Paul Grabein
In der Philister Land
Paul Grabein

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XIX.

Eine abermalige Biegung des Weges, und da lag plötzlich, im Grün des engen Talgrundes versteckt, ein freundliches Häuschen vor Hellmrich – eine gute Wegstunde aufwärts von der letzten Schneidemühle drunten, das musste also Forsthaus »Rainerts-Grund« sein. Mit beschleunigten Schritten eilte Hellmrich dem Ziel seiner langen, einsamen Wanderung in dem stillen Waldtal entgegen. Von unbezwingbarer Sehnsucht getrieben, war er bereits heute, am Sonnabend mittag, gleich nach Schluss des Unterrichts, zum Bahnhof geeilt, und der Zug der kleinen thüringischen Nebenbahn hatte ihn bis an den Anfang des Talgrundes befördert, den er dann in rüstigem, vierstündigem Marsch hinaufgewandert war.

Ein köstliches Wandern, immer im tiefen Schatten des waldbestandenen Abhanges zur Linken, fortwährend an dem klaren, plätschernden Forellenbach entlang und zur Rechten stets den Ausblick auf den smaragdgrünen Wiesengrund, an dessen anderer Seite wieder steil der Berg anstieg, in seinem üppigen Buchen- und Tannenschmuck. Eine echt thüringer Waldlandschaft von jenem, sich schnell dem Fremdling erschliessenden, sanften Liebreiz, der einem das Land bald so lieb und altvertraut wie die eigene Heimat macht.

So war Hellmrich mit hellen, lachenden Augen, so recht zukunftsfroh, dahingeschritten, und im Herzen klang es wie ein süsses Lied vom nahen Glück. Erst waren die Siedlungen der Menschen noch häufig gewesen, dann traf er nur noch jede halbe Stunde eine Säge- oder Massenmühle, und nun war er über eine volle Stunde lang seines Wegs gezogen, ohne einem Menschen oder einer menschlichen Wohnstätte begegnet zu sein. Ruhe, köstliche Ruhe und friedenvolle Einsamkeit webte in dem engen, weltentrückten Waldtal, das – Gott sei Dank – noch abseits von der grossen Touristenstrasse lag, ein grünes Waldparadies, so recht geschaffen, um ein armes, an Leib und Seele krankes Menschenkind wieder gesund zu machen.

Nun war Hellmrich am Forsthaus angelangt. Freundlich erwiderte die am Gartentisch vor dem Hause unter dem Holunderbusch sitzende Förstersfrau den Gruss des Wanderers und trug ihm das erbetene Glas Milch herzu. Es war eine zutrauliche, gesprächige Frau, und so wusste Hellmrich bald, was er wollte: Dass er gern hier zur Nacht bleiben könne; allerdings müsse er mit der Giebelkammer fürlieb nehmen, denn das eigentliche Logierzimmer werde von einer jungen Dame aus Leipzig bewohnt, die hier den ganzen Sommer über zur Kur lebe. Hellmrich schlug das Herz so laut, dass er meinte, jeder müsse es hören können, und verstohlen blickte er zu den beiden Fenstern im Erdgeschoss, auf die die Försterin eben gedeutet hatte: Da wohnte also Lotti! Ob sie ihn vielleicht gar schon bemerkt hatte? – So beiläufig fragte dann Hellmrich, ob die Dame im Hause sei. Ach nein! meinte aber die Frau, die wäre den ganzen Tag bis Sonnenuntergang im Freien. Am Nachmittag pflegte sie für gewöhnlich da drüben hinauf in den Buchenschlag zu steigen. Da stehe oben am Berghang auf der Lichtung eine Bank, wo die Sonne bis zuletzt hin scheine – das sei ihr Lieblingsplätzchen.

Als das Hellmrich gehört, hatte er alsbald keine Ruhe mehr. Schnell trank er seine Milch aus, legte seine Touristentasche ab und stand auf. Er wolle noch vor dem Abendessen hier ein wenig umherspazieren; die Frau Förster möchte so gut sein, seine Tasche schon immer einstweilen in seine Kammer zu tragen und diese für die Nacht zurecht zu machen. Und mit freundlichem, etwas eiligem Gruss brach der Wanderer wieder auf.

So lange Hellmrich noch in Sehweite des Forsthauses war, hielt er sich auf der linken Seite des Baches; aber kaum hatte ihn ein Buschwerk etwaigen Späherblicken entzogen, so wandte er sich schleunigst von der Chaussee ab, sprang über die Steine im Bachbett hinweg, eilte quer über die Wiese und klomm den steilen Berghang am jenseitigen Ufer empor. Er war nun drinnen in dem ihm bezeichneten Buchenschlag. Grüne Dämmerung umfing ihn, während er in dem dürren Laub raschelnd dahinschritt; nur hie und da stahl sich ein Sonnenstrahl durch das dichte Blätterdach und warf ein goldigflimmerndes langes Licht auf die weisslichen Stämme oder den rötlich-gelben Waldboden. Tiefe Stille rings in den Waldhallen, kaum dass ein heller Finkenruf hin und wieder an sein Ohr drang, oder der miauende Schrei eines Bussards, der in der Ferne kreisend durch die Baumwipfel strich.

