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Vierzigstes Kapitel.

Herr Gryce hat mir später erzählt, daß es nicht erst der Benachrichtigung durch seine Geheimagentin bedurft hatte, um ihn die nötigen Vorbereitungen im Hause Fräulein Spicers treffen zu lassen, in dem er Beamte sich als Lohndiener vorstellen und engagieren ließ. Mir erkennt er das Verdienst zu, ihn zuerst auf die Möglichkeit aufmerksam gemacht zu haben, daß die ganze Tragödie, die zwar später erst mit der Hinrichtung John Randolphs zu Ende ging, bei Fräulein Spicer zum vorläufigen Abschluß kommen sollte. Ja, noch mehr, er war sogar darauf gefaßt, daß Ruth Oliver den Bräutigam Fräulein Althorpes als Mörder enthüllen würde. Er hatte zwar an jenem Morgen, als ich ihm von meinen Erwägungen und Kombinationen Mitteilung machte, getan, als ob er das alles für Phantastereien hielte und hatte auch tatsächlich nicht etwa sofort daran geglaubt, daß ich mich auf dem richtigen Wege befand. Aber, so sagte mir Herr Gryce, bei der Verwirrtheit der ganzen Angelegenheit, bei all den Gründen, die bereits gegen die Schuld der Brüder Van Burnam sprachen, bei der Unmöglichkeit, einen anderen Verdächtigen zu finden, mußte jeder auch noch so schwache Hinweis berücksichtigt werden. Und dann, wenn ich auch nicht so wie Sie als Frau viel auf meine Instinkte gebe, in dem Augenblick, als Sie mir das alles erzählten, hatte ich doch das sichere Gefühl: da ist etwas dran, hier mußt du suchen! Und, Miß Butterworth, Sie haben gar nicht so unmethodisch gehandelt, wie Sie glaubten. Sie hatten ganz recht, als Sie sagten, in der Szene, da Ruth Oliver plötzlich vor dem Wagen Howard Van Burnams zurückprallte, mußte irgend ein Hinweis auf die Lösung des Rätsels vorhanden sein. Wir hatten ihn nur nicht bemerkt oder nicht zu deuten gewußt. Deshalb haben Sie mit Recht sich Stück für Stück jene Szene rekonstruiert und jeden Punkt mit jedem anderen in Verbindung zu bringen versucht. So kamen Sie auch dazu, die Insassen des herankommenden Wagens mit Ruth Olivers plötzlichem Entschluß und Gesinnungsumschwung in Verbindung zu bringen. Aber dann, verehrte Miß Butterworth, sind Sie nicht konsequent genug vorgegangen. In dem herankommenden Wagen saßen drei Personen. Sie brachten nur die eine, nämlich Fräulein Spicer, ernsthaft in Verbindung mit Ruth Olivers Benehmen. Und da Ihnen diese Verbindung schon genügend schien, um Ruth Olivers Verhalten psychologisch erklären zu können, untersuchten Sie die Verbindungslinien zwischen ihr und dem Brautpaar nur ganz oberflächlich, nur so weit Ihnen Fräulein Spicers Herannahen nicht in allen Punkten Ruth Olivers Verhalten zu begründen schien. Nachher kamen Sie freilich auf dem Wege anderer Gedankenverbindungen auch auf die Idee, daß am Ende Herr Stone mit jenem Verbrechen in Verbindung stehen könnte, aber Sie wagten selbst nicht, diesem Gedanken irgendwie näher zu treten, ihn zu erproben und zu untersuchen. Er kam Ihnen absolut phantastisch und unbegründet vor. Das war er auch, trotzdem er das Richtige traf.

Sie machen jetzt ein Gesicht, verehrte Miß Butterworth, als ob sie dächten: dabei ist der alte Kerl erst durch mich auf das Ganze gekommen! Gewiß, das gebe ich zu. Aber ich habe sofort, sowie Sie vor meinem Geiste die Möglichkeit auftauchen ließen, daß Ruth Oliver Fräulein Spicers Wagen erblickt hätte und sich deshalb in den Wagen Howards flüchtete, – da habe ich mir sofort vorgenommen, Ruth Olivers Verhältnis zu jeder der drei Personen genau zu untersuchen und jeder dieser Personen genau nachzuforschen.

