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In der chirurgischen Abteilung der Augenklinik zu Jena klopfte es gegen Mitternacht leise an die Tür des Zimmers, wo Schwester Martha die Nachtwache bei einem hier untergebrachten Patienten hatte. Geräuschlos erhob sie sich, das Buch aus der Hand legend, und ging zur Tür. Draussen stand die Schwester du jour und teilte ihr mit, sie möchte schleunigst alles vorbereiten. Das Zimmer solle noch mit einem Patienten belegt werden, der sogleich heraufkommen werde – ein Student, dem das linke Auge schwer verletzt worden sei.
Schwester Martha machte sofort das Bett zurecht, trug Kompressen und Eisbeutel herzu, und, wie sie noch darüber war, wurden draussen schon Schritte und Stimmen laut. Nun ging die Tür auf. Der wachthabende Assistenzarzt leitete mit einem Wärter den neuen Patienten, dem beide Augen verbunden waren, ins Zimmer.
»So, da wären wir angekommen. Vorsicht, bitte, stossen Sie sich nicht. Hier rechts steht ein Tisch. – So, nun setzen Sie sich, und Stötzer wird Sie ausziehen.«
Während der Wärter dem Patienten beim Entkleiden half und ihn dann vorsichtig ins Bett brachte, war der Arzt mit der Schwester auf den Korridor gegangen, wo er diese kurz orientierte:
»Schwester Martha, ich muss Ihnen leider noch einen zweiten Patienten hier ins Zimmer legen. Die ganze Station ist voll. Aber wir wollen sehen, dass wir morgen den andern hinausschaffen. Das Zimmer muss doch auch wieder für die erste Klasse frei gehalten werden. Der neue Patient – Studiosus Pahlmann – braucht sorgfältige Pflege. Unausgesetzt kühlen mit Eisbeuteln, Schwester! Das linke Auge ist, bei einer Rauferei, böse mitgenommen worden. Soviel ich bei dem kolossalen Bluterguss eben bei der Aufnahme feststellen konnte, schwere Luxation der Linse. Natürlich muss er absolute Ruhe haben – keine Bewegung. Achten Sie, bitte, energisch darauf, Schwester, und die Hauptsache, wie gesagt, immer alle Viertelstunden einen neuen Umschlag.«
Dann ging der Arzt mit der Schwester wieder zu dem Verletzten hinein, der nun im Bette lag: »Also, Herr Pahlmann, ich überlasse Sie nun hier der Pflege von Schwester Martha. Vorläufig können wir nichts weiter machen, als energisch kühlen. Morgen werden wir ja weiter sehen. Verhalten Sie sich nur recht ruhig und machen Sie sich im übrigen keine unnötigen Sorgen.«
»I wo – wegen so 'ner Lumperei!« lachte Pahlmann unter seinem Verband hervor, und das bierrunde Gesicht mit den rotglänzenden Narben wandte sich nach dem jungen Doktor hin, der ihm kameradschaftlich zum Abschied die Hand drückte. »Sie haben ja bloss zwei Nadeln legen brauchen. Also das kann doch nicht der Rede wert sein! Ist's denn überhaupt nötig, Herr Doktor, dass ich in die Klappe muss?«
»Die Fleischwunde ist allerdings ganz unerheblich, aber die innere Verletzung ist doch immerhin nicht unbedeutend,« warnte der Arzt. »Also, nicht leichtsinnig sein, Herr Pahlmann, hören Sie? Denken Sie dran, dass Sie mir immer hübsch still liegen. Und nun, Gute Nacht!«
»Gute Nacht, Herr Doktor!« rief Pahlmann, und wollte, sich mit dem Oberkörper aufrichtend, eine Art Verbeugung machen.
»Na, sehen Sie, da geht's ja schon los!« rief ärgerlich der Arzt. »Liegen Sie in Teufels Namen doch bloss still! Ich stehe Ihnen sonst für nichts ein.«
Etwas geknickt, liess sich Pahlmann langsam niedersinken. Mein Gott, hatte sich dieser Pflasterkasten gefährlich! Als ob ihm mindestens der halbe Kopf abgerissen wäre. Sollte denn wirklich die Geschichte nicht so ohne sein? Und er begann nachzudenken, wie alles gekommen war.
Im Philister – ohne Couleur – war er vor knapp einer Stunde aus seiner Bude zu später Stunde losgeflitzt, um sich noch zu einem Schlummerpunsch in's Café zu setzen. Gerade in der Passage am Café Rein, auf dem schmalen Bürgersteig, wo nur ein Mensch richtig gehen konnte, war ihm ein Einer in Couleur entgegengekommen. Er wollte erst ausweichen, als er aber sah, dass der andere mit breitem, herausforderndem Rempelschritt, die Arme in den Paletottaschen, die Ellenbogen weit abgespreizt, auf ihn zusteuerte, da sagte er sich trotzig: »Nee, fällt Dir gar nicht ein! Wie kommst Du denn dazu, Platz zu machen?«
Und so waren sie aneinander gerannt, und zwar recht kräftig, Bauch gegen Bauch. »Deibel auch! Was fällt Ihnen ein? Warum machen Sie keinen Platz?!« schnauzte ihn der andere an.
»Hab' ich ja gar nicht nötig! Weichen Sie doch aus!« rezitierte Pahlmann prompt.
»Sie sind in meinen Augen ein Flegel!« scholl es ihm darauf wütend entgegen, und, »bitte um Ihre Karte!« reagierte Pahlmann automatenhaft.
