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Viele Grabsteine, eingemauert in den Wänden und Pfeilern der Stephanskirche, melden mit fein säuberlich ausgeführter Schrift in verschnörkelten Buchstaben oder mit klaren lapidaren Lettern, wie die geheißen haben, die sie veranlaßten, welchen Standes selbe waren und wann sie starben. Die Toten und ihre Gräber sind nicht mehr bei den Epitaphien, und die Grabmäler, alle die vielen, sind Teile eines einzigen gigantischen und wundervollen Grabsteines – des Stephandomes, des Domes, der als riesiges Grabmal über den geheimnisvollen Grüften von tausend und aber tausend unbekannten, namenlosen Toten steht. Tausend Fialen ragen am Dome empor, und aus jeder sprießt eine Kreuzrose. Himmelan ragt der herrliche graue Rosenbusch aus Stein, und des Turmes letzte Rose grüßt weithin ins Leben, weithin ins Land. Wie Rosenbüsche auf Friedhöfen ihre Wurzeln in Gräber senken, so hat der rosenreiche Dom seine Fundamente zwischen langen Gruftgewölben, die das bergen, was vom alten Wiener Humor, von Gemüt, Mannhaftigkeit und Sybaritentum von einer Stadt voll Menschen, die lange vor uns lebten, übriggeblieben ist: Schädel, die lippenlos lachen wollen, und Särge, die zu bemalen man ehemals sinnig genug war.
Die Gruftgewölbe heißen Katakomben. Ein Wort, dessen ursprünglicher Sinn unbekannt ist wie heute noch die Ausdehnung unserer Katakomben. Vor 300 Jahren konnten die Wiener noch in die Grabgewölbe hinabsteigen und dort die Allerseelengebete für ihre Toten sprechen. Dann begann ein Vermauern der Nischen, in denen Särge standen, ein Abmauern von Gängen, die mit Leichen gefüllt waren, ein Wegräumen der Knochen und Sargtrümmer, und vor vierzig Jahren schon waren die Katakomben größtenteils »zusammengeräumt«. Sogar etwas kokett, wie es Stubenmädchen mit Boudoirs tun. Alles effektvoll geordnet. Arm- und Schenkelknochen an den Wänden zierlich geschichtet und aufgebaut, dazwischen Schädel, eindrucksvoll angebracht, alles blank und sauber wie in einer Küche – aber man ging mit sachtem Schritt auf weichem Moder; auf verwesten Muskeln und Nerven, auf staubgewordenen Herzen und amorphen Gehirnen. Und wer auf dem weichen Boden dahinwandelte, fühlte bei jedem Schritt, als zerträte er auf maigrüner Wiese blühende Blumen; von der Fußsohle stieg ein Vorwurf zum Hirn, und der Schreitende hätte lieber schweben wollen.
Im alten, vernachlässigten Karner von St. Michael in der Wachau, wo ein Schritt knirschend Fingerknochen zerbrach und Schulterblätter zersplitterte, war ja jede Bewegung auch peinlich, aber sie war aufrichtig brutal. Moder aber wirkt lebendiger als Knochen.
Es ist weiter »zusammengeräumt« und vermauert worden, und was man jetzt, da die Katakomben wieder besucht werden dürfen, noch sehen kann, erinnert an einen leeren alten Weinkeller. Ich will in der Erinnerung wieder in die Katakombeniedersteigen, die ich vor fünfzig Jahren gesehen habe. Wollen Sie mich begleiten, sich unsrer kleinen Gesellschaft anschließen? Ihre Besuchskarte habe ich schon im Kirchenmeisteramt für fünf Gulden gelöst. – Wohlan, gehen wir. Zwei Führer und zwei Fackelträger warten auf den Stufen der Kruzifixkapelle neben der Capistrankanzel.
Dem gewohnten Begriff einer Kapelle entspricht die Kruzifixkapelle nicht. Sie ist ein kleiner, offener, in antikisierendem Barock gehaltener Vorbau am Dome, dessen ernster Stil seine jüngeren, heiteren Schwestern, die Renaissance und das Barock, allenthalben liebreich aufgenommen hat. Die Kapelle überdacht eine schwere eiserne Falltür, die zum Reiche der Toten führt, und einen Kruzifixus über dieser.
Ist er der Erlöser, der gesagt hat: »Kommet zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid«, oder ist er der Richter über die Toten, der gesagt hat: »Mein ist die Vergeltung«?
Die Tür wird aufgehoben, Kühle steigt aus der nachtdunklen Öffnung, die Fackeln werden angebrannt, und wir gehen auf schmalen, steilen Stufen hinab. Zwanzig mögen es sein. Dann führt ein niederer, gewölbter Gang schief abwärts. Seine Wände sind tiefdunkel und saugen das Fackellicht ein.
