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Hanna Mertens stand an der Pforte bei dem Drahtverhau, der die Moosschwaige gegen unliebsamen Besuch schützen sollte, und blickte den schmalen Weg entlang, der sich durch das Moos hierher zog.
Veno Huber sollte kommen. Ein gestern abend erhaltenes Telegramm hatte ihr seine Ankunft für heute morgen angekündigt. Nun war Börner auf die Station gegangen, um den Freund abzuholen; sie aber erwartete ihn hier.
Es war Hanna nicht möglich gewesen, Börner an die Bahn zu begleiten; sie hatte noch immer Unpäßlichkeit vorgeschützt. In Wahrheit aber scheute sie sich, nicht nur mit Huber vor allen Menschen zusammenzutreffen, sondern auch den langen Weg mit ihm in der Gesellschaft Börners zurückzulegen, mit der entsetzlich drückenden Last auf der Seele, der sie sich doch nicht in Anwesenheit eines Dritten, und war es auch der beste Freund, entledigen konnte.
So stand sie denn nun hier und wartete auf die Ankunft der beiden mit dumpf pochendem Herzen, wie man einer Lebensentscheidung entgegenharrt – aufgepeitscht bis in alle Nervenfasern und doch mit einer starren, kalten Ruhe, mit dem Bewußtsein: Nun gibt es kein Zurück mehr.
Da kamen sie.
Hanna fühlte einen jähen Stich im Herzen.
Mit gleichmäßigen, stetig fördernden Schritten nahten die beiden Männer. Hubers mächtige Gestalt im grauen Kalabreser und langen Ulster überragte die des Freundes fast um Kopfeslänge. Sie schienen in ein Gespräch vertieft. Huber ging leicht geneigten Hauptes, die Augen vor sich auf den Boden geheftet, die Hände auf dem Rücken verschränkt, wie er es zu tun pflegte.
Nun waren sie so nahe herangekommen, daß Hanna ihre Züge zu erkennen vermochte. Da deutete Börner plötzlich mit einem Lächeln auf sie hin – er mußte sie bemerkt haben – und in schneller Bewegung hob Huber nun den Kopf. Ein freudiges Aufleuchten flog über sein dunkelbärtiges Gesicht – der erste Gruß, den er ihr sandte. Dann trat aber gleich wieder ein Zug von zärtlicher Besorgnis hervor.
Hanna war wechselnd blaß und rot geworden. Sie hatte die Hand heben, ihm grüßend zuwinken wollen. Aber wie ein steinernes Bild blieb sie stehen; nur ihre Augen blickten dem Mann entgegen, der ihr Schicksal in seinen Händen trug – zitternd bang, voll zagender Hoffnung und Sehnsucht nach Frieden.
»Grüß' Gott, Fräulein Hanna!«
Huber streckte ihr beide Hände entgegen, und während er in innerer Bewegung ihre zarten, fiebrig zuckenden Finger fast schmerzhaft preßte, schauten seine Augen sie mit einem stummen Trost an, als ob er sagen wollte: Nun bin ich ja da, nun hat's keine Not mehr! Nun wieder Kopf hoch, meine kleine Hanna!
Mit einem Zug von Qual im Antlitz, mußte sie ihren Blick senken. Sie ertrug diese unverdiente Güte nicht.
Eine schwere Viertelstunde folgte dann. Sie konnten doch Börner nicht ohne weiteres hinausschicken. Was für eine Pein war das für Hanna – dies erzwungene, harmlos-fröhliche Plaudern mit der Zentnerlast auf dem Herzen!
Aber endlich kam die Gelegenheit, allein zu sein. Börner wollte den Schwaiger-Fritz, der draußen irgendwo im Gehölz bei seinen Vogelschlingen stecken sollte, suchen und mit ihm verhandeln, daß er etwas Trinkbares herbeischaffte.
Nun hatte sich die Tür hinter ihm geschlossen. Da trat Huber auf die Verlobte zu, und noch einmal streckte er ihr die Hände entgegen:
»Hanna!«
Sein in zärtlichster Liebe aufleuchtender Blick rief sie an seine Brust.
Aber sie kam nicht.
Wohl legten sich ihre Finger, zitternd und eiskalt, in seine Hände; aber wie in angstvoller Abwehr und zagend kam es von ihren Lippen:
»Ich habe dir viel zu sagen, zu bekennen.«
»Nun, wird schon nicht so schlimm sein!«
Er sagte es mit einem Lächeln, und im nächsten Augenblick hatten seine Arme sie an die mächtige Brust gerissen. Im Ausbruch seiner lang zurückgedrängten Liebe merkte er es nicht, daß sie am ganzen Leibe zusammenzuckte und dann, ohne einen Blutstropfen im Gesicht, wie eine Sterbende, seine Liebkosungen duldete.