Sie werden mir glauben, daß die Stimmung eine sehr gemischte war, in der ich auf die Nachricht meiner Geheimagentin, Ruth Oliver wäre zur Gesellschaft bei Fräulein Spicer gefahren, zu deren Haus fuhr. Denn die Befürchtung, die ich hegte, Ruth Oliver würde ihr Versprechen nicht halten, war zur Hälfte eine Art Hoffnung gewesen. Ja, ich kann es nicht abstreiten, ich hoffte, sie würde ihr Versprechen nicht halten, und mir würde die Möglichkeit gegeben, was noch an Beweisen fehlte zusammenzubringen und damit die Gelegenheit geboten, zu zeigen, daß ich noch nicht so altersschwach geworden bin, wie viele gerade nach der Affäre Van Burnam annahmen.

Nun, dies Gefühl verstand ich durchaus, aber ich konnte Herrn Gryce wenigstens damit trösten, daß ich ihm aus ehrlichem Gewissen versicherte, er hätte gewiß auch ohne Ruth Olivers Enthüllung die Lösung des Rätsels gefunden.

Den Brief, den Ruth Oliver hinterließ, hatte sie mit dem Namen Olive Stone unterzeichnet, einem Namen, der ihr auch rechtmäßig zukam, denn wie es sich herausstellte, war der Name Randolph, unter dem er sie geheiratet hatte, ein angenommener Name, und der, unter dem er in New York lebte, sein Verbrechen beging und sühnte, der richtige Name.

Der Brief enthielt eine genaue Darstellung der Vergangenheit Ruth Olivers und dessen, was uns über Entstehung und Verlauf des Verbrechens noch unklar war.

Das junge Mädchen war die Tochter eines wenn auch wohlhabenden so doch einfachen Landmanns in Michigan, der ihr keine besonders gute Erziehung zuteil werden ließ, wenigstens wenn man darunter ein höheres Maß von Kenntnissen versteht, als dazu gehört, eine einfache, tüchtige Landwirtsfrau zu sein. Olive war schön. Sie kümmerte sich aber nicht um die Männer, die sich eifrig um sie bewarben, bis sie eines Tages am Ufer des Sees einem jungen Mann begegnete, der durch seine stolze Schönheit auf den ersten Blick ihr Herz gewann. Und sie merkte wohl, daß auch sie sofort einen starken Eindruck auf ihn gemacht hatte. In einer Weise, die sie durchaus nicht verletzen konnte, suchte der junge Mann Annäherung, und es dauerte nicht lange, so gestanden sie sich ihre Liebe. Aber trotzdem sie oft zusammen waren, war von Heiraten nicht die Rede, bis endlich ihr Vater hinter das Liebesverhältnis kam, den jungen Mann stellte und ihn aufforderte, entweder sofort die Gegend zu verlassen oder seine Tochter zu heiraten.

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John Randolph erklärte, daß er infolge seiner pekuniären Verhältnisse zurzeit nicht in der Lage sei, eine Ehe einzugehen. Aber wenn es ihm gelungen wäre, sich eine entsprechende Stellung zu schaffen, wolle er wiederkommen und dann Olive, von der er nicht lassen könnte, um ihre Hand bitten. Der Alte wollte auf keinerlei Kompromisse eingehen, und unter den verzweifeltsten Ausbrüchen des Schmerzes mußten die Liebenden sich trennen. Randolph wollte noch am selben Abend abreisen. Doch schon am nächsten Tage war er wieder da und erklärte, er könne sich von Olive nicht trennen. Er hätte es sich überlegt, die Heirat wäre doch schon jetzt möglich.

Der Alte hatte große Bedenken, aber schließlich gab er den Bitten seiner Tochter nach, und bald fand die Trauung statt.

Das junge Paar blieb in Michigan, und alles ließ sich zu Anfang aufs beste an. Niemand, der sie sah, konnte an ihrem Glück und an ihrer leidenschaftlichen Liebe zweifeln.

Aber allmählich kamen doch kleine Mißhelligkeiten vor. Der Grad der gesellschaftlichen und geistigen Bildung der beiden war ein zu verschiedener. Olive war zwar schön, aber doch nur ein Landmädchen, das eine rauhe, derbe Sprache führte, wie sie die Leute jener Kreise in ihrer Gegend sprechen. Und bäuerisch waren auch ihre Kleidung und ihr Geschmack. Randolph aber war schon damals, wenn auch in bescheideneren Verhältnissen, der perfekte Gentleman, als den wir ihn später kannten. Zu Anfang hatte die Leidenschaft den Gegensatz überbrückt. Aber allmählich kam dieser Gegensatz ihm immer mehr zum Bewußtsein. Er suchte zuerst vorsichtig und schonend, dann aber, als sie ihn nicht gleich verstand und auf seine Absichten einzugehen wußte, in deutlicherer und heftigerer Weise ihre Sprache, ihr Benehmen, ihre Toilette nach der in seinen Kreisen üblichen zu verändern. So kam es bald und immer öfter zu leidenschaftlichen Szenen, über die Olive um so trostloser war, als sie fühlte, ihr Mann hätte in seinen Absichten nicht ganz unrecht.

