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Einundzwanzigstes Kapitel.

Meine Ueberraschung war groß, doch glaube ich, daß es mir gelang, sie dem unschuldigen Auge des jungen Mädchens mit dem gottergebenen Gesicht zu verbergen.

Ich möchte mit einem von Ihren Hauptleuten sprechen, fuhr ich fort. Doch bin ich gern bereit, zu warten, bis es gelegen ist.

Hauptmann Smith wird gleich zur Verfügung stehen, antwortete sie. Damit ging sie wieder an ihre Arbeit.

So konnte ich in aller Ruhe die Züge des Mannes beobachten, den ich in diesem Augenblick als des Mordes verdächtig verfolgte.

Ich hatte ihn nicht mehr gesehen seit jener rührenden Szene, wo sein Töchterchen ihm um den Hals gefallen war, und ich fand, daß er älter und trauriger aussah, als damals. Vielleicht stand es schlecht um seine Gesundheit, vielleicht war die große Veränderung, die ich an ihm bemerkte, durch andere und tiefere Gründe bewirkt.

Unwillkürlich war ich ein paar Schritte zurückgetreten, stellte mich jetzt an die Wand und drehte mein Gesicht so, daß Leighton es nicht erkennen konnte. Ich selber aber vermochte jedes Wort der Unterredung zwischen den beiden Männern zu verstehen.

Sie sprachen von einer Versammlung, die demnächst stattfinden sollte – Leighton mit offensichtlicher tiefer Teilnahme, der Hauptmann mit einer Verlegenheit, die an einem Offizier der Heilsarmee recht auffällig war.

Es wird sehr voll werden, nicht wahr? sagte Leighton.

Das läßt sich annehmen, antwortete der andere zögernd.

Kommen auch Frauen?

Mehr Frauen als Männer.

Ich möchte gern bei der Versammlung eine Ansprache halten.

Der Hauptmann wurde rot, zupfte verlegen an seinem Käppi, das er in der Hand hielt und sagte nichts. Leighton wiederholte seinen Wunsch. Da endlich nahm der Hauptmann all seinen Mut zusammen und antwortete:

Es tut mir sehr leid, Herr Gillespie. Sie haben unserer Armee große Dienste erwiesen, und wir haben manchem guten Wort gelauscht, das von Ihren Lippen kam – aber ich habe Befehl empfangen, Sie nicht mehr reden zu lassen.

Ein peinliches Schweigen folgte dieser Bemerkung. Dann erwiderte Leighton mit erkünsteltem Gleichmut, aber mit trauriger Miene:

Ist es wegen des unglücklichen Aufsehens, das infolge des Todes meines Vaters sich an meine Person knüpft?

Deswegen – und noch aus einem anderen Grunde. Ich glaube, es ist am besten, wenn ich ganz offen spreche, Herr Gillespie. Wir haben von dem kleinen Häuschen gehört, das auf Ihren Namen in New-Jersey gemietet worden ist.

Ah!

Der Hauptmann hatte eine Saite angeschlagen, die mit seltsamem Widerhall in der Brust des rätselhaften Mannes nachzitterte. Ich sah, wie er die Hand an die Kehle führte, wie wenn ihm die Luft ausginge; doch ließ er sie sofort wieder sinken. Der Hauptmann aber fuhr fort:

Wir scheuen nicht vor der Sünde zurück – nein, wir bieten im Gegenteil Sündern die rettende Hand. Aber wir haben nichts zu schaffen mit einem Manne, der in New York Betstunden abhält und auf der anderen Seite des Flusses seinen Lüsten frönt. Das ist ein Zeichen von Heuchelei, mein Herr; und Heuchelei ist die Todfeindin wahrer Religion.

Ein seltsames Lächeln, das nicht auf einen Heuchler schließen ließ, kräuselte Leightons blasse Lippen. Aber ohne jede Spur von Zorn erwiderte er auf den scharfen Angriff nur die Worte:

Das Häuschen steht jetzt leer. Ist Ihnen niemals der Gedanke gekommen, daß damit auch mein Herz leer sein könnte?

Dem Hauptmann, der an seiner Aufgabe keinen Gefallen finden mochte, schien es schwer zu fallen, eine Antwort zu geben. Er kämpfte augenscheinlich mit sich selbst, endlich aber sagte er klar und bestimmt:

Das Haus, von welchem Sie sprechen, hat vielleicht gerade jetzt keine Bewohnerin, aber alle Anzeichen deuten darauf hin, daß sie jeden Augenblick erwartet wird. Warum würden denn sonst allabendlich, sobald es nur dunkelt, alle Lampen angezündet, warum sind die Zimmer stets warm, warum wird die Speisekammer immer wieder mit frischen Vorräten versehen? Schon manches fortgeflogene Vögelein ist später wieder zum verlassenen Nest zurückgekehrt. Vielleicht macht auch Ihr Vögelein es so – unterdessen bleibt das Nestzimmer zu seiner Aufnahme bereit.

