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Was? Du willst also wirklich heute abend schon wieder fort? Aber das ist doch nicht dein Ernst!«
»Doch, mein Lieber.« In seiner gewohnten Ruhe erwiderte es Huber, als er jetzt bei Börner im Zimmer saß und wieder die unentbehrliche Shagpfeife im Munde hatte. »Der Zweck meiner Reise ist erreicht. Fräulein Hanna weiß nun wieder, was sie will. Sie wirft all den Krempel hinter sich und fängt ein neues Leben an. Na, und damit sind meine Geschäfte hier erledigt.«
»Zum Teufel mit deinen Geschäften! Bist doch kein Reiseonkel, der bloß zu Geschäften hierher gekommen ist. Na, und wenn du's schon so auffaßt – wir, mein Alter, nicht! Dich wollen wir haben, ohne Geschäfte; wir wollen uns doch nicht umsonst den ganzen Tag lang auf dich gefreut haben.«
Huber blies einige dichte Rauchwolken von sich, die seine Züge verdeckten.
»Geht wirklich nicht, mein Lieber. Hab' zu Hause dringliche Arbeit; war eben bloß mal auf einen Tag abkömmlich.«
»Ach, du bist ein Jammermann!« grollte Börner und schwieg eine Weile verstimmt. Dann aber machte er einen Vermittlungsversuch.
»So bleib wenigstens heute abend noch hier. Aller Welt hab ich erzählt: der Huber kommt her, den ganzen Stammtisch hab' ich deinetwegen zusammengetrommelt, und nun willst du mich so im Stich lassen? Und Rennert mußt du doch unbedingt noch gesehen haben. Also geh, bleib wenigstens die Nacht noch!«
Huber blickte überlegend eine Weile vor sich hin.
»Hm – hast recht; den Rennert müßt' ich doch wohl mal sprechen.«
Er griff nach dem kleinen Kursbuch, das er in der Brusttasche trug, und schlug den Fahrplan auf.
»Gut! Ich bleib' also heute abend, fahre um zehn mit dem letzten Zug, dann erwisch ich in München noch den Nachtkurier nach Berlin.«
»Na, ist wenigstens besser als gar nichts,« brummte Börner, nur halb befriedigt. »Aber ein Jammermann bleibst du doch!«
Und er schenkte ihm ein neues Glas des schwarzroten Chianti ein, den er sich als Haustrunk hielt.
* * *
Rennert überflog noch einmal den Brief, den ihm die letzte Post eben gebracht hatte, ein Schreiben des Rechtsanwalts aus Berlin, der ihn in seiner Eheklagesache vertrat.
»Sehr geehrter Herr!
Ich beehre mich, Ihnen mitzuteilen, daß im gestrigen Haupttermin Ihrer Scheidungssache das Urteil gesprochen worden ist. (Abschrift folgt nach Zustellung des Erkenntnisses gerichtlicherseits.) Der Tenor desselben ist der, daß die Klage Ihrer Frau Gemahlin auf Aufhebung der ehelichen Gemeinschaft für begründet erachtet worden ist aus § 1568 B. G. B. (grobe Mißhandlung). Demgemäß ist die Scheidung Ihrer Ehe ausgesprochen und sind Sie als der allein schuldige Teil erkannt worden. Ich gestatte mir, hierzu zu bemerken, daß dieser Ausgang des Prozesses, wie ich Ihnen ja auch seinerzeit dies mitzuteilen nicht unterlassen habe, vorauszusehen war, nachdem Sie es konsequent abgelehnt, irgendeine Aufklärung über die näheren Vorgänge bei dem der Klage zugrunde liegenden ehelichen Streit zu geben.
Hochachtungsvoll
der Rechtsanwalt
gez. Dr. Imkoff.«
Rennert warf den Brief aus den Tisch zurück. Dann ging er langsam ans Fenster und blickte in das dämmernde Land hinaus.
Nun also war es entschieden. Er war wieder ein freier Mann.
Schwer holte er Atem.
Es war nichts von wehmutsvollem Empfinden in ihm in dieser Stunde, die einer siebenjährigen Ehe das letzte, formelle Ende setzte. Das alles war überwunden, lag nun schon lange hinter ihm. Die Fäden, die ihn einst mit jener Frau verknüpft hatten, waren ja schon längst zerschnitten, auch ohne den richterlichen Spruch.