Aber Hellmrich, der sonst liebevoll jeden Naturlaut zu sich sprechen liess, achtete heute nicht auf diese Stimmen des Waldes. Rastlos eilte er vorwärts, den steilen Hang empor, ohne Weg und Steg. Endlich sah er es hell durch die Stämme zur Rechten schimmern; er hielt darauf zu und bald konnte er eine kleine Waldrodung erkennen – das war offenbar die Lichtung, von der die Försterin gesprochen hatte: Ein schmales, sich den Hang gerade hinauf streckendes Gereuthe, mit einem saftig grünen Rasenteppich bedeckt, den jetzt die hell hinaufflutende Abendsonne mit einem warmen Goldton überzogen hatte. Hier und da war das frisch gemähte Grummet zu kleinen Haufen zusammengeharkt, und von ihnen wehte der süsse Duft des Heus zu dem Wanderer hinüber. Einen Augenblick wohl erfreute sich dieser an dem lieblichen Bilde, dann aber flogen seine Augen suchend darüber hinweg, und wirklich, da oben, wo ein schmaler Waldsteig sich am Rande der Lichtung hinzog, gewahrte er auf der einfachen Holzbank eine weibliche Gestalt; noch konnte er ihre Züge nicht genau erkennen – aber es konnte ja nur Lotte sein! Hellmrichs Herz pochte heftig, es war nicht allein vom schnellen Hinaufstürmen, sodass er ein paar Augenblicke stehen blieb, um sich zu beruhigen; dann stieg er langsamer am Waldrand entlang, aber ihr noch verborgen, zur Weghöhe empor.

Die einsame Träumerin da oben, die müde, zusammengesunken da sass und mit ineinandergelegten Händen hinaussah in die sonnenumfluteten Wipfel des gegenüberliegenden Waldhangs und weiterhin bis zu den dunkelverblauenden Bergrücken der Ferne, fuhr plötzlich aus ihrem Sinnen empor und wandte langsam den Kopf zur Rechten, von woher eben ein lautes Rascheln und Knacken am Waldboden sie aufgestört hatte. Jetzt erkannte Hellmrich, schon in ihrer nächsten Nähe, deutlich ihre Züge: Ein schmal gewordenes Gesichtchen mit einem müden, traurigen Ausdruck, aber doch von ungemindertem Liebreiz, und darin ihre dunklen, klaren Augensterne, nicht mehr strahlend und lebensprühend wie ehedem, aber von einem rührenden, weichen Glanz, der einem tief zu Herzen drang, dem Spiegel einer schmerzgeläuterten Seele.

Nun trat der Wanderer mit schnellem Schritt aus der Walddämmerung und stand plötzlich im hellen Sonnenschein vor ihr, nur wenige Schritte von ihrem Platz entfernt – Karl Hellmrich! Ein leiser Aufschrei, und totenblass geworden fuhr Lotte von ihrem Sitz empor, die Augen mit einem Ausdruck bangen Schreckens auf ihn gerichtet: Gott im Himmel, was war das? War er's wirklich? Wie kam er hierher, und was wollte er von ihr?

Hellmrich las deutlich all' diese Fragen in ihren entsetzten Blicken, und die Rührung drohte ihn zu übermannen, wie sie so bleich, am ganzen Leibe zitternd, vor ihm stand, mit der Rechten sich krampfhaft an der Banklehne festklammernd.

»Verzeihen Sie, Fräulein Gerting – verzeihen Sie gütigst, dass ich Sie mit meinem Kommen so erschreckt habe,« bat er weich, mit halblauter Stimme, aus der die tiefe Bewegung sprach, »aber ich bin nicht gekommen, Sie zu ängstigen, oder gar zu quälen, – nein, Fräulein Gerting, mich hat ein inniges, unsagbares Mitgefühl mit Ihnen hergetrieben.«

Seine ersten Worte hatte das Mädchen noch mit tief gesenkten Wimpern angehört, aber nun plötzlich ging eine Erschütterung durch ihre schlanke, zarte Gestalt, sie wankte und sank kraftlos auf die Bank hin, die Hände vors Gesicht gepresst, krampfhaft schluchzend. Angstvoll trat Hellmrich dicht zu ihr.

»Fräulein Lotte, zürnen Sie mir? Habe ich Sie verletzt mit meinem Kommen, mit meinen Worten? Ich meinte es ja nur gut,« fuhr er fast traurig fort. »Durch meine Schwester erfuhr ich – Ihre Mutter, Fräulein Lotte, hat es der meinen geschrieben, – dass Sie, dass Sie sich so unnütze, quälende Gedanken machten, wegen – wegen eines vermeintlichen Unrechts, das Sie mir zugefügt, damals, noch in Jena! Und da wollte ich Ihnen nur sagen – ich dachte, es würde Sie vielleicht etwas beruhigen, in Ihrem jetzigen leidenden Zustande – dass ich Ihnen nicht im geringsten etwas nachtrage. Im Gegenteil, wenn Sie wüssten, – wenn Sie in mein Herz sehen könnten –«

Ein so heftiges Zittern kam in seine Stimme, dass er nicht weiter sprechen konnte. Aber das Mädchen griff plötzlich nach seiner Hand. »Wie gut, wie namenlos gut und edel sind Sie!« rief sie aus, ihrer Gefühle nicht mehr Herr, und ihre heissen Tränen fielen auf seine Rechte.