Genug! rief Leighton jetzt in scharfem, schneidendem Ton. Sie verstehen weder mich selbst noch meine Teilnahme für die Armen und Verlassenen. Den Platz, den ich bis jetzt bei Ihnen hatte, möge fortan einnehmen, wer will. Ich habe meinen eigenen Kummer, der wahrlich nicht leicht ist, ich habe Aengste, von denen wenig Menschen etwas wissen. Ein Fluch liegt auf mir und auf allen, die den Namen Gillespie tragen. Das ist Ihnen so gut bekannt, wie wahrscheinlich jedem Mann und jeder Frau, die in kurzem hier zur Versammlung sich einfinden werden. Vielleicht tun Sie wohl daran, mich nicht ihrer Neugierde auszusetzen. Aber etwas können Sie für mich tun – und ich bin gewiß, Sie werden es für mich tun. Sie fügen damit weder sich noch irgend einem Menschen auf der Welt den geringsten Schaden zu, mich aber verpflichten Sie zu ewigem Dank. Also hören Sie: vielleicht wird eine Frau hierher kommen, ein wildäugiges Weib, mit wirren ungekämmten Haaren, aber mit einem Blick – ich bin sicher, Sie werden sie mit keiner anderen verwechseln. Eine überirdische Anmut liegt in ihren verstörten Zügen. Sie hat – aber was hätte es für Zweck, wenn ich versuchen wollte, sie Ihnen zu beschreiben? Wenn sie auf die Anrede »Mille-Fleurs« hört – manche nennen sie Millie – so ist sie die von mir gesuchte Frau. Wollen Sie ihr dies geben?

Er hatte ein Stück Papier von einer Zeitung abgerissen, die auf dem Tische lag, und schrieb hastig ein paar Worte darauf. Dann fuhr er fort:

Es wird der Sache, für die Sie wirken, keinen Nachteil bringen und rettet vielleicht ein sehr unglückliches Weib. – Von mir selber will ich nicht reden, aber ... vielleicht rettet es auch mich.

Er faltete achtlos den Zettel zusammen und reichte ihn dem Hauptmann, der ihn nur mit Widerstreben in Empfang nahm. Leighton Gillespie bemerkte dies und rief in peinlicher Aufregung:

Sie sind hier, um für Gott zu wirken! Zuweilen werden Sie berufen, dies blindlings zu tun und ohne daß Sie Antwort auf Ihre Fragen empfangen!

Dann verbeugte er sich mit edler Würde und ging hinaus, ohne mich zu bemerken.

Das sind die Dornen unseres schönen Berufes! sagte der Hauptmann der Heilsarmee, als die Tür sich hinter dem Manne geschlossen hatte, der in diesem Kreise einst in so hoher Achtung stand. Und ratlos fragte er sich, indem er das zusammengefaltete Stück Zeitungspapier zwischen seinen Fingern drehte: Was soll ich damit anfangen?

Dann wandte er sich zu dem Mädchen, das schreibend am Tische saß, und reichte ihr den Zettel mit den Worten:

Nehmen Sie ihn an sich, Sally. Wenn das Mädchen kommt, werden Sie sie erkennen, und, was mehr sagen will, Sie werden diese heikle Sache so zu erledigen wissen, daß niemand ein Schaden daraus entsteht ... Und Sie, mein Herr? fragte er sodann, sich zu mir wendend.

Aber wir wurden unterbrochen. Ein Mann, auf dessen Erscheinen ich in diesem Augenblick am allerwenigsten gefaßt war – es war Sweetwater! – stürzte in das Bureau herein und rief:

Der Herr, der eben hier herauskam, hat Ihnen etwas gegeben!

Diese Worte galten dem Mädchen, und der Detektiv sprach sie ohne alle Umstände, jedoch nicht unhöflich aus. Mich bemerkte er anscheinend gar nicht.

Der Herr hinterließ eine Mitteilung für eines jener armen Weiber, die zuweilen zu uns kommen, antwortete sie ruhig. Er hat viele Teilnahme für diese bedauernswerten Geschöpfe und sucht ihnen werktätig beizustehen.

