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Wiens Bergfriedhof

Nahe den Nußberger Weinrieden, in Wiens sangesfrohester Gegend, ist eine Stelle, zu der an lauen Sommerabenden Lieder von der Hotelterrasse auf dem Kahlenberg gern hinabziehen. Heitere Studentenlieder und elegische Wiener Weisen. Dort singt eine Amsel, die auf einer Ranke sitzt. Und im Tale unter den Nußbäumen der Heurigenschenke der freundlichen Frau Kreuzspiegel fiedeln in lauen Sommernächten Musikanten. Einer davon hat es gar schön gekonnt, der kleine, schwarze Bucklige, der seine Virginia immer bis zum Strohhalm rauchte und der, je nach der Melodie, die er geigte, schwärmerisch und fromm aussah wie der heilige Antonius oder dämonisch-sarkastisch wie Mephisto.

Er und sein Begleiter mit der Ziehharmonika, der mit dem biederen Wiener Gesicht und dem Klumpfuß, und die Gäste, die sangen, wenn sie nicht tranken, ließen ihre Lieder hoch aufsteigen durch das Gezweige der Bäume. Sie wußten nicht, wohin ihr Gesang zog und wo er verhallte. Aber die Amsel auf der Ranke hörte ihn und horchte.

Wenn die Winzer am Berghang Rebenzweige schneiden sowie das Geranke vom wilden Wein, um es ihren Ziegen als Futter zu bringen, brechen sie nicht die Ranke, auf der so oft die Amsel sitzt; denn die Ranke ist Efeu und schmiegt sich an einen Grabstein.

Und wenn die Mähder mähen, schneiden sie nicht das Gras neben dem Grabstein, denn es sprießt auf einem niederen, gar selten betretenen Hügel in einem einsamen Friedhofe, dem friedvollen Friedhofe auf dem Kahlenberg.

Man könnte ihn einen weltfernen, einen verlorenen nennen, man könnte ihn aber auch den »Friedhof an der Straße« nennen. Nur wenig Schritte von ihm entfernt liegt ein breiter Fahrweg.

Freilich, welch eine Straße! Mit gleisnerischer Glattheit beginnt sie in Nußdorf, nimmt aber hinter der letzten Heurigenschenke recht ländliche Manieren an und wird hinter dem »Beethovengang« unangenehm.

Schattenlos in der Sonne, stürmisch bei Wind und staubreich zieht sie holperig und ungepflegt bergan und fordert jeden Wanderer beständig auf, neben ihr zu gehen.

Erst vor wenigen Jahren versuchte die städtische Feuerwehr, ob es ihr möglich sei, auf dieser Straße nach Josefsdorf zu fahren. Die Zahnradbahn hatte ihr Frachten und Wanderer abgenommen. Für Touristen ist sie zu wenig gefährlich, für harmlose Wanderer zu »einschichtig« – und so liegt der kleine Friedhof an der einsam gewordenen Straße verlassen, vergessen fast, nur betreut von Tau und Regen und Sonne.

Das »De profundis« des Priesters ist seit langem verklungen, keiner ist da, der ein Gebet murmelt, aber im Efeu singt die Amsel.

Mit dem mondänen Zentralfriedhof verglichen, in dessen Kapellen und anderen Objekten ein Totenkultus getrieben wird, der ein bißchen geschäftlich anmutet, indem der Trauer gewissermaßen technisch nachgeholfen wird und mit künstlichen und künstlerischen Mitteln hie und da Effekte erzielt werden, die an Bühnendekorationen gemahnen, wirkt der Friedhof auf dem Kahlenberg wie ein einsamer Heidekrug gegen das Semmeringhotel oder eine Karawanserei in Mekka.

Im Zentralfriedhofe bezieht der Erdentourist ein komfortables Hotel, im kleinen Friedhofe am Hange des Kahlenberges kam der wegmüde Wanderer nach Hause. –

