Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Jedem europäischen Besucher Bombays muß die eigentümliche und primitive Art der Bestattung ihrer Toten aufgefallen sein, welche bei der Sekte der Parsen noch heutigen Tages vorherrscht. Unter den verschiedenen Rassen und Völkerschaften Indiens hat sich diese unternehmende und intelligente Gemeinschaft anerkanntermaßen vor allen andern durch die Beseitigung abergläubischer Gebräuche und absperrender Vorurteile ausgezeichnet. Um so erstaunlicher ist es, daß sie trotzdem noch jetzt einen Gebrauch beibehalten hat, der nicht allein dazu geeignet ist, in jeder Weise Anstoß zu erregen, sondern geradezu mit einem Gefühl des Abscheus zu erfüllen. Unglaublich, wie es erscheinen mag, ist es doch nichtsdestoweniger eine Tatsache, daß die Leichen der Religionsgenossen der Parsen dem Fraß der Geier überlassen werden.
Es mag hier vorausgesandt werden, daß die Parsen (oder Parsis) Anhänger des Zoroaster sind, der in Persien gelebt hat.
Die Parsen betrachten eine Leiche als etwas besonders Unreines, durch das weder Erde, noch Wasser, noch Feuer verunreinigt werden dürfen. Sobald daher der letzte Atemzug entflohen ist, übernehmen zwei Nassalálárs (eine Körperschaft, welche, speziell zur Besorgung der Totenzeremonien eingesetzt ist und von der Gemeinde ein bestimmtes Gehalt bezieht) den leblosen Körper. Diese besorgen die Waschung und Bekleidung der Leiche mit weißen, fleckenlosen Gewändern, worauf diese auf zwei flache Steinplatten auf den Boden gelegt wird. Die weiblichen Verwandten und die Freundinnen des Verstorbenen versammeln sich in der Halle, in welcher der Körper, vollständig bedeckt, mit Ausnahme des Gesichts, ausgestellt ist. Die männlichen Verwandten und Freunde dagegen, die dem Toten die letzte Ehre erweisen wollen, sitzen in langen weißen Gewändern auf Bänken in der offenen Veranda, – und falls letztere nicht groß genug ist, alle Anwesenden zu fassen, neben derselben auf der Straße. Bei dem Tode einer hervorragenden Persönlichkeit sieht man die Leidtragenden nicht selten, drei oder vier Sitzreihen tief, über die ganze Länge der Straße verteilt. Gewöhnlich nehmen diese Versammlungen eine Stunde vor der zum Transport der Leiche nach den Türmen des Schweigens festgesetzten Zeit ihren Anfang. Die Frauen brechen dann und wann in lautes Wehklagen aus, namentlich wenn der Verstorbene noch jung war, während die Männer ein ernstes, ununterbrochenes Schweigen bewahren.
Eine Stunde vor der Überführung nehmen die Nassasálárs den Körper von den Steinen, auf welchen er bis dahin geruht hat, und legen ihn auf eine eiserne Bahre, die in den meisten Fällen, außer bei ganz armen Leuten, neu ist. Nachdem dies geschehen, nehmen zwei Priester zu Füßen des Körpers Platz, um die Totengebete zu verrichten, während alle Anwesenden in strengstem Stillschweigen verharren. Während zweier Pausen wird ein Hund hereingeführt, dem die Züge des Verstorbenen gezeigt werden; eine genügende Erklärung für diesen sonderbaren Gebrauch hat nie gegeben werden können. Am Schluß der Gebete verbeugen sich die Priester sehr tief und ziehen sich zurück. Es ist dies gewöhnlich der Augenblick, in welchem die so lange zurückgedrängten Gefühle der weiblichen Angehörigen sich in lautem, andauerndem Gejammer Luft machen. Auch die Männer treten jetzt herein und machen eine tiefe und ehrfurchtsvolle Verbeugung, nachdem sie zum letztenmal einen Blick auf das Antlitz des Toten geworfen; einige werfen sich auf die Kniee und berühren die Erde mit ihrer Stirn, während sie leise, aber innige Gebete, für die Ruhe des Toten murmeln. Nachdem alsdann den weiblichen Verwandten ein letzter Blick gestattet worden, wird das Gesicht des Verstorbenen bedeckt. Die eiserne Bahre wird dann von den beiden Nassasálárs aus dem Hause getragen, vor welchem sie von zwei andern erwartet werden, worauf alle vier sie auf die Schultern nehmen. Die draußen versammelte Menge erhebt sich und verbeugt sich tief, während die Bahre vorübergetragen wird, und die Leidtragenden folgen ihr mit den Priestern an der Spitze. Der Oberpriester begleitet den Zug nur einige hundert Schritte, während ihm die Verwandten, näheren Freunde und die anderen Priester bis zu den Türmen des Schweigens das Geleit geben.