Das da – er dachte an den Brief hinter ihm – ein reines Possenspiel! Als ob gerichtliche Erkenntnisse binden könnten, was doch nicht zusammenhalten will, oder erst zu lösen brauchten, was schon längst entzweit ist. Er, der schuldige Teil! Er lachte sarkastisch vor sich hin. Wenn er hätte reden wollen! Aber er hatte es verschmäht, um der Frau willen, die sich ihm einst anvertraut hatte; er wollte nicht den Makel der Schuld, der doch eigentlich sie wegen böswilligen Verlassens hätte treffen müssen, an sie heften. Darum hatte er geschwiegen, jene Bewegung der Abwehr damals gegen ihren selbstvergessenen Angriff als eine grobe Mißhandlung gelten lassen – in Gottes Namen! Was tat es ihm? Schuldig oder nicht schuldig, er war frei! Das war es, worauf es ihm ankam.
»Frei!«
Rennert versank in ernstes Sinnen.
Ein lockendes Wort, das ein Frühlingshoffen und ‑Sehnen in seiner Brust hätte erwecken müssen, leisen, anschwellenden Jubel. Noch war er ja für einen Mann jung, im Vollbesitz seiner Kräfte, was konnte er sich nun nicht noch alles erraffen an köstlichsten Freuden und Gütern! Warum aber blieb alles so still in ihm, wo nun die letzten Bande von ihm abfielen und er hinausgehen durfte als ein Freier in den goldenen Sonnenschein des Lebens?
Frei! Doch was sollte ihm die Freiheit?
Ein tief schmerzlicher Zug grub sich auf seinen Wangen ein.
Hanna! Ja, wenn er Hand in Hand mit ihr hätte hineingehen können in die lachende Sonne, dann hätte wohl alles in ihm gejubelt. Aber so? Was nützte ihm die Freiheit?
Wieder sann er, ernst und schwer.
Aber dann ging eine Bewegung durch ihn; es war, als ob er die lähmenden Gedanken abschüttelte, die sich an die Fittiche seiner Seele hängen wollten. Nein, sie hielten ihn nicht nieder; er stieg dennoch auf, der Sonne entgegen. Und war es auch nicht das ersehnte, herzerwärmende Licht eines trauten Glücks, dem er zuflog, so doch der strahlende Glanz des weiten Äthers, wo in einsamer Höhe der Mannesstolz schwebt mit machtvoll ausgebreiteten Schwingen, kühl die Brust, aber das Auge leuchtend im Vollgefühl siegender Kraft.
Und Rennert trat vor die große Leinwand, die auf der Staffelei vor dem anderen Fenster stand. In den wenigen Tagen hatte das Bild, das er neulich in weihevoller Nachtstille entworfen, gewaltige Fortschritte gemacht. Schon traten Formen und Farben kraftvoll heraus, mit packendem Eindruck auf den Beschauer.
Lange blickte er mit leuchtenden Augen auf das entstehende Werk, das ein letzter, verirrter Strahl des scheidenden Lichtes noch einmal wie in einer Gloriole aufglänzen ließ.
Nun senkte sich wieder die Dämmerung darüber.
Da tönte ein Klopfen von der Tür her. Rennert wandte das Bild um und stellte es verkehrt auf die Staffelei. Dann rief er sein »Herein«.
Zwei Männer traten in das dämmerige Gemach, Börner und ein großer, dunkler Herr.
»Huber!«
Wie ein heftiges Erschrecken klang der jähe Ruf aus Rennerts Munde.
»Was? Du wunderst dich nicht schlecht!« lachte Börner, sich an seinem Staunen weidend. »Der Huber hier hereingeschneit aus heiterem Himmel. Eine Überraschung, gelt?«
Nun stand der Bildhauer vor ihm.
»Grüß' Gott, Rennert.« Er hielt ihm die Hand hin.
Einen Moment zögerte Rennert. Seine Miene war finster, und nur langsam legte er seine Rechte in die des anderen.
Huber hier! Hergekommen, sich an seinem verstohlenen Glück wieder einmal zu erfreuen, und er sollte ihm mit freundschaftlicher Miene dabei Gesellschaft leisten!
Fast feindselig klang die Frage.
»Nur auf einen Sprung; fahr' heute nacht schon wieder weiter, wollte doch aber mal auch nach dir sehen.«
»Sehr freundlich!«
Huber hörte die Bitterkeit wohl heraus; aber seine Stimme behielt ihren ernsten, ruhigen Ton.
