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Dreißigstes Kapitel.

Leighton Gillespie befand sich ohnehin schon in einem solchen Zustand seelischer Erregung, daß diese letzte Demütigung verhältnismäßig wenig Eindruck auf ihn machte. Wohl zuckte er zusammen, als er die Worte des Detektivs vernahm, aber er raffte sich sofort auf und sagte ruhig:

Ich hatte gehofft, mit meiner langen und an schmerzlichen Erinnerungen so reichen Erzählung einen anderen Eindruck auf Sie zu machen. Manches, was in meinen Beziehungen zu meinem Vater sonderbar erscheinen könnte, muß Ihnen doch dadurch klar geworden sein, und ich bin überrascht, daß noch immer irgend ein Mensch mich im Verdacht haben kann, an meines Vaters Tode beteiligt zu sein. Darf ich Sie fragen, auf welche besonderen Umstände Sie Ihre Mutmaßungen glauben gründen zu können? Vielleicht kann ich mit einem einzigen Wort deren Nichtigkeit dartun.

Der Beamte schien bereits in seiner Ueberzeugung wankend geworden zu sein. Indessen konnte er kaum eine andere Antwort geben, als er tat:

Ich habe Auftrag erhalten, Sie dem Untersuchungsrichter vorzuführen, erklärte er. Dieser wird darüber befinden, ob Sie in Haft zu behalten oder freizulassen sind. Wollen Sie ruhig mit mir kommen? Die Fortschaffung der Leiche Ihrer Frau können Sie Herrn Cleveland überlassen. Ich bin überzeugt, er wird auf das prompteste die Anweisungen befolgen, die Sie ihm etwa erteilen wollen.

Leighton antwortete nur durch einen flehenden Blick; aber wo seine Amtspflicht ins Spiel kam, kannte Gryce keine Nachgiebigkeit. Als Gillespie dessen inne wurde, faßte er einen neuen Entschluß und begann gerade auf die Sache loszugehen, indem er in festem Tone sagte:

Sie haben entdeckt, daß ich am Tage vor meines Vaters Tode ein Fläschchen mit Blausäure nach Hause brachte. Soll ich Ihnen sagen, wo ich's bekam? Aus den Händen meiner Frau, die hier vor mir liegt. Oder vielmehr nicht aus ihren Händen. Ich fand es an einem Bande um ihren Hals hängend, als ich nach monatelangem, vergeblichem Suchen Spuren gefunden hatte, die mich in Mutter Merrys Logierhaus führten. Sie schlief, als ich das Fläschchen entdeckte, und zwar lag sie in jenem schweren Schlaf befangen, aus dem es, wie ich aus Erfahrung wußte, unmöglich war, sie aufzurütteln. Ich erkannte instinktiv, daß in dem Fläschchen Gift sein müßte, und der Schreck ob dieser Entdeckung raubte mir fast die Besinnung. Wie ein Wahnsinniger riß ich das Fläschchen an mich. An seine Stelle band ich ein Röllchen Banknoten fest. Diese müssen leider aller Wahrscheinlichkeit nach gestohlen worden sein, denn sonst hätte sie ja nicht ohne einen Cent Geld tagelang in dem fürchterlichen Wetter umherzuirren brauchen. Das Fläschchen aber nahm ich mit mir; als ich erfuhr, daß das Haus von der Polizei durchsucht werden sollte, hatte ich es sofort instinktiv in meine Hosentasche geschoben.

Die Erklärung klang natürlich und wurde in einem so offenen, freien Ton abgegeben, daß der Beamte unwillkürlich mit einem Kopfnicken sich nach mir umsah, und ich merkte an seiner Miene, daß auch er begann, an Leightons Unschuld zu glauben, an der ich persönlich nach Anhörung seiner langen Liebes- und Leidensgeschichte nicht den geringsten Zweifel mehr hegte.

Was aus dem Gift geworden ist, nachdem ich es in meines Vaters Haus gebracht hatte, fuhr Gillespie fort, darüber vermag ich keine Auskunft zu geben; ebensowenig weiß ich, wessen Hand das Fläschchen von meinem Schreibtisch fortnahm, auf den ich es gelegt hatte, als ich meine Taschen ihres Inhalts entleerte. Ich dachte nicht einen Augenblick mehr an das Gift, bis ich den Abend darauf nach Hause kam, meinen Vater tot auf dem Fußboden liegen fand und das ganze Haus von dem Wort: »Giftmord« widerhallen hörte.

Hätten Sie diese Erklärung doch nur sofort abgegeben! erwiderte Gryce. Ihr Zögern hat Sie in furchtbarster Weise bloßgestellt!

