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Eine Stunde lang oder noch länger mochte Rennert im Tiergarten herumgelaufen sein, um seiner heftigen Erregung wieder Herr zu werden. Nun hatte sich der Sturm in ihm ausgebraust, und eine wehe Müdigkeit war über ihn gekommen. Er fühlte sich so matt, wie zerschlagen, selbst zum klaren Denken zu erschöpft. Dämmernd schritt er dahin, langsam; nur ein dumpfes Gefühl lastete auf ihm: So kann das nicht weitergehen, so nicht – sonst bist du am Ende!
Und plötzlich fiel eine tödliche Angst über ihn her und würgte an ihm, daß er meinte, ersticken zu müssen. Es stand ihm mit einem Male ein schreckliches Bild vor der Seele, das er, vor vielen Jahren, als Knabe einst gesehen hatte.
Bei einem Jäger war es gewesen, draußen auf dem Lande. Der hatte einen Hühnerhabicht gefangen und ihn nun an einer Schlinge um den Hals aufgehängt. Stundenlang währte das Absterben des Tieres. Immer und immer wieder krampfte sich in ihm die unverwüstliche, zähe Lebenskraft auf gegen das langsame Verenden, daß es mit zuckendem Flügelschlagen sekundenlang an der mörderischen Schnur aufflatterte. Und es half ihm doch nichts – es ging unentrinnbar dem Ende entgegen.
So war es auch mit ihm. Kalter Angstschweiß brach ihm plötzlich aus, daß er trotz des frischen Wintertages den Hut vom Kopf riß und sich mit dem Taschentuch über die Stirn fuhr.
Wie elend und verlassen war er! Einsam, wie er sich noch nie in seinem Leben gefühlt hatte. Was gäbe er darum, wenn er einen Menschen auf der Welt hätte, dem er jetzt in dieser Stunde der Zerbrochenheit sein Herz ausschütten könnte, all das, was er seit Jahren still mit sich herumtrug.
Aber er hatte ja niemanden. Die er einst seine Freunde nannte, hatte er durch die Frau verloren, die ihn nun zugrunde zu richten drohte.
Also, es war umsonst, dieses Sehnen. Allein mit sich mußte er ausmachen, was ihn zu Boden werfen wollte.
In einem finsteren Entschluß bohrte er mit heftiger Bewegung die zur Faust geballten Hände tief hinein in die Taschen seines Pelzes; da fühlte er in der rechten Tasche etwas sich knisternd drücken. Mechanisch griffen seine Finger danach und holten es hervor – einen Brief. Ach ja, der Brief, den ihm das Hausmädchen vorhin gegeben hatte, als er im Vorzimmer in den Pelz fuhr, um hinwegzustürmen. In seiner Erregung hatte er ihn genommen und eingesteckt, ohne nachher noch daran zu denken.
Nun fielen seine Blicke auf die Aufschrift, eine ihm im Moment nicht bekannte schwere, steile Handschrift, bei der fast jeder Buchstabe knorrig und wuchtig für sich stand. Etwas verwundert riß er das Kuvert auf. Ah – vom Huber! Natürlich, das war ja seine Besenstiel-Keilschrift. Die wenigen Zeilen lauteten:
»Lieber Rennert! Es war gestern nicht so schlimm gemeint. Weißt ja, ich koch' schnell mal über. Also deswegen keine Feindschaft nicht! Wenn Du allein wärst, käm' ich zu Dir. So aber hoffe ich, Du findest den Weg zu mir. Mit bestem Gruß
Huber.«
Rennerts Mienen hellten sich plötzlich auf, fast zu einem Lächeln. Langsam faltete er den Brief zusammen und steckte ihn wieder in die Tasche.
Die paar Zeilen mochten dem alten Starrkopf etwas gekostet haben! Abgerungen hatte er seinem Eigensinn Wort für Wort; das wußte er nur zu gut. Und so kurz angebunden sie waren, sie bedeuteten für den Vinzenz Huber etwas ganz Erstaunliches. Er hatte ja wohl noch nie in seinem Leben einen Menschen um Entschuldigung gebeten; er hätte sich ja lieber die Zunge abgebissen! Also auf diese Zeilen konnte er wahrhaftig stolz sein. Wie mochte aber der Veno nur darauf gekommen sein, sie ihm zu schreiben?
Sofort stieg Rennert ein Ahnen auf: Das kam nicht aus ihm selbst – jemand anderes mußte ihn dazu getrieben, ihn so lange bearbeitet haben, bis er murrend und grollend nachgegeben hatte.
Aber wer besaß solche Macht über ihn? Der Börner? Er konnte es nicht glauben. Das wäre ja etwas ganz Neues gewesen, wovon er in München früher nie etwas gemerkt hatte.