Rennert! Er stand ihr in diesem Augenblick, in den Armen des Verlobten, vor ihrer Seele, und seine Küsse brannten ihr auf den Lippen, die Küsse damals in der Mondnacht am Schliersee. – War sie nicht eine Verworfene?
Da riß sie sich plötzlich aus Hubers Armen.
»Nein, nein! – Hör' erst, was ich dir zu sagen habe!« Wie vor ihm flüchtend, eilte sie in die Ecke am Fenster, warf sich dort auf den Stuhl und preßte die Hand vor die Augen.
Verwundert sah Huber sie im ersten Moment an. Dann aber schüttelte er mit mildem Lächeln den Kopf und ging langsam zu ihr hinüber. Er wußte ja, was sie ihm zu bekennen haben würde. Die liebe Törin, wie sie es sich schwer machte!
»Nun, dann beichte nur erst, meine kleine Hanna.«
Er fuhr ihr dabei, wie man einem verschüchterten Kinde Mut macht, über das Haar, und nun nahm er sanft ihren Kopf zwischen seine ungefügen Hände.
»Was ist's denn, was dir das Herz so bedrückt?«
Sein ahnungsloses, so fest auf sie bauendes Vertrauen, seine tiefe Güte schnitten ihr ins Herz, daß sie hätte aufschreien können. Wie schlecht, wie unsagbar schlecht war sie!
Sie griff plötzlich nach seinen Händen, preßte sie sich vor das Gesicht, vor die brennenden Augen und die zuckenden Lippen und bedeckte sie mit heißen Küssen.
Ordentlich erschrocken, zog er seine Hände zurück, und ernst mahnte er:
»Nun sprich, Hanna!«
Da redete sie, erst stockend und nach Worten suchend, dann klar und fest. Sie sprach zunächst von dem einen, wie ihr die Hoffnung in Trümmer gesunken, das Ziel je zu erreichen, das sie sich gesetzt und dem sie so viel geopfert hatte.
»Nun rate mir, Veno: Was nun?« schloß sie. »Der Glaube an mein Können ist hin, meine Mittel nahezu erschöpft, ich selbst zu alt, um noch mal von neuem, anfangen zu können, auf anderem Wege; mein bißchen Klavierspiel war doch nur Mittel zum Zweck. Was wird mir nun Beruf, der mich ausfüllt, meinem Dasein Ziel und Berechtigung gibt?«
Huber war, während sie so sprach, still im Zimmer auf und ab gegangen. Jetzt blieb er vor ihr stehen, immer noch die Hände auf dem Rücken. In seinen Augen, die sich nun auf sie richteten, leuchtete es klar, fast froh:
»Meine liebe Hanna, so traurig es für dich im Augenblick sein mag, und wie sehr du mir leid tust, ich sehe kein Unglück darin, im Gegenteil!«
Tief betroffen blickte sie aus ihren Schmerzen zu ihm auf. Er aber lächelte mit leiser, gutmütiger Überlegenheit.
»Ich habe die Eröffnung, die du mir da eben machst, schon längst kommen sehen; sie trifft mich daher ganz vorbereitet. Als ich gestern deinen Brief erhielt, da wußte ich, daß du mir das heute sagen würdest.«
»Also wußtest du, daß meine Begabung nicht hinreichte?« Mit großen Augen starrte sie auf ihn. Er nickte ruhig.
»Aber wie konntest du denn da –
Es klang wie ein schmerzlicher Vorwurf.
»Du meinst, dich ruhig in deinen Hoffnungen wiegen, dich weiter streben und quälen lassen. Nicht wahr?«
Ihr Auge bejahte stumm seine Frage.
Da trat er näher zu ihr und legte ihr seine Rechte auf die Schulter.
»Es geschah mit voller Absicht, meine Hanna, und aus gutem Grunde. Sieh, Kind, hätte ich dir dein Vorhaben ausgeredet, dir die Unzulänglichkeit deiner Begabung wieder und immer wieder vorgestellt, gewiß, du wärest von deinem Plan abgestanden, aber mit heimlicher Bitterkeit, mit dem immer nagenden Gefühl, daß du den Versuch doch vielleicht hättest wagen sollen, am Ende wäre er ja geglückt, und das Ende vom Liede wäre ein Groll gewesen auf mich, der ich dich daran gehindert.«
Sie wollte eine Gebärde der Entgegnung machen, aber er ließ sie nicht zu Worte kommen.
