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Achtundzwanzigstes Kapitel.

Diese Nacht war die Patientin noch leidender als die vergangene. Ich hatte daher keine Zeit, mich mit etwas anderem als mit ihrer Pflege zu beschäftigen. Erst gegen Morgen wurde sie ruhiger. Und als ich dann auf einem Kasten das wirre Knäuel und das halb zerrissene Strickzeug sah, nötigte mich mein Ordnungssinn, das Garn aufzuwickeln. Ich hatte diese Arbeit beinahe vollendet, als mich ein erstickter Schrei vom Bett her aufschreckte. Das Schreien dauerte an, und erst als ich das Knäuel aus der Hand legte, um der Kranken eine beruhigende Arznei zu reichen, hörte es auf. Es schien wirklich schlimm mit dem armen Mädchen zu stehen.

Am nächsten Morgen, als ich in das Frühstückszimmer hinunterging, fühlte ich mich trotz der angestrengten Wache ganz frisch und wohl und vor allem sehr befriedigt, wie jemand, der gewissenhaft seine Pflicht erfüllt hat und dafür Lob erwartet. Von dem Augenblick an, wo der Chinese Ruth Oliver erkannte, war es bewiesen, daß sie und Frau James Pope dieselbe Person waren, und daß demnach Howard mit ihr und nicht mit Frau Van Burnam in jener Nacht nach Grammercy Park kam. Kein einziges Glied fehlte jetzt in der Beweiskette. Zwar hätte ich noch gern die Ringe des Opfers gefunden, aber ich war auch so schon hinreichend stolz auf die Entdeckungen, die ich gemacht hatte, um mit großer Ungeduld auf das Erscheinen von Herrn Gryce zu warten.

Am Frühstückstisch wartete aber meiner eine große Ueberraschung. Lena hatte soeben einen Brief für mich gebracht, der nach meiner Wohnung gesandt worden war. Der Brief war von Herrn Gryce und lautete:

 

»Geehrte Miß Butterworth!

Entschuldigen Sie unsere Einmischung. Wir haben die Ringe gefunden, die Ihrer Meinung nach den Beweis für die Schuld jener Person erbringen sollten, bei der sie gefunden wurden. Mit Ihrer Erlaubnis wird also Herr Franklin Van Burnam heute verhaftet werden.

Ich werde mir das Vergnügen machen, Sie gegen zehn Uhr aufzusuchen. Ich zeichne als Ihr ganz ergebener

Ebenezar Gryce.«

 

Franklin Van Burnam sollte verhaftet werden! War er des Mordes verdächtig? Was sollte das heißen? Von seiner Schuld hatte ich keine Spur gefunden.

* * *

Ich nehme an, Miß Butterworth, daß Sie jetzt befriedigt sind? Mit diesen Worten begrüßte mich Herr Gryce, als er an diesem denkwürdigen Morgen in meinen Salon trat.

Ich soll befriedigt sein? fragte ich, wobei ich ihn mit einem, wie er später sagte, »medusenhaften« Blick anstarrte.

Ja! Sie müssen schon entschuldigen. Ich glaube gern, daß Sie befriedigter gewesen wären, wenn wir gewartet hätten, bis Sie uns den Schuldigen nannten. Aber das war uns nun eben leider nicht möglich!

So, wirklich!

Sie selbst haben unsere Unterredung auf heute morgen festgesetzt, fuhr er unbeirrt fort. Sie hofften wahrscheinlich, noch einen Tag zu gewinnen, um noch weitere Schuldbeweise zu sammeln. Wenn wir nun auch gleichzeitig mit Ihnen die Ringe im Bureau des Herrn Franklin Van Burnam entdeckten, so wird Sie das gewiß nicht hindern, jetzt noch ein volles Geständnis abzulegen. Sie haben trefflich gearbeitet, und wir sind gern bereit, es anzuerkennen.

Wirklich!

Ich mußte mich auf so nichtssagende Ausrufe beschränken, denn ich wußte tatsächlich nicht, was ich sagen sollte. Die Mitteilung, die ich soeben vernommen hatte, überraschte mich mächtig. Herr Gryce schien anzunehmen, daß ich von der Entdeckung der Ringe bereits wußte, ja, daß ich sogar dazu beigetragen hatte. Ich wagte nicht, auch nur ein vorschnelles Wort zu äußern, aus Furcht, er könnte gewahr werden, wie unwissend und verblüfft ich eigentlich war.

