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Piroska richtete sich nun ihre Lebensführung auf ziemlich großem Fuße ein. Toiletten wurden für sie bestellt und Frau Simbach, es wurde an Schmucksachen eingekauft, was nötig erschien, ohne daß von Seite Herrn Bechers, dem die Rechnungen fleißig und mit 116 großer Pünktlichkeit übersandt wurden, je eine Bemerkung gefallen wäre, die als Mahnung zu etwas größerer Zurückhaltung hätte aufgefaßt werden können. Piroska freute sich darüber, ohne daß sie sich im Übrigen versucht gefühlt hätte, den Bogen noch mehr zu spannen. Sie hatte jetzt das wohlige und beruhigende Gefühl, daß sie reich war, und wenn sie auch klug genug war, sich zu sagen, daß damit nicht auch schon ihr Glück sicher geborgen sei, so war sie doch auch hinreichend praktisch angelegt, um zu erkennen, daß ihr dadurch in wichtigen Lebensfragen doch die Wege geebnet seien.
Eine Erscheinung wie die Piroska's konnte auch in Wien nicht lange unbemerkt bleiben. Sie erregte Aufmerksamkeit auf ihren Praterfahrten und wenn sie in den Theatern und Konzerten erschien, und das Interesse wuchs nur, als weltkundige Beobachter es bald konstatiert hatten, daß die ältere Dame in ihrer Gesellschaft nicht ihre Mutter sei. Eine alleinstehende junge Dame von so auffallender Schönheit, so ganz ohne Anhang und Familienbeziehungen; augenscheinlich eine Dame der Gesellschaft und doch mit so unbekanntem Namen, – das gab doch zu denken und zu reden. Ihr Auftreten ließ 117 auf ein großes Vermögen schließen; daß davon früher kein Mensch etwas gehört hatte! Wien ist eine Großstadt, aber man wird auch da nicht hereingeschneit, ohne daß sich feststellen lassen sollte, wie, wann, woher?
Jung, schön, elegant, mit einer Gesellschaftsdame statt einer Mutter – die Sache wäre so unerklärlich nicht gewesen, wenn man sich nur nicht der absoluten Unnahbarkeit gegenübergesehen hätte. Wenn da wirklich jemand dahintersteckte, so wußte er es, das mußte man sagen, ganz ausnehmend klug und geschickt anzustellen. Aber im Ernste konnte man auch daran nicht denken. Schön, elegant und – allein! Ja doch, einen Text konnte man sich dazu schon machen, aber die Geschichte klappte doch nicht.
Die Augen der großstädtischen Lebewelt sind für gewisse Dinge sehr geschärft, aber hier fehlten im Auftreten, im Gehaben, in der Toilette gewisse, sonst untrügliche Merkmale. Was also ist es denn mit der schönen Unbekannten, aus der kein Mensch klug wird?
Das interessante Problem blieb vor der Hand auch ungelöst. Denn während die Leute, die sonst nichts zu thun haben, als solchen Problemen nachzugehen und sie 118 schließlich aufzulösen, sich noch die Köpfe zerbrachen, war Piroska schon wieder aus Wien verschwunden. Herr Becher hatte, als die Hitze in die Wiener Gassen einzufallen begann, den Damen die Anregung gegeben, sich einen Sommeraufenthalt auszuwählen. Er ließ ihnen bei der Wahl vollkommen freie Hand und machte sie nur darauf aufmerksam, daß wenn sie es nicht vorzögen, in ein Seebad oder sonst wohin zu reisen, für sie ein hübsches Wohnhaus im Mürzthal am Fuße des Semmerings auf der steirischen Seite bereit stände. Das Haus stehe zwar auf dem Grunde der Sander'schen Glasfabrik, sei aber durch einen wundervollen Park vom Lärm und Getriebe der Fabrik geschieden und sei umschlossen von einer wahrhaft großartigen Hochgebirgsnatur.
Piroska entschied sich mit Freuden für die Villa, im steirischen Semmeringgebiet; das war es ja, was sie sich schon lange gewünscht hatte, weltabgeschiedene Stille im Schatten hochaufragender Berge und dabei doch die Möglichkeit, Menschen zu sehen und mit ihnen in Verkehr zu treten, wenn das Bedürfnis danach sich regte. Freilich, besondere gesellschaftliche An- und Aufregungen 119 waren nicht zu erwarten von den Beamten und Arbeitern in der Fabrik und ihren Familien, aber Piroska malte sich gerade diesen Verkehr im Geiste anziehender aus, als die geringen gesellschaftlichen Zerstreuungen, die ihr bis dahin in Wien zu Teil geworden waren. So zog sie denn nach Mürzthal.