»Hab' dir übrigens auch was mitgebracht – dachte, es würde dich interessieren.«
Er reichte Rennert ein zusammengefaltetes Zeitungsblatt hin. Dieser blickte flüchtig auf die angestrichene Stelle. Es war eine Notiz in der Rubrik »Aus der Gesellschaft«. Es hieß da: »Von Interesse für viele unserer Leser dürfte eine weitere, gestern proklamierte Verlobung sein. Die ehemalige Gattin des bekannten Malers Knut Rennert, Frau Ellen Rennert, deren Ehe soeben richterlich gelöst worden ist, gibt ihre Verlobung mit dem Inhaber des renommierten Kunstsalons Seymondt, Herrn William Seymondt, bekannt.«
Rennert las die Notiz ohne jede Bewegung und gab Huber dann das Blatt zurück.
»Vielen Dank.«
»Kommt dir anscheinend nicht überraschend,« bemerkte Huber.
»Ist mir auch völlig gleichgültig. Mögen die beiden glücklich werden – in Gottes Namen! Aber wollt ihr nicht Platz nehmen?«
»Danke,« lehnte Börner ab. »Wir werden uns nicht erst setzen. Zieh dich an, Rennert. Wir wollen zum Hörhammer hinauf an den Stammtisch.«
»Was soll ich da?«
Rennert war nur einmal oben gewesen; er hatte sich notgedrungen zeigen müssen. Aber es zog ihn zunächst nicht wieder hin. Er fühlte dort beständig den kränkenden Zweifel an seiner künstlerischen Persönlichkeit heraus. Darum wollte er den Leuten erst zeigen, wer er war, und dann, Auge in Auge, mit ihnen abrechnen.
»Aber du wirst doch mitkommen!« redete Börner zu. »Schon Veno zu Gefallen. Er ist ja gerade deinetwegen heute abend noch hiergeblieben.«
Es war gut, daß die Dunkelheit im Zimmer Rennerts Züge verhüllte; Schmerz und Hohn hatten darin aufgezuckt. Aber endlich sagte er:
»Dann natürlich! Also nur einen Augenblick, ich mach' mich gleich fertig.«
Zu dritt gingen sie zum Markt hinauf.
Im Künstlerzimmer saßen schon alle die Herren beisammen. Manche unter ihnen kannten Huber von seiner Münchner Zeit her und begrüßten ihn freudig. Die Unterhaltung wurde laut und lustig geführt; auch Huber nahm lebhaft Anteil daran. Alte, liebe Erinnerungen wurden aufgefrischt. Sie sprachen von dem und jenem, wie er sein Glück gemacht oder vor die Hunde gegangen war, aber ohne Sentimentalität. So ist das Leben einmal. Schließlich nahm einer der jüngeren Herren, ein Wiener, die Gitarre von der Wand und sang allerlei lustige Lieder im heimischen Dialekt. Dann mußte sich Börner mit seinem berühmten Auerhahnjodler produzieren, und Huber lachte herzhaft mit, als er so kunstvoll lockte und schnalzte.
»Prost, Rudi – bist a Haupthahn!«
Und er trank das Glas mit dem roten Tiroler in mächtigem Zuge leer.
Nur Rennert blieb der einzige Stille in der lustigen Gesellschaft. Seine Gedanken flogen zur Moosschwaige hinaus, zu Hanna. Wie mochte sie heute gelitten haben, in den Armen des Verlobten! Und ein Groll packte ihn gegen den Nichtsahnenden, der hier zechen und lachen konnte.
Endlich aber zog Huber mitten im Singsang, die Uhr.
»Ich muß fort.« Und er stand auf.
»Aber nein!«
Man drang von allen Seiten in ihn; doch er blieb fest. Schon war er in Hut und Mantel, ein kurzes Händeschütteln die Reihe herum, und dann war der flüchtige Besuch in der heiteren Runde zu Ende.
Mit ihm gingen Börner, Rennert und noch ein alter Bekannter, der den Gast wenigstens bis an die Bahn geleiten wollte. Draußen vor dem Hause trat Huber, obwohl Rennert dem ausweichen wollte, an seine Seite.
»Ich möchte dich noch unter vier Augen sprechen, Rennert – Fräulein Hannas wegen.«
Rennert fuhr zusammen.