Daher war es ihr nicht ganz unlieb, trotzdem ihre Neigung zu ihm durchaus nicht schwächer geworden war, daß ihr Mann eine auf mehrere Monate projektierte geschäftliche Reise antreten mußte. In dieser Zeit wollte sie mit Hilfe von Lehrern und Büchern ihre Bildung vervollständigen, und ihr Vater war einsichtig genug, ihr die Mittel dazu zu gewähren. So machte sie sich mit Feuereifer und großem Erfolg an die Arbeit.

Anfangs schrieb ihr Mann häufig, und aus seinen Briefen sprach eine innige Liebe und eine große Sehnsucht nach ihr. Allmählich aber wurden die Briefe seltener und kühler. Olive weinte darüber, aber sie redete sich immer ein, daß sie sich über den Ton täusche, und daß das seltene Schreiben wirklich, wie Randolph angab, durch Ueberlastung mit Arbeit zu entschuldigen sei.

Immer länger dauerte seine Abwesenheit, immer größer wurden die Zwischenräume zwischen seinen Briefen, und schließlich kamen überhaupt keine mehr. Zu dieser Zeit starb Olives Vater. Er hinterließ ihr nur ein geringes Erbteil. Immer noch hoffte die verzweifelte junge Frau auf ein Lebenszeichen von ihrem Manne und wartete auf ihn in der Heimat. Schließlich aber sah sie ein, daß sie von ihrem Mann verlassen worden war, und mit dem letzten Rest ihres kleinen Kapitals fuhr sie in die nächste große Stadt, um sich auf Grund der von ihr erworbenen Bildung ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Kraft ihrer Energie gelang es ihr auch. Ja, sie konnte sich sogar ein kleines Kapital erwerben. Ihren Mann hatte sie nicht vergessen, nicht die Hoffnung aufgegeben, ihn wiederzufinden.

Am ehesten glaubte sie ihn in New York finden zu können, denn er hatte wiederholt davon gesprochen, daß er, wenn er nur die ersten Grundlagen zu einem Vermögen gewonnen hätte, dorthin gehen wollte, um sein Glück zu machen.

Sie befand sich bereits einige Zeit in New York, als sie eines Tages auf der Straße jemanden von weitem sah, der sie an John Randolph erinnerte. Sie eilte ihm nach; je näher sie ihm kam, desto überzeugter wurde sie, sich nicht zu täuschen, so daß sie, als sie ihn erreicht hatte, ihn am Arm berührte. Er wandte sich um. Es war tatsächlich ihr Mann.

Zuerst prägte sich ein grenzenloser Schreck in seinen Zügen aus, wie sie sich nachträglich erinnerte. Aber schnell nahm er sich zusammen und tat, als ob er sich vor Freude nicht zu fassen wüßte. Ihren Vorwürfen zuvorkommend, erzählte er ihr in aller Eile eine lange Geschichte von geschäftlichem Unglück, monatelanger schwerer Krankheit, die ihm das Bewußtsein raubte, und von verlorenen Briefen. So wußte er in ihr den Eindruck zu erwecken, als ob er vergeblich nach ihr geforscht und sich schließlich eingebildet hätte, ihr wäre ein Unglück zugestoßen. Er habe die Absicht gehabt, in den nächsten Wochen nach Michigan zu fahren und persönlich zu versuchen, ob er ihre Spur auffinden könnte. Das trug er mit seiner wohlklingenden Stimme und den ausdrucksvollen Mienen seines Gesichts so überzeugend vor, daß Olive alles, was er ihr erzählte, glaubte, und die Liebe, die sie noch immer für ihn hegte, durch das plötzliche Wiedersehen und die augenscheinliche freudige Erregung des Geliebten nun wieder in alter Kraft sich ihrer bemächtigte.