Dabei waren sie, ein paar Schritte weitertretend, ins Licht der Laterne gekommen. Nun erkannte Pahlmann plötzlich, dass sein Gegner die hellblaue Mütze der Silesen trug, mit denen sie im Verruf standen. Commentmässig zog er daher seine Forderung zurück:
»Ich sehe, Sie sind Schlesier – ich bin Landsmannschafter Alemanne. Eine Kontrahage hat ja daher doch keinen Zweck. Ich verzichte also auf Ihre Karte,« erklärte er formell mit kühlem Gruss und wollte weitergehen. Aber im selben Augenblick fühlte er den Spazierstock des andern auf seinem Schädel. Erst bei späterem Nachdenken war ihm dieser anfangs ganz überraschend und unmotivierte Überfall klar geworden. Der andere hatte gewiss in seiner Erregung – stark angezecht war er auch – nur die Worte herausgehört: »Sie sind Schlesier – da hat's ja doch keinen Zweck« und das für einen allgemeinen Vorwurf der Kneiferei gegen alle Silesen aufgefasst, den er a tempo durch Tätlichkeiten hatte ahnden wollen.
Im Verlauf der Holzerei, denn auch Pahlmann wehrte sich kräftig seiner Haut, hatte er dann mit dem Stockknauf seines Gegners einen heftigen Schlag ins Auge bekommen, sodass er zurückgetaumelt war und kampfunfähig wurde. Mit blutüberströmtem Gesicht, sich nur mühsam zurechtfindend – denn mit dem linken Auge konnte er gar nicht und mit dem rechten nur wenig' sehen – war er dann zum Alemannenhaus gekommen, wo noch ein paar seiner Leute sassen und ihn in Anbetracht seiner bedenklich aussehenden Verletzung in die akademische Heilanstalt hinausbrachten. Ja, so war's gewesen, und nun lag er hier also richtig fest.
Während sich Pahlmann noch einmal diese Vorgänge vergegenwärtigte, kam Schwester Martha der Anordnung des Arztes mit der grössten Gewissenhaftigkeit nach. Sie erneuerte alle Viertelstunden die Eisblase, deren Inhalt unter der Hitze des verletzten Auges bald wieder zusammenschmolz. Teufel auch! Diese Glut, dieses Stechen im Auge war verdammt unangenehm. Und dazu eine Unruhe im ganzen Körper. Wahrhaftig, eine Gemeinheit erster Klasse, dass ihm das passieren musste! Und ungeduldig wollte sich Pahlmann auf die rechte Seite werfen.
»Bitte, nicht! Ganz still liegen!« scholl ihm da plötzlich die Stimme seiner Pflegerin ins Ohr, und ihre Hand berührte ihn an der Schulter, um die verbotene Bewegung noch im Entstehen zu unterdrücken.
»Leicht gesagt – Gottsdonnerwetter!« fuhr Pahlmann die Schwester an. »Wenn Sie man die Hitze im Körper hätten!«
»Ich weiss, wie schwer es in Ihrer Lage ist, regungslos zu liegen; aber es hilft doch einmal nichts. Bitte, denken Sie doch immer daran, dass Ihr eigenes Beste es erfordert – wie schweren Schaden Sie davon haben können, wenn Sie sich nicht ruhig verhalten!«
Sanft und doch energisch klangen die Worte der unsichtbaren Sprecherin, eine sympathische Stimme, die einem unwillkürlich wohltat. Pahlmann schämte sich plötzlich seiner Grobheit. Es fiel ihm ein, dass die Pflegerin, die sich da um ihn mühte, ja nicht eine gewöhnliche Wärterin sei, sondern eine Schwester. Er hatte sich zwar bisher in seinem ganzen Leben noch nicht um diese Spezies Menschen gekümmert, die so gänzlich ausserhalb seiner Sphäre existierten, aber immerhin hatte er eine dunkle Vorstellung, dass sich diesem Berufe auch Mädchen aus sehr gutem Hause widmeten, also richtige Damen. Teufel, da war sein Benehmen eigentlich nicht sehr fein gewesen. Und er beschloss, das bei nächster Gelegenheit wieder gut zu machen.
Aber dann beherrschte ihn ein anderer Gedanke. Auch die Schwester hatte eben, wie schon der Arzt vorhin, gesagt, dass die Sache eventuell schlimm werden könnte. Schlimm! Hm, was hiess das? Sollte er etwa – dabei die Sehkraft, vielleicht sogar das Auge ganz verlieren können? Plötzlich durchschoss ihm ein furchtbarer Gedanke den Kopf: Er hatte mal, noch auf der Schule, in der Naturgeschichtsstunde gehört oder irgendwo gelesen, dass die kreuzweise Verbindung der Sehnerven es bisweilen mit sich brächte, dass die Affektion des einen Auges auch das andere in Mitleidenschaft zöge. Wenn nun – wenn er womöglich gar auf beiden Augen – –!
Das Herz stand ihm mit einem Mal still, und ein kalter Angstschweiss brach ihm am ganzen Körper aus. Ein paar Augenblicke lag er so, die Beute dieses furchtbaren, ihn ankrallenden Gedankens. Dann aber trieb es ihn, sich Gewissheit zu verschaffen, ja, womöglich Trost zu holen von der Pflegerin, die doch auch gewiss etwas von solchen Dingen verstand.
»Schwester!« Leise, auffallend sanft klang seine Stimme, und schnell kam Schwester Martha mit ihrem unhörbaren Schritt an sein Lager.