Wir fühlen, daß wir im Hause derer sind, die nicht mehr sehen. Die niedere Decke lastet schwer im engen Raume, wir bücken uns und unsre Kleider streifen an den Wänden hin; wir empfinden, daß wir im Hause derer sind, die sich nicht mehr bewegen.
Wo sind sie? Da schimmert es grau an der Wand! Knochen, die auf dem Wege gelegen, die aus morschen Särgen gefallen, sind an den Wänden bis zur Decke übereinander geordnet. Ellen und Speichen, Schienbeine und Wadenbeine sind zu Teilchen eines Mosaikbildes geworden, das verschiedene Empfindungen in den Beschauern weckt.
Ein schmaler Luftschlauch mit quadratischem Querschnitt führt links durch die Wand steil aufwärts. Ein Führer erzählt recht plastisch, wie Hunderte von Pestleichen vom Stephansplatz da herunter geschleift wurden und durch den aufgebrochenen Boden des Ganges in das zweite Stockwerk der Katakomben fielen. Dort wurden sie weiter verteilt, und die Pestgrube, auf der wir jetzt stehen, wurde dann vermauert.
Die Luft in der Totenstadt ist trocken und verhältnismäßig rein.
Wir schreiten weiter zwischen den Knochenwänden, auf denen flackerndes Fackellicht seltsame Effekte erzeugt. Schatten, die über das Gebein huschen, verleihen ihm eine Scheinbewegung.
Griff da nicht eine Hand nach uns? Traf uns nicht ein lauernder Blick aus einer Augenhöhle? Bei einer Elf-Uhr-Promenade auf dem Opernring verbraucht man viel weniger Phantasie als hier.
Wieder führen viele Stufen abwärts zu einem langen schmalen Quergang. Wir kommen an seitlich einmündenden Gängen vorüber, die bis zur Brusthöhe vermauert sind. Und über die versperrenden Quermauern bringt das Fackellicht in die ewige Nacht und zeigt uns Leichen und Gewandteile und Sargtrümmer, die chaotisch anderthalb Meter hoch aufgeschichtet die Breite des Ganges ausfüllen. Über sie hin sind Bretter gebreitet für den, der auf so schwankendem Wege kriechen will. Schon hat sich unser Empfinden im Reiche der Schatten, dem Gebiete ehemaliger Menschen, akklimatisiert. Das Grauen weicht dem Interesse, das Schauen dem Beobachten. Wir finden ein Kugelloch in der Stirn eines Schädels bemerkenswert, sehen an Totenköpfen lange Haarsträhne, in Nasen- und Augenhöhlen vertrocknetes braunes Fleisch und hie und da prächtige weiße Gebisse.
Wir sind unter dem Zwettlhof. Der Weg führt weiter durch saalartige Verbreiterungen des Ganges, an andern Gängen vorüber zur Kirche zurück. – So sagen die Führer. Uns fehlt die Orientierung, und wir empfinden, daß wir in labyrinthischen Irrwegen gehen. Ein Zurückbleiben hinter den Gefährten wäre peinlich, und die Führer behalten jeden von uns im Auge. Die schmalen Gänge beengen uns, das niedere Gewölbe bedrückt uns, und die lautlose Stille, das tiefe Schweigen in dem großen Grabe lastet auf uns. An vielen Stellen sind Särge bis zur Decke übereinandergeschichtet.
Wäre ein leichter Schmetterling, der an ihnen hingaukelte, nicht etwas Befreiendes, Erlösendes? Oder würde er uns an eine materialisierte Seele denken machen?
Da treten wir in ein geräumiges Gemach. Das Fackellicht kann es nicht ausfüllen. Nur unbestimmt sehen wir stellenweise Stuckornamente an der Decke, aber sie und die Wände sind dunkel vom Alter und dem Rauch der Fackeln derer, die hier seit Generationen die Toten besuchten. Mitten durch den Raum führt der Weg, zu dessen beiden Seiten je eine Reihe offener Särge auf dem Boden steht. Die Toten in ihnen tragen ihre Galagewänder und ihre Leiber sind nicht vermodert. Mit starren und harten Zügen im Gesicht haben sie zwei Jahrhunderte lang gewartet, bis wir kommen, und es wäre nur stilrichtig, wenn sie sich erhöben, um uns zu empfangen, zu begrüßen als die Repräsentanten ihrer zahllosen Gefährten im Acheron.