John Randolph erklärte, nun würden sie sich nie wieder trennen. Selbstverständlich müßte Olive ihn nun in seine Wohnung begleiten. Olive war damit durchaus einverstanden, nur meinte sie, sie müßte erst ihre Sachen, die sie in einem Logierhause am anderen Ende der Stadt hatte, abholen. Er aber warf ein, es würde gleich zu regnen beginnen, und es hätte ja keinen Zweck, noch heute die Sachen zu holen; das könnte auf morgen verschoben werden. Plötzlich blieb er dann stehen und musterte mißfällig Olives Toilette, von der sie doch geglaubt hatte, daß sie recht hübsch und kleidsam sei. Er aber erklärte, er wolle sie als seine Frau nicht in dieser Weise vorführen, und bestand darauf, daß sie in das Geschäft gingen, vor dem sie gerade standen, um ihr einen Staubmantel zu kaufen, der ihr Kleid verdeckte. Sie fügte sich, weil sie seine Eigenheiten in dieser Beziehung von früher her noch gut in Erinnerung hatte. Auf seinen Wunsch kaufte sie sich in einem andern Geschäft noch einen Schleier, den sie aber selbst bezahlte. Dann sagte er: »So, jetzt passen wir recht gut zusammen,« und dabei wies er auf den Regenmantel, den er trug. Olive war eigentlich nicht der Meinung, denn ihr Mantel war neu, und der ihres Mannes sah ziemlich abgetragen aus.

Daraus geht hervor, daß Stone den Mantel aus dem Van Burnamschen Bureau tatsächlich nur mitgenommen hatte, um seinen guten Anzug gegen den drohenden Regen zu schützen. Ebenso hatte er rein zufällig den Schlüssel, den Howard Van Burnam verlor, aufgehoben, war durch Zufall daran gehindert worden, Howard einzuholen, und hatte sich vorgenommen, ihm den Schlüssel so schnell wie möglich zurückzugeben oder zuzusenden. Wer weiß, ob ohne diese Zufälle das Verbrechen nicht ungeschehen geblieben wäre.

Nachdem sie also den Regenmantel und den Schleier für Olive gekauft hatten, gingen sie durch einige kleinere Straßen. Olive nahm an, er führe sie nach seiner Wohnung. Plötzlich aber blieb er vor einem ansehnlich aussehenden Hotel stehen, eben dem Hotel D., und sagte zu ihr: »Weißt du, du kannst den Mantel schließlich nicht immer anbehalten, und ich möchte, wenn ich dich in mein Haus führe, dich so angezogen sehen, wie es meiner Frau gebührt.« Sie war erstaunt, denn so wie er in dem schäbigen Regenmantel aussah, konnte sie nicht annehmen, daß er eine besonders glänzende gesellschaftliche Stellung einnahm, wie er ihr anzudeuten schien.

Er schlug ihr vor, sie wollten in das Hotel eintreten, ein Zimmer nehmen und eine Bestellung nach einem feinen Geschäft schicken, so daß sie sich von Kopf bis zu Fuß neu ausstaffieren könnte. Und mit jenem Lächeln, dem sie nie widerstehen konnte, fügte er noch einen romantischen Grund dafür hinzu. Sie wäre doch seine Frau, gehörte ganz zu ihm, und er möchte sie in sein Haus führen, nur mit Sachen bekleidet, die er alle selbst bezahlt habe. Gewiß war das wunderlich; aber was sollte sie schließlich mehr darin finden, als eben nur eine Laune? Und weshalb sollte sie, die glücklich war, wieder ganz mit ihm zusammen zu sein, ihm einen so harmlosen Wunsch abschlagen?

Verwundert war sie auch darüber, daß er, der sonst durch seine stolze Haltung und seine feinen Züge aller Blicke auf sich zog, in dem Augenblick, als sie das Hotel betraten, sich ein so unscheinbares Ansehen zu geben wußte, daß er völlig verändert aussah. Und als er gar von ihr verlangte, sie solle den Namen ins Fremdenbuch schreiben, sträubte sie sich energisch dagegen. Da sah er sie mit einem spöttischen Blick an und fragte, ob sie am Ende auch in der Zwischenzeit noch nicht schreiben gelernt habe. Sie dachte, er wolle sie auf die Probe stellen, und wenn sie das auch aufs höchste verletzte, willfahrte sie doch seinem Verlangen. In der Erregung über die Beleidigung, und da sie die Handschuhe anbehielt, wurden ihre Schriftzüge so eigentümlich, daß man später geglaubt hatte, sie wären verstellt. Daß sie aber den Namen James Pope einschrieb, kam daher, daß ihr Mann, als sie zum Bureau schritt, ihr sagte, es brauche nicht jeder zu wissen, er habe mit seiner Frau erst einen Tag im Hotel zugebracht. Sie solle irgend einen beliebigen Namen schreiben. Und sie schrieb den ersten besten, der ihr einfiel.