Wir haben über die Entdeckung, die wir gemacht haben, geschwiegen, und wir hoffen, daß auch Sie und Ihr Stubenmädchen zu niemandem davon gesprochen haben?

Mein Stubenmädchen?

Ich sehe, Sie finden diese Bemerkung ungehörig; aber Frauen fällt es meist sehr schwer, ein Geheimnis zu bewahren. Aber schließlich ist es ja gleichgültig, denn heute abend wird es schon die ganze Stadt wissen, daß der ältere und nicht der jüngere Bruder die Ringe bei sich verwahrte.

Nun schwang ich mich zu den Worten auf: Sie sind ein so kluger und vorsichtiger Mann, Herr Gryce, daß Sie noch andere Gründe haben müssen, als die Entdeckung der Ringe, um einen so geachteten Mann wie Franklin Van Burnam verhaften zu lassen. Und diese Gründe möchte ich gern wissen, Herr Gryce! Ich möchte sie sehr gern wissen!

Die Anstrengung, die ich machte, um in dieser schwierigen Situation ruhig und unbeirrt zu erscheinen, mußte wohl meine Stimme geschärft haben. Denn anstatt meine Frage direkt zu beantworten, sagte Herr Gryce in väterlichem Tonfall, wie er etwa zu einem eigenwilligen Kinde gesprochen hätte:

Sie sind ärgerlich, Miß Butterworth, weil wir Sie die Ringe nicht finden ließen.

Vielleicht! Aber unter uns: es handelt sich nur darum, wer früher an Ort und Stelle war. Ich habe niemals erwartet, daß die Polizei zu meinen Gunsten zurücktreten würde.

Das stimmt. Besonders wo Sie doch die geheime Befriedigung hatten, die Polizei auf die Spur der Juwelen gebracht zu haben.

Wie meinen Sie?

Wir hatten bloß das Glück, als die ersten die Hand auf die Ringe zu legen. Aber Sie, oder vielmehr Ihr Stubenmädchen haben uns gezeigt, wo wir sie suchen mußten.

Schon wieder mein Stubenmädchen!

Ich begreife wohl, daß es Sie schwer treffen mußte, in dem Augenblick, wo Sie den Erfolg Ihrer Bemühungen schon vor sich sahen, darauf verzichten zu müssen. Wenn aber unsere aufrichtig gemeinte Entschuldigung genügt, um Sie wieder heiter zu stimmen, so will ich Sie gern in meinem Namen und im Namen des Kriminalinspektors um Verzeihung bitten.

Ich wußte noch immer nicht, wovon er sprach; aber die Ironie seiner letzten Worte konnte ich begreifen und fand glücklicherweise genug Würde, um antworten zu können:

Die Angelegenheit ist viel zu wichtig, um noch weiter solch dumme Worte darüber zu verlieren. Sagen Sie mir lieber, an welchem Teil des Pultes die Ringe gefunden wurden, und wie Sie zu der Annahme kamen, daß Franklin und nicht Howard sie dorthin gelegt hatte.

Ihre Unwissenheit ist ja erstaunlich, geehrte Miß Butterworth! Fragen Sie doch lieber ein gewisses junges Mädchen in einem grauen Kleid, welches der Gegenstand war, den sie gestern früh auf dem Pult des Herrn Franklin Van Burnam berührte, und Sie werden wohl eine Antwort auf Ihre erste Frage erhalten. Die zweite Frage ist noch leichter zu beantworten: Herr Howard Van Burnam konnte die Ringe nicht im Bureau seines Bruders verbergen, weil er seit dem Tode seiner Frau nicht mehr dort gewesen ist. Diesen Umstand kennen wir ebensogut als Sie. Jetzt werden Sie bleich, Miß Butterworth! Sie haben dazu wirklich keine Ursache; für einen Amateurdetektiv haben Sie sich ja prächtig aus der Sache gezogen, ohne viel Fehler zu begehen, wie ich eigentlich erwartet hatte.

