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Einunddreißigstes Kapitel.

Die ganze Nacht hatte ich zu tun, um Leightons Anordnungen auszuführen. Es war zehn Uhr geworden, als ich endlich vom Häuschen in New-Jersey, wohin ich Millefleurs sterbliche Hülle gebracht hatte, mich nach meinem Bureau begeben konnte. Die Morgenzeitungen vermied ich zu lesen – es ging mir gegen die Natur, Leightons herzerschütternde Geschichte im Reporterstil zu lesen. Durch eine telephonische Anfrage bei der Polizei erfuhr ich, daß Leighton in Haft behalten war; hierauf stürzte ich mich, um mich abzulenken, in die mannigfach meiner harrenden Geschäfte, und erst als die fünfte Stunde schlug, wandte ich meine Gedanken wieder dem »Fall Gillespie« zu.

Daß Leighton nicht sofort nach seiner Vernehmung durch den Untersuchungsrichter in Freiheit gesetzt worden war, bewies mir, daß die Sachen für ihn doch noch nicht so ganz glatt standen, wie ich gehofft hatte. Indessen war ich fest überzeugt, daß Gryce sowohl wie Sweetwater meinen Glauben an seine Unschuld teilten; das war immerhin ein gewisser Trost.

Sam Underbill hatte ich seit mehreren Tagen nicht gesehen, und, offen gestanden, es lag mir nicht viel daran, ihm zu begegnen. Er hatte eine Abneigung gegen Leighton, und ich war überzeugt, daß er für die unerschütterliche Treue, womit der unglückliche Mann an Millefleurs gehangen hatte, nur ein spöttisches Lächeln haben würde. Ich hörte ihn in Gedanken, wie er mit seiner schnarrenden Stimme sagte:

So? Du hältst es also für wahrscheinlich, daß ein erwachsener, also mutmaßlich vernünftiger Mann – und wohlgemerkt, ein Mann, der ein Kind hat, das zu jeder Stunde in seinem Zimmer aus- und eingeht – eine Flasche mit tödlichstem Gift auf seinen Schreibtisch stellt und ganz einfach dort vergißt? Nee, Freundchen, das gibt's nicht! Wenn er das Fläschchen dorthin gestellt hat – woran ich' übrigens zweifle –, so hat er's ganz gewiß wieder fortgenommen! Such' dir für deine Sympathie andere Gegenstände aus!

Aber ich konnte mir nicht helfen, Leighton hatte nun mal meine Sympathie, und um solchen Gesprächen, die nur weh getan hätten, auszuweichen, begab ich mich direkt in meine Wohnung, ohne bei Sam anzuklopfen.

Auf dem Vorplatz stand ein junger Mann, der wohl schon geraume Zeit auf mich gewartet haben mußte, denn kaum hatte er mich auf der Treppe erblickt, so rief er mir hastig entgegen:

Ich bin's, Herr Cleveland – Sweetwater!

Sein Anblick und Besuch war mir sehr willkommen; ich bat ihn freundlich, mit hereinzukommen, und fragte:

Nun? Wohl eine neue Wendung in unserer Sache? Ist Herr Gillespie vielleicht freigelassen? oder ...

Nein! antwortete er zu meiner Enttäuschung, indem er sich's in dem Lehnstuhl bequem machte, den ich ihm zuschob. Herr Gillespie ist noch in Haft, und die Sache steht noch ganz beim alten. Aber so darf es nicht bleiben! Ich sah Ihnen heute nacht an, wie tief Ihnen die Geschichte des unglücklichen Mannes zu Herzen ging, und auch ich fühlte Sympathie für ihn. Darum komme ich zu Ihnen. Wenn wir beide alle unsere Geisteskräfte anspannen, so finden wir vielleicht eine Spur, die auf den wahren Täter leitet und damit zu Leighton Gillespies Freilassung führt. Denn für schuldig kann ich ihn nicht mehr halten – ich kann's einfach nicht. Es war einer von den beiden anderen. Aber welcher? Ich kann weder essen noch schlafen, bis ich das herausbekommen habe. Leighton muß frei sein, ehe seine Frau zur letzten Ruhe bestattet wird. Wenn mir das nicht gelingt, so gebe ich das Detektivgewerbe auf und kehre zu meinem guten alten Mütterchen nach Sutterlandtown zurück!