Es war sogar ein feierlicher Einzug, der freilich nicht in allen Stücken glücklich verlief. Becher hatte von Wien aus die nötigen Weisungen für einen entsprechenden Empfang gegeben. Vor dem großen Fabriksthore war eine Triumphpforte aufgerichtet worden. Flaggen waren gehißt; die Tochter des Direktors hatte ein weißes Kleid angezogen und einen Blumenstrauß zur Begrüßung mitgebracht. Die Schulkinder waren unter Führung des von Sander besoldeten Lehrers ausgerückt; eine Musikkapelle spielte muntere Weisen auf und ließ nach der Begrüßungsansprache eines Werkführers einen mächtigen Tusch ertönen. Der Arbeiter-Gesangsverein trug ein Lied vor und dann krachten die Böller – und mit den Böllern eben gab es ein Unglück.
Der Bursche, der zu ihrer Bedienung aufgestellt 120 worden war, weil er von einer leidenschaftlichen Neigung, mit feuergefährlichen Dingen umzugehen, getrieben, sich selbst dazu gedrängt hatte, war im entscheidenden Moment unachtsam oder zu sorglos gewesen, kurz, er versah es in etwas, und als dann so ein Ding lustig loskrachte, riß es ihm auch gleich zwei Finger weg.
Friedrich, der wohlbeleibte Pförtner der Fabrik, stand gerade mit seiner schönsten Livree angethan in tiefster Verbeugung vor Piroska und Frau Simbach da, als man den totenbleichen und blutüberströmten Jungen herbeiführte. Sofort, als hätte die lachende Sonne sich hinter düsteren Wolken versteckt, änderte sich die festliche Scenerie. Alles eilte und schrie durcheinander. Die Schulkinder lösten das Spalier auf und liefen neugierig herzu; die Beamten schossen herum und beschworen die Menge, nur jetzt kein Aufsehen zu machen, wobei sie selbst das Aufsehen und die Aufregung nur noch vergrößerten. Die Angehörigen des Verwundeten wehklagten laut, die Frauen bemitleideten ihn, die Männer machten unwillige Bemerkungen über die Störung der Feierlichkeit und mit alledem war die festliche Stimmung völlig zerstoben.
121 In der allgemeinen Verwirrung und Bestürzung hatten nur Piroska und der Pförtner Friedrich die erforderliche Besonnenheit gezeigt.
Piroska hatte den nur leise stöhnenden jungen Menschen sanft unter den Arm gefaßt und ihn, ohne darauf zu achten, daß ihr helles Kleid von dem rinnenden Blute befleckt wurde, zu der Thür des Pförtnerhäuschens geführt. Friedrich war ihr vorangeschritten, hatte für sie den Weg freigemacht und dann die Thüre zu seiner Behausung geöffnet und nach ihrem Eintritt auch sofort wieder geschlossen, so daß nun der Verwundete mit den zwei Menschen, die sich seiner hilfreich annahmen, allein war.
Der Pförtner wartete den Arzt, um welchen sofort geschickt worden war, nicht erst ab, sondern begann gleich selbst mit gewandter Anstelligkeit und scheinbar guter Sachkenntnis das Nötige vorzukehren. Mit einem Ruck schob er ein Sofa von der Wand in die Mitte des Gemaches, damit man von beiden Seiten zu dem Leidenden konnte. Dann riß er ein Kopfkissen aus seinem Bett, legte es auf das Sofa und bettete den schon halb Bewußtlosen darauf. Dann schleppte er 122 Wasser herbei, wusch die schwere Wunde aus, ließ den armen Burschen einen Labetrunk thun und kramte schließlich in aller Eile sogar Verbandzeug hervor, mit dem er rasch und dabei doch behutsam und geschickt die Wunde verband.
Piroska half ihm mit den nötigen Handreichungen und sah mit einem gewissen Erstaunen zu, wie sicher und sachkundig der Pförtner operierte. Sie machte ihm eine wohlwollende Bemerkung darüber und dankte ihm für seine besonnenen und anscheinend durchaus zweckentsprechenden Vorrichtungen.
»In einer Fabrik giebt es leicht ein Unglück,« antwortete der Pförtner, indem er sich den Schweiß von der Stirne wischte, es war ihm warm geworden bei der Arbeit, »und da ist es gut, wenn immer wenigstens einer gleich bei der Hand ist, der sich in solchen Sachen auskennt.«
Der Verwundete lag still da. Solange der Arzt ihn nicht untersucht hatte, war ihm vor der Hand nicht weiter zu helfen. Piroska gab noch die Weisung, daß für den armen Burschen entsprechend gesorgt werde, reichte Friedrich für seine menschenfreundliche Bemühung 123 ein Geldgeschenk und trat dann wieder hinaus aus dem Häuschen. Draußen an der Thüre der Pförtnerwohnung stand Frau Simbach bleich und zitternd. Sie hatte sich nicht mit hineingewagt, weil sie den Anblick des Blutes nicht zu ertragen vermochte; sie konnte nicht, ihre Nerven gaben es nicht her.