»Ja, bitte. Fehlt Ihnen irgend was?«
Einen Moment zauderte Pahlmann noch. Er wollte nicht lächerlich erscheinen mit seiner vielleicht unbegründeten Furcht und suchte daher nach Worten.
»Sagen Sie, bitte, Schwester, was hab' ich eigentlich an meinem Auge? Hat's Ihnen der Doktor nicht gesagt? Er sprach doch vorhin draussen mit Ihnen.«
Schwester Martha wiederholte die kurze Diagnose, die ihr der Arzt mitgeteilt hatte.
»Ja, und ist denn das nun wirklich eventuell bedenklich? Kann – können da unter Umständen ernstere Folgen draus entstehen?«
Die Pflegerin, trotz ihrer noch jungen Jahre doch schon an Erfahrungen am Krankenbette reich, und gewohnt, in geängsteten Seelen zu lesen, merkte, welche Gedanken ihn heimlich quälten. Sie sprach ihm daher Mut ein: So schlimm würde es ja hoffentlich nach allem Anschein bei ihm nicht werden. Nur ruhig, absolut ruhig und still müsse er sich verhalten, dass kein neuer Blutandrang in das verletzte Auge stattfände; dann würde sich ja wohl alles noch mal geben und ohne ernsten Schaden vorübergehen. Und sie erzählte ihm ein paar ähnliche Fälle, wo auch trotz starker Gefährdung die Sehkraft noch glücklich gerettet worden war.
Pahlmann schwieg, aber durch seinen Kopf gingen sehr ernste Gedanken. Erstens, es war also wirklich mit der Geschichte nicht zu spassen. Er stand vor einer folgenschweren Entscheidung, von der möglicherweise das Glück oder Unglück seines ganzen Lebens abhing. Daran knüpfte sich ihm unwillkürlich die Betrachtung, wie schrecklich der Zufall mit den Menschengeschicken spielt. Wäre er nun heute abend nicht ausgegangen, oder hätte er bloss einen anderen Weg genommen, so wäre die ganze Geschichte überhaupt nicht passiert, so wäre er noch jetzt gesund und munter.
Aber dann spürte er diesem fatalistischen Zusammenhang näher nach. Zufall! War es wirklich nur ein Zufall, spielte da nicht auch ein eigenes Zutun, ja eigene Schuld mit hinein? Wenn er ganz ehrlich sein wollte, so musste er doch zugeben: Es hätte auch trotz seines Begegnens mit dem Silesen nicht dazu kommen brauchen. Wenn er vernünftig gewesen und dem andern ruhig ausgewichen wäre – seine Ehre wäre doch damit auch nicht geschmälert worden. Nein, wahrhaftig nicht! Und plötzlich packte ihn eine stille Wut auf sich selbst. Solch alter Esel, wie er gewesen war, sich eigentlich ohne Not diese ganze Geschichte angerichtet zu haben! Aber natürlich, auch er hatte ja wieder so ein bisschen »Anschluss« gehabt und dann war er immer krakeelerig aufgelegt.
Einmal zu dieser Erkenntnis gelangt, blieb Pahlmann nicht stehen, sondern ging weiter mit sich ins Gericht. Im Grunde genommen durfte er sich ja gar nicht wundern, dass ihm nun einmal so eine Geschichte passiert war; im Gegenteil, es war nur zu verwundern, dass ihm nicht schon längst etwas Derartiges zugestossen war bei solchem Lebenswandel und bei seiner persönlichen Eigenart. Herrgott, wie leichtfertig lebte man eigentlich darauf los, wie spielte man täglich, stündlich mit den kostbarsten Gütern, die Gott und die Natur einem verliehen, mit Leben und Gesundheit!
Pahlmann liess die Gedanken rückwärts fliegen. Wie war er einst von der Schule auf die Universität gekommen, ein reiner, unverdorbener Mensch, voller Ideale, voll ernsten Strebens nach den hohen Zielen der Wissenschaft. Und was war nun aus ihm geworden? Voll tiefer Scham sah er plötzlich – zum erstenmal in diesem tollen, ewig wirbelnden Reigen der lustigen Studentenjahre – auf sein eigenes Bild, das er sich in schonungsloser Wahrheit vor Augen hielt. Pfui Teufel, ein erbärmlicher, schlapper, verrohter Kerl, ohne inneren Gehalt und Halt, um den es keinen Augenblick schade wäre, wenn ihn ein Zufall von der Bildfläche hinwegwischte. Es würde auch keiner sich darum die Augen ausweinen.
Nur seine Eltern!
Ein schwerer Seufzer entrang sich Pahlmanns Lippen, sodass die Schwester zu ihm hinüberging: Ob ihm etwas sei? Er verneinte; nur um einen Schluck Wasser bat er, seine Lippen seien so trocken. Sorgsam flösste sie ihm den kühlen Trank ein und erneuerte dann den Eisumschlag. Sie merkte dabei, dass er in der Tat eine sehr grosse Hitze im Kopf hatte. Mit ernster Miene prüfte sie seinen Puls und legte ihm dann ein Fieberthermometer in die Armhöhle.
Pahlmann liess das alles geduldig, fast teilnahmslos mit sich geschehen. Er war so ganz von jenen ernsten, ihn im tiefsten Innern aufrührenden Gedanken in Anspruch genommen, dass die Sorge um sein körperliches Befinden völlig in ihm zurückgetreten war.
