Paul Grabein
In der Philister Land
Paul Grabein

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XIII.

»Aber, Herr Referendar, so ganz verträumt? Ja, ja, es ist schlimm, wenn das Bräutchen so weit weg ist und niemals dabei sein kann.«

Simmert fuhr auf und machte lächelnd eine Verbeugung vor der Hausfrau, die eben unbemerkt zu ihm getreten war, in die etwas erhöhte Nische des Ateliers, in dessen weiten, hohen Räumen der Tanz wogte.

»Gnädigste Frau! Bitte tausendmal um Verzeihung. Ich hatte in der Tat gar nicht bemerkt –«

Die Frau Professor, eine noch jugendlich anmutige Frau, lachte ihm neckend ins Gesicht. »Kein Wunder! Wenn die Gedanken in solche holden Fernen schweifen, sieht man das Gute nicht, das so nahe ist. Aber im Ernst, liebster Herr Simmert, wollen Sie mir denn gar nicht ein bisschen helfen, meine jungen Damen zu unterhalten? Wenn Sie schon nicht tanzen – aber wir haben da vom auf der Diele eine fidele Ecke am Kamin fürs junge Volk eingerichtet – mit allerlei Schnickschnack, bitte, wirken Sie doch auch ein bisschen mit.«

»Aber natürlich, mit Vergnügen! Wie gnädigste Frau befehlen,« beeilte sich Simmert zu versichern, und stieg an der Seite der Wirtin die Stufen zum Atelier hinab. Hier wurde aber die Frau Professor gleich von einem Freunde und Kollegen ihres Gatten mit Beschlag belegt, so dass Simmert wieder allein blieb. Es war ihm das sehr lieb, denn nun konnte er zum mindesten seinen Eintritt in die »fidele Ecke« noch etwas hinausschieben, denn es verlockte ihn wenig, sich unter die schnatternden Gänschen dort zu kindlichem Pfänderspiel oder ähnlichem Unfug zu gesellen. Ihn reizte ein anderes mehr.

Die Hausfrau hatte ihn da eben keineswegs etwa bei Toggenburger-Gedanken überrascht, die nach Jena zu Lotte flogen, sondern sein Interesse war ganz und gar hier gefesselt gewesen: Melitta Drencken war es, die seine Augen beim Tanz verfolgt, und mit der seine Gedanken sich eingehend beschäftigt hatten. Und auch jetzt wieder blieb er am Pfosten der Treppe stehen und schaute nach ihr, die mit ihrem Tänzer, einem jungen Gardeoffizier, gerade vorüber promenierte.

Täuschte er sich – oder traf ihn da eben im Vorbeigehen wirklich ihr Blick? Nur ein flüchtiges, uninteressiertes Streifen unter den halbgesenkten, etwas müden Lidern hervor, aber doch blitzte es in den dunklen Augen sekundenlang auf, wie triumphierend, und um die feinen, stolz geschwungenen Lippen huschte etwas wie ein spöttisches Lächeln. Ah! Hatte sie also doch im Tanzen, während sie mit geschlossenen Augen, etwas matt und nachlässig, aber doch mit entzückender Grazie sich von ihrem Tänzer herumwirbeln liess, bemerkt, wie er sie unausgesetzt mit seinen glühenden Blicken verfolgt hatte? Die reizende Teufelin! Wie sie sich über ihn moquierte. Aber ganz egal! Das reizte ihn nur noch mehr. Wahrhaftig, er fühlte, wie ihn diese geheime Leidenschaft nur immer toller machte, je mehr sie ihn mit ironischer Kälte abfallen liess.

Simmert kannte Melitta nun schon über ein Vierteljahr, seitdem er – nach bestandenem Referendarexamen – bei ihrem Vater, dem Wirklichen Geheimen Rat Drencken, einem alten Herrn seines Korps, Besuch gemacht hatte. Er verkehrte seitdem dort im Hause und kam auch viel in Gesellschaft mit ihr zusammen; denn er hatte, dank seiner Zugehörigkeit zum S. C., und durch die Beziehungen seiner Mutter, die durch ihre Wohltätigkeitswerke mit zahlreichen distinguierten Persönlichkeiten bekannt geworden war, bald Zugang in die beste Gesellschaft Berlins gefunden.