Als sie dann oben in dem Zimmer waren und er Hut und Mantel abgelegt hatte, sah er so wunderbar schön und vornehm aus, daß sie nun seine sonderbaren Wünsche fast begreiflich fand, und ihre Glückseligkeit, nun diesen Mann ganz für sich zu haben, ließ sie alles blindlings tun, was er wünschte. Sie mußte eine Liste sämtlicher Gegenstände, die zu einer Damenausstattung gehören, aufschreiben, mit allen Maßen, die sie genau kannte; wir wissen, wie diese Gegenstände nach dem Hotel gebracht und in Empfang genommen wurden. Die Schuhe wechselte sie nicht, unter dem Vorwand, sie seien offenbar zu klein. In Wirklichkeit schämte sie sich, von den alten Schuhen in Randolphs Gegenwart das Futter loszutrennen, um das Geld herauszunehmen, an dem sie ja vor allem deshalb hing, weil sie es sich selbst erworben hatte.

Während sie sich nun unterhielten, hatte sie wohl manchmal den Eindruck, daß er plötzlich zögerte und angestrengt über etwas nachdachte. Aber er wußte das durch um so liebenswürdigeres Benehmen immer wieder zu verdecken und gab fortwährend seiner Freude Ausdruck, sie nun als Herrin in sein Haus führen zu können. Einmal wunderte sie sich, als er nach seinem Taschentuch griff und zugleich mit diesem einen Schlüssel herauszog, den er dann wie überrascht betrachtete. Er verfiel wieder längere Zeit in Stillschweigen und sah scheinbar sehr zerstreut immer wieder auf den Schlüssel. In diesem Augenblick muß der Plan seines Verbrechens feste Form angenommen haben. Als er ihren erstaunten, fragenden Blick bemerkte, nahm er sich zusammen, steckte den Schlüssel wieder fort und begann ihr zu erzählen, daß er vor kurzem erst ein großes, schönes Haus in der vornehmsten Gegend gemietet habe, da ihm in letzter Zeit hier in New York einige geschäftliche Spekulationen geglückt seien. Das Haus wäre zwar noch nicht völlig für die Aufnahme der Bewohner fertig, jedoch sei die Einrichtung schon vollständig aufgestellt, und bei näherem Nachdenken paßte es ihm doch nicht, sie erst in sein kleines Quartier zu bringen, das bloß für eine Person berechnet wäre; auch hielt er es für schicklicher, sie gleich in das Haus zu führen, das von jetzt ab ihr Heim werden sollte.

Dies letzte sagte er wieder in so zarter Weise, daß sie ganz gerührt wurde. Wie er dann begründete, daß sie erst so spät abends das Hotel verließen, um nach seinem Haus zu fahren, das geht aus dem hinterlassenen Brief ebensowenig mit Sicherheit hervor, wie das, weshalb sie keinen Argwohn schöpfte, als er unterwegs den Wagen wechselte und augenscheinlich den ersten Wagen nach einer ganz falschen Richtung fahren ließ. Aber wir dürfen nicht vergessen, daß manches, was uns jetzt verdächtig erscheint, weil wir das Ende kennen, der jungen Frau ganz harmlos vorkommen mußte. Unmöglich konnte sie doch bei dem, den sie liebte, einen solchen Grad von Tücke voraussetzen, unmöglich daran denken, daß er die Absicht habe, sie zu ermorden. Nein, er wußte sie in eine solche Stimmung zu versetzen, die man nicht anders als romantisch bezeichnen kann. Sie hatte, wie sie selbst schreibt, nach all seinen Erzählungen von dem Reichtum und der Pracht, die sie erwarteten, bei dem Glücksgefühl, das sie erfüllte, die Empfindung, als befände sie sich im Feenlande, und er sei der Prinz, der sie aus ihrem Zauberschlaf erlöste.

Das alles wurde durch die zarten Motive, die er für das eine oder das andere doch allzu Verwunderliche anzugeben wußte, noch verstärkt. Den Mantel, den er ihr gekauft hatte, ließ er angeblich deshalb in der Droschke liegen, weil er nur den Zweck verfolgt habe, die Kleider, die er nicht selbst gekauft hatte, zu verhüllen. Er gehörte also eigentlich noch zu der traurigen Vergangenheit, von der nun nicht mehr die Rede sein dürfe. Andererseits aber war es doch das erste Geschenk, das er ihr nach ihrem Wiederfinden gemacht hatte, und so mußte er doch ein Stückchen wenigstens davon zur Erinnerung behalten. Sie achtete nicht darauf, daß er gerade das Stückchen mit dem Aufdruck der Firma herausschnitt.