Seine Eltern, seine armen Eltern! Er kam nicht mehr von der Vorstellung los: Wenn sie es ahnten, wie er hier lag, wohin ihn sein leichtsinniges, liederliches Treiben gebracht hatte! Und dazu hatten sie ihn mit Sorgen und Ängsten gross gezogen, dazu hatten sie Opfer über Opfer gebracht, dazu in ihm den Stolz der Familie gesehen? Wie schmachvoll, wie bodenlos undankbar, dass er ihnen das alles so vergolten hatte!
Grimmig wütete Pahlmann auf sich ein und malte sich selbst als den elendsten aller Söhne aus. Wahrlich, er war es nicht wert, dass die Seinen noch mit dem leisesten Gefühl der Teilnahme seiner gedachten! So brütete er lange schmerzlich vor sich hin. Aber dann plötzlich nahmen seine Gedanken eine neue Richtung an, und – es war seltsam – aus einer rein äusseren Veranlassung. Schwester Martha hatte ihm, wieder einmal mit dem Auflegen eines neuen Eisbeutels beschäftigt, ein paar Worte des Trostes gesagt; der Patient, der trotz seiner heftigen Hitze und Schmerzen jetzt so ganz musterhaft still dalag, dauerte sie. Ihre Stimme hatte daher nun einen weichen, fast mütterlichen Klang, der dem Kranken in tiefster Seele wohltat. Ihm stiegen plötzlich Bilder aus fernen Tagen auf. Damals, als er noch ein kleines, schwächliches Kind fiebernd lag, da hatte seine Mutter an seinem Bett gesessen und ihm auch so mit linder, liebkosender Stimme Trost zugesprochen. Und da kam es plötzlich über ihn: Ihm war, als bräche von seinem Herzen eine harte, rauhe Rinde, die sich dort Jahr um Jahr fester angesetzt hatte. Etwas so Weiches, Weihevolles quoll in ihm auf, und er meinte eine innere Stimme zu hören, die ihm tröstlich zurief: Die Liebe höret nimmer auf! Geh' nur hin, wirb um sie auf's neue und zeig' Dich fortab ihrer wert!
Da ward es allmählich licht um ihn. Klar tauchte plötzlich aus dem Wogen seiner aufgeregten Empfindungen ein leuchtendes, festes Ziel auf: Das bedeutete Abkehr von den Irrpfaden, die er so lange gewandelt war, und ehrliche, freudige Arbeit an seinem inneren Menschen, wie auf dem Felde seines zukünftigen Berufs, das er so lange hatte brach liegen lassen.
So gebar die endlos lange, mühselige Nacht des Leidenden, den der Schlaf floh, in seiner Seele neues, starkes Leben, und als der Morgen sein Rot in das Krankenzimmer hineinleuchten liess, da war auch in ihm selber ein starkes, hoffnungsfreudiges Glühen, ja eine fast verzehrende Ungeduld, nun all die neuen Entschlüsse kraftvoll in Taten umzusetzen.
Doch der Weg in's Neuland seines Lebens ward Pahlmann nicht so leicht gemacht, wie es ihm in der ekstatischen Erhebung jenes gedankenwogenden Seelenaufschwunges in weltfremder Nachtstille erschienen war. Schon der Anfang des nächsten Tages brachte gleich Hemmnisse und Versuchungen.
Einige seiner Couleurbrüder erschienen. Mit ihren gutgemeinten, aber leichtfertigen Scherzen und der nonchalanten Behandlung des ganzen Vorfalls rückten sie diesen aus der düster-ernsten Betrachtung Pahlmanns in das spielende, lachende Licht akademischer Sorglosigkeit. Erst zwar war es diesem, als ob übermütige, frevelnde Hände ihm an etwas Heiliges tasteten, aber dann, als ihn nach wenigen Minuten ihrer Anwesenheit wieder der ganze frische Hauch des Studentenfrohmuts umwehte, da kam ihm sein nächtliches Grübeln bald krankhaft überreizt vor, und er neigte selber schon wieder einer leichteren Auffassung seines Missgeschickes und seiner ganzen Lage zu.
Gegen Mittag wurde er zu dem Professor in das Behandlungszimmer hinuntergebracht. Dieser untersuchte den Fall sehr genau, soweit das der momentane Stand der Verletzung zuliess, konnte aber auch noch nichts Gewisses über den Verlauf der Sache sagen. Die Hauptsache wäre, dass erst einmal die sehr starke Entzündung zurückginge und der Bluterguss in den Augapfel resorbiert würde, dann erst würde sich feststellen lassen, in wie weit die Sehkraft in Mitleidenschaft gezogen worden sei.
Mit diesem Gutachten des Professors wusste Pahlmann zunächst nicht viel anzufangen. Als aber nachmittags mit den Couleurbrüdern auch ein junger Kandidat der Medizin erschien und lächelnd von der ganzen Geschichte als einer Bagatellsache sprach – nach seinem Dafürhalten würde die Geschichte in ein paar Tagen längstens wieder in Ordnung sein – da sah auch der Patient wieder die Sache ganz von der sorglosen Seite an. Er wollte sogar mit den Couleurbrüdern eins trinken und sich eine Zigarre anstecken; doch glücklicherweise verhinderte das Wiedererscheinen der Schwester, die während einer kurzen Nachmittagsruhepause von einer Wärterin abgelöst worden war, diesen Unfug.