Dieses Leben hatte ihn mit seinem glänzenden, vornehmen Anstrich nun vollkommen gefangen genommen. Die ersten zwei Jahre brauchte er ja auch nicht wieder ans Arbeiten zu denken, so gab er sich denn ganz den Anforderungen der Gesellschaft hin. Der Morgen sah ihn auf dem Tennisplatz oder in Gesellschaft zu Pferde – er war einem vornehmen Reiterverein von Damen und Herren seines Verkehrskreises beigetreten – häufig auch so der Nachmittag, und fast jeden Abend brachte er in Gesellschaft zu. Er fühlte sich bei diesem glänzenden Leben so ganz in seinem Element und er wäre völlig glücklich gewesen, wenn ihn nicht die Fesseln der Verlobung daran gehindert hätten, die Freuden, die sich ihm jetzt boten, voll auszukosten.

Leider! Mit Erbitterung empfand er es tagtäglich von neuem, wie namenlos töricht es von ihm gewesen war, sich so jung schon zu binden. Von einer Liebe zu Lotte war ja längst keine Rede mehr bei ihm. Das war ja auch damals alles Unsinn gewesen – eine Jugendeselei, die er in seiner Verblendung ernst genommen hatte – nichts weiter! Und was ihn früher wirklich noch an Lotte gereizt hatte, ihre frische, naive Jugendlichkeit, ihre jungfräuliche Anmut, das vermochte ihn längst nicht mehr zu locken. Im Gegenteil, jetzt, wo er den pikanten Reiz grossstädtischer Frauen und Mädchen kennen und schätzen gelernt, da kam ihm Lottes Wesen langweilig, spiessbürgerlich und abgeschmackt vor. Die andern – so vom Schlage einer Melitta Drencken – ja, die reizten ihn, da steckte noch Rasse drin! Doch was half ihm sein verfeinerter Geschmack? Da hatte er nun zwar tagtäglich die entzückendsten Mädchen um sich, aber der dumme Ring am Finger verdarb ihm alles. Er selbst musste sich mit seinen Sympathien und Galanterien beständig Zurückhaltung auferlegen, und umgekehrt schreckte das goldene Mal am Finger jene von ihm ab. Gewiss, die jungen Damen waren liebenswürdig und nett zu ihm, aber sie beobachteten doch ihm, dem Verlobten, gegenüber eine selbstverständliche gewisse Reserve; zu einem reizvollen Flirt kam es nie.

So fühlte Simmert sich denn in diesem lebenssprudelnden Kreise innerlich etwas als Outsider, und die goldene Fessel am Finger drückte ihn von Tag zu Tag mehr. Wie oft hatte er nicht schon in einem geheimen Wutanfall den Ring bei sich daheim zu Boden geschleudert. Ah, dass er so dem ganzen verdammten Schwindel ein Ende hätte machen können! Aber zähneknirschend hatte er ihn dann wieder aufgehoben und angesteckt. Der Alten, seines Geldes wegen, ging es ja nicht. Und so hatte er sich denn immer wieder gezwungen, Lotte gegenüber den Liebenswürdigen zu spielen, regelmässig seine Briefe zu schreiben und alle vier Wochen über Sonntag nach Jena zu fahren. Öfter sei es ihm nicht möglich, da er nicht ohne Urlaub Berlin verlassen dürfe, so hatte er Lotte und ihrer Mutter vorgeredet.

Während dieses Lebens in der Gesellschaft nun war Simmert ganz besonders häufig mit Melitta Drencken zusammen gekommen; er war mit ihr in einer Tennispartie zusammen, und sie ritt auch des öfteren bei jenen gemeinschaftlichen Ausflügen oder bei der Quadrille in der Bahn mit. Ihr Wesen hatte ihn gleich von vornherein aufs lebhafteste angezogen, und auch sie hatte ein gewisses Interesse an ihm genommen, denn ihre Naturen hatten viel Verwandtes.