Jahrtausendelang, ehe die Kolumbarien erfunden waren, haben wir unsere Toten begraben in tiefen Grüften, in schweren Sarkophagen, unter alten Kathedralen, und die Grabsteine, eingemauert in düsteren Winkeln, in gotisch verschnörkelten dunklen Quaderwänden und an grauen Säulen, und die Namen der Toten waren nur zu lesen, wenn ein Lichtstrahl, durch ein gemaltes Fenster dringend, regenbogengleich über ein Epitaphium glitt oder das ewige Licht mit bleichrotem Scheine heller aufflackerte. Oder wir begruben die Toten in weicher Erde unter dem blauen Himmel und luden die lebende Natur ein, den Ort zu schmücken, an dem wir ihr gegeben, was schon lange ihrer war. Und Zypressen wuchsen und Trauerweiden, und Rosen sprossen und Lorbeer. Für den Friedhof unter dem Gipfel des Kahlenberges hat die Natur liebevoll und in souveräner Weise, von Gärtnern selten gestört und korrigiert, gesorgt, und was sie geschaffen hat, ist Friedhofpoesie im Stil Lenaus, Poesie aus der Zeit der Großeltern derer, die heute alt sind, Poesie, wie man sie auf alten Stammbuchblättern findet, wo niederhängende Trauerweiden griechische Urnen beschatten und geborstene Grabsteine von altklassischen Formen vom Eppich überwuchert werden.

Dichtes Gesträuch, das zähe Wurzeln in abbröckelndes Mauerwerk einbohrt, ein ganz kleines Stück korsikanischer Macchia, umgrenzt, behütet, umfriedet den Friedhof, und in ihm sprießen Gras und Löwenzahn auf den Wegen, und der Hartriegel mit den hellgelben Blüten umarmt graue Grabmäler, auf denen Moos in breiten Flecken grünt, und üppige Efeuranken schaukeln im Lusthauch.

Weithin ist Schweigen, ist Stille um den heiligen Ort der Ruhe gebreitet. Nur auf der nahen hochhalmigen Wiese brummen die Hummeln, zirpen Zikaden, und von weither, aus verlorener Ferne bringt der Ostwind echogleich das dumpfe Pfeifen eines Dampfers auf der Donau.

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Wie alt wohl der Friedhof im Frieden der Burg des heiligen Leopold sein mag! Chronisten geben sein Alter nicht an; sie erwähnen ihn als bestehend. Eine Überlieferung sagt, daß von irgendeinem Grabe dieses Friedhofes ein unterirdischer Gang irgendwohin gehe.

Verbürgt ist es, daß von einem Keller des Kahlenberghotels ein Gang – noch unerforscht – in die Tiefe des Berges führt. Da solche Gänge nicht zu Friedhofsrequisiten gehören, scheint der mit dieser Überlieferung bedachte Friedhof ein altes Geheimnis zu bergen. Es kann uns wundernehmen, daß Guido List nicht genau nachgewiesen hat, daß der Ort des Friedhofes auf dem Kahlenberge ein Halgadom, eine religiöse Heilstätte im altgermanischen Sinne, gewesen.

Der frühere Name des Kahlenberges »Sauberg« ließe sich leicht mit Gulimbursti, dem goldborstigen Eber Wuotans, in Beziehung bringen. Die Stätte, die später in vager Erinnerung an Früheres zum Gottesacker gemacht wurde, wäre dann schon lange vor der römischen Invasion ein geweihter Ort gewesen.

Die hohe Lage, der Ausblick gegen Sonnenaufgang, die vielumfassende Fernsicht und die durch Wald und Terrain erzeugte Geschütztheit des Ortes könnten diesen Gedanken unterstützen. Sind dort nicht Ministeriale und andere Insassen der nahen Babenbergerburg begraben worden, ehe über ihren verschollenen Gräbern ein Friedhof eingeweiht worden ist?

Wir wissen nur das Zeitnahe, und unsre Archäologen, die in Griechenland und Ägypten, in Arabien und auf Samothrake gearbeitet, haben den Kahlenberg übersehen, und die »Gesellschaft zur Erforschung des Kahlenberges« schlummert ... Was heute den Stoff zu einer Skizze gibt, könnte der Gegenstand eines Buches sein. Die Zeitangaben auf den wenigen Epitaphien führen uns nicht weit zurück, nur ein wenig über hundert Jahre.

Das Grabmal, das den interessantesten Namen im Friedhofe trägt, wurde von zwei Freunden dem dritten gewidmet, von den Fürsten Clary und Palffy dem rosenroten Prinzen, dem »Chéri de ses enfants«, wie die Grabschrift sagt, dem Fürsten Ligne. Es war mehr modern als patriotisch, die Grabschrift des österreichischen Generals französisch zu schreiben. Der Grabstein trägt aber noch eine Inschrift, die offizielle, auf seiner Vorderseite. Damit Frauen und die meisten Männer sie nicht lesen können, ist sie lateinisch abgefaßt, und damit die Lateiner sie auch nicht lesen können, sind ihre Wörter aufs äußerste abgekürzt. Das macht aber nichts.