Was hatte Huber wohl zu sagen? Hatte ihm Hanna etwa gebeichtet, von dem Abend in Schliersee, der Minute des Selbstvergessens – und sollte er deshalb von ihm zur Rechenschaft gezogen werden?
»Bitte!«
Kalt und trotzig klang es, indem Rennert etwas hinter den beiden anderen zurückblieb.
»Ich hab' heut' so etwas von Börner läuten hören, daß es einen Spektakel gegeben haben soll in deiner Schule, wegen Fräulein Hanna. Ist das richtig?«
Ah so – deswegen. Wieder gleichgültig dachte es Rennert. Offenbar also waren die Damen Hagenow schon geschäftig gewesen, die Minen gegen ihn zu legen.
»Es ist richtig,« gab er kurz zur Antwort.
»Man hat also tatsächlich Fräulein Hanna als Modell bei dir zu verdächtigen gesucht, du aber hast den Klatschbasen die Tür gewiesen.«
»Selbstverständlich!«
»Das dank' ich dir, Rennert.«
Huber sagte es fest, mit einem wärmeren Ton. Dann trat eine Pause ein, und beide gingen schweigend nebeneinander.
Plötzlich aber nahm Huber wieder das Wort.
»Ich muß dir was sagen, Rennert. Es ist nötig, daß du die Sache richtig erfährst – sie wird ja doch noch weiter spuken, und ich möchte nicht, daß du vielleicht an Fräulein Hanna irre würdest. Sie aber könnte schweigen, in begreiflichem Stolze. Also: Es ist etwas dran an dem Gerede, Rennert. Fräulein Hanna ist Modell gewesen, mein Modell.«
»Das habe ich mir längst gedacht.«
Ruhig erwiderte es Rennert.
»Wieso?«
Huber blieb betroffen stehen.
»Gleich damals, als ich sie zuerst bei dir im Atelier sah; ich weiß, daß sie dir zur Diana gestanden hat.«
Huber ging schweigend neben ihm weiter. Dann sagte er:
»Und hast sie doch verteidigt gegen das Geklatsch! – Was denkst du aber bei dir im stillen über die Sache?«
Rennert zuckte die Achseln, erwiderte aber nichts.
»Ich will dir erzählen, wie alles gekommen ist. Es war damals, vor drei Jahren, als ich mich mit der Idee zu meiner Diana trug. Die Gestalt stand Tag und Nacht vor meinem Auge, aber ich fand das nötige Modell nicht. Ich bin nun mal eigen in der Beziehung, ich kann das Seelische nicht vom Körperlichen trennen. Wenn ich eine Diana bilden soll, die Göttin unberührter Keuschheit, dann kann ich kein Frauenzimmer gebrauchen, das seinen Leib für Geld in allen Ateliers zur Schau stellt. Daran drohte die ganze Sache zu scheitern. Da kam mir eines Nachts – man hat ja da manche phantastischen Einfälle – beim Grübeln ein Gedanke, und so verrückt er mir auch am nächsten Morgen mit nüchternen Augen erschien, ich führte ihn dennoch aus. Ich setzte ein Inserat in die Zeitung, daß ein ernst schaffender Künstler ein auch der Psyche nach geeignetes Modell zu einer Dianastatue suche, mit dezenter Drapierung, Berufsmodell ausgeschlossen.
Tags darauf bekam ich den Besuch eines jungen Mädchens. Sie sagte mir offen, daß sie aus guter Familie sei, aber ohne jede Unterstützung vom Hause, weil sie gegen den Willen der Ihren sich habe der Kunst widmen wollen. Sie befinde sich in der allergrößten Not und habe keine Wahl mehr – so sei sie hergekommen. Zudem, wenn mein Gesuch wirklich ernst gemeint sei, so bringe sie das Opfer ihrer Selbstüberwindung wenigstens einer Sache, die ihr selber von Jugend an heilig sei. – Dieses Mädchen war Hanna Mertens.«
Huber machte eine Pause.