Auf dem höchsten Hügel Bombays, auf der Chopatiseite, sind diese Türme von den Parsen als letzte Ruhestätte ihrer Glaubensgenossen errichtet; eine Mauer zieht sich rings um die höchste Spitze des Hügels, und mit Ausnahme der Parsen selbst wird niemand innerhalb derselben zugelassen. Nur ausnahmsweise wird einem Europäer gestattet, durch das Tor dieser Mauer einzutreten; aber in diesem Fall darf er sich nur eine kleine Strecke davon entfernen, so daß sich ihm ein sehr unbestimmter und unklarer Anblick des Innern bietet. Vom Fuße des Hügels bis zum Tor in der Mauer führt eine steinerne Treppe von zahllosen Stufen. Die Aussicht indessen, die sich dem Eintretenden nach Durchschreiten des Tores bietet, ist wahrhaft prachtvoll und großartig; ganz Bombay mit seinen schönen Gärten und Anlagen liegt zu den Füßen des Hügels, weit hinaus in der Ferne erblickt man das Meer und rings umher hat man eine bezaubernde Umschau auf die umliegende Landschaft. Dicht am Eingangstor wird die Aufmerksamkeit zunächst auf die »Sagari«, ein kleines steinernes Gebäude, gelenkt, in welchem das heilige Feuer beständig in Gang gehalten wird; die Parsen suchen diesen Ort häufig auf, um hier Gebete für ihre verstorbenen Verwandten und Freunde zu verrichten. In weiter Entfernung sieht man die weißen Mauern von sieben verschiedenen Türmen, die in unregelmäßigem Abstand voneinander errichtet worden sind. Sobald einer dieser Türme einmal geweiht worden ist, darf er von niemand außer den Nassasálárs betreten werden; nach der Erbauung eines neuen ist den Parsen die Besichtigung gestattet, und der Weihzeremonie selbst darf jeder zu der Gemeinschaft Gehörende beiwohnen.
Auf der hübschen Mauerspitze des jeweilig in Benützung genommenen Turms hocken 40 – 50 kolossale Aasgeier; innerhalb der eisernen Tür, die zu dem Turm selbst führt, und die sich vom Boden des Höhenplateaus öffnet, führen einige steinerne Stufen in das Innere hinab. Die innere Einrichtung der Türme ist sehr einfach. In drei konzentrischen Zirkeln sind steinerne Platten auf dem Boden angebracht; die kleinsten in der Mitte sind zur Aufnahme von Kinderleichen bestimmt; die etwas größeren im nächsten Ring sind nur für weibliche Personen, während die größten Platten im äußersten Zirkel zur Aufnahme der Männer dienen. In der Mitte des Turmes selbst befindet sich ein Brunnen von enormer Tiefe, der Boden ist von allen Seiten mit einer leichten Abschrägung bis zum Brunnen planiert.