Melitta Drencken war der Typus der gefeierten, hochmütigen und stark blasierten jungen Schönheit. Seit einem halben Dutzend Jahren, wo sie als Siebzehnjährige, gleich bei ihrer Einführung in die grosse Gesellschaft, Furore gemacht hatte, war sie es gewöhnt, alle Herren zu ihren Füssen zu sehen und stets den Mittelpunkt des Festes zu bilden. Das hatte ihr natürlich ein paar Jahre Spass gemacht, aber dann war ein ziemlicher dégôut über sie gekommen. Sie fing an, alles fad und langweilig zu finden – diese ewigen Kostüm- und Atelier-Feste, Routs und Bälle, die ein Jahr wie das andere programmmässig absolviert werden mussten, wo man ewig dieselben Gesichter sah und immer wieder dieselben stupiden Entzückungsphrasen und faden Komplimente der Herren über sich ergehen lassen musste.

Dazu kam noch eines: Alle ihre Freundinnen und Altersgenossinnen waren schon sämtlich verheiratet; aber an sie hatte sich noch keiner gewagt. Verliebt – Du lieber Himmel! – war ja wohl beinahe jeder einmal in sie gewesen, selbst die jetzigen glücklichen Gatten ihrer Freundinnen; aber zum Heiraten war sie den Herren zu unnahbar oder zu anspruchsvoll und zu sehr mondaine gewesen. Da waren ja wohl auch im Lauf der Jahre ein paar liebe, gute Kerls gewesen, die es ehrlich mit ihr gemeint hatten, und denen auch sie vielleicht hätte ganz gut sein können – einige Offiziere und Assessoren von Familie – aber, lieber Gott, leider alles arme Teufel! Na, und da war's denn natürlich immer bei einem Saisonflirt geblieben. So war es denn allmählich zu einer stillschweigenden Parole geworden: Man »schwärmte« für die »charmante« Melitta Drencken, man huldigte ihr wie einer Königin, aber – man heiratete sie nicht.

Mit dieser Losung ihres Lebens war aber Melitta nicht im mindesten einverstanden. Sie hatte absolut keine Lust, noch ein paar Jahre die glänzende Rolle einer Salondekoration zu spielen und dann spurlos von der Bühne zu verschwinden, um in die Rumpelkammer zu anderem verblassten Flitter geworfen zu werden. So war sie denn entschlossen, klug ihre jetzt noch sieghafte Schönheit und Jugend auszunutzen, um sich einen Mann zu erobern. Reich musste er sein, das war die allererste Voraussetzung. Denn sie wollte ein glänzendes Leben in der grossen Welt auch in der Ehe weiterführen, und ihr Vater, der zwar mit seinem Einkommen ein grosses Haus führen konnte, vermochte ihr nichts mitzugeben. Wenn irgend möglich, sollte zu dieser Haupteigenschaft ihres Zukünftigen dann in zweiter Linie eine repräsentable Stellung in der Gesellschaft und als Drittes ein stattliches, weltmännisches Äussere kommen. Das hätte genügt, um Melitta alle Garantien für eine annehmbare Zukunft zu bieten.

Bei der Verfolgung dieses Planes ging sie nun ganz systematisch vor: diese Saison sollte einem Streifzug auf dem Gebiete der höheren Beamtenschaft (auf die Offiziere hatte sie nach allen ihren Erfahrungen bereits verzichtet) dienen; hier gab es ja manchen Sohn aus gutem, reichem Hause, der ihren Zwecken hätte dienen können. Sollte aber das diesjährige Jagen vergeblich ausfallen, so war Melitta entschlossen, in der nächsten Saison – wenn auch seufzend – von ihren Ansprüchen nachzulassen und sich in den Kreisen der Grossindustriellen oder des Grosshandels einen Mann zu suchen. Mein Gott, es gab ja schliesslich wohl auch hier einzelne Gentlemen, die sich dann noch entsprechend auffrisieren liessen, um sich mit ihnen in Gesellschaft sehen zu lassen.

