Paul Grabein
In der Philister Land
Paul Grabein

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V.

»Aber Karl, ist es denn wirklich wahr? Du bist nun wohlbestallter Schulamtskandidat – und gerade an Deiner alten Schule? Nein, wie komisch!«

Lachend rief es die Schwester, eben aus dem Bureau gekommen, Karl Hellmrich zu, während sie vor dem Spiegel über der Kommode den Hut ablegte und mit ein paar Griffen rasch ihr Haar ordnete.

»Na, komisch ist mir die Sache nun eigentlich gar nicht,« warf der Bruder ziemlich verdrossen hin. Er war schon seit ein paar Stunden, seitdem der Brief vom Provinzialschulkollegium gekommen war, in wenig rosiger Laune.

»Aber wieso denn, Du alter Brummbär!« scherzte Lisbeth und setzte sich zu dem Bruder auf die Sofalehne, indem sie ihn lachend bei den Schultern packte und schüttelte. »Sei doch froh, dass Du so schnell nach dem Examen in Dein Probejahr kommst. Um so eher wirst Du doch angestellt!«

»Gewiss – alles sehr schön!« meinte Hellmrich: »Du vergisst bloss das eine, dass am Friedrich Karl-Gymnasium mein alter Freund und Gönner Höpfner Direktor ist, mit dem ich mich schon als Primaner wie Hund und Katze gestanden habe. Das wird nun mein direkter Vorgesetzter. Glaubst Du wirklich, dass ich da sehr viel Freude erleben werde?«

»Ach Gott, ist ja wahr! Daran hatte ich im Augenblick gar nicht mehr gedacht,« seufzte Lisbeth und machte ein nachdenkliches Gesicht. Doch nach einer Weile fragte sie lebhaft: »Aber sag' mal, geht denn das nicht, dass Du Dich an eine andere Schule versetzen lässt?«

»Nichts zu machen, Liesel! So ein armseliger Probandus darf sich seine Anstalt nicht wählen, sondern wird von einem hochwohlweisen und gestrengen Schulkollegio einfach verschickt – wie nach Sibirien, ohne um seine unmassgeblichen Wünsche gefragt zu werden!«

»Nein, das ist doch aber zu dumm,« meinte Lisbeth. »Und wie lange musst Du nun auf Deiner Strafstation aushalten?«

»Mindesten doch die zwei Probejahre. Wenn's Glück aber gut geht, werde ich vielleicht an dem Stall auch noch fest angestellt!«

»Ach, um Gotteswillen nicht!« rief die Schwester erschrocken aus.

»Na, wir brauchen ja nicht gleich das Schlimmste zu befürchten,« lachte Hellmrich, seiner Liesel zärtlich die Wangen streichelnd. »Und ausserdem, zum Donnerwetter, was kann er mir denn eigentlich? Ich tue einfach immer meine Pflicht und Schuldigkeit, und im übrigen kann er mir den Buckel raufrutschen!«

»Na, siehst Du!« lachte nun auch die Schwester fröhlich und sprang auf. »Aber nun komm zum Abendbrot. Ich habe einen Mordshunger. Wir hatten heute eine so grosse Korrespondenz, dass ich auf dem Kontor nicht mal dazu gekommen bin, meine Vespersemmel zu essen.«

»Armer, kleiner Kuli Du! Dass Du Dich so schinden musst um die paar Mark monatlich!« bedauerte Hellmrich sie mitleidig, indem er, sie um die Schulter fassend, mit ihr zum Wohnzimmer schritt. »Na warte, wenn ich erst meine Anstellung in der Tasche habe, dann hören mir aber die Dummheiten auf. Dann wird hübsch im Haus geblieben und die Nase in kein Kontor mehr gesteckt!«