Das war aber doch zu stark! Jetzt schien er mich noch zu protegieren! Und zwar infolge gewisser Resultate, zu denen ich nichts beigetragen hatte. Verspottete er mich, oder irrte er sich in jeder Beziehung über den Zweck und die Richtung meiner letzten Bemühungen? Diese Frage mußte ich gleich beantwortet haben. Erfahrungsgemäß war es mir bis jetzt immer am besten durch eine zweideutige Haltung gelungen, etwas aus Herrn Gryce herauszulocken. Deshalb blickte ich jetzt freundlich auf die kleine Vase, die Herr Gryce bei seinem Eintritt in die Hand genommen hatte, und an die er die ganze Zeit über seine Worte gerichtet zu haben schien. Dann sagte ich:

Ich möchte um alles in der Welt nicht als diejenige gelten, die Franklin Van Burnams Schuld entdeckt hat. Aber immerhin wäre es mir angenehm, wenn die Polizei meine Bemühungen anerkennen würde, sei es auch nur, weil Sie, Herr Gryce, mit solcher Mißachtung meine Hilfe abgelehnt haben. Deshalb will ich gern Ihre Entschuldigungen annehmen, soweit sie nämlich aufrichtig gemeint sind. Denn ich weiß, wie begierig Sie sind, zu erfahren, was ich entdeckt habe, sonst würden Sie nicht Ihre kostbare Zeit hier bei mir verlieren.

Ich fange an zu glauben, geehrte Miß Butterworth, daß die Mitteilungen, die Sie mir so lange vorenthalten, ganz außerordentliche Bedeutung haben müssen. In diesem Falle wäre es besser, wenn nicht ich allein Ihre Mitteilungen entgegennehmen würde. Ah! Da höre ich einen Wagen kommen! Wenn er den Herrn Kriminalinspektor bringt, den ich erwarte, so haben Sie gut getan, solange mit Ihren Aussagen zu zögern.

Der Wagen hielt vor meinem Hause, und es war wirklich der Kriminalinspektor, der ausstieg. Ich fühlte, wie die Wichtigkeit, die meinen Aussagen beigemessen wurde, mich eitel und stolz machte. Ich mußte mich gewaltig zusammennehmen, um einen letzten Versuch zu machen, noch rasch etwas von Herrn Gryce zu erfahren, ehe der Inspektor hereintrat. Daher fragte ich ihn schnell:

Herr Gryce, warum sprechen Sie einmal von meinem Stubenmädchen, und dann wieder von einem Mädchen in einem grauen Kleide? Glauben Sie denn, daß Lena? –

Pst! machte er. Wir werden später Zeit genug haben, uns über diesen Punkt auszusprechen.

So, bist du dieser Meinung! dachte ich. Ich kann dir nur sagen, wir werden uns über nichts aussprechen, ehe ich nicht ganz genau weiß, wo ihr eigentlich hinauswollt.

In meinem Gesicht war aber von diesem festen Entschluß nichts zu lesen. Im Gegenteil, ich wurde sehr liebenswürdig, als der Inspektor ins Zimmer trat. Herr Gryce jedoch starrte wieder wie vordem in die Vase hinein.

Miß Butterworth, wandte sich der Inspektor zu mir, ich habe gehört, daß Sie sich für den Mord der jungen Frau Van Burnam sehr interessieren und sich sogar bemüht haben, diesbezügliche Tatsachen zu sammeln, die Sie bis jetzt der Polizei nicht mitgeteilt haben.

Sie sind gut berichtet, erwiderte ich. Ich habe wirklich einige Tatsachen gesammelt, die ich bis jetzt noch keinem Menschen mitgeteilt habe. Ich wäre nicht zu einem so vollständigen Resultat gekommen, hätte ich mir den Luxus eines Vertrauten geleistet. Die Bemühungen, denen ich mich unterzogen habe, konnten nur dann zu einem guten Ende führen, wenn sie vollständig geheim gehalten wurden. Niemand wußte, daß die Mordangelegenheit mich überhaupt interessierte, – mit Ausnahme des Herrn Gryce, dem ich gesagt hatte, daß, sobald Howard Van Burnam verhaftet würde, ich alles tun würde, um den Mord aufzuklären.