»Laß gut sein, Kind, das ist nun mal so Menschenart. Also, siehst du, darum sagte ich mir: Es hilft nichts, sie muß ihre Erfahrungen machen, so weh's auch tun mag. Es ist das einzige Mittel, sie gründlich von dem Wahn zu kurieren, der einmal in ihr steckt. Eher ist sie doch nicht zu was anderem zu gebrauchen. Es ist also nötig zu ihrem eigenen Heil. Und so ließ ich dich denn gewähren, ja, unterstützte dich sogar nach Kräften bei deinem Vorhaben.
Nun, meine Hanna, ist es so weit, daß du klar siehst über dich selbst. Es ist jetzt bitter für dich« – seine Stimme wurde zärtlicher – »aber du wirst darüber hinwegkommen. Bist ja doch ein Mensch voll gesunder Kraft. Und nun kann ich dir auch den Trost bringen, den du vorher nicht oder nur wenig geschätzt hättest. Ich habe einen Beruf für dich, Hanna, einen neuen Beruf, der dir den verlorenen zehnmal aufwiegt, den schönsten und größten für eine Frau: Weib und Mutter zu sein! Jetzt, meine Hanna, ist die Stunde da, auf die ich gewartet habe, seit Jahren. Glaub mir, es war nicht immer leicht. – Nun werde mein, Hanna, ganz mein, mein liebes, liebes Weib!«
Sein Arm schlang sich sanft um ihre Schultern und wollte sie an sich hochziehen; aber da wehrte sie ihm mit angstvoll gegen ihn gestemmten Händen:
»Nein, nein, erst höre weiter!«
Da ließ er betroffen von ihr ab.
»Noch mehr? – Was hast du nun noch, Hanna?«
Sie war aufgesprungen. Totenblaß stand sie vor ihm und rang nach Worten.
»Ein Bekenntnis, das dich schwer treffen wird« – klanglos war ihre Stimme – »aber ich kann, ich darf es dir nicht ersparen.«
Er sah sie an. Ihre Augen begegneten einander in einem stummen, schicksalsbangen Blick. Dann sagte er schwer:
»So rede.«
»Veno, es hat mich hier noch etwas anderes betroffen, etwas – Veno, als ich dir mein Jawort gab, vor Jahren, da kannte ich mich selbst noch nicht ganz. Ich glaubte, ich würde nie im Leben für einen Mann mehr empfinden können als für dich, und da das, was ich dir gab, dich glücklich machte, so durfte ich dir mit gutem Gewissen meine Hand reichen. Nun aber –«
Es würgte ihr in der Kehle. Das Letzte, das Schwerste, wie sollte sie es Veno beibringen, der da vor ihr stand, so ruhig und unbewegt und doch, sie wußte es, in qualvoller Erwartung!
»Nun?«
Ein leises Zittern klang aus dem drängenden Laut.
Da sah sie ihm fest in die Augen.
»Nun habe ich erfahren müssen, unter eigener, furchtbarer Qual, daß ich doch noch anderer Gefühle fähig war.«
In demselben Augenblick sah sie ihn zusammenzucken, und schnell rief sie weiter:
»Aber es ist vorbei, Veno, überwunden! Ich wußte, was ich dir schuldig war. Ich habe in der Stunde, da es über mich kam, allem ein Ende gemacht. Nun bin ich wieder dein, Veno, ganz dein – das heißt, wenn du mich nun noch haben willst.«
Leise, demütig sprach sie es, und so stand sie bebend vor ihm, des Urteils gewärtig.
Ein qualvolles Schweigen. Dann klang dumpf seine Frage:
»Wer?«
Noch einmal schlug ihr das Herz wild auf, und kaum vernehmbar kam es von ihren Lippen:
»Knut Rennert!«
»Rennert?«
Furchtbar klang das Wort, wie der Laut eines im Innersten getroffenen wilden Tieres.
Voll Entsetzen riß sie da die Augen auf. So hatte sie ihn noch nie gesehen, ein Gesicht, vor dem sie eine Todesangst packte.
In seinen entflammten Blicken war etwas, das dem anderen Verderben drohte.
Da hob sie, in sinnloser Angst, beschwörend die Hände.
