kommen lassen. Eine vornehme geadelte jüdische Banquierherrschaft lieferte einen farcirten und durch und durch getrüffelten Wildschweinskopf; ein Pair von Frankreich hatte schon seit zwei Tagen seinen Koch auf der Ruine etablirt, um einen Eiskeller anzulegen für Sorbet und allerhand Gefrornes. Ein ungarischer Magnat lieferte zehn Schüsseln österreichischer Backhändl; ein Autonome aus Westfalen und großer Jagdfreund hatte mit Courier Wildpret kommen lassen, das aber von dem Wildpret eines würtembergischen Grafen ausgestochen wurde. Ein englischer Viscount, der sehr das Angeln liebte, schickte ein Netz Forellen, die oben der französische Koch in einen blau abgesottenen Zustand versetzte. Alle diese Speisen wurden von der schreienden und tobenden Gesellschaft unter den uralten Eichbäumen mit einem wahrhaft diplomatischen Hunger verzehrt; nur die arme dicke Knäsin hatte das Unglück, daß ihre Gänsleberpasteten nicht ansprechen wollten, worüber sie untröstlich war und den weltberühmten Virtuosen aufforderte, sein nächstes Notturno in einer schmerzhaften Tonart, in A Moll zu setzen.

Imagina aber fand diese Gesellschaft so widerwärtig, den Ton so frei, das Durcheinander so schnatternd, die Eitelkeit der Frauen so herzlos, die Einbildungen der Männer so fade, daß sie in Verzweiflung gerieth. Aus dem wilden Chaos dieses hochadligen Pickenicks, das in grellem Contrast zu der Ehrwürdigkeit des Orts und den ländlich einfachen Erfrischungen der übrigen Gäste der Schloßwirthschaft stand, flüchtete sie in das dunkle Gemäuer der alten Ruine, durchschritt einen verfallenen Rittersaal mit grünem Rasen als Fußboden, stieg Treppen und Leitern hinauf, die zur Erleichterung des Besuchs dieser schönen Ruine angebracht waren, und war muthig kletternd bald auf der höchsten Mauer, die vor verwittertem Moos und jungen Grashalmen ängstlich glatt zu betreten schien; doch schützte ein Geländer vor jeder Gefahr.

Die Sonne war längst jenseit des Rheins im Sinken begriffen. Innig bewegt, weidete Imagina ihr Auge an der schönen Fläche, die nach dem hehren Strome hin, nach Speier, nach dem Hardtgebirge sich ausdehnte. Deutlich sah sie den Rauch eines Dampfboots, das von Strasburg heraufkam, sah die Eisenbahn durch die abgeerntete Gegend sich schlängeln und hörte bis hierher in die blaue luftige Einsamkeit den grellen Pfiff einer Locomotive. Das Geschrei des wilden Pickenicks verhallte unter dem grünen Gewölbe der uralten Eichenstämme. So mochte sie lange gesessen und geträumt haben, bis sie sich umwandte. Ein tödtlicher Schreck für sie! Der junge Fremde mit dem blassen Antlitz stand vor ihr, der Spieler, der Student aus Breslau, Prinz Wismuth, kurz eine Erscheinung, die, ohne es zu ahnen, für sie schon eine förmliche Lebensgeschichte hatte. Ohne es zu ahnen? O wohl! Wer ahnt, was wir oft Denen sind, die kalt an uns vorübergehen und uns nicht zu kennen scheinen!

Der junge Mann sprach etwas von der Schönheit der Gegend – er sprach deutsch! Ach, wie wohl that ihr das nach dem vielen näselnden Französisch! Er sprach von dem ehrwürdigen Schauer einer solchen Ruine und dem sonderbaren Contrast einer so heiter modernen Gesellschaft. Er schilderte das Niedersteigen von den Trümmern als nicht gefahrlos und begleitete Imagina, die aber wirklich zu stürzen glaubte, als der Fremde einige Steine abbröckelte und sie sorgsam betrachtete und dann wegwarf. Was hatte er ewig mit Steinen zu thun? Wie sie die Ruine hinunterkam und was sie gesprochen hatte, wußte sie nicht. Nur Das sah sie mit Schaudern, daß unten Feodore mit einem Champagnerglase auf sie zutrat und, im Moment ihre Begleitung betrachtend, entsetzt das Glas fallen ließ, von dem Fremden eine lächelnd ironische Begrüßung empfing und wie erstarrt zur Gesellschaft zurückkehrte. Kennen Sie diesen Herrn? fragte die Baronin. Imagina sagte Nein! und erstaunte, daß er Feodoren bekannt zu sein schien.

Es ist eine Physiognomie, sagte Feodore, die sich mir einmal auf dem Donaudampfboote eingeprägt hat, als ich Konstantinopel besuchte. Aus Siebenbürgen ist dieser Herr.

Damit verlor sie sich in die Gesellschaft und war zur Zeit der Niederfahrt von der Ruine so kleinlaut, daß es auffiel. Sie schützte Kopfweh vor und schob die Schuld auf den Champagner, wodurch sich August sehr gekränkt fühlte.

Imagina aber, ganz heiter und ausgelassen geworden und innerlich über die zum Versatz gegebenen sieben Todsünden, über die sieben Bürgen nachdenkend, sprach manchmal ganz erstarrt vor sich hin: Aus Siebenbürgen?


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