Daß sie sich der Pakete entledigten, war, wie er sagte, notwendig, da ja eben nichts aus der Vergangenheit sie in das neue Leben begleiten sollte. Auf der Fahrt in dem zweiten Wagen nach Grammercy Park zog er sie leidenschaftlich an sich und löste, um sie zu küssen, ihren Schleier. Dazu mußte er die Hutnadel herausziehen, und als sie sie nachher wieder haben wollte, erklärte er, er habe sie verloren. Es war die Nadel, mit der er den Mord beging. Das hat sie sich später klar gemacht, und nichts hat sie in der Erinnerung so sehr erbittert, als daß er in einem Augenblick, in dem er den leidenschaftlich Verliebten spielte, die letzte Vorbereitung zu dem Mord traf. Das Zerschneiden des Schleiers aber begründete er damit, daß sie ihn mit ihrem eigenen Gelde bezahlt hätte. Und es sollte keine andere Frau diesen Schleier, der ihr Gesicht berührt hatte, wieder tragen können.

Nachdem sie den Kutscher bezahlt und der Wagen sich entfernt hatte, ließ sie zufällig die Augen über das Haus schweifen, vor dem sie nun standen. Der imposante Anblick des Hauses schüchterte sie ein, aber sie überwand dieses Gefühl und lief voll freudiger Erwartung die Treppe hinauf. Als sie in das Haus eingetreten waren, schloß er sorgfältig die Haustür und tastete dann nach ihr. Wenigstens schien ihr das so, denn er rief in ungeduldigem Tone: Wo bist du denn?

Sie stand schon aus der Schwelle des Salons, zu dem sie sich hingetastet hatte, während er noch mit dem Verschließen der Tür beschäftigt war, und antwortete halblaut: Hier.

Aber sie konnte nichts hinzufügen, denn im selben Augenblick hörte sie im Hintergrunde des Salons ein leichtes Geräusch, welches sie in solchen Schrecken versetzte, daß sie eiligst gegen die Treppe zurückwich. Da gerade ging er in der Dunkelheit an ihr vorbei und trat in den Raum, von wo das merkwürdige Geräusch gekommen war. Aber Liebchen, flüsterte er, wo bist du denn? Und er tastete sich weiter durch den Salon.

Plötzlich konnte Olive – sie wußte sich später selbst nicht zu erklären, dank welcher Fähigkeit – von ihrem Platz an der Treppe zwar schwach aber deutlich genug sehen, was dort vor sich ging; eigentlich, wie sie sich ausdrückte, mehr mit dem geistigen als mit dem körperlichen Auge.

Sie sah den verschwimmenden Umriß einer Frau vor ihrem Manne stehen und sah, wie er sie umarmte, während er zugleich einen Ruf ausstieß, der wohl Liebe ausdrücken sollte, der aber für sie trotzdem einen grauenerregenden Klang hatte. Einen Augenblick hielt er die Frau in seinen Armen, und als er sie losließ, stieß sie einen Seufzer aus, der Olive das Blut in den Adern erstarren ließ. Gleich darauf sah sie die Frau zu seinen Füßen zusammenbrechen.

Ein leichtes Klirren folgte, das Olive damals unerklärlich war; wir aber wissen jetzt, es war der Kopf der Hutnadel, der gegen die Luftheizung schlug.

Vor Grauen und Entsetzen konnte sie weder einen Ton ausstoßen, noch ein Glied bewegen. Das war ihr Glück. Sie stand neben der Treppe, die zu den oberen Räumlichkeiten führte, an die Wand gedrückt und sah, wie ihr Mann sein Opfer mit dem Fuß stieß, augenscheinlich um zu sehen, ob es auch ganz tot war. Sie begriff mit einem Schlage, daß sie es war, die er hatte töten wollen. Während er sich langsam durch den Salon und die Vorhalle zurücktastete und schließlich mit den Worten: »Das ging ja ganz vortrefflich!« die Tür öffnete und verschwand, machte sie sich keine Gedanken darüber, wer wohl jene Frau sein mochte, sondern dachte nur daran, wie er sie betrogen und mit welch teuflischer Bosheit er heute erst wieder ihr Mißtrauen eingeschläfert hatte.

