Balduin Groller
Die Tochter des Regiments und andere Novellen
Balduin Groller

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Meine Uhr.

Ich bin ein pünktlicher Mensch. Das sage ich nicht, um Reklame für mich zu machen. In einem Punkte, glaube ich, nur in einem, gleichen die Schriftsteller den Schauspielern – sie hassen die Reklame. Ich muß bitten – sie hassen sie; sie sagen es selber – und darum will ich nur, weil wir gerade vom Schießen reden, erwähnen, daß von meinem Rudi-Buche soeben eine neue, vermehrte Auflage erschienen ist und daß zu Neujahr eine neuer Novellenband von mir unter dem Titel »In den Tag hinein« zur Ausgabe gelangt; Verlag von E. Pierson in Dresden, Preis: 3 Mk.

Nach dieser, wie Sie sehen, notgedrungenen und mir von den Umständen wider meine Grundsätze geradezu aufgezwungenen Abschweifung beginne ich noch einmal damit, daß ich ein pünktlicher Mensch bin. Ich thue 190 mir nichts darauf zu gute; denn es ist ein Unglück, ein pünktlicher Mensch zu sein. Von Natur aus pünktlich sein, heißt, sein Lebelang verurteilt sein, die Galeerenkette des Ärgers und der Demütigungen mit sich herumzuschleppen. Man ist immer der Geleimte, der Gelämmerte, der Geblasmeierte, der Aufgesessene, und es erlaubt gewisse, im allgemeinen wenig schmeichelhafte Rückschlüsse auf die geistige Kapazität des immer und ewig Gefoppten, daß er mit einer rührenden Ausdauer doch wieder in die Laube geht, so oft es auch gewünscht werden sollte. Er kann nicht anders; es liegt in seiner Natur; er muß sich foppen lassen, und das Tag für Tag. Alle Erfahrung, alle Erkenntnis hilft ihm nichts; er ist seiner Natur unterworfen und kann aus seiner Haut nicht heraus. Er geht ins Amt, ins Geschäft, zu einem Stelldichein, zu einer Sitzung, er geht zu Jours, in Gesellschaften, zu Festlichkeiten – alle Abmachungen und Einladungen lauten dahin, »um pünktliches Erscheinen wird gebeten« –, und der Esel ist wirklich pünktlich! Dann steht er da, allein, überflüssig, verlegen in einer stillen, grimmigen Wut – und dann soll er liebenswürdig sein. Das auch noch! Hundert- 191 und tausendmal hat er es erprobt, daß das Warten und Warten etwas sehr Niederträchtiges ist und daß es sehr leicht etwas Angenehmeres geben kann, beispielsweise auf sich warten zu lassen; aber daraus die Nutzanwendung zu ziehen, das geht ihm wider die Natur, er kann nicht. Das gebrannte Kind fürchtet das Feuer, der Fisch, der schon einmal an der Angel hing und dann glücklich wieder loskam, das Getier im Walde, das einmal der Schlinge, der Falle oder dem Büchsenrohre bedenklich nahe kam, weiß sich für die Zukunft zu hüten, aber so viel Verstand, wie das kleine Kind, der Fisch im Wasser und das Wild im Walde, hat der pünktliche Mensch nicht. Er beißt doch immer wieder an und er fällt doch immer wieder herein.

Für einen pünktlichen Menschen spielt natürlich die Uhr eine sehr wichtige Rolle, und es gehört mit zur Tragik meines Lebens, daß ich in dieses Dasein hineingestellt worden bin, beladen mit dem Fluche der Pünktlichkeit, ohne daß man mich aber gleichzeitig ausgestattet hätte mit der entsprechenden Garnitur von Uhren. Ich bin noch nicht recht dahintergekommen, ob zwischen der Pünklichkeit und dem Pechvogeltum im allgemeinen 192 gewisse innere wahlverwandtschaftliche Beziehungen bestehen, aber das darf ich sagen, daß ich mit meinen Uhren bisher kein Glück gehabt habe. Dabei will ich von meiner großen Pendeluhr im Speisezimmer gar nicht reden. Die Arme hat Malheur gehabt. Sie bereitete mir während der ersten Nacht in der neuen Wohnung eine sinnige Überraschung. Ich dachte damals, daß es die neue Wohnung selbst sei, die da zusammenkrache, aber es stellte sich dann zur allgemeinen Befriedigung des ganzen Hauses heraus, daß nur die Uhr mit ihren schweren Gewichtern von der Wand heruntergefallen sei, da der Tapezierer, der sie Tags zuvor aufgemacht, sie nicht ordentlich eingehakelt hatte. Der Uhrmacher hat auch diese Uhr noch repariert – ich hätte nie gedacht, daß eine Uhr aus so unmenschlich vielen Stücken bestehen könne, als ich damals verstreut auf dem Boden sah –, aber daß man nach einem solchen Schicksalsschlag an diese Uhr nicht mehr besondere Ansprüche stellen dürfe, das begreift sich.