Da war es aus mit dem Rest seiner Selbstbeherrschung. Er beugte sich dicht über die Weinende.

»Fräulein Lotte, liebes Fräulein Lotte! Nicht doch so – das kann ich nicht ertragen.« Sie fühlte, wie seine Brust, nahe ihren Wangen, krampfhaft atmete. »Nichts mehr von der Vergangenheit, von all' dem Trüben und Traurigen, das Sie Ärmste erdulden mussten! Blicken Sie doch vor sich: Noch sind Sie jung, noch liegt das Leben vor Ihnen – noch kann das Glück, das echte, wahre Glück zu Ihnen kommen – zu Ihnen, die Sie es sich in schweren Seelenkämpfen jetzt ehrlich verdient haben.«

Da aber brach sich ein herzerschütternder Schrei von ihren Lippen: »Nie, nie mehr! Ich selbst habe mir ja mein Glück verscherzt, auf immer! Und nun – leben Sie wohl!« In Verzweiflung und völliger Verwirrung über das Geständnis, das er ja doch sicher richtig verstand, wollte sie aufspringen und ihm entfliehen. Doch da fühlte sie sich fest von seinen Armen umschlossen und an sein stürmisch klopfendes Herz gezogen.

»Nein, Lotte, meine liebe, kleine Lotte!« sie spürte seine bebenden Flüsterlaute, seine warmen Lippen dicht an ihrem Ohr. »Nein – das hast Du nicht! Wenn es wahr ist, dass Du das Glück von mir erwartetest, dass Dein Herz nun mir gehören könnte, als mein eigen, als mein höchster, heiligster Schatz – dann, Lotte, ist es nicht zu spät. Dann will ich Dein sein! Hier – hier bin ich! Magst Du mich denn wirklich, – mein Glück, meine ganze Seligkeit?«

»Ach Du!« Weinend, lachend, jubelnd in Einem warf sich das Mädchen dem Geliebten um den Hals, sich stürmisch an ihn drängend, als sollte nun keine Macht der Welt sie mehr fortreissen von diesem starken, sicheren Hort, den sie sich nun doch noch nach sturmbewegter Irrfahrt gewonnen. Und mit unbeschreiblicher Seligkeit fühlte er den zarten Leib der so lang' Ersehnten zum erstenmal bebend, fiebernd und doch so vertrauensvoll sich an ihn schmiegen. Da pressten sich seine Arme stürmisch um sie, ein stummes Gelöbnis, stark und treu festzuhalten, gegen alle Welt zu schirmen, was da eben sein Eigen geworden war.

So hielten sie sich lange, lange, in wortloser Seligkeit umschlungen. Dann lehnte sie den Kopf an seine Schulter und blickte mit den dunklen, süssen Augen glückselig zu ihm auf. War es der warme Abendschein oder das Glücksgefühl – ihr Antlitz war wieder rosig erglüht und prangte im rührenden Liebreiz der ersten Jugend.

»Karl, mein starker, guter, lieber Karl!« flüsterte sie, ihn mit zärtlichem Stolz anschauend. »Dass ich Dich nun doch noch habe!«

Er erwiderte nur mit einem innigen Blick und, den Arm um ihren Leib legend, führte er sie langsam den Pfad talabwärts.

»Was werden sie drunten im Forsthaus sagen, wenn Du plötzlich am Arm des Fremden als Braut wiederkommst?« neckte er sie mit glückstrahlendem Blick.

Schelmisch, fast übermütig, blitzten ihn ihre Augen an; das war wieder die alte Lotte. »Er kam, sah, siegte!« Doch sogleich, als schäme sie sich ihres Übermuts, schmiegte sie sich mit demütigem Blick an ihn: Bitte, bitte, nicht bös sein, Liebster!

Liebreich drückte er sie an sich. So stiegen sie in seligem Sichaneinanderschmiegen den Hang hinunter. Durch die Buchenstämme flammten jetzt die letzten gold-glühenden Scheidegrüsse der Sonne, und eine feierlich stille Abenddämmerung wob unter den dunklen Blätterkronen. Da blieb Hellmrich plötzlich stehen.

»Ganz wie damals in Tautenburg! Weisst Du noch, mein Lieb?« Sie nickte stumm, fast ernst. »So hat doch also nicht gelogen, was in jener köstlichen Abendstunde in uns beiden heimlich sprach, und mein Wald, mein lieber, treuer Thüringer-Wald hat mir mein Glück beschert – meine süsse, kleine Waldfee!« Und er suchte ihre Lippen, die sie ihm willig bot.

Zwei Glückbegnadete schritten sie so durch die Buchen-Dämmerung hin, im seligen Abendfrieden.



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