Es tut mir leid, sagte der Beamte energisch, aber ich muß mir ansehen, was er geschrieben hat. Es ist möglicherweise von großer Bedeutung für die Polizei. Hier ist meine Erkennungsmarke, fügte er leiser hinzu, indem er einen Augenblick seinen Rock öffnete. Sie wissen, welcher Verdacht auf der Gillespieschen Familie ruht. Er ist ein Gillespie. Lassen Sie mich also gefälligst seine Zeilen sehen – oder halt, lesen Sie sie mir selber vor, das ist vielleicht noch besser.

Das junge Mädchen zauderte, indem sie den Hauptmann mit einem Blick befragte, dann sah sie auf den Papierstreifen, den sie in der Hand hielt. Der Zettel hatte sich halb geöffnet, sie mußte einige Worte von dem Inhalt gelesen haben, ihre Hand zitterte.

Warum glauben Sie, dieser Zettel stehe in irgendwelcher Beziehung zu dem traurigen Ereignis, wovon Sie soeben sprachen? fragte sie.

Der Detektiv näherte seinen Mund ihrem Ohr und sprach im leisesten Flüsterton; trotzdem gelang es mir, zu verstehen, was er sagte:

Alles steht in Beziehungen dazu – alles und jedes, was sie tun und denken. Ich traue keinem von ihnen über den Weg. Es wäre ein unverzeihlicher Fehler von mir, wenn ich eine von einem Gillespie geschriebene geheime Mitteilung mir an der Nase vorbeigehen ließe, ohne einen Versuch zu machen, Kenntnis von dem Inhalt zu erhalten. Dieser Zettel ist vielleicht – wahrscheinlich sogar! – ganz unschuldiger Natur. Der Herr, der ihn hier zurückließ, gilt für einen Menschenfreund, und als solcher kann er ja Beziehungen zu der allerniedersten Hefe des Volkes unterhalten, ohne daß man ihm unehrenhafte Absichten zuzutrauen braucht. Darüber haben Sie ja das beste Urteil. Aber ich muß Gewißheit darüber erlangen. Ich habe den Auftrag erhalten, alle seine Schritte zu überwachen, und seine Schritte haben ihn an diesen Ort geführt. Sie werden mich daher zu Dank verpflichten, Fräulein, wenn Sie mir nachweisen können, daß die Sache der Gerechtigkeit – als deren Vertreter ich hier vor Ihnen stehe – nicht dadurch zu Schaden kommen kann, daß dieser Zettel an die Person ausgeliefert wird, für die er bestimmt ist.

Ich will Ihnen vorlesen, was er geschrieben hat, erwiderte das Mädchen. Der Zettel ist unverschlossen, und so kann ein jeder Kenntnis davon nehmen.

Dann las sie, leise, aber in bewegtem Tone, die nachstehenden Zeilen:

Als ich Dich das letztemal sah, warst du leidend. Dieser Gedanke ist mir unerträglich, doch kann ich nicht zu Dir kommen – aus Gründen, die Du leicht begreifen wirst. So bitte ich dich denn: komm' zu mir! Das Haus ist immer offen und die Dienerschaft angewiesen, jeden einzulassen, der nach mir fragt.

Sicherlich klang diese Sprache recht warm für die Mitteilung eines Menschenfreundes an eine Großstadtvagabundin, deren Elend sein Mitleid erregt hatte.

Aber es wurden keine Bemerkungen hierüber gemacht, und Sweetwater ließ es ruhig geschehen, daß das junge Mädchen den Zettel sorgsam wieder zusammenfaltete und hierauf in ihr Schreibpult verschloß. Er schien sogar ganz damit einverstanden zu sein, denn er sagte:

Das ist recht! Nehmen Sie den Zettel nur ja recht schön in acht. Und wenn das junge Weib kommt, geben Sie ihn ihr. Sie kennen sie doch wohl?

Nein, ganz und gar nicht; er hat uns nur ihr Aussehen beschrieben oder dies wenigstens versucht. Möglicherweise kommt sie überhaupt gar nicht hierher.

Dann passen Sie nur auf, daß der Zettel nicht abhanden kommt. Wie lautete denn seine Beschreibung von ihr?

O, ich weiß selber nicht recht! Er sagte, sie sähe wild aus, aber sie wäre schön, und sie hieße Millie oder so ähnlich.

Höchstwahrscheinlich ist die ganze Geschichte fauler Zauber. Na, Guten Morgen, Hauptmann! Guten Morgen, Fräulein!

Damit machte der Detektiv Sweetwater sich wieder auf den Weg.