Die Toten sind so gleichmäßig tot, und das Todsein ist ein so bekannter Begriff, daß man über ihn nicht viel zu sagen braucht, und was in Epitaphien über den Amtskalender hinausgeht, ist eine oft mit Herzblut geschriebene, gutgemeinte Phrase.

Muß doch auf allen Grabmälern das Beste stehen – und sie erröten ja nicht. Wo ist die Grabschrift, die lautet: » N. N., er war ein unverschämter Geizhals. Er ruhe zu unserm Frieden.«? Das Schweigen des Grabes fängt bei der Grabschrift an.

Wie gerecht waren die alten Ägypter, die ein Curriculum vitae in den Steinsarg meißelten!

Wäre de Ligne nach altägyptischem Brauch bestattet worden, so könnte man nach viertausend Jahren noch lesen, daß er der treue Freund Kaiser Josefs II. und der großen Katharina von Rußland gewesen, daß er in den Schlachten von Breslau, Hochkirchen und Leuthen gekämpft, mit seinem Freunde Loudon die Schlacht bei Belgrad geschlagen, mit Potemkin Politik getrieben und mit seinem jüngsten Freunde, dem Herzog von Reichstadt, »Soldaten« gespielt hat. Auch ein Lieferant Büchmanns war de Ligne; er hat die später »geflügelten Worte«: »Le congrès danse, il ne marche pas« geschrieben.

Der witzige Schöngeist ohnegleichen hatte sich nahe seinem Kahlenberger Sommerhause die Stelle ausgesucht, an der er vergehen, zu Staub werden wollte. Ihm nahe liegt seine Frau, eine geborne Prinzessin Franziska von Liechtenstein. Unweit von de Ligne ruhen zwei Damen der guten Alt-Wiener Gesellschaft. Ein halb verwittertes Epitaph erzählt, daß beide – Franziska und Antonie Hoßner – Gesellschafterinnen der Erzherzogin Maria Anna waren. Noch heute blüht die Familie Hoßner in Wien.

Außer einigen andern Grüften und Grabsteinen ist auch einer hier, welcher meldet, daß eine Tochter des Heiligenstädter Patriziers Traunwieser hier liege.

Kurze, schweigsame Inschrift!

Wer die nie geschriebene Geschichte des Sterbens der Traunwieser kennt, der wünscht statt des Steines ein grandioses Monument der Liebe zu sehen und ist verwundert, daß nicht üppige Büsche voll glutroter Rosen das Grab überdecken.

Die da begraben liegt, liebte einen Kavalier, den sie am Hofe des Kaisers kennen gelernt. Glutvoll wurde ihre Liebe erwidert, und der Karneval 1836 fand sie als Braut. Ihr Geliebter starb. Was sie litt, war so groß, daß Tränen ihr Leid nicht ausdrücken konnten. Ihre Seele war so groß wie ihre Liebe.

Im Mondlicht einer Mitternacht legte sie ihr Brautkleid an, schmückte sich hochzeitlich, nahm den Schleier, ging still aus ihrem Hause, das weit draußen in der Nähe der Heiligenstädter Kirche lag. Auf beschneiten Wegen ging sie aufwärts, und der Schleier war ihr Mantel in der froststarren Winternacht. Sie ging zum kleinen Friedhofe auf dem Kahlenberge.

Und als die Sonne blutrot aus grauen Nebeln hervorstieg, saß sie bei dem Friedhofstor, und Tränen lagen als Perlen aus Eis auf ihrem toten Gesicht. Die junge Dame wollte auf dem kleinen Friedhofe ihre Ruhe finden ...

Die Toten schlafen, der Friedhof schläft, und die Amsel singt leise. Schmidt, der bekannte Topograph, schrieb im Jahre 1825: »Selten nur wird wohl der unterhalb der Fahrstraße gelegene Friedhof besucht. Wenige Friedhöfe verdienen so sehr diesen Namen wie der auf dem Josefsberge in reizender Einsamkeit auf einer weithinschauenden Höhe gelegene.«

Kein beladener Wagen, der knarrend mit ächzenden Achsen hinter schnaubenden Pferden bergauf holpert, kein leerer Wagen, der hurtig mit Donnergepolter herunterrumpelt, stört mehr den Frieden der Straße, die Stille des Friedhofes.

Wiener! Entdeckt euren kleinsten, einsamsten Friedhof! Kommt nicht in Scharen, nicht in Gruppen. Jeder nur allein! Es könnte sich sonst da, wo täglich die Königin Poesie baut, ein Kärrner einstellen, der mit Mineralwässern und rosafarbigen »Kracherln« zu tun hat. Dann würde der Friedhof erwachen, dann würde die Amsel weinen.


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