Auf dem Standpunkt war also Melitta Drencken angelangt, als Simmert in ihren Lebenskreis trat. Seine Person gefiel, ja imponierte ihr sogar etwas, gleich vom ersten Augenblick an: Eine elegante, grosse Figur, der Typus eines feudalen alten Korpsstudenten, ein vollkommen kavalieres Auftreten, absolut sicher, ja vielleicht sogar ein bisschen allzu bewusst – aber das gerade reizte sie an ihm. Dazu noch seine juristische Karriere und seine noblen Passionen, die Vorliebe für den Reitsport, und – last not least – die Hauptsache, sein schweres Geld! Die alte Simmert, seine Mutter, war ja in der Gesellschaft bekannt durch ihre grossartige Freigebigkeit für wohltätige Zwecke. So wäre Rolf Simmert denn geradezu das Ideal gewesen, das sie sich jetzt gemacht hatte, und er hätte das Glück haben können, auf der Stelle mit ihrer Hand begnadet zu werden, wenn dieser Jammermensch nicht die unglaubliche Dummheit begangen hätte, sich schon anderweitig zu verloben – mit irgend einem Provinzgänschen.

Wirklich, zu blödsinnig! Melitta Drencken konnte sich über die alberne Durchquerung ihrer Pläne schwer ärgern, die sie jetzt sonst so schön und bequem hätte verwirklichen können. Denn Simmert war ja geradezu hochgradig in sie verschossen – das hatte sie natürlich längst schon herausgemerkt, wenn er sich auch noch so sehr beherrschte. Aber seine geheimen, auflodernden Blicke sagten ihr genug. Nun war also endlich mal ein Mensch da, der allen ihren Anforderungen aufs beste entsprochen hätte, und nun musste das wieder an solch einem nichtswürdigen, dummen Zufall scheitern!

Aber war es denn eigentlich absolut nötig, dass aus der Sache nichts wurde? Nun ja, Simmert war verlobt. Aber, Du lieber Gott, doch noch nicht verheiratet; eine Verlobung konnte man doch jederzeit auflösen! Und das ganz besonders, wenn man so wenig verliebt in seine Braut war, wie offenbar Rolf Simmert. Das merkte man doch deutlich, wenn er mal – was zwar selten genug vorkam – von seiner Braut sprach. Das geschah dann immer so hastig, fast verlegen, als müsse er sich wegen dieser nun einmal geschehenen Übereiltheit förmlich entschuldigen und möchte er auf jeden Fall nicht gern daran erinnert werden. Also er liebte sie offenbar nicht, und Geld – so viel man gehört – hatte sie auch nicht. Na, zum Kuckuck, was hielt ihn denn dann noch an diesem Gänschen fest? Doch nur noch das Mitgefühl! Er hatte sich zwar regelrecht verplempert, aber er wollte den Ehrenmann spielen und sein Wort einlösen.

Pah! Melitta konnte über solche altväterische Moralbegriffe nur mitleidig lächeln. Sein Glück, seinen Vorteil wahrzunehmen, das ist doch das gute Recht des Individuums. Ein gesunder Egoismus ist doch das einzig wahre Lebensprinzip! Und wem half er schliesslich mit seiner Selbstaufopferung? Unglücklich mussten sie ja alle beide in der Ehe werden, wenn der Honigmond vorbei war, und der unausbleibliche »Ehekater« kam, den die kundige Melitta noch stets, selbst bei den glücklichsten Heiraten, nach einiger Zeit still beobachtet hatte. Also wozu erst der Unsinn? Wahrhaftig, es wäre das Vernünftigste, ja für beide Teile das Beste, wenn diese übereilte Studentenverlobung noch bei Zeiten wieder gelöst würde, und wer Simmert dazu verhalf, erwies ihm den allergrössten Dienst.