»Du wirst es ohne weiteres begreifen, daß ich nach ihrer ganzen Erscheinung mir niemals ein besseres Modell hätte wünschen können, und so nahm ich sie an. Ebenso selbstverständlich wird es dir sein, daß Hanna zu den Sitzungen in einem Gewand vor mir erschien, wie es für ernste Menschen ohne jeden Anstoß ist, und wie es die Klatschbasen, die sie jetzt bei dir verleumden wollten, bei den öffentlichen Vorführungen einer Isadora Duncan mit hysterischer Verzückung bewundert haben.«
»Es bedarf dieser Versicherung nicht – ich hätte anderes nie von Hanna Mertens erwartet.«
»Nun, dann bin ich am Ende. Ich hatte nur das von dir hören wollen.«
Auch Huber versank jetzt wieder in Schweigen, und so schritten sie nebeneinander durch den nächtlich stillen Ort.
In Rennert arbeiteten, trotz seiner scheinbaren Gleichgültigkeit, aufgeregt die Gedanken. Wozu erzählte ihm Huber das alles, da dieser doch schon von vornherein wußte, daß er an Hanna fest glaubte und sie gegen jeden Angriff in Schutz genommen hatte? Es war ja fast, als ob Huber ganz besonders an seiner guten Meinung von Hanna gelegen sei, auch für alle Zukunft. Warum das aber, da er sie doch bald als sein Weib heimführen würde? Huber fragte ja sonst nicht viel nach dem Urteil anderer!
Diese geheimen, sich ihm immer wieder aufdrängenden Fragen, denen die Antwort fehlte, quälten Rennert schließlich geradezu. Er hatte dabei plötzlich ein so merkwürdiges, dunkles Gefühl, als ob hinter Hubers Erzählung irgendeine bestimmte Absicht gesteckt hätte, ganz besonderer Art, von Bedeutung vielleicht auch für ihn. Er konnte nicht anders und begann daher, ihn auszuforschen:
»Du hast dich dann auch nachher noch Hanna Mertens' angenommen, ihr allmählich einen Weg aus ihrer Not gebahnt?«
»Ja,« lautete die kurze Antwort.
Und wieder ein lastendes Schweigen zwischen den Männern. Sie fühlten beide, daß sie auf denselben Punkt hinwollten, und doch war einem jeden die Zunge in Stolz und Scheu gebunden. Endlich aber blieb Huber stehen, ganz unvermittelt. Es war nicht mehr weit von der Bahn; schon sah man die Lichter und Signale der Station herüberleuchten.
»Es ist ja Unsinn so! Reden wir deutsch miteinander, wie es Männern zukommt. Also: ich weiß, Rennert, was zwischen dir und Hanna gewesen ist.«
Rennert zuckte nun doch zusammen, als das Wort fiel, das er seit langem schon erwartet hatte. Unwillkürlich spannte sich in ihm jede Muskel, wie zur Abwehr eines bevorstehenden Angriffs. Dunkel drohend sah er die hünenhafte Gestalt Hubers in der Finsternis dicht vor sich.
»Hanna hat es dir gesagt?«
Er nahm eine bejahende Bewegung Hubers wahr.
»So leugne ich es nicht.«
Finster-trotzig klang es, aber zugleich schwang ein Ton heißen Schmerzes mit, der aus rauh aufgerüttelter wunder Seele drang.
Doch der Ausbruch entfesselter Leidenschaft und Eifersucht von der anderen Seite, auf den Rennert, jeden Nerv zum Zerspringen gespannt, bestimmt gewartet hatte, erfolgte nicht.
Mit Staunen sah er da auf den anderen, der regungslos in steinerner Ruhe vor ihm stand. Und – war es jetzt nicht wie ein schweres, schmerzliches Atmen, das sich seiner riesigen Brust entrang?
Da überschlich Rennert plötzlich ein ganz neues, fremdes Gefühl, wie das einer Schuld und Scham vor dem Freunde, dem er, wenn auch unwissentlich, tiefstes Leid zugefügt hatte. Es mußte ihn im Innersten getroffen haben.
»Huber –«
Es kam zögernd, unsicher von Rennerts Mund. Aber noch immer dies quälende Schweigen bei dem anderen.
Da streckte sich Rennerts Hand, ohne daß er es wollte, zu ihm hin.
»Ich habe ja nicht gewußt, Huber, daß sie dein ist; bei meiner Ehre nicht!«
Nun ging ein Regen durch die große Gestalt.
»Sie ist nicht mein – nicht mehr.«
»Wie?«
Tief erschrocken entfuhr es Rennert. Ihm stockte das Herz einen Atemzug lang.
»Ich habe ihr die Freiheit zurückgegeben!«
Und Huber wollte weitergehen. Aber da packten ihn Rennerts Hände.