Nun – mag es denn sein! antwortete Leighton kurz und stolz. Bedenken Sie nur, daß jeder Versuch, mich über den Besitz jenes Fläschchens auszuweisen, damals eine direkte Anschuldigung eines meiner beiden Brüder bedeutet haben würde. Sie werden wohl begreifen, warum ich damals zu sprechen zauderte. Und auch jetzt gebe ich meine Erklärung nur deshalb ab, weil die Ehre meiner toten Frau mir höher stehen muß, als Familienstolz oder Bruderliebe!

Die Stirn des alten Detektivs klärte sich auf; er sah wirklich zehn Jahre jünger aus als beim Eintritt in diese Dachkammer, wo er eine so schmerzliche Pflicht seines Amtes hatte erfüllen sollen. Indessen konnte er bei aller offenbaren Sympathie doch von seinen Vorschriften nicht abgehen, und Leighton Gillespie sah denn auch ein, daß er sich denselben zu fügen hatte. Er wandte sich zu mir und bemerkte:

Da Herr Gryce mir erlaubt, Ihnen die Leute zu nennen, durch die ich die Leiche meiner Frau fortgeschafft zu sehen wünsche, so werde ich sie Ihnen aufschreiben.

Er tat es und überreichte mir einen Zettel, indem er fortfuhr:

Hier haben Sie zugleich auch die Adresse in New-Jersey; dorthin soll sie gebracht werden. Herr Gryce wird Ihnen angeben, welche Formalitäten zu erfüllen sind. Und nun, Herr Cleveland, meinen innigen Dank für Ihren Liebesdienst.

Er drückte mir die Hand; dann trat er an Gryce heran und flüsterte ihm einige Worte zu.

Ich habe Herrn Gillespie versprochen, sagte der Beamte einen Augenblick darauf, ihn einige Minuten allein in dieser Kammer verbringen zu lassen.

Ich machte Leighton eine Verbeugung und folgte dem alten Herrn, der bereits auf die Tür zuschritt. Draußen hörten wir wieder den Lärm, der aus der Wirtschaft unten heraufdrang: wüstes Lachen, schrille Weiberstimmen, Fluchen und Singen. Ich hätte gern Gryce gefragt, was er von Leighton Gillespies Aussichten gegenüber der jetzt offen erhobenen Anklage hielt; aber der nachdenkliche Ausdruck auf seinem Gesicht ermutigte mich nicht dazu, und wir standen schweigend nebeneinander, bis einige Minuten darauf die Tür sich wieder öffnete und Leighton heraustrat.

Ich bin bereit, sagte er ruhig. Herr Cleveland, ich habe volles Vertrauen zu Ihnen; und wenn Hope ...

Er stockte, aber ich verstand ihn und antwortete:

Ich werde ihr die ganze Geschichte genau so erzählen, wie ich sie von Ihren Lippen vernommen habe. Das wünschen Sie doch von mir?

Er nickte bejahend, und ich fuhr fort:

Wenn sie die wahre Ursache erfährt, warum zwischen Ihnen und anderen Mitgliedern Ihrer Familie eine Spannung bestand, so wird sie handeln, wie ihr gutes Herz es ihr eingibt.

Er streckte mir nochmals die Hand hin und sagte dann, unwillkürlich vor dem widerwärtigen Lärm des Hauses zusammenschauernd, zu Gryce:

Wir wollen gehen!

Der Beamte ließ einen hellen Pfiff hören, der in derselben vorsichtigen Weise von unten her beantwortet wurde. Dann stiegen sie die Treppe hinab, und einen Augenblick darauf hörte ich das Rollen von Rädern; der Wagen, der ohne Zweifel in der nächsten Straße auf die Beamten gewartet hatte, mußte abgefahren sein.

Mit schwerem Herzen wandte ich mich um und ging in die Dachkammer zurück.

Sie war von hellem Mondlicht übergossen, denn der Regen hatte inzwischen aufgehört, und der Himmel war ganz klar geworden.

Ich warf einen zaghaften Blick auf die Leiche der armen, beklagenswerten Frau.

Sie lag nicht mehr, wie vorher, völlig zugedeckt, sondern das Gesicht war jetzt unverhüllt; einige goldene Locken umspielten Stirn und Wangen, auf den bleichen Lippen lag ein friedliches Lächeln. Die Decke verhüllte den Körper bis ans Kinn und war sauber glattgestrichen. Auf der Decke aber lag ein weißer Arm, und am Ringfinger der Hand schimmerte der goldene Reif, den Leighton Gillespie auf ihrer Brust gefunden hatte ...


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