Lange noch stand Olive von Angst und Schreck gelähmt an derselben Stelle, und allmählich erst gewann sie Kraft und Mut, um über ihre Situation nachzudenken. Sie tastete sich vorsichtig durch den Salon und fand auf dem Kamin eine Streichholzschachtel. Sie zündete ein Hölzchen an und warf einen ängstlichen Blick auf die Leiche der Unbekannten. Sie hatte sofort den Eindruck, ihre Gestalt, ihr Teint, ihre Haarfarbe glichen so der Toten, daß, wenn man von den Gesichtszügen absah, man glauben konnte, sie selbst läge ermordet da. Und sofort stand ihr Entschluß fest. Ihr Mann war davongegangen in der Ueberzeugung, sie selbst getötet zu haben. Gut, er sollte diesen Glauben behalten. Sie wollte ihm ihre Existenz verbergen. War sie nicht in Wirklichkeit getötet worden durch diese Tat? Indem er ihre Liebe, ihr Vertrauen zu ihm gemordet, hatte er alles gemordet, was es Wertvolles in ihr gab, und um keinen Preis der Welt hätte sie jemals wieder ihm gegenüber stehen und ihre Rechte auf ihn geltend machen wollen. Nein, sie wollte versuchen, alles, was sie an ihn erinnerte und was mit ihm zusammenhing, so völlig aus ihrer Seele auszulöschen, als ob es niemals existiert hätte.

Sie wagte kein zweites Streichholz anzuzünden, sondern warf das erlöschende in die Schale auf dem Kamin, wo wir auch zwei Streichholzreste gefunden haben. Das erste hatte wohl Frau Van Burnam angezündet, als sie abends das Gas ansteckte; wie sie den Wagen herankommen hörte, hatte sie vielleicht angenommen, der alte Herr Van Burnam kehrte früher als erwartet zurück, oder Howard komme ihr nach. Und sie hatte schnell die Gasflamme ausgedreht. Vielleicht aber hatte sie auch im Dunkeln auf dem Sofa gelegen und geschlummert, war dann durch das Geräusch der Kommenden aufgeweckt worden, hatte, ohne sich weiter Rechenschaft darüber zu geben, noch halb im Schlaf, ihm einige Schritte entgegen getan und schließlich wohl auch geglaubt, Howard umarme sie.

Doch über all dies lassen sich natürlich nur Vermutungen anstellen. Kehren wir zu Olive zurück, die von dem einzigen Gedanken beseelt, sich aus dem furchtbaren Hause zu retten, in der Dunkelheit neben der Leiche der Fremden stand. Sie lauschte angestrengt, ob nicht ein Geräusch im Hause sich vernehmbar machte. Soviel war ihr jedoch klar: dieses Haus gehörte nicht ihrem Mann, aber jedenfalls mußte er es gut kennen, ebenso wie seine Besitzer, und sicher hatte er angenommen, daß es unbewohnt war. War nun diese Frau die einzige im Hause gewesen? Sie tastete sich wieder zur Treppe zurück und lauschte hinauf.

Kein Geräusch ließ sich vernehmen. Zuerst erfüllte sie der Gedanke des Alleinseins mit der Leiche in diesem großen Hause mit einem furchtbaren Schreck. Aber nach einiger Zeit sagte sie sich, daß dies noch immer das beste war, was es für sie geben konnte. Sie begriff, daß sie auf diese Weise die Möglichkeit haben würde, alle Anstalten zu treffen, damit ihr Mann wirklich in dem Glauben blieb, sie wäre die Ermordete. Sie nahm sich gewaltsam zusammen, stieg die Treppen auf den Zehenspitzen in die Höhe, lauschte an allen Türen des Hauses, um sich zu versichern, daß es ganz unbewohnt war. Dann stieg sie wieder herab, trat mit einem kühnen Entschluß in den kleinen Salon, denn sie hatte das deutliche Gefühl, daß wenn sie nicht schnell handelte, sie niemals die Kraft wieder finden würde, das Haus zu verlassen. Und doch, stundenlang saß sie erst in einen Winkel gekauert da, bis das Tageslicht durch die Spalten der herabgelassenen Jalousien drang. In dem hinterlassenen Bericht schreibt sie, es käme ihr wie ein Wunder vor, daß sie während dieser schrecklichen Stunden nicht wahnsinnig geworden sei.