Sie glauben also nicht an Howard Van Burnams Schuld? Nicht einmal an seine Mitschuld? fragte der Inspektor.

Was seine Mitschuld anbelangt, so weiß ich nichts davon. Aber ich bin überzeugt, daß nicht er seiner Frau den tödlichen Stoß versetzte.

Ich verstehe! Ich verstehe! Sie glauben, daß sein Bruder es getan hat?

Ehe ich antwortete, warf ich Herrn Gryce einen verstohlenen Blick zu. Er hatte jetzt die Vase umgedreht und prüfte aufmerksam die Fabrikmarke; aber durch dieses Manöver konnte er mir doch nicht verbergen, wie gespannt er auf meine Antwort wartete. Diese Ueberzeugung war eine große Erleichterung für mich; mit fester, sicherer Stimme konnte ich jetzt sprechen:

Die Tatsachen, die ich zu wissen glaubte, verlieren nichts von ihrer Bedeutsamkeit, wenn ich mit meiner Antwort noch zehn Minuten zögere. Ich möchte zuerst erfahren, welche Beweise Sie selbst für Franklin Van Burnams Schuld gesammelt haben, ehe ich Ihnen die meinigen sage. Ich habe sicher mehr Verdienst an der ganzen Sache, als zum Beispiel die Zeitungsreporter, denen Sie doch zweifellos binnen kurzem alles mitteilen werden. Also bitte, sprechen Sie!

Ihr Wunsch scheint mir etwas anspruchsvoll zu sein, Miß Butterworth! Und glauben Sie denn, daß wir überhaupt die Geheimnisse unseres Bureaus ausplaudern dürfen? Wir haben Ihnen mitgeteilt, daß wir einen neuen, wichtigen Beweis für die Schuld des älteren Bruders haben. Genügt Ihnen das nicht?

Wäre ich einer Ihrer Angestellten oder einer Ihrer Kollegen, so müßte mir das genügen. Aber das ist hier nicht der Fall. Ich habe auf mein eigenes Risiko gearbeitet; es ist nur gerecht, wenn Sie mir jetzt mitteilen, wie weit Sie gekommen sind, damit ich weiß, ob es nicht der ganzen Angelegenheit schaden kann, wenn ich meine Geheimnisse jetzt schon vollständig preisgebe und Sie mir dann ins Handwerk pfuschen können.

Miß Butterworth fragt nicht aus Neugierde, sondern weil sie wünscht, daß wir methodisch vorgehen, sagte da Herr Gryce ironisch.

Worauf ich erwiderte: Herr Gryce kennt meinen Charakter ganz genau.

Der Inspektor schien verlegen zu sein. Er schaute bald auf Herrn Gryce, bald auf mich; aber das Lächeln des Detektivs war undurchdringlich wie immer, und bei mir konnte er nur den festen Entschluß sehen, um keinen Preis nachzugeben.

Wenn man Sie als Zeugin vorladet, Miß Butterworth, so werden Sie doch gezwungen sein, alles auszusagen, was Sie wissen.

Das ist richtig, gab ich zu. Aber das auszusagen, was Sie augenblicklich interessiert, werde ich mich auch beim Verhör nicht gezwungen sehen.

Herr Gryce warf die Vase so heftig aus einer Hand in die andere, daß ich entsetzt aufschrie, weil ich meinte, sie schon zertrümmert am Boden liegen zu sehen. Jetzt lächelte er den Inspektor ermutigend an, und dieser sagte:

Sollen wir also der Laune dieser Dame nachgeben?

.

Es wird noch immer das beste sein, war Herrn Gryces Antwort. Darauf stellte er die Vase so energisch hin, daß ich wieder zusammenschrak. Es ist das beste, wir verhalten uns zu der Dame wie zu einem Kollegen, obgleich sie diesen Titel ablehnt. Und wenn wir ihr unser Vertrauen beweisen, so wird sie einsehen, daß auch sie am besten tut, sich uns anzuvertrauen.

Ja, da haben Sie wieder recht, sagte ich. Also sprechen Sie!

Das will ich tun. Aber vorerst muß ich Ihnen sagen, daß Sie uns gerade zuerst auf Franklins Spur gewiesen haben, trotzdem Sie das jetzt zu leugnen versuchen.

*


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