Die beiden Damen ließen sich nun zu ihrer neuen Behausung führen. Der Park war in der That herrlich, das Haus vornehm und doch wohnlich, die Zimmer boten den Ausblick auf den Park und die majestätischen Berge. So freundlich aber auch alles anmutete, Frau Simbach war doch in sehr gedrückter Stimmung und konnte sich von dem ausgestandenen Schrecken durchaus nicht erholen.
»Wenn das nur kein schlechtes Vorzeichen gewesen ist!« klagte sie.
»Sind Sie abergläubisch, Frau Simbach?« fragte Piroska.
»Das bin ich nicht; aber auch ohne Aberglauben darf man entsetzt sein über ein solches Unglück und eine schlimme Vorbedeutung darin sehen.«
»Ich rede nicht davon, daß einem das Unglück nicht 124 nahe gehen soll; auch mir ist es nahe gegangen, aber Zeichen und Vorbedeutung darin zu sehen, dazu muß man doch schon ein wenig abergläubisch sein.«
»Es liegt aber sehr nahe, diesem Unglücksfall eine solche Deutung zu geben. Der arme Mensch!«
»Sie haben Recht, Frau Simbach,« erwiderte Piroska ernst; »es liegt nahe, und so will auch ich dieses Unglück als Vorbedeutung nehmen. Es weist mir den Weg, den ich hier zu gehen habe, und es zeigt mir, woran ich bisher nicht gedacht habe, daß ich hier doch nützlich sein kann, also wenigstens meine Tage nicht ganz zwecklos zu verbringen brauche. Sehen Sie, ich nehme es auch als Vorbedeutung, daß ich einem Menschen beistehen konnte, warum sollte ich mich nicht weiter bemühen, zu helfen, wo ich helfen kann?«
Es war keine flüchtige Laune gewesen, aus welcher heraus Piroska die Worte gesprochen hatte. Denn thatsächlich begann sie, sich das Leben nach diesen Worten einzurichten. Das war ein ganz merkwürdiger Sommeraufenthalt, den sie sich da einrichtete und wesentlich verschieden von dem, der sonst für Damen der Gesellschaft gebräuchlich sein mag.
125 Piroska besuchte die Arbeiterhäuschen, während die Männer bei der Arbeit waren, und sah nach den Frauen und Kindern. Da war kein Haus, in dem es nicht an irgend etwas gebrach und in dem nicht irgend ein Leid seine Schatten verbreitet hätte. Giebt es denn überhaupt ein solches Haus in der Welt, ganz abgesehen von den ärmlichen Hütten der Arbeiter? Aber gerade weil es Arbeiterhütten waren, stand es hier nicht selten in ihrer Macht Hilfe und Linderung zu bieten und manche trübe Sorge zu verscheuchen. Sie hatte ihre Armen, sie hatte ihre Kranken und sie hatte auch ihre Kinder. Sie sammelte die kleinen Mädchen der Arbeiterfamilien um sich, lud sie zu Spielen und kleinen Festmahlen in den Park, nahm sie auf Ausflüge mit und unterwies sie in Handarbeiten.
So hatte sie Tag für Tag vom Morgen bis zum Abend ihre Beschäftigung, und es gab der Besorgungen und Geschäfte so viele, daß eine ganze Kanzlei damit zu thun gehabt hätte, sie immer in Evidenz zu halten. Bald brauchte sie sich auch nicht mehr mit dem Aufsuchen zu bemühen, man kam dann schon von selbst zu ihr, wenn es irgendwo an irgend etwas fehlte und man 126 von ihr Hilfe erwarten durfte. Und sie war immer willig und verlor nie die Geduld, und wo sie nicht helfen konnte, ward doch ihr gütiger Zuspruch als Trost empfunden.
Da gab es wahrhaftig keinen Spielraum für die Langeweile, ja, es gab so viel zu thun, daß, als der Sommer um war, sowohl Piroska wie Frau Simbach, die ihr bei all ihrem menschenfreundlichen Thun treu zur Seite gestanden hatte, einsahen, daß es für sie ganz unmöglich sei, abzureisen. Es verging der Oktober, es kam der November und brachte den frühen Winter mit, und dieser fiel auch gleich grob und rauh herein. Der Schnee lag überall meterhoch; die grüne Steiermark war weiß geworden. Da waren Kinder krank, deren Genesung doch erst abgewartet werden mußte, – inzwischen freilich wurden wieder andere krank, – aus einem Hause war der Ernährer herausgestorben, da durfte die arme Frau mit ihren Würmern nicht im Stiche gelassen werden. Die Handarbeitsschule mußte doch auch zu einem gewissen Abschluß gebracht werden, wenn sie nicht ganz zweck- und erfolglos bleiben sollte, kurz – es ging nicht mit der Abreise.