Seitdem Melitta Drencken zu dieser Auffassung gekommen war, die sich ja in so angenehmer Weise mit ihrem eigenen Vorteil vertrug, hatte sie auch klug und energisch angefangen, ihre Gedanken zur Tat zu machen. Sie hatte Simmerts Annäherung geduldet, für seine speziellen Interessen stets eine grosse Aufmerksamkeit gezeigt und in feiner Weise ihm unauffällig zu erkennen gegeben, wie sie mit ihm in tausend grossen und kleinen Dingen sympathisierte, wie sie eigentlich seine ganzen Lebensmaximen, seine gesellschaftlichen und sportlichen Neigungen, teile. Er musste sich so natürlich wieder und immer wieder insgeheim sagen, wie famos sie beide eigentlich zusammen passten. Dazu dann noch ihre diskrete Koketterie – sie wusste ja, wie sehr ihn eine chike Toilette, ein graziöses Wesen mit einem Stich ins Pikante reizten – aber im stetig reizvollen Gegensatz hierzu wieder eine vornehme Reserve. So konnte es nicht ausbleiben, dass Simmert bald lichterloh für sie entflammte. Aber, wenn er sich dann, in einer unbewachten Minute mit einem heissen Blick, mit einem leidenschaftlich zitternden Ton der Stimme verriet, dann zeigte sie sofort eine eisige, hochmütige Miene und gab ihm mit leiser Ironie zu verstehen, dass seine Galanterien ja einer anderen zukämen.

Natürlich blieb die beabsichtigte Wirkung dann niemals bei Simmert aus. In solchen Augenblicken, wo seiner wachsenden Leidenschaft mitleidslos die Schranken gezeigt wurden, fühlte er einen glühenden Hass gegen Lotte und er hätte auf der Stelle die Fesseln zerreissen können, die allein ihm den lockenden Weg zum Paradies verwehrten. Denn dieses wunderbare, kapriziöse, reizvolle Geschöpf zu besitzen, hinter deren vorgetäuschter, vornehmer Gefühlskälte er eine, der seinen verwandte, versengende Leidenschaft vermutete – das schien ihm höchsten Genuss zu verheissen. Dazu dann noch die Vorteile für seine Karriere, die ihm der Einfluss ihres Vaters verhiess – der Wirkliche Geheime Rat Drencken hätte als Ressortchef im Reichsamt des Inneren ihn kolossal protegieren können – es wäre ja geradezu ideal gewesen! Alle seine Kollegen, Referendare oder junge Assessoren bei der Regierung oder Hilfsarbeiter in den Ministerien, hatten irgendwo in der Verwandtschaft oder Freundschaft einen Rückhalt an hochgestellten Persönlichkeiten, der ihnen ein glattes Vorwärtskommen verhiess. Ihm fehlte es leider daran. Um so wertvoller wäre für ihn gerade also solche Protektion gewesen.

Und nun stand dem allem dieser verdammte, törichte Jugendstreich seiner Verlobung entgegen! Wahrhaftig, ohrfeigen hätte er sich können! Aber, weiss Gott, er konnte für nichts einstehen: Wenn das noch lange so weiter ging – die unerwiderte Leidenschaft zu Melitta machte ihn ja förmlich toll – so würde er schliesslich zu allem fähig sein. Dann würde er versuchen, bei seiner Mutter Himmel und Hölle in Bewegung zu setzen, um mit ihrer Zustimmung seine Verlobung aufzuheben. Immer häufiger und häufiger drängten sich ihm diese Gedanken auf, und es fehlte nur wenig noch, ihn zu diesem Äussersten zu treiben.

Simmert hatte von seinem Beobachtungsposten aus Melitta unablässig mit seinen Blicken verfolgt. Nun bemerkte er, wie sie drüben in der Ecke ihren Tänzer verabschiedete und sich allein nach einem der Nebenräume begeben wollte. Sofort eilte er auf sie zu und wenige Augenblicke später stand er neben ihr.