Auch was meine Vorzimmeruhr betrifft, möchte ich warnen, ihr zu viel Vertrauen entgegenzubringen. Sie ist der Obhut meines Dieners übergeben, und meinen 193 Diener kennen Sie doch zu wenig, vielleicht ich selbst nicht genug. Wie er es mit dem Aufziehen hält, dahinter bin ich noch nicht gekommen, dagegen weiß ich, daß er nach seinen jeweiligen Bedürfnissen, die ich allerdings auch noch nicht ganz erforscht habe, sie mehrmals im Tage um je eine halbe Stunde vor- oder zurückrückt. Eine solche Behandlung scheinen sich nicht alle Uhren gefallen lassen zu wollen, und die meinige gehört offenbar zu der Sorte der empfindlichen und leicht beleidigten. Ich erwähne die Sache überhaupt nur, um ein etwaiges ungünstiges Vorurteil gegen mich zu zerstreuen. Durch das Einbekenntnis meiner Pünktlichkeit scheint objektiv der Anlaß zu berechtigten Zweifeln an einer besonderen Geistesschärfe bei mir gegeben zu sein. Wenn ich aber hervorhebe, daß ich über meine Vorzimmeruhr noch immer nicht irrsinnig geworden bin, so glaube ich damit doch eine Art von Beweis für die leidlich solide Struktur meines Gehirns erbracht zu haben.

Eigentlich habe ich nur meine Taschenuhr gemeint; mit der habe ich nie im Leben Glück gehabt. Der ersten Knabenuhr durfte man manches nachsehen, wie sie auch beschaffen sein mochte. Ich war ein passionierter 194 Gymnastiker und in den viertelstündigen Pausen zwischen den Schulstunden lief ich immer auf den Spielplatz und hing an den Turngeräten. Daß der Bauchaufzug auf dem Reck sein naturgemäßes Ende gerade dort finden mußte, wo meine Uhr untergebracht war, und daß der Riesenaufschwung an der selben Stelle landete, durfte weder mir, noch der Uhr zur Last gelegt werden. Ich vertrug die Sache ganz gut, nicht so aber auch die Uhr. Gehen wir weiter; – das war es nämlich gerade, was meine Uhr nicht wollte.

Es kam die Firmung und damit die obligate neue Uhr. Eine gütige Tante hatte sie mir geschenkt. Ich habe im allgemeinen eine hohe Meinung von den Tanten, aber ich glaube, man thut Unrecht, bei Tanten besondere horologische Kenntnisse vorauszusetzen. Über das pretium affectionis reichte ihr Wert für mich niemals hinaus. Es war ein liebes Andenken, aber für die praktische Verwendung war sie nicht geeignet. Ein sinniges Andenken braucht ja auch nicht immer der gemeinen Nützlichkeit zu entsprechen, aber wenn die Uhr zufällig doch hätte gehen wollen, so hätte mich das ungemein gefreut. Dann kam die Universitätszeit, und ich wurde ein 195 Kapitalist. Es begannen Honorare einzulaufen für Lektionen und schon auch für litterarische Arbeiten. Dieses ungewohnte Zuströmen von Kapitalien verblendete mich; es folgte die Überspekulation, ich ließ mich in eine zu große Unternehmung ein: ich kaufte mir selber eine Uhr. Es giebt einen Punkt, in welchem ich mich von Tanten nicht wesentlich unterscheide. Bei alledem habe ich mir keine besonderen Vorwürfe zu machen; ich habe es an der nötigen Obsorge für meine Uhr nicht fehlen lassen. Für ihre Ausbildung habe ich viel gethan. Ich habe sie oft und viel und lang studieren lassen; auch auf ihre Sicherheit war ich wohl bedacht, und vor dem Hause, in dem ich sie untergebracht hatte, stand sogar ein bewaffneter Mann, der auf sie mit Acht gab. So wäre alles in schönster Ordnung gewesen, wenn es für mich nicht so umständlich gewesen wäre, auf die Uhr zu sehen, d. h. auf meine Uhr.