Sobald der Zug die Höhe des Hügels erreicht hat, bewegt er sich ohne Aufenthalt bis dicht an den gerade in Benützung genommenen Turm. Hier wird noch einmal ein kurzer Halt gemacht, um den Verwandten einen letzten Abschiedsblick auf den Toten zu gestatten; sobald dies geschehen, wird die Bahre von zwei Nassasálárs langsam bis zur eisernen Turmtür getragen. Einer derselben öffnet die Tür mit einem Schlüssel, und beide verschwinden dann im Innern, nach Schließung der Tür. Der Körper wird auf eine der Steinplatten gelegt, die Gewänder werden mit einem eisernen Haken zerrissen, worauf sich die Träger mit der leeren Bahre wieder hinausbegeben, um an einer dazu bestimmten Stelle sich zu waschen, andere Kleidung anzulegen und eine Reinigungszeremonie durchzumachen. Sobald die Nassasálárs aus der Tür getreten sind, lassen sich die Geier im Innern von der Mauer nieder, um nach ungefähr zehn Minuten wieder oben auf der Mauer zu erscheinen. Für die draußen Harrenden ist dies ein Zeichen, daß nur noch das Gerippe des noch vor wenigen Minuten innerhalb der Mauern hingelegten Körpers übrig geblieben ist. Bei der Bestattung einer neuen Leiche wird das letzte Gerippe mit allen Überresten mittelst eines eisernen Hakens nach dem Brunnen geschleppt und, hineingeworfen; und so ruhen selbst die Knochen dieser eng zusammenhaltenden Religionsgemeinschaft im Tode beieinander. Die Höhe des Hügels sowohl wie diejenige der Turmmauern schließt selbstverständlich jeden Einblick in das Innere der Türme aus. Nur die Nassasálárs allein genießen das zweifelhafte Vorrecht, dasselbe betreten zu dürfen und zu wissen, welchen abstoßenden und schaudererregenden Anblick das Innere dieser schauerlichen Stätte darbietet.
In der Zwischenzeit und sobald die Nassasálárs hinter der eisernen Tür verschwunden sind, zieht sich das Gefolge in Prozession nach dem » Sagari« zurück, um dort Waschungen vorzunehmen und Gebete zu verrichten, worauf es in Wagen und Ochsenkarren, je nachdem es die Mittel der Verwandten des Verstorbenen gestatten, nach Hause zurückkehrt. Nach dem allgemeinen Volksglauben haben die Geier einen so feinen Instinkt, daß sie niemals einen Körper berühren, in welchem sich noch der leiseste Lebensfunken befindet.
Vor Jahren, als die Geschäfte der Gemeinde noch von dem Puechyat (fünf Obermännern) geleitet wurden, behauptete man, daß die Nassasálárs strenge Ordre hätten, jeden zu töten, der innerhalb der Türme wieder zum Leben erwachen sollte. Einige Mordtaten dieser Art sollen in der Tat vorgefallen sein, zu deren Entschuldigung angeführt wurde, daß solche aus den Türmen wieder herausgelassene Personen leicht den Anlaß zu epidemischen Krankheiten usw. geben könnten. Man glaubt sogar, daß Personen, die wieder zum Leben erwacht und imstande gewesen sind, sich über die Turmmauern zu flüchten, sich freiwillig aus Bombay verbannt haben, aus Furcht, bei späterer Identifizierung getötet zu werden. Ob solche Fälle in früherer Zeit wirklich stattgefunden, ist schwer zu ermitteln; jedenfalls darf mit Sicherheit behauptet werden, daß irgend etwas Derartiges jetzt nicht straflos hingehen würde, da die englische Regierung wenig Unterschied zwischen einem innerhalb der Turmmauern oder außerhalb derselben begangenen Mord machen und beide mit der gleichen Strenge des Gesetzes ahnden würde.
Die Parsen führen als einzigen Grund dieser ihrer Bestattungsart an, daß sie von gesundheitlichem Standpunkt aus die beste Manier ist, sich der Toten zu entledigen, und daß die Überlebenden dadurch von der ansteckenden Nachbarschaft großer Kirchhöfe befreit werden. Sie behaupten ferner, daß ihre Weise der Beerdigung vorzuziehen ist, die eine langsame Zersetzung zur Folge hat. Daß diese für die Beibehaltung eines so abstoßenden und barbarischen Gebrauches vorgebrachten Gründe wenig stichhaltig sind, liegt auf der Hand; es hält indes schwer, eine plötzliche Änderung herbeizuführen, obschon die meisten gebildeten Parsen heutzutage das eben Angeführte völlig einräumen und bedauern, daß dieser ihnen seit Hunderten von Jahren von Geschlecht zu Geschlecht auferlegte Brauch so schwer zu beseitigen ist. Nur ein einstimmiger und von mächtiger Hand hervorgerufener Beschluß dürfte dieser Bestattungsweise, die Europäer nur mit Schauder erfüllen kann, ein Ende machen.