Schwester Martha sorgte auch mit ihrer freundlichen, aber sehr bestimmten Art dafür, dass die Couleurbrüder, deren lautes Lachen und Schwatzen die Ruhe in der ganzen Nachbarschaft störte, bald verschwanden. Pahlmann schmollte deswegen erst mit der Schwester und machte ihr Vorwürfe, dass sie ihm nicht einmal dieses kleine Vergnügen gönne. Diese aber antwortete nicht. Stillschweigend mass sie vielmehr nur den Puls und die Temperatur des Patienten, und dann sagte sie ernst: »Sie werden für's nächste überhaupt keinen Besuch mehr empfangen dürfen. Der Tag heute hat Ihnen sehr geschadet.«
Und sie hatte recht. Bald darauf wurden Pahlmanns Hitze und Schmerzen im Kopf fast unerträglich; dazu gesellte sich noch ein heftiges Zahnreissen in der ganzen linken Mundhälfte, hervorgerufen durch das beständige Auflegen der Eisbeutel. Lange lag er so, bis er den Zustand nicht mehr ertragen zu können meinte und nach dem Arzt verlangte. Zunächst erschien der Assistent, aber als er das Befinden Pahlmanns sah, hielt er es für seine Pflicht, den Professor zu rufen, der für dringende Fälle sich in der siebenten Abendstunde noch einmal in der Klinik zeigte.
Nun war der Gelehrte, der als ein hervorragender Ophthalmologe und sehr glücklicher Augenoperateur galt, unterstützt von seinem Assistenzarzt um Pahlmann beschäftigt. Der Verband wurde abgenommen, alle nötigen Apparate wurden herbeigeschafft, und eine sorgfältige Durchleuchtung beider Augen vorgenommen. Auf Geheiss des Professors bemühte sich Pahlmann, seine, ihm vorgehaltene Hand zu erkennen. Mit dem verletzten linken Auge sah er aber überhaupt gar nichts, und mit dem rechten erkannte er nur wie durch einen dichten, roten Dunst mit grösster Anstrengung die ungefähren Umrisse der Hand in allernächster Nähe. Der Professor schüttelte bedenklich den Kopf, zumal auch die Beweglichkeit des linken Auges vollkommen gestört und der Bluterguss noch gar nicht zurückgegangen war.
Er liess dann den Patienten von der Schwester wieder verbinden und zog sich mit dem Assistenten in eine Ecke zu einer kurzen Besprechung zurück. Wiewohl er nur gedämpft und in lauter Fachausdrücken sprach, erriet Pahlmann doch aus allem so viel, dass die Sache recht bedenklich stehe und, wenn über Nacht keine Resorption des Ergusses erfolgen sollte, morgen vormittag zur Operation geschritten werden müsse.
Dann kam der Professor an sein Bett, schüttelte ihm freundlich mit einigen aufmunternden Worten die Hand und verliess mit seinem Begleiter wieder das Zimmer.
Pahlmann blieb in düsterster Stimmung zurück. Das Wort Operation hatte in ihm tiefste Niedergeschlagenheit erweckt. Der Hausierer, der noch bis heute Mittag hier mit ihm im Zimmer gelegen und der bei einer Jahrmarktsprügelei einen Hieb in's Auge bekommen hatte, war heute ja auch operiert worden. Er hatte das endlose, schwerfällige Zählen des als alter Gewohnheitstrinker schwer zu narkotisierenden Mannes beim Einschläfern deutlich aus dem Operationssaal bis hierher gehört. Dann hatten sie ihm das verletzte Auge entfernt, weil die Entzündung schon zu weit fortgeschritten war. Nun geschah ihm morgen vielleicht ein Gleiches.
Es war keine Furcht mehr, was er bei dem Gedanken empfand – das war vorüber mit dem ersten Augenblick, wo das fatale Wort Operation ihn hatte unheimlich zusammenschrecken lassen. Nun war ihm vielmehr zu Mute wie vor der Mensur, wenn er fertig bandagiert dem Gegner gegenüberstand. Mit starrer Ruhe und Gleichgültigkeit. Ganz gleich, was nun passieren würde, nur stramm und tadellos sich benehmen! Keine Kneiferei!
In den Gedanken arbeitete sich Pahlmann mehr und mehr hinein, bis er sich schon innerlich ganz damit abgefunden hatte, dass auch ihm voraussichtlich das Geschick seines Leidensgenossen bevorstehen würde. Gewiss, es war ja schwer, tief traurig zu denken, dass er, bisher ein kerngesunder Mensch ohne körperliche Mängel nun fortab entstellt und im Gebrauch des wichtigsten Sinnesorgans beschränkt sein sollte. Aber, es war nicht anders. Er stand vor der unerbittlichen Notwendigkeit, und er wollte ihr wie ein ganzer Mann in das eherne Antlitz schauen. »Aequam memento rebus in arduis servare mentem!« Dieses Horazische Mahnwort erschien ihm wie ein echter Mannestrost, und er rief es sich immer und immer wieder mit innerster Überzeugung zu, um sich selbst zu stützen und zu festigen. Was auch kam, er wollte es würdig ertragen. Eins aber stand ihm nun unwiderruflich fest: Mochte es sich morgen zum Guten oder Schlimmen entscheiden, jetzt gab es kein Schwanken mehr für ihn! Fortab wollte er nur noch dem Ernst des Lebens sich zuwenden.
Eins lag ihm aber noch am Herzen, das er geschehen wissen wollte, um ganz gefasst seinem Schicksal entgegenzutreten. Seinen Eltern wollte er eine Mitteilung zugehen lassen. Da er selber mit seinen verbundenen Augen nicht schreiben konnte – der Verband verdeckte ihm ja auch das gesunde – so bat er Schwester Martha um die Freundlichkeit, den Brief nach seinem Diktat zu schreiben.