127 So rückte der Dezember heran, und da meinte Piroska, daß es Schade wäre abzureisen, ohne vorher ihren Schützlingen und Pfleglingen eine Weihnachtsfeier bereitet zu haben. Es wurde also das Christfest abgewartet, und darauf war es klar, daß sie sich der Pflicht nicht entziehen durfte, Neujahrsgeschenke zu verteilen, auf welche man manchen Orts wohl schon gerechnet haben mochte.
Mitte Januar endlich wurde die Rückkehr nach Wien bewerkstelligt. Piroska hatte sich im Stillen auf die Anregungen des Großstadtlebens schon gefreut, aber zu ihrem Erstaunen mußte sie nun die Wahrnehmung machen, daß sie die erste Empfänglichkeit für dieselben zum guten Teile verloren hatte. All die kleinen Sorgen und Beschäftigungen, die sie im Mürzthal in Atem gehalten hatten, erschienen ihr jetzt wichtiger und bedeutungsvoller, als die Zerstreuungen, welche ihr die Großstadt zu bieten hatte.
Eine Nachricht brachte in die Einförmigkeit ihres Daseins eine gewisse Unruhe. Herr Becher hatte ihr mitgeteilt, daß der Chef geschrieben habe, er wolle seine Reise abkürzen und gedenke, schon im Monat März in 128 Wien einzutreffen. Der Brief war aus Yokohama datiert, es war also eine gewaltige Strecke, die ihn noch von der Heimat trennte. Piroska ließ sich von Becher den Weg beschreiben, den Rudolf Sander auf seiner Reise zurückgelegt hatte, und zu Hause studierte sie dann in den Karten den Weg genauer. Je mehr sie sich in die Einzelheiten dieser Weltfahrt vertiefte, desto mächtiger regte sich in ihr selbst eine unbestimmte Sehnsucht ins Weite. Am liebsten hätte auch sie sich gleich aufgemacht zu einer solchen Reise. Was hielt sie denn zurück? Und wenn sie auf der Reise starb und verdarb, – wem wäre das nahe gegangen?
Das Gefühl der Einsamkeit und des Verlassenseins, das sie im stillen Mürzthal niemals bedrückt hatte, überfiel sie im Gewühl der Großstadt mit peinigender Gewalt und bewirkte eine tiefe Herabstimmung all ihrer Lebensgeister. Mit dieser seelischen Depression in Verbindung stand der Gedanke an Sanders Rückkehr. Von allen Menschen auf der Welt war er vielleicht der einzige, der eine Art Pflicht ihr gegenüber hatte. Hatte er nun dieser Pflicht Genüge geleistet? Nein, und tausendmal Nein! Sie lebte in Wohlstand und litt 129 keinen Mangel, – wenn das kein Mangel ist, daß man jede, aber so jede Spur eines warmen, teilnahmsvollen Gefühles entbehren muß. Daß sie wenigstens vor Not geschützt war, das dankte sie ihrem Vermögen, und das war nicht sein Verdienst, und wenn es das auch gewesen wäre, – ein einziges Zeichen persönlicher Teilnahme hätte er sich wohl abringen dürfen, ein einziges! Aber niemals hatte er sich um sie bekümmert, niemals, er, ihr Pflegevater! Er war der Verwalter ihres Vermögens und dem Anscheine nach ein getreuer und gewissenhafter Verwalter, aber dazu verhielt ihn ja das Gesetz, und mehr als die Paragraphen des bürgerlichen Gesetzbuches verlangen, hatte er wahrhaftig nicht gethan. Nicht einmal die Mühe hatte er sich genommen, sich seine Pflegetochter auch nur ein einziges Mal anzusehen! Er kannte sie noch nicht einmal, und er hatte niemals den Versuch gemacht, sie aufzusuchen, sie sich auch menschlich nahe zu bringen.
Nun sollte er zurückkehren, und da war eine persönliche Begegnung wohl nicht mehr zu vermeiden. Mit einem Gefühle des Mißbehagens dachte Piroska an diese Begegnung. In ihrem Herzen hatte sich ein Groll 130 aufgehäuft gegen den Mann, der so offenkundig gezeigt hatte, daß er ihr gegenüber seine dürre gesetzliche Pflicht, aber auch nicht ein Atom darüber thun wolle.