Scherzend kamen die Geschwister so ins Wohnzimmer, wo die Mutter mit den jüngeren Brüdern schon am gedeckten Tisch sass und dabei war, Brotschnitten in gewaltiger Anzahl vorrätig zu schneiden. Frau Hellmrich hatte sich in letzter Zeit immer mehr erholt und war wieder ordentlich verjüngt worden. Nachdem ihr Ältester nun auch sein Examen gemacht, war die letzte ernste Sorge von ihr gewichen. Freilich, wohl blieb das sparsame Haushalten nach wie vor an der Tagesordnung. Aber Karl trug doch schon jetzt in sehr bemerkenswerter Weise zum Etat der Familie bei. Er gab immer noch einige Stunden und verdiente ausserdem als Stenograph ein ganz hübsches Stückchen Geld; denn er war für eine grosse, angesehene Zeitung tätig, für die er über wissenschaftliche oder wichtigere politische Vorträge in öffentlichen Versammlungen referierte. So ging es schon jetzt ganz erträglich. Und wenn er Glück hatte, und in zwei Jahren die feste Anstellung da war, nun, dann stand er ja ganz auf eigenen Füssen, konnte sogar noch etwas für die Unterhaltung und Ausbildung der jüngeren Brüder beisteuern.

Denn dass Karl bald heiraten würde, das glaubte Frau Hellmrich nicht, nachdem er ihr damals im letzten Herbst, nach Charlotte Gertings Besuch, sein Herz ausgeschüttet und ihr gezeigt hatte, dass er das Mädchen trotz allem doch nie werde vergessen können. Und sie kannte ihren Jungen. Er hielt fest an dem, was er einmal mit seinem innersten Fühlen umschlossen hatte.

Seitdem hatten Mutter und Sohn nie wieder über Karls Herzenssache gesprochen. Es war ihr daher sehr peinlich, dass jetzt plötzlich bei Tisch der kleine Hellmuth, um sich mit einer Neuigkeit wichtig zu machen, an den grossen Bruder wandte.

»Du, Karl, weisst Du schon? Heute ist ein grosser, dicker Brief aus Jena gekommen – von Tante Gerting.« Er setzte voraus, dass alle Nachrichten aus Jena Karl natürlich sehr interessierten, und berichtete daher von dem Schreiben, das er selber dem Postboten abgenommen hatte.

»So,« fragte Hellmrich mit erzwungener Ruhe, aber man merkte ihm doch eine gewisse Spannung an. »Was schreibt denn die Hofrätin, Mama? Ist irgend etwas Besonderes bei Gertings vorgefallen?«

Die Mutter antwortete ausweichend, das bestärkte ihn aber natürlich nur in seiner Vermutung und liess ihm keine Ruhe mehr. Zwar bezwang er während der Mahlzeit seine Neugier, nachher aber, als die jüngeren Brüder hinaus waren, bat er die Mutter ernst und dringend, ihm doch zu sagen, was es mit dem Brief sei.

Frau Hellmrich hätte ihm gern davon geschwiegen; denn sie fürchtete, dass die Nachricht der Hofrätin vielleicht geeignet sei, neue Hoffnungen in seinem Herzen zu erwecken und ihn so in seiner anscheinend wiedergewonnenen Seelenruhe aufzustören. Indessen, wo Karl sie nun so dringend bat, konnte sie ihm auch die erbetene Auskunft nicht verweigern. So gab sie dem Sohne denn schliesslich statt aller Antwort stillschweigend den Brief der Hofrätin zu lesen.

Frau Gerting hatte der alten Freundin einmal ordentlich das Herz ausgeschüttet. So schrieb sie denn, die Verlobung Lotti's machte ihr bereits seit längerer Zeit ernste Sorgen. Sie hätte ja von vornherein nicht leichten Herzens dazu ihre Einwilligung gegeben. Nur die ungestüme Liebe der Tochter zu Simmert, der ja auch diese Neigung ebenso aufrichtig zu erwidern schien, habe sie seiner Zeit dazu bestimmt. Aber schon jetzt dränge sich ihr mehr und immer mehr die Überzeugung auf, dass die Sache doch sehr übereilt worden sei.