Als er fort war, steckten die beiden Heilsarmeeleute die Köpfe zusammen. Dann kamen sie auf mich zu. Ich hatte mir unterdessen in meiner dunklen Ecke überlegt, ob mir nicht vielleicht ein Handstreich gelingen könnte. Wenn ich mich ein bißchen verstellte und sie über meine Wünsche im Unklaren ließ, mochte es mir vielleicht gelingen, ihnen diese oder jene positive Tatsache zu entlocken, die als Grundlage meiner Nachforschungen dienen konnte. Ich war mit meinem Plan noch nicht ganz fertig, als bereits der Hauptmann vor mir stand, aber kurz entschlossen sprang ich auf, warf das Buch, worin ich zum Schein gelesen hatte, heftig auf den Tisch und rief:

Ich hörte, was Sie sagten! Ich habe ein Gehör wie ein Hase und hörte alles wider meinen Willen. Ich kenne Herrn Leighton Gillespie, und es hat mir das Blut ins Wallen gebracht, daß ich Zeuge sein mußte, wie er behandelt und angeredet wurde, als ob er eines Verbrechens verdächtig wäre! Wie irgend jemand, der ihn je zu den Armen und Unglücklichen sprechen hörte, ihn mit dem furchtbaren Tode seines Vaters in eine verdächtige Verbindung bringen kann, begreife ich einfach nicht. Wie gütig ist er gegen arme Mädchen! Wie freigebig steuert er zu allen milden Zwecken bei! Ich hatte geglaubt, ihr wäret Christenmenschen! –

Der Hauptmann war gewiß ein Christ, aber er war auch Mensch, und als Mensch fühlte er sich, wie ich ihm ansah, empfindlich verletzt. –

Es war ein Mißgriff, daß wir Armeeangelegenheiten in der Nähe von zwei so scharfen Ohren verhandelten, sagte er. Herr Gillespie hat manches gute Werk getan, und ferne sei es von mir, mich denen anzuschließen, die seinen Namen mit dem in der Familie vorgekommenen Verbrechen in Verbindung bringen. Ich trete ganz einfach deshalb nicht offen für ihn ein, weil er uns als Deckmantel für seine persönlichen Ausschreitungen benützt. Er ist verliebt in ein Weib, das er niemals in seine Familie einzuführen wagen dürfte. So etwas können wir nicht dulden. Das Uebrige geht die Polizei an.

Ich mäßigte meine erkünstelte Aufregung ein wenig und sagte:

Ich bitte um Verzeihung. Sie wissen natürlich selber am besten, was Sie zu tun haben. Aber es wird mir recht schwer, zu glauben, daß ein feinfühliger Mann wie Herr Gillespie an einer Vagabundin ein anderes Interesse nimmt, als es einem mitleidigen Christen wohl ansteht. Sahen Sie jemals sein Haus, sein Kind, seine Freunde?

Der Hauptmann zuckte die Achseln und erwiderte kurz angebunden:

Ich kann mir's schon vorstellen!

Dann fuhr er fort und zwar in einem Tone, der mir recht deutlich zu verstehen gab, daß er die Unterhaltung über diesen Gegenstand nicht weiter fortzusetzen wünschte:

Uns fällt überhaupt nichts mehr auf, mein werter Herr. Wir haben zu viel mit sündigen Herzen zu tun. Des Menschen Natur ist die gleiche bei arm wie reich! ... Und nun, mein Herr, was wünschen Sie? Gleich im Augenblick ist es Zeit für unsere Mittagsversammlung, ich muß Sie daher bitten, sich kurz zu fassen. –

Ich hatte beinahe vergessen, daß mich ein bestimmter Zweck hereingeführt hatte; doch faßte ich mich schnell, als er mich eigentümlich prüfend ansah und sagte ihm, auch ich sei auf der Suche nach einer Frau.

Aber es ist eine Alte! setzte ich schnell hinzu. Sie hält ein Logierhaus, und es handelt sich darum, von ihr eine Zeugenaussage zu erlangen, hie für einen meiner Klienten von großer Wichtigkeit ist. Ihr Name soll »Mutter Merry« sein. Kennen Sie eine solche Person?

Nein, er kannte keine, aber er sagte mir, unten bei den Werften seien allerlei eigentümliche, alte Gebäude, und dort könnte ich vielleicht etwas über sie erfahren. Das war mir genug. Ich hatte jetzt einen guten Vorwand, mich ohne weitere Umwege der Gegend zuzuwenden, wo ich finden mußte, was ich suchte.

Ich sagte dem Hauptmann meinen besten Dank und bat ihn nochmals um Entschuldigung wegen meiner etwas scharfen Worte von vorhin. Dann ging ich hinaus, winkte meinem Polizeibeamten und wandte mich dem Hafen zu.


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