Jahre vergingen. Eines schönen Tages bin ich im Besitze einer Uhr, die bei meinen Freunden Sensation erregt. »Ah!« Das war aber auch eine Uhr! Auf alle Fragen antwortete ich mit jener kühlen 196 Vornehmheit, die sich bei großem Besitz von selbst einstellt. »System Berbennetz – Grandmont!« Ehrfürchtiges Staunen vor dem großartigen System. Meine Freunde, die – leider! – meine sportlichen Interessen nicht teilen, wußten nicht, daß Berbennetz ein miserables russisches Pferd und Grandmont ein guter italienischer Traber sei. Die Sache ging sehr einfach zu. Ich hatte auf die beiden Pferde gewettet und dabei einen Haufen Geld gewonnen. Das erspielte Geld wird, mit Recht, nicht geachtet, und man giebt es leicht wieder hin. Es kam mir also ganz gelegen, als mir ein Bekannter die Eröffnung machte, daß er eine gute Verwendung für meinen Gewinnst hätte, er wüßte eine Uhr – so etwas hätte ich überhaupt noch nicht gesehen. Einverstanden. Am nächsten Tage brachte er die Uhr, und ich kaufte sie. So einen guten Kauf hatte ich überhaupt noch nicht gemacht. Das war die Uhr, wie ich sie mir geträumt hatte. Sie schlug auf Wunsch die Stunden und Viertelstunden – wie angenehm in der Nacht, wo man, ohne Licht zu machen, erfahren kann, wie viel es geschlagen hat; und dann war es eine Stop-Uhr, also für einen Mann mit sportlichen Interessen geradezu 197 unentbehrlich. Nun konnte ich ja authentische Rekords aufnehmen; denn sie wies auch Fünftelsekunden aus. Die Herrlichkeit dauerte aber nicht lange. Schon nach kurzer Zeit nahm sie es mit den Fünftelsekunden nicht genau; sie sprang nicht korrekt ein, und der Zeiger schnellte nie mehr gerade auf den Punkt zurück, sondern ein bis zwei Fünftel zu viel oder zu wenig. Damit hatte die Uhr natürlich alles sportliche Interesse für mich verloren. Was aber das Schlagwerk betrifft, so hatte es einen ausreichenden Grund, den Dienst einzustellen. Ungewohnt, im Finstern mit einer Uhr zu hantieren, warf ich die meinige einmal vom Nachtkästchen herunter, und das schien ihr nicht zu behagen. Ich schickte sie zum Uhrmacher, aber der Diener kam mit der Uhr zurück, er wollte doch erst fragen. Der Uhrmacher hätte nämlich gesagt, die Reparatur würde doch wohl an zwanzig Gulden kosten. Ah, das ist allerdings etwas anderes! Wenn das schon soviel kostet, so werden wir sie nicht einem Vorstadt-Uhrmacher anvertrauen, für das Geld kann sie schon der Hof-Marine-Chronometermacher in die Arbeit nehmen. Der Hof-Marine-Chronometermacher nahm sie in die Arbeit, schickte jedoch dann eine 198 zwar sehr wissenschaftlich detaillierte und mir daher vollkommen unverständliche, im übrigen aber doppelt so hohe Rechnung, als ich erwartet hatte.

Es war nicht viel Zeit um, und sie blieb wieder stehen. Nun unterbreitete ich den Fall einigen Freunden.

»Das werden wir gleich haben,« tröstete der Novellist.

»Wir müssen sie aufsprengen,« meinte der Lokalredakteur.

»Wer soll sie aufsprengen?«

»Natürlich der Librettist.«

Und der geübte Librettist sprengte sie sofort auf, und dann steckten sie die Köpfe zusammen und machten sich darüber.