Sobald das erste Tageslicht eindrang, erhob sie sich und begann mit einer verzweifelten Willensanstrengung ihren schrecklichen Plan auszuführen. Sie war jetzt von derselben eisernen Energie erfüllt, die ihren Mann zu dem Verbrechen getrieben hatte. Und was sie später selbst nicht mehr verstehen konnte, tat sie nun; sie zog die Leiche völlig aus und zog ihr die eigenen Kleider an; nur die Schuhe wechselte sie nicht. Dann, nachdem sie selbst die Kleider der Toten angezogen hatte, nahm sie noch einmal alle Kraft und allen Mut zusammen und stürzte jenen Kasten um, so daß er die Leiche entstellte und daß es ihrer Meinung nach unmöglich war, die Ermordete wiederzuerkennen.

Sie schrieb, sie vermöge sich das alles nur so zu erklären, daß der Dämon, von dem ihr Mann besessen war, nun, nachdem er ihn zu jenem schrecklichen Werke veranlaßt hatte, sich ihrer eigenen Seele bemächtigt hätte. Sie war jetzt völlig erschöpft, aber das eine oder andere, was sie in Gefahr bringen konnte, bemerkte sie doch. Sie sah, daß das Kleid aus karierter Seide, das sie nun an hatte, sehr auffallend war. Sie zog also den Unterrock aus brauner Seide über das Kleid, und als sie sah, daß dieses natürlich länger und unter dem Unterrock sichtbar war, suchte sie im Hause, ob sie nicht Stecknadeln zum Aufstecken des Rockes fände. Auch da noch fürchtete sie, die Aufmerksamkeit auf der Straße auf sich zu lenken, denn sie hatte keinen Hut, da der ihrige vom Kopf gefallen war und nun unter der Leiche lag, die sie um keinen Preis noch einmal anrühren wollte.

Eilig verließ sie das Haus, und sie hatte das Glück, niemand auf der Straße zu begegnen, bis sie zum Broadway kam. Dort drückte sie sich die Häuser entlang und versteckte sich schließlich in einem Torweg, bis die Zeit kam, wo die Läden geöffnet wurden.

Alles Weitere wissen wir schon, auch wie es kam, daß sie so lange nicht ahnte, der Bräutigam Fräulein Althorpes, der den Namen Stone trug, sei identisch mit ihrem Manne, der sie zu ermorden versucht hatte.

Zeitungen las sie nicht, und so erfuhr sie den Namen der Besitzer des Hauses nur zufällig, als Fräulein Spicer und ich, während wir glaubten, sie schliefe, uns an ihrem Bett über die Ermordung der Frau Van Burnam unterhielten. Sie hatte der Frau die Ringe abgenommen und hielt sie in dem kleinen Strickzeug versteckt, während ich mir immer eingebildet hatte, sie müßte sie in den Schuhen verborgen haben. Sowie sie wußte, wem die wertvollen Ringe gehörten, benutzte sie die erste Gelegenheit, sie auf das Bureau der Van Burnams zu bringen, denn es quälte sie der Gedanke, wenn auch unfreiwillig eine Diebin zu sein.

Damit aber glaubte sie sich des letzten entledigt zu haben, was sie mit jenem Verbrechen noch verband. Sie wollte nichts mehr davon hören, nicht mehr daran denken. Als sie aber in dem Wagen Fräulein Spicer und Fräulein Althorpe gegenüber ihren Mann erkannte, war es ihr sofort klar, daß er und Stone ein und dieselbe Person seien. Eine instinktive Regung des Schreckens und der Furcht vor diesem Menschen trieb sie, sich in Howards Wagen zu flüchten; doch von diesem Augenblick an war sie fest entschlossen, nicht allein Fräulein Althorpe vor einer Heirat mit diesem Schurken zu bewahren, sondern auch selber Rache an ihm zu nehmen.

Mit folgenden Worten endet der Brief, den Olive hinterlassen hat: »Ich fühle, daß die Art und Weise, wie ich mich jetzt rächen werde, ein Unrecht gegen Fräulein Spicer und Fräulein Althorpe ist, die mir so viel Gutes getan haben. Aber ich kann nicht anders. Es ist eine Art Wahnsinn, der mich vorwärts treibt. Nur ein Gedanke beherrscht mich jetzt noch: der Gedanke der Rache!

Ich wage nicht zu hoffen, daß Fräulein Spicer und Fräulein Althorpe es mir verzeihen werden, aber vielleicht kommt doch einst der Tag, wo sie wenigstens begreifen werden, daß das, was ich jetzt vorhabe, unumgänglich und notwendig wie das Schicksal ist. Denn nur so werde ich sicher sein, mich gerächt und den unschuldig verdächtigten Brüdern Van Burnam Genugtuung gegeben zu haben.«

Ende.

 

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