Aber plötzlich durchfuhr es Rennert: Hanna Mertens! Ja, so war es sicherlich. Sie hatte dem Veno ins Gewissen geredet, bis er klein beigab.
Sie stand ihm mit einem Male wieder vor der Seele, wie sie gestern so mutig für ihn gegen Huber Partei ergriffen, und wie sie ihn nachher beim Weggehen so warm angeschaut hatte. Da durchschoß es ihn plötzlich: Da ist ein Mensch, der dich in dieser Stunde versteht.
In demselben Augenblick, in dem ihn das durchfuhr, hielt er auch schon unwillkürlich den Schritt an, orientierte sich, wo er war, und begann dann eiligen Fußes einen Seitenweg durch den winterlichen stillen Park einzuschlagen, der ihn in die Gegend der Dörnbergstraße brachte. Der Brief Hubers gab ihm ja nun die Möglichkeit, sich wieder bei ihm sehen zu lassen, ohne sich etwas zu vergeben. –
Als Rennerts Klingeln Frau Hippel an die Flurtür geführt hatte, ward ihm der unerwartete Bescheid, der Herr Professor sei fort; der andere Herr von gestern habe ihn schon gegen elf abgeholt.
Doch Rennert war es nicht unlieb, das zu hören. So konnte er um so ungestörter mit Hanna Mertens plaudern; er nahm ja an, daß sie täglich ins Atelier kam. Er erklärte daher, auf die Herren warten zu wollen, die gewiß bald wiederkämen, und trat ein, sich gleich dem Atelier zuwendend.
Aber zu seiner großen Enttäuschung mußte er bemerken, daß auch das junge Mädchen heute nicht hier war. Verstimmt überlegte er, was er nun tun solle. Wieder fortgehen? Nein. Vielleicht kam sie doch noch. Auf alle Fälle wollte er eine Weile hier warten.
Er ließ sich also auf dem alten Lehnstuhl an der Fensterwand nieder, zündete sich eine Zigarette an und begann, gedankenverloren vor sich hinrauchend, die Statue der Diana zu betrachten.
Wieder beschäftigten ihn vor dem Bildwerk dieselben Gedanken wie gestern. Wenn Hanna Mertens dem Huber wirklich auch dazu gestanden haben sollte, so war sie doch kein Modell gewöhnlicher Art. Sie war ohne Zweifel ein ganz gebildetes Mädchen von guter Erziehung. Um so mehr aber drängte sich ihm immer wieder die Frage auf: Wie kam sie dazu? Wenn sie Huber aber als Freundschaftsmodell für diese Statue gestanden hatte, ja, dann blieb doch eigentlich kaum noch eine andere Erklärung als –
Ein helles Pfeifen, das von draußen, vom Garten her, in den Raum klang, machte Rennert unwillkürlich aufhorchen. Es war eine frische Stimme, die die munteren Laute erschallen ließ, so sorglos und froh – offenbar irgend ein junges Künstlerblut aus einem der kleinen Ateliers des höchsten Stockwerks.
Eine eigenartige Stimmung kam über Rennert, wie die heiteren Töne so in den einsamen, stillen Raum hereinschwebten. Alte Zeiten standen vor ihm auf, die eigene Jugend, da er selber im Dachstübchen froh wie ein Vogel sein Lied gepfiffen hatte, frei von Sorgen; ein armer Teufel und doch so reich!
Wie bettelarm war er dagegen jetzt mit all dem Prunk um sich herum! Ach, wenn doch alles nur ein wüster Traum gewesen wäre, seine ganze Ehe, all diese entsetzlichen Jahre! Wenn er morgen aufwachen könnte nur noch mit einem dumpfen Erinnern an den schrecklichen Alp, der ihn über Nacht gequält hatte, wieder frei – frei und froh, ledig aller Fesseln, noch einmal imstande, von vorn anfangen zu können – seine Kunst, sein Leben!
Fröhlich lockend, wie verheißend, tönte das helle Klingen an Rennerts Ohr; er versank in ein verlorenes Sinnen. Die Hand mit der Zigarette glitt ihm unbewußt herunter, und die Linke stützte sich auf die Stuhllehne, den Kopf aufnehmend, der sich träumend zur Seite geneigt hatte.
So in sich versunken, hatte Rennert nicht gehört, wie hinter ihm die Tür gegangen war. Aber plötzlich machte ihn ein leises Geräusch auffahren. War denn jemand im Zimmer? Schnell fuhr er herum.
Sein Blick begegnete dem Hanna Mertens', die an der Tür stehen geblieben war. Sie mußte ihn schon eine Weile so still beobachtet haben.
Etwas befangen – ihm war, als habe sie eben seine Seele in ihrer Nacktheit belauscht – erhob sich Rennert, und doch froh darüber, daß sie wirklich gekommen war.