Die Schwester kam bereitwilligst diesem Wunsch nach, und, wie sie nun Wort für Wort die Mitteilungen des Patienten an seine nächsten Verwandten niederschrieb, da beschlich sie ein Gefühl warmer Teilnahme. Zuerst war ihr der Kranke ganz gleichgültig gewesen; ja, der ziemlich rücksichtslose und grobe Student, der seinen Unfall doch schliesslich seiner eigenen Wüstheit zuzuschreiben hatte, war ihr sogar unsympathisch gewesen. Sie tat an ihm zwar pflichtschuldigst, was nötig war, aber er erregte nicht im mindesten ihr Mitgefühl. Doch nun, wo aus seinen unbewusst rückhaltsloser werdenden Mitteilungen an die ahnungslosen Eltern daheim ein Gefühl tiefer Liebe und ernster Reue über sein bisheriges wildes Leben klang, und wo er zugleich so gefasst und tapfer von der Zukunft sprach, auch wenn ihn das Schlimmste betreffen sollte, da stieg in ihr ein herzliches Mitleid mit ihm auf.
Der Brief war beendet, und Pahlmann bat die Schwester, ihn für den Fall seiner Operation morgen zur Post zu geben. Dann dankte er ihr aufrichtig für ihre Güte. Er erwartete wohl, sie würde sich, wie gewöhnlich nach jeder Hilfeleistung, still und gemessen wieder auf ihren Platz am Sofa-Tisch zurückziehen, aber diesmal blieb sie zu seiner Überraschung an seinem Bett sitzen und begann sich mit ihm zu unterhalten. Sie sprach von seinem Zustand und machte ihm Hoffnung, dass schon noch alles über Nacht gut werden könne. Er solle sich doch nicht so traurigen Befürchtungen hingeben.
Pahlmann taten diese warmen, teilnehmenden Worte, ja allein schon ihre Nähe und der leise Klang der weichen Frauenstimme unsagbar wohl. Zum erstenmal empfand er nach all den Verirrungen der wilden Studentenjahre so recht eigentlich den erhebenden, veredelnden Einfluss eines hochgesinnten Frauengemüts. Ihm wurde so rein und feierlich zu Mute, als sässe er, ein Kind, in der Kirche und lauschte einer tief zu Herzen gehenden Predigt.
Er fasste ein schrankenloses Vertrauen zu der Sprecherin, und allmählich tauschten sie die Rollen. Sie lauschte, und er begann zu sprechen: Von seinem ganzen verlorenen Leben in den letzten Jahren, von seinen zertrümmerten Idealen und seinem innigen Sehnen, sich nun aber herauszuarbeiten. So ward, was er sprach, eine rechte Lebens- und Herzensbeichte, und als er alles herausgebracht hatte, war's ihm leicht, ja ordentlich froh zu Mute.
Noch glücklicher aber fühlte er sich, als dann Schwester Martha ihm eifrig zustimmte, mit warmen Worten seine neuen Entschlüsse lobte und ihm von Herzen dazu Erfolg wünschte. Namentlich schloss sie sich ihm auf, als sie gehört hatte, dass er Theologe sei. Er schäme sich zwar, jetzt, vorläufig noch, sich so zu nennen. Doch wolle er nun gewiss dem zukünftigen hohen Berufsstand gemäss sein Leben führen.
Lange blieben sie so in traulichem Gespräch, innerlich einander ganz nahe gerückt, bis die besorgte Pflegerin, die inzwischen unausgesetzt ihres Amtes gewartet und ihm die kühlenden Eisbeutel aufgelegt hatte, ihn daran gemahnte, dass es nun aber Zeit zum Schlafen sei. Auf Anordnung des Professors gab sie dem Patienten ein Schlafpulver, um ihm über die Nacht leichter hinwegzuhelfen. Und das Mittel wirkte so gut, dass Pahlmann schliesslich nur jedesmal beim Wechseln der Umschläge schlaftrunken einen Augenblick sich regte, dann aber gleich wieder in festen Schlummer verfiel.
So kam der Morgen und der neue Tag heran. Es ward zehn, die Stunde der Entscheidung, wo der Professor Pahlmann wieder untersuchen wollte. Wenige Minuten darauf wurden draussen die Schritte der herannahenden Ärzte hörbar. Einen Augenblick pochte Pahlmann noch einmal das Herz, dann aber harrte er mit fester Haltung dem Urteil entgegen. Eingehend untersuchte der Professor auch heute wieder die beiden Augen, und – welch glückseliges Gefühl! – mit dem rechten erkannte Pahlmann jetzt deutlich des Professors Hand, nun 4, jetzt 2, jetzt 3 Finger, und selbst mit dem verletzten Auge konnte er, wenn auch nur in schwachen Umrissen, die Hand erkennen.
»Na, Gott sei Dank! Die Resorption ist eingetreten, und auch die Entzündung ist merklich zurückgegangen!« sagte befriedigt aufatmend der Professor. »Na, da gratuliere ich Ihnen, Herr Pahlmann. Nun werden Sie Ihr Auge noch einmal behalten. Aber Ruhe, noch lange Ruhe halten! Verstanden, mein Prinz? – Guten Morgen!« Schnell ging er mit seinen Begleitern weiter. Nur die Schwester blieb im Zimmer zurück.
»Schwester – Schwester Martha!« wie ein leiser Jubel klang es aus Pahlmanns Stimme, und als er nun merkte, dass sie an seinem Bette stand, da streckte er unwillkürlich die Hand nach ihr aus. Seine treue Pflegerin ergriff sie und drückte sie herzhaft als Zeichen ihres Glückwunsches.