Wir sind im Empfangssaale der Toten. Was wir bis jetzt gesehen, sind Knochen, Schädel, Skelette; Symbole des Todes, die für uns Laien zeitlos geworden sind. Hier aber liegen unverweste Leichen wie die im Totenkeller von Palermo, denen ihre lebenden Verwandten an Festtagen neue, modische Gewänder anziehen. Die hier in den beiden Sargreihen liegen, scheinen aus dem Rokokosalon oder vom Exerzierplatz weg in die Katakomben gegangen zu sein und sich zu kurzer Siesta in die Särge niedergestreckt zu haben, erwartend, daß ein livrierter Lakai sie bald wecke. – Der bleiche Herr der Katakomben hat sie nicht geweckt. Ihre Gesichter sind vertrocknet, verschrumpft sind ihre Hände, und verblichen ist ihr Festgewand. Da liegt ein Mann. Er mag jung und Kavalier gewesen sein, da er starb. Die Farbe seines Samtrockes, dessen Schnitt mit der hohen Taille und den langen Schößen an die Theresianische Zeit gemahnt, ist schokoladebraun, seine seidenen Strumpfe sind violett und die Hochgestöckelten Schuhe tragen Silberschnallen. Neben ihm liegt ein Offizier. Seine Tracht läßt auf die Zeit der Schlacht von Zenta oder der Affäre von Belgrad schließen, und wir können uns gut vorstellen, wie er salutierend vor Eugenius gestanden. Silber blitzt auf seinem Tressenrock, und das dreispitzige Hütchen, federumsäumt, liegt auf dem Totenpolster neben seinem Haupt. In einem Prunksarge schläft – ein Sinnbild der Askese – in brauner Kutte ein Mönch. Sein verdorrtes Gesicht mit der mächtigen Nase erinnert an das Mumienhaupt des Ramses. Er mag einer der Prediger gewesen sein, die mit sengender Flammenrede gegen Hoffart und Fleischeslust gepredigt haben, ein Vorbild für gotische Bildhauer, die so trefflich Entsagung und Mystik ihren Mönchsstatuen aufprägten. Wir fühlen, daß wir etwas an dem Toten entbehren – daß ihm die schimmernde Gloriole des Heiligen fehlt. Ihm gegenüber ruht eine Äbtissin. Der Krummstab liegt neben ihr, und in ihrem schmalen, verschrumpften Gesicht ist noch Milde, Weiblichkeit und Würde. Und über allen liegen Jahrhunderte der Ruhe, des Schweigens.
Und weiter geht es durch winkelige Gänge, vorüber an übereinander getürmten Särgen, deren untere, morsch geworden, zersplittert waren unter der Last, die sie trugen. Vorüber an den nachgeglittenen, aufgebrochenen Särgen, und endlich – Tageslicht, Menschen, Fiaker, Leben. Das schönste Stuwersche Feuerwerk war nie so effektvoll wie der Sonnenschein auf dem Stephansplatz, da ich den Kopf aus der Falltür der Kruzifixkapelle erhob.
Ich hatte die Katakomben gesehen, die lange schon ein mich lockendes Geheimnis gewesen ... Sie sind noch heute ein Geheimnis. Nicht nur für mich. Für alle. Auch für das Dombaumeisteramt. Eigentlich sollte man das nicht laut sagen, denn offiziell bergen sie kein Geheimnis, sind in allen ihren Teilen genau bekannt, wie etwa der Wurstelprater, und völlig und präzis auch in ihren letzten Winkeln vermessen und in einem offiziellen Plan festgelegt. Punktum! – Was war nicht alles klipp und klar bewiesen, bis einer kam, der sagte: »Und sie bewegt sich doch!«
Und sie ist doch unbekannt, die Größe der Katakomben. Dem Offiziosus steht nur Volksüberlieferung entgegen. Daß aber ein fliegendes Wort, eine Idee, die nicht in Büchern festgebunden, über Generationen hinschweben und lebendiger, mächtiger wirken kann als ein starrer Lehrsatz in dürren Folianten, ist oft dagewesen, und lebende Erinnerung weiß oft mehr als Aktenfaszikel. Lange gab es überhaupt keinen Offiziosus, keinen Fachmann und keinen Forscher, der sich um die Katakomben bekümmerte. Sickingen und Weiß, die Wiener Geschichtschreiber schweigen über die Katakomben, und Tschischka und der vielbändige Hormayr, der in unendlichen Quellenangaben lustig plätschert, fertigen die Katakomben mit den Worten Ogessers ab: »Außerdem hat die Kirche noch dreißig unterirdische Gewölbe, jedes acht Klafter lang, drei breit und zwei hoch.« Nur der gewissenhafte Wienforscher J. Feil hat auf die »riesenhaften, bisher leider noch nirgends beschriebenen oder durch Situationszeichnungen zur Übersicht gebrachten Souterrains, jene kolossalen Katakomben, welche eine ungeheure Unterkirche bilden«, aufmerksam gemacht.