»Das Werk ist großartig!« meinten sie einstimmig.

»Möchtest Du nicht Deine tintige Feder aus dem Werk herausnehmen?« erlaubte ich mir in schüchterner Besorgnis zu fragen.

»Ruhe auf der Galerie!«

»Aha! Sie schnappt schon!«

»Um Gotteswillen! Wer schnappt?!«

»Die Kurbel!«

»Unsinn! Eine Uhr hat überhaupt keine Kurbeln!«

199 »Dann ist's etwas anderes, aber sie schnappt.« Der Novellist bleibt dabei, »sie« schnappt schon.

Meine arme Uhr schnappt wie ein zappelnder Fisch.

Auf einmal indianisches Kriegsgeheul. »Sie geht!«

»Die Uhr gefällt mir, ich kaufe sie,« ruft der begeisterte Lokalredakteur.

»Du weißt ja garnicht, was sie kostet.«

»Was sie auch kostet, ich kaufe sie!«

Ich überschlage rasch. Wenn ich die Uhr jetzt los werde, so ist das ein Glücksfall. Die Hälfte von dem, was sie kostet, wird ausreichen für eine Uhr, wie ich sie mir jetzt wünsche: eine Uhr, die keine Kunststücke kann, nur keine Kunststücke! Aber richtig gehen muß sie! – Ich mache einen Preis; er übersteigt die Hälfte des Anschaffungspreises nicht wesentlich. Das genügt für die Erfüllung meiner Sehnsucht nach einer Uhr ohne Kunststücke.

»Abgemacht!« sagte der Lokalredakteur und steckt die Uhr ein. »Ich kaufe sie, natürlich auf Ratenzahlungen,« fügte er gelassen hinzu.

Ach sooo! Eigentlich hatte ich mir doch eine andere 200 Methode als die des ratenweisen Abstreitens oder Schuldigbleibens vorgestellt, aber die Sache war gemacht.

Nun stand ich ohne Uhr da und mußte daran denken, mir eine neue zu kaufen. Natürlich war sofort ein Freund zur Hand, der mir eine Uhr wußte, eine wunderbare Uhr!

»Wenn sie keine Kunststücke kann!« erklärte ich peremptorisch.

»Absolut keine Kunststücke!« schwor er.

»Und richtig gehen muß sie!«

»Die Sonne richtet sich nach ihr.«

»Um so schlimmer für die Sonne!«

»Die Sternwarte pflegt sich sie auszuleihen, wenn sie in Verlegenheit ist.«

So kam ich zu meiner jetzigen Uhr. Daß doch das Wetter in alle Uhren schlüge, die nicht gehen wollen. Sie will nicht, sie will partout nicht gehen. Alle Vorwürfe nützen nichts. Mein Freund, das ist einer von der Sorte der Galgenhumoristen. Er findet jetzt selbst, daß die Uhr wirklich schlecht ist, und er begreift nicht, wie ein anständiger Mensch mit so einer Uhr herumgehen kann.

201 »Aber Mensch! So behandelt man doch einen Freund nicht!«

»Gerade einen Freund! Wenn ich einen Fremden so behandle, so könnte mich das ja um meinen ganzen Kredit bringen. Oh, ich halte viel auf meine geschäftliche Ehre, und wenn nicht an seinen Freunden, an wem sonst sollte man etwas verdienen?!«

Ich sehe ein, daß es unnütz wäre, ihn zu erwürgen. Man hätte nur Scherereien davon, und die Uhr ginge doch nicht. Die Geschichte wird eintönig. Ich höre auch schon auf und sehne mich im Stillen weiter nach einer gut gehenden Uhr, die keine Stücke spielt und keine Kunststücke kann. Ich hege aber ernstliche Zweifel, ob mir diese Sehnsucht je im Leben erfüllt werden wird.

Eine wichtige Lehre habe ich mir aber aus diesen wechselvollen Schicksalen gezogen und ich habe den Erfahrungsschatz meines Daseins mit einem neuen und überraschenden Lehrsatz bereichert. Der Satz lautet: Wenn man eine Uhr kaufen will, soll man zu einem Uhrmacher gehen. Sie sehen, man lernt etwas in der Schule des Lebens.

 

 


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