»Nun, sehen Sie, was habe ich Ihnen gestern abend gesagt? Nur nicht den Mut verlieren und auf den lieben Gott vertrauen. Aber Ihre guten Vorsätze – bleibt's nun dabei? Trotzdem?«
»Ja, Schwester Martha, so wahr ich hier Ihre Hand halte!« gelobte mit ernster, überzeugungsfester Stimme der Kranke und presste etwas heftig ihre Hand. »Das war mein Damaskus. Aus dem Saulus wird nun ein Paulus. Bei allem, was mir heilig ist!«
Und Pahlmann hielt diesmal Wort. Als nach ein paar Tagen wieder einige Couleurbrüder zu ihm zu Besuch zugelassen wurden und in ihrer leichtlebigen Art über seine Affäre scherzten, da untersagte ihnen Pahlmann das. Zuerst noch etwas schüchtern, aber als sie ihn anulkten: »Kinder, seht doch! Der Pastor fängt wirklich an, fromm zu werden. Das ist ja zum Schreien!« da übermannte ihn ein hoher Zorn, und er hielt ihnen eine ganz ernst gemeinte Philippika, worin er gegen sein und ihr bisheriges Lotterleben zu Felde zog und sich für seinen Teil jedenfalls davon lossagte.
Seine »Standpauke« wurde natürlich von den andern mit Hohnlachen und Witzen aufgenommen und hatte zunächst nur den Erfolg, dass sie sich gleich darauf drückten. Auf der Kneipe erzählte man sich diesen Abend, der Pastor hätte – offenbar wegen plötzlicher Alkoholentziehung – das »Deltrem« bekommen. Aber, als nach ein paar Tagen wieder einmal ihrer Zwei nach ihm sehen kamen, ihn noch genau in derselben Seelenverfassung vorfanden und auf ihre verulkende Anfrage, ob er etwa auch schon weisse Mäuse sehe, mit einer unzweideutigen Aufforderung, ihn allein zu lassen, beehrt wurden, da war es für die Alemannia eine ausgemachte Sache: Pahlmann hatte das »chronische graue Elend« bekommen. Na, schliesslich auch kein Wunder! Bei so 'nem Pastor brach das ja früher oder später doch mal aus.
Aber Pahlmann liess sich durch alle Witzeleien und Verhöhnungen nicht mehr irre machen, sondern mit einem opferfreudigem Fanatismus nahm er gern den Spott auf sich. Er wusste ja, was ihm innerlich gross und klar aufgegangen war, und von seinem Ziel liess er sich jetzt durch nichts mehr abdrängen. Eine feste Stütze fand er in seinem Ringen an Schwester Martha, die ihm treu und verständnisvoll zur Seite stand und in Stunden der Entmutigung ihn wieder hochhob.
Pahlmann trug seiner Pflegerin daher eine unendliche Dankbarkeit entgegen; aber es blieb nicht bei diesem Gefühl. Er empfand doch auch deutlich und süss wohltuend das Weib in ihr. Jene knabenhaft schüchterne, unbeholfene Verehrung des Weibes, die er einst als junger Fuchs nach den schlimmen Erfahrungen mit der Bahnhofs-Lene für immer eingesargt zu haben glaubte, sie erstand jetzt siegreich wieder von neuem.
Noch hatte er zwar ja Schwester Martha nicht leiblich erschaut, aber er hatte gelegentlich aus ihr herausbekommen, dass sie 23 Jahre alt und dunkel war, das hatte für seine Phantasie genügt, um sich in stundenlangen, holden Träumen ein Zauberbild edelster Weiblichkeit zu entwerfen, zu dem sein Herz schliesslich in einer schwärmerischen Liebe erglühte. Jeden hässlichen Gedanken und Wunsch hielt er sich von diesem Heiligenbilde fern. Und doch, wenn er bei Hilfeleistungen die Nähe ihres lebensvollen, jungen Leibes, ihren Atem, oder die Berührung ihrer weichen Hand wahrnahm, so durchrieselte ihn ein süsser Schauer. Und ein Asket, wie er nun einmal jetzt im Überschwang seines Eifers im Guten war, quälte er sich nachher oft stundenlang mit Selbstkasteiungen wegen solcher sündhaften Regungen.
Drei Wochen hatte Pahlmann mit verbundenen Augen, nur in der Welt seiner Gedanken, Vorsätze und Träume lebend, gelegen. Dann kam die glückliche Zeit der Rekonvaleszenz, wo er aus dem Bett durfte und nur noch einen leichten Verband um das linke Auge trug.
So hatte er denn auch nun Schwester Martha schauen dürfen. Das hatte freilich im ersten Augenblick eine herbe Enttäuschung für ihn bedeutet. Denn statt der hohen, schlanken, ätherischen Gestalt mit dem ernsten und doch so süss-weiblichen Madonnen-Gesicht, sah er nun eine ziemlich nüchterne Erscheinung vor sich, eine mittlere, kräftige Gestalt und ein Gesicht von gesunder Farbe mit energischen Zügen, das nicht einmal hübsch war. Die dunklen, grossen Augen waren vielleicht das einzig Schöne an ihr. Aber allmählich gewöhnte sich Pahlmann, über diesen äusseren Mangel hinwegzusehen. Ja, er redete sich sogar bald ein, dass dieses Äussere ein Vorzug sei; denn wäre sie so voll körperlichen Liebreizes gewesen, so hätte seine Liebe gar leicht aus der reinen Sphäre in die Tiefen irdischer Leidenschaft hinabgezogen werden können.
Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, erschien ihm Schwester Martha mit ihrem, ja von allem Äusseren unberührten, reichen Schatz an inneren Gaben nach wie vor liebenswert, und er gab sich seinen Empfindungen jetzt ohne Anwandlungen von asketischer Selbstpeinigung zufrieden und hoffnungsfroh hin. Gerade für einen zukünftigen Diener am Wort Gottes war Schwester Martha sicherlich eine treffliche Lebensgefährtin, die ihn in echt christlicher Liebe tragen und stützen würde, wie er sie.
Leider brachte die fortschreitende Genesung Pahlmanns, die eine beständige Wartung nicht mehr nötig machte, es nun auch mit sich, dass Schwester Martha nur noch selten – wenn einmal Einträuflungen oder ein Verbandwechsel nötig waren – um ihn war. Das bestärkte aber nur noch sein Empfinden für sie, und er sah mit Sehnsucht jedesmal den beglückenden Minuten entgegen, wo er sie wieder bei sich hatte und mit ihr in freundschaftlich vertrauter Weise plaudern konnte von allem, was ihm inzwischen sein Herz bewegt hatte.
So kam endlich auch der Tag heran, wo nach mehr als Monatsfrist Pahlmann die Klinik verlassen sollte. Zum letztenmal sass er in der Nachmittagsstunde in dem von der scheidenden Sonne goldig warm durchleuchteten Krankenzimmer, das ihm im Laufe der Zeit so traulich geworden war. Es tat ihm ordentlich leid, dass er aus der wohltuenden Stille und Ordnung dieses Raumes, wo er sich so geborgen gefühlt hatte, nun wieder hinaus sollte in das unstät dahinbrausende Leben mit all seinen Unruhen und Anfechtungen.
Das sprach Pahlmann auch zu Schwester Martha aus, die heut' zum letztenmal, zur Abnahme seines Verbandes, zu ihm gekommen war. Und wie er sie so anschaute, rosig überglüht vom Abendschein, das lose unter dem Schwesternhäubchen hervordringende Haar goldig durchleuchtet, ward sein Herz bang und traurig, dass nun auch das ein Ende nehmen sollte. Da fasste er sich ein Herz, und, stockend nur, aber schliesslich ihr doch wohl verständlich, verriet er ihr, dass er sie aus tiefstem Herzen verehre und zur künftigen Gefährtin seines Lebens begehre.
Schwester Martha war heftig errötet bei seinem Geständnis und wollte eigentlich, dem ersten Gefühl gehorchend, mit strenger, beleidigter Miene davongehen. Ein Student, der ihr, der barmherzigen Schwester, eine Liebeserklärung machte – unerhört! Aber, als sie sein ehrliches, ehrerbietiges Gesicht sah, seine innere Läuterung bedachte und erwog, dass er einem hohen Beruf nun in ernstem Streben entgegengehen wollte, da zwang sie sich doch zum Bleiben und antwortete: Sie wolle ihm glauben, dass er es aufrichtig meine, und wolle sich daher nicht verletzt fühlen. Wohl habe sie ihn in dieser Leidenszeit schätzen gelernt und wirklichen Anteil an seiner Person genommen. Aber um daraufhin ein Verlöbnis aufzubauen, kenne sie ihn doch noch zu wenig. Auch sei er noch jung und unerfahren; – erst solle er im Leben etwas erreicht haben, siegreich durch die Versuchungen und Hindernisse hindurchgegangen sein, ehe er es unternehmen möge, ein Mädchen an sich zu fesseln.
Anfänglich beschämt, dann aber ehrlich überzeugt, hatte Pahlmann ihr gehorsam zugehört und nun gestand er ihr, dass sie recht habe. Er bat für seine Voreiligkeit um Entschuldigung und erbat nur das eine: Wenn er sein Examen gemacht, so möge sie ihm verstatten, sich ihr noch einmal zu nähern.
Schwester Martha gab nach kurzem Zögern diese Erlaubnis, und dann nahmen sie Abschied, nur mit einem festen Händedruck, aber Pahlmann gelobte sich doch in diesem Augenblick, dass sein Streben und Arbeiten fortab auch um ihretwillen geschehen, dass er um sie treu und ehrlich dienen wollte, und sollte es sieben Jahre währen.
Als sie dann aus dem Zimmer war, spähte er nach irgend einem Andenken an sie aus, das ihn an diese ernste und doch so schöne Zeit erinnern sollte; denn er hatte nicht den Mut gehabt, sie darum zu bitten. Doch zu seinem Leidwesen fand er nichts. Alles, was ihr gehörte, hatte sie mit weggenommen.
Wie gross war daher Pahlmanns Freude, als er am andern Morgen – nachdem er sich unten vom Professor verabschiedet hatte – wieder heraufgekommen, auf seinem Tisch ein kleines Päckchen mit seiner Adresse vorfand. In freudigem Ahnen riss er die Hülle ab und fand darin einen kleinen Gedichtband, aus dem ihm Schwester Martha oft vorgelesen hatte. Auf das Titelblatt aber hatte sie ihm die Widmung geschrieben: »Wer mutig und ehrlich kämpft, erringt, wonach er strebt! Zur Erinnerung an eine ernste Zeit Ihres Lebens. Schwester Martha.«
Da ward ihm ganz glücklich zu Mute, denn er deutete sich diese Aufmunterung auf das Gewinnen ihrer Liebe. Und, mit diesem Talisman ausgerüstet, ging er nun kampfbegierig hinaus in das neue Leben.