Darauf hat ein Stadtbauamts-Adjunkt vermessen – es war vor vielen Jahrzehnten – und hat festgestellt, daß die Katakomben nur ein Stockwerk haben und dieses nicht so ausgedehnt ist, wie man damals »fabelte«. Hat aber der Herr Adjunkt nicht vielleicht eine Vermauerung übersehen? Bermann sagt, daß im Jahre 1470 ein neues unterirdisches Beinhaus bei St. Stephan angelegt wurde und daß von daher die Entstehung der Katakomben datierte, »denen man ganz ungerechtfertigt ein höheres Alter zuschreibt«. Drei Zeilen weiter sagt er, daß zur Vergrößerung der Katakomben »die Keller, die unter dem Stephansfreythof bestanden«, benützt worden sind. Der Stephansfreythof war aber naturgemäß viel älter als das neue Beinhaus, und die »Keller« waren älter als der Freythof; denn es ist gewiß niemals jemand eingefallen, Keller unter einem Friedhof anzulegen. Der Friedhof wurde über den unbekannten unterirdischen Gängen angelegt, und diese wurden erst bei der Erweiterung des unterirdischen Beinhauses entdeckt.
Derselbe Historiker, der sagt, daß man den Katakomben »in großer Übertreibung eine übermäßige Ausdehnung gibt«, sagt auch, »daß wenn eine weitere Ausdehnung der Katakomben bestand, diese nur in der Richtung des Zwettlhofes möglich wäre,« und er gibt zu, daß dort Räume sind, die bisher noch nicht genau untersucht wurden. Sollte sie der Herr Adjunkt übersehen haben?
In der Nähe des Zwettlhofes hat man den Fußboden eines leeren Grabgewölbes aufgebrochen und hätte in ein zweites Stockwerk hinabsteigen können, wenn man die Särge, die dort bis zur Decke aufgeschichtet sind, hätte entfernen können. Warum hat man das große Kunststück nicht vollbracht, und wo ist der offizielle Eingang in das mit Särgen gefüllte Gemach? Sollte der Offiziosus sich darum nicht gekümmert haben? Guido List, der vielfabelnde Phantast, spricht von fünf Stockwerken. Zwei davon dürften erfunden sein. Aber ein klassischer Zeuge für das Vorhandensein eines zweiten Stockwerkes ist der gute Beobachter und Schilderer Adalbert Stifter, der anschaulich erzählt, wie er im Jahre 1844 zugesehen hat, als zwei seiner Begleiter bei einem Besuche der Katakomben auf einer Leiter in das zweite Stockwerk hinabgestiegen sind. Wagt es der Offiziosus, Stifter einen Lügner zu nennen? Stifter, der zu einer Zeit vom zweiten Stockwerk geschrieben, in der jeder Beliebige seine Beschreibung nachprüfen konnte?
Als man die Erde für den Bau der Fundamente des jetzigen Zwettlhofes aushob, stieß man an einigen Stellen auf Gewölbe, die zu den Katakomben gehörten. Der Plan aber reicht nicht bis zum Zwettlhof. Sollte der Herr Adjunkt nicht absichtlich manches verschwiegen haben?
Bei der Ausschachtung der Erde zum Baue des Rothbergerhauses fand man in großer Tiefe unter dem Straßenniveau einen Gang, der in der Richtung zum Riesentor führte. Gewiß hat manch einer der Hausmeister von alten Häusern in der Nähe des Stephansdomes Kunde von einem geheimnisvollen Gang, der vom tiefsten Keller aus erreicht werden kann – oder konnte, oder von einem Gange, der irgendwo ehemals von einem Keller aus erreichbar gewesen sein soll. Zahlreiche Gründe zwingen uns anzunehmen, daß die Katakomben unerforscht, daß ihre Ausdehnung unbekannt ist und daß ihre ältesten Teile, die wir nicht kennen, Geheimes bergen, dessen Auffindung für die Geschichte Wiens wichtig wäre.
Schade, daß sich nicht einige Männer in dem Bestreben zusammenfinden, in Wien archäologische »Kunsthöhlenforschung« zu betreiben und aufzusuchen, was in dem Boden Wiens seit 2000 Jahren an Interessantem und Wertvollem in Gruben Mund Gräbern, in Stollen und Gängen und Gewölben verborgen worden ist. Schade, daß in den Katakomben so vieles an Dingen und Eindrücken verschlossen ist. Mag es nicht mächtig ergreifend wirken, neben den Toten unter dem Presbyterium von St. Stephan durch die Gruftplatten den Gesang des » Dies irae« zu hören, und mag es nicht an das jüngste Gericht gemahnen, wenn des Domes große Glocke aufwacht, in deren Dröhnen der Heidenturm bebt und ein dumpfes Aufstöhnen die Grabgewölbe durchzieht? Schade, die Katakomben sind leer geworden, und ihre Geheimnisse sind vermauert ...