»Gnädiges Fräulein sind des Tanzens müde? Endlich also mal eine Gelegenheit, auch Ihrer habhaft zu werden,« scherzte er, aber aus dem Ton seiner Stimme klang deutlich die Eifersucht und der Ärger, dass er als Verlobter sich nicht wie die anderen unter die Tänzer mischen konnte. Er hatte nur mit der Wirtin und ein paar anderen verheirateten Damen einige Pflichttouren getanzt.

»Ja, Ihre eigene Schuld, Herr Simmert!« erwiderte sie mit einem leisen spöttischen Lächeln. »Übrigens, man muss auch nicht zu viel auf einmal verlangen. Wenn man das Glück hat, eine Braut zu besitzen, soll man nicht auch noch den Ballkönig spielen wollen!«

Es klang scherzhaft, leichthin, aber die feinen, spitzen Haken ihrer wohlgezielten Wortpfeile trafen ihn wieder einmal in die nie vernarbende Wunde. Er zuckte innerlich zusammen, aber beherrschte sich noch so weit, dass er sich zu einem Lächeln zwang.

»Warum nicht?« rief er in übermütigem Ton. »Man kann nie genug des Guten kriegen – dem Unverschämten lächelt das Glück!« Und er bot ihr mit keckem Blick seinen Arm.

»Sind Sie dessen so sicher?« neckte Melitta, doch hing sie sich leicht bei ihm ein. »Aber halt, wohin wollen Sie mich verschleppen?« forschte sie, als Simmert sie nun auf die Diele hinausführen wollte.

»In die ›fidele Ecke‹, auf höchsten Befehl der Hausfrau – zu sinnigem Pfänderspiel!« gab er ironisch Auskunft.

»Ist das Ihr Ernst?« Schnell zog sie die Hand aus seinem Arm. »Sie sind doch sonst ein Mensch von leidlichem Geschmack!«

»Wenn Sie bereit sind, mir im tête-à-tête allergnädigst eine Sitzung zu gewähren, so ziehe ich das natürlich tausendmal vor,« erwiderte Simmert mit einer eleganten Verbeugung.

»Sie sind wirklich – dreist, Monsignore,« lachte Melitta. »Aber Sie sollen heute mal Glück haben. Kommen Sie, fix! Da drüben in Frau Professors Boudoir. Ich habe fabelhaften Appetit auf eine Zigarette.«

Freudestrahlend folgte ihr Simmert, und – er hatte heute allerdings ein Mordsglück! – Der Raum war im Augenblick völlig leer. Auch Melitta Drencken dachte beim Eintreten dasselbe; mit einem beredten, lächelnden Blick wandte sie den feinen Kopf mit dem tiefen, schweren Haarknoten zu ihm. Es wallte heiss in ihm auf, und ein verzehrender Blick umfasste ihre Gestalt, wie sie sich nun nachlässig auf einem der kleinen Fauteuils niederliess und die Beine leicht übereinanderschlug, sodass ein charmantes Atlasschuhchen mit feinster Silberfiligranstickerei sichtbar wurde. Den Oberkörper weit zurückgelehnt, die Arme lässig über die Lehne hinabfallen lassend, lag sie so da, ein Bild verführerischer, graziöser Erschlaffung, und sah nun unter den dunklen Wimpern, aus leichtumschatteten Augen zu ihm auf.

»Ach, ich bin total kaput – das ist nun heute der sechste Abend in dieser Woche, dass ich in Gesellschaft bin. Verrückt, nicht? – Da muss man sich stimulieren. Also, prego signore – geben Sie mir was zu rauchen.«

Sie winkte mit dem Kopf leicht nach dem indischen Taburett hinüber, auf dem Zigarettenschachteln zum Gebrauch der Damen bereit standen. Aber Simmert bat, indem er zu ihr trat und ein silbernes Etui aus der Fracktasche zog:

»Dürft' ich um die Ehre bitten, eine von meinen Zigaretten zu probieren, mein gnädigstes Fräulein? Es ist dieselbe Marke, die Ihnen neulich, bei unserer Klubsitzung, so gut gefiel.«

»Aber bitte – gern!« nahm Melitta an. »Ah, was für ein wundervolles Etui,« bewunderte sie das wieder von ihm zugeklappte kleine Behältnis, das auf der Vorderseite in Mattgold massiv ausgeführte Initialen zeigte. »Ihr Monogramm?«

