Anastasius Grün
Gedichte
Anastasius Grün

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Der letzte Dichter.

        »Wann werdet ihr, Poeten,
Des Dichtens einmal müd'?
Wann wird einst ausgesungen
Das alte, ew'ge Lied?

Ist nicht schon längst zur Neige
Des Überflusses Horn?
Gepflückt nicht jede Blume,
Erschöpft nicht jeder Born?«

Solang' der Sonnenwagen
Im Azurgleis noch zieht,
Und nur ein Menschenantlitz
Zu ihm empor noch sieht;

Solang' der Himmel Stürme
Und Donnerkeile hegt
Und bang vor ihrem Grimme
Ein Herz noch zitternd schlägt;

Solang' nach Ungewittern
Ein Regenbogen sprüht,
Ein Busen noch dem Frieden
Und der Versöhnung glüht;

Solang' die Nacht den Äther
Mit Sternensaat besät,
Und noch ein Mensch die Züge
Der goldnen Schrift versteht;

Solang' der Mond noch leuchtet,
Ein Herz noch sehnt und fühlt;
Solang' der Wald noch rauschet
Und einen Müden kühlt;

Solang' noch Lenze grünen
Und Rosenlauben blühn,
Solang' noch Wangen lächeln
Und Augen Freude sprühn;

Solang' noch Gräber trauern
Mit den Zypressen dran,
Solang' ein Aug' noch weinen,
Ein Herz noch brechen kann:

So lange wallt auf Erden
Die Göttin Poesie,
Und mit ihr wandelt jubelnd
Wem sie die Weihe lieh.

Und singend einst und jubelnd
Durchs alte Erdenhaus
Zieht als der letzte Dichter
Der letzte Mensch hinaus. –

Noch hält der Herr in Händen
Die Schöpfung, ungeknickt
Wie eine frische Blume,
Auf die er lächelnd blickt.

Wenn diese Riesenblume
Dereinstens abgeblüht
Und Erden, Sonnenbälle
Als Blütenstaub versprüht:

Erst dann fragte wenn zu fragen
Die Lust euch noch nicht mied,
Ob endlich ausgesungen
Das alte, ew'ge Lied?


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