Schon damals, als Lotti letzte Weihnachten von ihrer Schwiegermama in Berlin zurückgekommen sei, habe sie den Eindruck bekommen, dass vieles nicht stimme. Ursprünglich war ja sogar geplant gewesen, dass ihr Kind auch noch zum Fest bei Frau Simmert hätte bleiben sollen. Aber Lotti sei ganz unerwartet ein paar Tage vor Weihnachten plötzlich wieder zu Hause angekommen. Unter Tränen hätte sie erzählt, sie habe es im Simmertschen Hause nicht mehr aushalten können. Es sei da zum Sterben langweilig, und Rolfs Mutter sei einfach unausstehlich. Sie hätte sich wochenlang mit höchster Selbstüberwindung in ihre Schrullen geschickt, aber dann wäre es trotz aller ihrer Beherrschung am Morgen des Tages ihrer Abreise zu einer Szene gekommen. Die Schwiegermutter hätte sie dabei wie ein dummes Schulmädchen behandelt und sich über ihren Charakter ein so beleidigendes Urteil erlaubt, dass Lotti ihr in heller Empörung erklärt habe, keinen Augenblick länger unter ihrem Dache weilen zu können.

Dieses Scheiden im Unfrieden habe nun einen ernsten Schatten auf das Verhältnis Rolfs zu Lotti geworfen. Zwar hätte er im ersten Augenblick, als seine kleine Braut ihm weinend, im höchsten Grade aufgeregt, um den Hals fiel und alles beichtete, sich anscheinend auf ihre Seite gestellt. Aber trotzdem war er dann doch zu Weihnachten nach Berlin zu seiner Mutter gefahren.

Das hätte Lotti natürlich furchtbar gekränkt, und sie habe ihm das nach seiner Rückkehr auch deutlich gezeigt. Aber anstatt sein Unrecht einzusehen, habe Simmert ihr da ziemlich klar zu verstehen gegeben, dass er nun, nach den Darstellungen seiner Mutter, den Fall doch etwas anders ansähe. Lotte sei doch auch nicht ohne Schuld an dem Vorfall, und speziell ihre Heftigkeit gegen seine alte Mutter sei sicher nicht angemessen gewesen. Sie könne daher doch nicht von ihm verlangen, dass er sich darum mit seiner Mutter, die ihn nur allein auf der Welt habe, entzweien solle. Es sei vielmehr wohl Lottis Pflicht, hier zuerst wieder einzulenken und seiner Mutter die Hand zur Versöhnung entgegenzustrecken.

Lotti habe selbstverständlich zunächst in flammender Entrüstung dieses Ansinnen zurückgewiesen und sei, als Rolf dabei geblieben wäre, ganz ausser sich, aus dem Zimmer gestürzt. Daraufhin hatte ihr Verlobter ihr Haus mehrere Tage lang nicht mehr betreten und ihr auch keine Zeile mehr geschickt. »Er wolle sie sich erst ausbocken lassen,« hatte er sich nur geäussert. Ihr armes Kind sei über seine Ungerechtigkeit und Hartherzigkeit wie verzweifelt gewesen, aber schliesslich hatte sie, dem mütterlichen Zureden der Hofrätin folgend, sich dazu entschlossen, ihrer Liebe das erste grosse Opfer zu bringen. Sie hatte in einem Brief an Frau Simmert um Verzeihung gebeten und diesen Brief ihrem Bräutigam zur Kenntnisnahme und Weiterbeförderung übersandt.

Daraufhin wäre Simmert nun ja zwar sofort am Abend wieder ins Gertingsche Haus gekommen, und es sei nach einer tränenreichen Aussprache wieder Friede geschlossen worden, aber seit jenen Tagen hinge etwas bedrückend und drohend in der Luft. Trotz aller gelegentlichen grossen Zärtlichkeit, die ja bei einem jung Verlobten einem so lieben Mädel wie ihrer Lotti gegenüber nur zu selbstverständlich sei, könne sie nicht mehr an Rolfs wahre Liebe zu ihrer Tochter glauben. Er sei ja zwar sehr geschickt bemüht, sich nichts anmerken zu lassen, im Gegenteil, er überhäufe seine Braut mit äusserlichen Aufmerksamkeiten, mit kostbaren Geschenken und prächtigen Blumenspenden, aber das alles könne sie nicht blind machen. Bisweilen verrate sich doch auch seine wahre Gesinnung durch einen schroffen, ungeduldigen Ton gegenüber den kleinen Launen Lottis. Und sie frage sich mit Schrecken, wie das einmal später in der Ehe werden solle, wenn dieser Mann jetzt schon so rücksichtslos und kalt gegen seine Braut sein könne.