»Doch nicht, meine Gnädigste,« erwiderte Simmert, sich zu ihr herniederbeugend und ihr das Etui hinhaltend: »Der Namenszug meines Regiments.«

»Ach, ja, der Thüringer Husaren,« erinnerte sich Melitta, und es schmeichelte ihm sehr. »Von dort her haben Sie ja wohl auch Ihren »Schamyl« mitgebracht?«

»Ganz recht, ich kaufte ihn damals von meinem Rittmeister, dem er zu leicht war. Übrigens, es wird Sie interessieren, ich verkaufe den Rappen jetzt. Habe eine famose Vollblutstute an der Hand und werde vermutlich morgen schon zuschlagen.«

»Was Sie sagen!« Interessiert richtete sich das Mädchen auf. »Aber warum? Der Rappe machte doch noch eine tadellose Figur?«

»Das wohl, aber er hat mir nicht mehr Temperament genug. Er ist ja auch fast zehnjährig und ich habe ihn in den ersten Jahren etwas stark verbraucht. Ich muss aber immer ordentlich etwas zu arbeiten haben, wenn ich im Sattel bin, sonst langweilt mich die Geschichte.« Und er dehnte unwillkürlich mit kraftvoller Bewegung die Arme, hochaufgereckt, ein Bild elastischer Jugendkraft und ritterlicher Eleganz.

Melitta schickte einen wohlgefälligen Blick zu ihm hinauf, wie er so vor ihr stand: Wirklich, ein bildhübscher Mensch, ein Kavalier comme il faut – wenn er doch nur endlich die Kraft fände, sich für sie frei zu machen. Aber, nur energisch! Sie durfte nicht locker lassen.

Im selben Augenblick hörte man draussen vor dem Gemach Stimmen; ein paar Damen steckten die Köpfe in das Zimmer, gingen dann aber wieder.

»Gott sei Dank! die Einquartierung ging noch mal gnädig an uns vorüber!« freute sich Simmert.

»Aber klatschen werden sie genug über unser tête-à-tête,« erwiderte Melitta Drencken. »Ich bin doch eigentlich furchtbar nett, dass ich Ihnen zu Liebe so mein Renommee aufs Spiel setze, nicht?« und sie lachte, ein dichtes Rauchwölkchen mit spitzem, niedlichem Mündchen vor sich hinpaffend, ihn verführerisch an.

Abermals durchrieselte es Simmert heiss – was hätte er darum gegeben, wenn er diesen feinen, hochmütigen Mund einmal hätte küssen dürfen! – und er trat unwillkürlich dichter an sie heran. »Es wird Ihnen aber auch gedankt, Fräulein Drencken! Ich – ich – gestatten Sie einen alleruntertänigsten Fussfall zum Ausdruck meiner tief gefühlten Dankbarkeit?« Er fühlte, wie seine kaum noch zu zügelnde Leidenschaft für dieses bezaubernde Geschöpf bei einem Haar mit ihm durchgegangen wäre, und er suchte mit einem forzierten Scherz der Situation ihre Schwüle zu nehmen.

»Um Gotteswillen! Danke ergebenst,« lachte sie ihn aus. »Das würde ja für einen Bräutigam eine sehr passende Zimmergymnastik sein! Bitte, sparen Sie sich diese Exerzitien lieber für den nächsten Besuch bei Ihrem Fräulein Braut auf!« Und ihre Mienen nahmen im nächsten Augenblick wieder jenen unendlich hochmütigen, kalten Ausdruck an.