»Er ahnte ja doch nicht, daß ich dein bin. Er wähnte mich frei; ich verheimlichte auch ihm ja unser Verlöbnis, wie du es wolltest. Er ist unschuldig, bei Gott! Willst du Rache, so nimm mich, aber schone ihn, den Unschuldigen!«
Ihr verzweifelter Aufschrei brachte ihn wieder zu sich. Aber es war ein schlimmes Ernüchtern. Wie sie vor ihm stand, in den weit aufgerissenen Augen flehende Todesangst um den anderen, das war ein stummes Geständnis, schrecklicher als das eben Gehörte. In diesem Augenblick wußte er es besser, trotz all ihrer mitleidig verhüllenden Worte: Er hatte sie verloren.
Und wie ein Wanken ging es plötzlich durch die mächtige Gestalt, daß er schnell nach einem Stuhl packte und ihn herbeizog. Schwer sank er darauf nieder. Den breiten Körper nach vorn geneigt, brütete er vor sich hin, mit tief hängendem Kopf, daß man seine Züge nicht sehen konnte.
Diese starre Ruhe war Hanna noch fürchterlicher als sein aufflammender Zorn. Einige Augenblicke sah sie auf ihn, verzweifelt, die Hände ineinandergekrampft. Dann stürzte sie vor ihm auf die Knie, und, das Antlitz auf seine im Schoße schlaff herabhängenden Hände pressend, flehte sie:
»Vergib – vergib!«
Und zugleich kam es über sie wie eine Erleuchtung, wie das Sichbewußtwerden einer heiligen Mission. Ja, er hatte recht, ihr war ein neues, hohes Lebensziel gegeben worden: für ihn, den Gütigen, Treuen, dem sie ja alles, alles war, zu leben! Wie sie das eben bis in die Grundfesten ihres Wesens erschüttert hatte, dieses stumme, klaglose Zusammenbrechen des riesenhaften Mannes! So liebte er sie, so viel war sie ihm! Und nun spürte sie es über sich kommen wie eine heilige, starke Kraft: Ja, sie würde den anderen vergessen lernen; sie fühlte es so gewiß in dieser entscheidenden Stunde! Sie würde ihr Höchstes darin suchen und finden, nur Veno zu leben, und es würde sie still und glücklich machen.
Das gelobte sie ihm jetzt mit stammelnden Worten:
»Vergib mir doch, Veno! Ich will ja alles, alles wieder gutmachen, nur noch dein sein, ganz dein, in allem Tun und Denken!«
Da hob er endlich den Kopf. Ein schwerfälliges Regen, während er ihr die matten Hände überließ. Es war, als hätte etwas seine Glieder gelähmt.
»Du kannst es ja nicht, Hanna, du kannst es nicht.«
Sie warf ihr Haupt hoch und sah von unten in seine gramverdüsterten Züge, in seine hoffnungslos traurigen Augen.
»Doch, Veno! Ich schwöre es dir!«
Leidenschaftlich preßte sie seine schlaffen Hände.
In einem langen, bangen Blick klammerten sich da ihre Augen ineinander. Es war noch einmal wie ein leises, letztes Aufglimmen einer Hoffnung bei ihm; so schaute er auf sie, in den Grund ihrer Seele dringend. Aber dann erlosch allmählich der Schimmer und erstarb.
Der trübe Nebel der Hoffnungslosigkeit senkte sich wieder darauf herab.
Sie sah diesen Wandel in seinem Blick mit fliegender Angst. Unwillkürlich preßten ihre Hände ihn noch einmal wie beschwörend, aber da sah sie ihn langsam das Haupt schütteln und fühlte, wie eine Bewegung durch seinen Körper ging.
»Du kannst nicht, Hanna. Ich weiß es besser.«
Da senkte sich ihr Kopf wieder. Was sollte sie ihm nun noch sagen? Mit zuckendem Herzen lag sie so lange, lange, das Haupt in seinem Schoß verborgen.
Endlich strich er ihr, wie vorhin, über das Haar; aber es war nur noch eine väterliche Liebkosung.
»Laß gut sein, Kind. Nun ist's ja vorbei.«
Mit einem stillen Lächeln sagte er es.
»Und nun Kopf hoch! Dem Leben wieder ins Auge geschaut!«
Er hob ihr das blasse, ganz verstörte Gesicht hoch.
»Wir bleiben ja doch Freunde, Hanna. Nicht?«
Sie hörte, wie seine Stimme bei den letzten Worten zitterte.
Da warf sie die Arme um seinen Hals. Aufgelöst in Schmerz und Verehrung vor seiner unendlichen Güte, preßte sie ihr Antlitz auf das seine. So tauschten sie den letzten Kuß des Abschieds voneinander.