Ihr armes, ahnungsloses Kind hätte ja – zum Glück, vielleicht aber noch mehr zu ihrem Unglück! – die ganze Bedeutung solcher kleinen Zwischenfälle noch nicht erkannt, denn die doppelt zärtlichen Liebkosungen nach jedem dieser kleinen Konflikte liessen sie deren Bitternis bald wieder vergessen.

So sei es denn immerhin noch erträglich schliesslich den Sommer über gegangen. Aber dann sei in Simmert der Entschluss entstanden, aus Jena weg nach Berlin zu gehen. Es sei die höchste Zeit – so hätte er gesagt – an sein Staatsexamen zu denken, das er als preussischer Staatsangehöriger aber nicht in Jena machen könne. So wollte er denn seine letzte Studienzeit und die Vorbereitung zur Referendarprüfung in Berlin absolvieren. Lotti sei natürlich über diese Trennung ganz untröstlich gewesen, aber es habe ja alles nichts helfen können. So sei denn ihr Bräutigam Anfang August, mit Ende des Sommersemesters, nach Berlin gegangen. Nur das Versprechen, täglich schreiben und alle zwei bis drei Wochen über Sonntag zu Besuch zu kommen, habe ihrer Lotti schliesslich einigermassen über diese Trennung hinweghelfen können.

Im Anfang seien denn auch Simmerts Briefe ziemlich regelmässig gekommen, und er selbst sei fast alle vierzehn Tage Sonntags nach Jena herübergefahren. Aber dann wären Briefwechsel und Besuch allmählich ins Stocken gekommen, und jetzt sei er schon an fünf Wochen nicht mehr dort gewesen. Seine Briefe kämen nur noch alle fünf bis sechs Tage, seien häufig auch nur flüchtig und letztens sei nicht einmal zum Sonntag ein Gruss von ihm gekommen. Er entschuldige das alles mit seiner grossen Arbeitslast; er gehe täglich ein paar Stunden ins Kolleg und dann zum Repetitor und arbeite ausserdem noch privatim sehr angestrengt. Aber das alles könne sie über den wahren Beweggrund nicht hinwegtäuschen. Simmert liebe einfach eben ihr Kind nicht mehr – wenn er Lotti überhaupt jemals geliebt habe. Und überdies habe er sehr wahrscheinlich in Berlin, mit all seinen Zerstreuungen und Vergnügungen, noch anderes als die Arbeit, was ihn abhielte, sich seiner Braut zu widmen.

Sie hüte sich ja natürlich, diesen ihren Argwohn ihrer unschuldigen Lotti mitzuteilen. Aber sie könne den Kummer ihres armen, unglücklichen Mädels über die Vernachlässigung durch den Verlobten bald nicht mehr mit ansehen. Und vor allem wollte sie Gewissheit haben, wie es mit Simmert stehe, ob er wirklich durch seine Arbeit so in Anspruch genommen sei, oder ob es sei, wie sie befürchte.

Da appelliere sie nun an die so oft bewährte Hilfsbereitschaft ihrer guten, alten Henriette, die sich ja ihrer Tochter – wie diese ihr mit Dankbarkeit berichtet – so liebevoll in Berlin bewiesen habe, oder noch richtiger, eigentlich an ihren Sohn Karl, Lottis alten, treuen Freund. Ihm, als einem jungen Manne, würde es ja gewiss nicht schwer fallen, sich einmal über Simmerts Lebensführung unauffällig zu erkundigen. Und sie würde ihm ja so von Herzen dankbar dafür sein – ein geängstigtes Mutterherz werde ihm diesen grossen Dienst nie vergessen!

So weit las Hellmrich. Da warf er den Brief mit einem bitteren Auflachen auf den Tisch. Dazu war er gut genug, den Wächter über Lottis Glück mit einem andern zu spielen! Wahrhaftig, diese Zumutung war doch ein bisschen gar zu naiv! Aber er wollte Mutter und Schwester nicht zeigen, was alles dieser Brief wieder in ihm aufgestört hatte. So erhob er sich dann schnell, nach der Uhr sehend: Es sei die höchste Zeit, dass er zu der Volksversammlung in den Arminhallen gehe, die er heute besuchen wollte. Und mit hastigem Gruss schied Hellmrich von den Seinen.



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