Er prallte ordentlich zurück; so traf ihn wieder diese hohnvolle, fast verächtliche Zurückweisung. Einen Augenblick kämpfte er mit sich, es wogte und kochte in ihm. Dann fuhr es ihm heraus, halblaut zwischen den zusammengepressten Lippen hindurch:

»Fräulein Drencken, warum dieser Hohn? Ist es denn ein Verbrechen, verlobt zu sein, dass Sie mir das immer förmlich wie einen Makel vorwerfen? Ich dächte, der damit verbundene Verzicht auf die Freiheit und auf – so manches, das noch lockend erscheinen könnte, verdiente doch zum mindesten Respekt!«

Einen Augenblick sass sie schweigend da, in kühler Ruhe, dem Rauch ihrer Zigarette interessiert nachsehend. Dann sagte sie, noch immer ohne ihn anzusehen, in fast gleichgültigem Ton:

»Wenn man den Verzicht als ein schweres Opfer empfindet, dann kann mir so was nicht imponieren.«

»So, und warum nicht? Wenn ich fragen darf,« stiess Simmert erregt hervor.

»Weil ein solches Verlöbnis einfach ein Unsinn ist, eine Halbheit oder Schwachheit – und das imponiert mir eben nicht.«

Ihre überlegene, kalte Art machte Simmert immer aufgeregter. Er konnte sich nicht länger mehr zu jener mühselig noch bisher gewahrten Zurückhaltung zwingen. Heraus musste es endlich doch einmal, also denn jetzt!

»So?« machte er mit vor Erregung zitternder Stimme. »Wenn nun aber eine Macht wäre, stärker als der Wille, die einen zähneknirschend zwänge, das zu lassen, was man vielleicht mit jeder Faser seines Herzens ersehnte?«

Auch Melitta fühlte sich nun im Innersten erregt – jetzt drängte es zu der grossen Entscheidung hin. Aber sie bezwang sich und blieb äusserlich völlig ruhig. Nur klug jetzt, dachte sie, und geschickt den schon im Rollen befindlichen Stein in die richtige Bahn lenken! Die letzten Worte Simmerts, die Anspielung auf eine force majeure, glaubte sie nur auf das Gebot der Pflicht beziehen zu sollen, das ihm das Brechen seines Wortes verböte, und mit dämonischer, kalter Berechnung sagte sie daher:

»Es gibt keine Macht, die stärker ist, als unser Wille – wenn nur ein Ziel da ist, das ihn wirklich lockt, das genügend Lohn verheisst.«

In Simmert loderte es auf. Verstand er recht? Sie sprach jetzt selber von jenem berauschenden, ihn toll machenden Glück, dessen Vorstellung ihn verzehrte? Aber das war ihm nicht genug, er wollte mehr wissen: Ob auch sie etwas für ihn empfand – ob er hätte hoffen dürfen, wenn jenes Hindernis nicht da wäre!

»Aber, wer sagt einem,« raunte er leise, »dass jenes Ziel, das vielleicht dazu verlocken könnte, alles aufs Spiel zu setzen, dass es erreichbar, dass es – höchsten Lohn bieten würde?«

Wieder eine Pause, Simmert hörte sein Herz wild gegen die Brust hämmern. Dann tönte leise ihre Antwort: »Die Stimme in der eigenen Brust! Sie trügt nicht – sie ist des Schicksals Stimme.«

Klug hatte sie die Worte gewählt. Sie vergab sich nichts mit dieser Antwort, kein Eingeständnis – aber dennoch, das wusste sie, mussten diese Worte von ihm als eine Bejahung seiner Frage angesehen werden, die ihn zu jeder Hoffnung berechtigte und die ihm die Kraft zum Bruch mit der anderen geben würde. Und sie tat noch ein Übriges. Einen Moment lang trafen ihn ihre Blicke, tief forschend, ernst – als prüften sie sein innerstes Herz – dann warm werdend, zärtlich und nun mit einem plötzlichen, leidenschaftlichen Auflodern, das ihn am ganzen Leibe erzittern machte. Aber eben nur einen flüchtigen einzigen Augenblick lang; dann senkten sich die Wimpern, es erschien wieder der alte, etwas müde Ausdruck und, die Zigarette wegwerfend, erhob sich Melitta Drencken.

»Aber bitte, führen Sie mich ins Atelier hinüber! Wir haben nun lange genug philosophiert. Finden Sie nicht auch?«



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