Sweetwaters Worte interessierten mich im höchsten Maße. Ich schob meinem Besucher eine Zigarrenkiste zu und bat ihn, sich zu bedienen, er erklärte aber, Tabaksrauch mache seine Gedanken nicht klarer, und in Leighton Gillespies Interesse wolle er lieber auf den Genuß verzichten. Dann kam er zur Sache, indem er begann:

Nun, Herr Cleveland, Sie waren ja der erste, der den Tatort des Verbrechens betrat. Wollen Sie mir vielleicht recht anschauliche und möglichst umständlich alle Ihre Erlebnisse erzählen? Es kommt auf jede noch so geringfügig erscheinende Einzelheit an. Wie es gekommen ist, das weiß ich selber nicht, aber soviel steht fest: wir haben die richtige Spur verfehlt. Vielleicht können Sie uns wieder darauf bringen. Wenn es Ihnen also nicht zu langweilig wäre ...

Ich versicherte ihm, daß ich alles tun wolle, um uns ans erstrebte Ziel zu bringen, und begann meine Erlebnisse ziemlich in denselben Worten zu erzählen, wie ich sie dem Leser dieses Berichtes vorgeführt habe. Sweetwater hörte mir bewegungslos zu, solange ich von Claire und meinem Eintritt in das Haus sprach, als ich aber dazu kam, wie ich den alten Herrn im Zustand des Todeskampfes gegen den Schreibtisch gelehnt gefunden hatte, da hob der Detektiv seinen Zeigefinger in die Höhe und unterbrach mich mit der Frage:

War das Haus ruhig? Hörten Sie keinen schleichenden Schritt in der Halle oder in den anstoßenden Räumen?

Ganz gewiß nicht! gab ich zur Antwort. Ich erinnere mich aufs deutlichste, daß ich den Eindruck empfing, der alte Herr und seine Enkelin müßten ganz allein im Hause sein. Ich war höchlichst erstaunt, als nachher eine zahlreiche Dienerschaft aus den unteren Räumen zum Vorschein kam, und als ich entdeckte, daß nicht weniger als drei Mitglieder der Familie in den oberen Stockwerken sich aufhielten.

Und vermutlich ist es auch Ihnen ganz besonders aufgefallen, daß der alte Gillespie zur Bestellung seines Zettels sich einen Boten von der Straße hereinholen ließ, während er doch jemand unmittelbar zur Hand hatte? Wir von der Polizei haben uns ganz besonders über diesen Punkt den Kopf zerbrochen.

Sie meinen, er hätte den Zettel Claire zur Besorgung geben können?

Ja.

Aber das Kind ist noch so jung. Der Papierstreifen, dem er eine so ungeheure Wichtigkeit beimaß, war unverschlossen, und er fürchtete, er könnte in falsche Hände kommen. Fräulein Meredith war bereits in sein Geheimnis eingeweiht – aber in solcher Weise offen zu erklären, daß Haß oder Habgier eines seiner Söhne ihm den Tod gebracht, das lag nicht im Charakter eines Mannes wie Archibald Gillespie!

Aber sich einen Fremden von der Straße hereinrufen zu lassen! Warum gab er den Zettel nicht einem von den Dienstboten? Oder wenn er wußte, welcher von seinen Söhnen der Verruchte war – warum ließ er nicht von dem Kinde den anderen herunterrufen?

Leighton war ausgegangen, George halb betrunken, und Alfreds Zimmer war im zweiten Stock. Zudem mochte er vielleicht denken, das Haus könne in Alarm gebracht werden, und das hätte vielleicht die richtige Bestellung des Zettels unsicher gemacht. Wer weiß, welche Gedanken sich im Gehirn eines Mannes kreuzen, dem es bewußt ist, daß er nur noch eine Minute zu leben hat, und daß er in dieser Minute die wichtigste Handlung seines ganzen Lebens vollziehen muß.

Ganz recht, ganz recht, Herr Cleveland! Und trotzdem liegt in seinem Verhalten etwas Unnatürliches, etwas, was ich durchaus nicht begreifen kann. Aber ich verzweifle nicht daran, doch noch die Lösung des Rätsels zu finden. Ich will nicht daran verzweifeln. Wir stehen ja auch erst beim allerersten Anfang des Berichtes über Ihre Erlebnisse. Möchten Sie vielleicht die Güte haben, fortzufahren?