»Huber!«
Es klang aus dem einen Wort eine Welt von Empfindungen, das Heranbrausen eines Glückssturmes, einer überströmenden Dankbarkeit und doch auch wieder eines quälenden Zweifels: Hatte er denn wirklich recht gehört?
Aber da machte sich der andere rauh von ihm los.
»Nun, was noch weiter? Ich denke, ich war deutlich.«
Und er schritt jetzt wirklich vorwärts, mit starken Schritten. Aber gleich war Rennert wieder an seiner Seite; er ging wie im Taumel.
Also es war Wahrheit und doch kaum zu fassen: Hanna frei, frei seinem Werben!
Er hätte aufjauchzen mögen, daß es jubelnd durch den schlafenden Ort drang, weithin durch die Dunkelheit bis hinaus zu dem einsamen Haus im Moos – zu ihr, zu ihr!
Aber da fiel sein sehnend in die Ferne fliegender Blick plötzlich auf den Begleiter, und in demselben Moment wurde es still in seiner jubelnden Seele. Jetzt jauchzen, wo der andere stumm dahinschritt, die blutende Wunde im Herzen? Ein Gefühl brennender Scham überkam Rennert, und halblaut sprach er zu dem Freunde:
»Huber, ich weiß nicht, was ich dir sagen soll. Ich möchte so viel, aber es kommt mir alles so taktlos, so gefühllos vor und so nichtig, angesichts dessen, was du in dieser Stunde empfindest.«
Keine Antwort kam, und dringender, gequält klangen Rennerts Worte.
»Mich drückt ja ein Gefühl zu Boden – wie ein ganz schlechter Kerl komme ich mir vor. Mir ist, als hätte ich dir dein Glück geraubt, und ich habe es doch, bei Gott, nicht gewollt! Ich hatte mich ehrlich losgerungen von Hanna und wäre ihr nie wieder vor Augen getreten, außer als wunschloser Freund. Glaub' mir's doch, Veno – es ist wahrhaftig so!«
»Ich glaub's schon,« entgegnete dieser gleichgültig. Was konnte ihm das auch jetzt bedeuten?
Der Bahnhof kam immer näher; mit steigender Qual bemerkte es Rennert. Wenige Schritte noch, so waren sie da, wieder bei den anderen, und dann fuhr Huber in die Welt hinaus, vielleicht auf Nimmerwiedersehn, ohne daß er das Wort gesprochen, das allein Rennert die Möglichkeit gegeben hätte, noch einmal seines Glückes froh zu werden.
Da griff Rennert erregt nach Hubers Hand und umklammerte sie trotz seines Widerstrebens.
»Nein, Huber, ich lass' dich so nicht! Du mußt mir sagen, daß du mir nicht grollst, daß du darüber hinwegkommen wirst. Sieh, du hast uns in deiner selbstlosen Güte ein so unermeßlich reiches Geschenk gemacht; aber nun nimm uns nicht die Möglichkeit, es anzunehmen. Versteh doch, Veno, wir können ja doch niemals an ein Glück denken, Hanna und ich, mit dem Bewußtsein, daß du uns grollst, daß du gebrochen einhergehst.«
Da richtete sich Hubers mächtige Gestalt hoch auf.
»Was das anbelangt, sei ohne Sorge! Und – ich grolle euch nicht. Mach' sie mir glücklich!«
Ein malmender Händedruck preßte plötzlich Rennerts Rechte.
»Veno – du bist so gut, du hättest sie viel mehr verdient als ich!«
Rennert fühlte es heiß in seine Augen schießen. Und dann bat er:
»Nun laß uns das eine noch hoffen: Daß du uns auch das höchste Opfer noch bringst, uns deine Freundschaft erhältst und –«
»Euere Kinder schaukle! Nicht wahr?« Rauh entriß Huber seine Hand dem anderen. »Nein, mein Lieber, zum Onkel hab' ich kein Talent!«
Schnell schritt er dem Bahnhofsgebäude zu.
»Meine Bitte war im Moment vielleicht taktlos, verzeih,« bat Rennert leise neben ihm. »Aber du mußt doch verstehen, wie wir im innersten Herzen uns deine Freundschaft erbitten.«
Sie traten schon in den Bahnhofsflur, wo bereits Börner und sein Begleiter ihrer harrten.
»Wollen sehen – vielleicht später.«
Es waren Hubers letzte Worte, dann traten sie zu den beiden anderen.