Er ließ abermals das Gesicht auf seine beiden Hände sinken, und ich nahm sofort den Faden meiner Erzählung wieder auf:

Als ich an Herrn Gillespie herantrat, bemerkte ich außer seinen verzerrten Gesichtszügen noch drei besondere Umstände: erstens, daß der Vorhang des Fensters hochgezogen war; zweitens, daß eine Schreibmaschine auf dem Tische stand; drittens, daß ein Gummifläschchen umgeworfen dicht neben der Schreibmaschine lag und daß der Inhalt sich über einen unbeschriebenen Briefbogen ergossen hatte. Ich erwähne diese Kleinigkeiten, weil Sie wünschen, daß ich keinen einzigen Nebenumstand übergehe.

Den ausgelaufenen Gummi sah ich selber, murmelte Sweetwater. Doch machte er keine weitere Bemerkung, und ich fuhr fort und erzählte, daß ich den Vorhang niedergezogen hätte.

Sie warfen dabei einen Blick aus dem Fenster? fragte der Detektiv, indem er den Finger erhob, um mir anzudeuten, daß ich wieder innehalten möchte.

Ja.

Und sahen den jungen Herrn Jonson in seinem Zimmer auf der anderen Seite des Hofes?

Ja.

Wie stand er? Hatte er dem Fenster den Rücken oder das Gesicht zugewandt?

Den Rücken. In dem Augenblick, wo ich hinsah, machte er sich irgend etwas in seinem Zimmer zu schaffen.

So? Aus Ihrer Beobachtung geht jedenfalls eine Tatsache mit Sicherheit hervor; er kann nicht in einem kritischen Augenblick in Herrn Gillespies Zimmer hineingesehen haben. Denn wäre das geschehen, hätte er auch nur bemerkt, daß der alte Herr in seiner Schwäche sich am Schreibtisch festhalten mußte, so wäre er, neugierig wie er ist, nicht von seinem Beobachtungsposten gewichen.

Ohne Zweifel. Er hat nichts weiter bemerkt, als den anscheinend bedeutungslosen Umstand, daß Herr Gillespie den Inhalt eines Weinglases zum Fenster hinausgoß.

Da Sweetwater auf diese Bemerkung nicht antwortete, fuhr ich in meinem Berichte fort. Bald jedoch sah ich, daß mein Gast mir nicht länger zuhörte. Sein Gesicht war mir zugewandt, aber seine Augen starrten an mir vorbei ins Leere, und sein ganzer Körper zitterte in einer Aufregung, wie ich sie selten an einem Menschen gesehen hatte. Ich schwieg, und dies brachte ihn zur Wirklichkeit zurück; er sprang plötzlich auf und rief:

Kommen Sie! Kommen Sie mit mir nach dem Gillespieschen Hause. Ich habe eine Idee! Vielleicht ist sie ohne Bedeutung, unhaltbar, vielleicht aber ... Kommen Sie! Es ist noch nicht spät; wir werden die jungen Herren zu Hause finden und vielleicht ...

Er fügte diesem geheimnisvollen »Vielleicht« kein Wort mehr hinzu; aber seine Erregung hatte mich angesteckt. Im Nu hatte ich meinen Hut aufgesetzt; Sweetwater war schon aus der Tür, und ich eilte ihm in solcher Hast nach, daß ich vergaß, das Gas abzudrehen. Erst auf der Straße fiel mir meine Vergeßlichkeit ein, und ich kehrte um, um das Versäumte nachzuholen. In der Haustür begegnete ich Sam Underbill, der eben seine Wohnung verlassen hatte und mir überrascht zurief:

Sieh da, Cleveland!

Und flüsternd setzte er hinzu:

Ich erkenne den Mann, den du da bei dir hast. Aber wenn ihr Beweise gegen den armen Leighton Gillespie aufzustapeln sucht, so ist das verlorene Mühe. Ein prächtiger Bursch mit solchem Herzen wie Leighton gießt seinem Vater kein Gift in den Wein!

Diese treffende Bemerkung gab mir zu denken; mir fiel das Gespräch ein, das ich in der Einbildung mit Freund Sam geführt hatte, und ich erkannte, daß man einem Menschen keine Meinung zuschreiben soll, ehe man ihn gehört hat.


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