»Verzeihen Sie mein Eindringen hier, Fräulein Mertens,« bat er, auf sie zugehend. »Ich hörte, daß Veno mit dem Börner schon fort war, wollte aber auf die beiden warten. Vielleicht kommen sie bald wieder?«
Hanna Mertens erwiderte seinen Händedruck unbefangen.
»Aber bitte, ich bin ja selber nur Gast hier. Schade nur, daß Sie Herrn Professor verfehlt haben; er würde sich sicherlich herzlich gefreut haben, daß Sie so schnell gekommen sind.«
»Sie wissen also von seinem Brief?«
Sie wollte Rennerts forschendem Blick erst ausweichen, aber nur einen Augenblick lang, dann sah sie ihn offen an.
»Ja, wir haben gestern noch längere Zeit von Ihnen gesprochen.«
»Also habe ich mich eigentlich bei Ihnen zu bedanken.«
Sein Gesicht nahm einen Ausdruck an, daß sie befürchtete, er möchte Hubers Entgegenkommen nun nicht für voll nehmen und so die Versöhnung wieder in Frage stellen. Bittend sah sie ihn daher an.
»Es tut Herrn Huber ehrlich leid, Sie dürfen es mir glauben, wenn er es auch am liebsten nicht zugeben möchte. Sie kennen ja doch selbst seine Art!«
Die warme Sorge in ihren Augen tat ihm gut. Da lächelte er:
»Ja, ich kenne den alten Eisenfresser. Und darum genügt mir auch die Form, in der er sein Pater peccavi vorbringt. Er ist im Grunde ja doch ein guter Kerl.«
»Wahrhaftig! Ein Mann mit einem goldenen Herzen!« stimmte Hanna Mertens warm bei, und ersichtlich froh, daß sie alles ins reine gebracht sah. Sie begann nun schnell Hut und Mantel abzulegen.
Rennert beobachtete sie, wie sie dann, die schlanke Gestalt zurückgelehnt, mit wenigen Griffen ihr Haar ordnete.
»Sie kennen Huber schon länger?« fragte er wie beiläufig.
Sie antwortete nicht gleich, dann aber erwiderte sie, ohne nach ihm hinzusehen:
»Schon mehrere Jahre.«
Rennert trat zu ihrer Staffelei und besah das Bild, eine Landschaft, die sie nach einer darüber angehefteten Studie malte. Er betrachtete die Arbeit längere Zeit. Nun trat sie zu ihm, eine gewisse Spannung in den Zügen.
»Sie halten nicht viel davon?«
»O, das will ich nicht sagen,« gab er zurück und sah weiter auf das Bild.
»Bitte, seien Sie offen. Mir läge so viel an einem ehrlichen Urteil von berufener Seite.«
Er schaute ihr einen Augenblick in die Augen, dann zuckte er die Schultern, und ein bitteres Lächeln spielte um seine Lippen:
»Da kommen Sie bei mir an die falsche Adresse. Sie haben es ja gestern selbst gehört, was meine Kunstauffassung wert ist.«
»Und wenn ich Sie trotzdem darum bitte?«
Sein Blick drang tief in den ihren.
»Sie würden dessenungeachtet etwas auf mein Urteil geben?«
»Ja.«
Da leuchtete es warm in seinen Augen auf. Dann sah er noch einmal auf ihr Bild.
»Es fällt schwer, nach diesem einen Bilde etwas Abschließendes über ihre Begabung zu sagen. Man müßte mehr von Ihnen gesehen haben. Was Sie da gemacht haben, ist ja nicht schlecht, sehr brav sogar, aber – Sie wollen doch eine offene Meinung?«
Sie nickte nur stumm, aber entschlossen.
»Nun, sehen Sie, das können hundert andere auch. Was ich an Ihrer Arbeit eben vermisse, das ist das eigene. Sie sehen die Landschaft noch zu sehr durch die konventionelle Brille. Ich glaube, Sie müßten mehr vor der Natur arbeiten – freier, unabhängiger – und in einer anderen Natur arbeiten, die Ihnen mehr zu sagen hat.«
Hanna Mertens' Gesicht war ernst geworden. Sie sah auf ihr Bild hin, ohne etwas zu erwidern.
»Nun habe ich Ihnen doch zu viel gesagt,« bedauerte er.
Sie schüttelte den Kopf.
»Was Sie mir da eben erklären, hat Herr Börner gestern auch schon gesagt. Nur dachte ich, weil er doch eigentlich mehr Zeichner ist –«
»Aber nun wollen Sie ihm doch glauben?«
»Ich muß wohl, da auch Sie seine Meinung teilen.«
Eine leise Bedrücktheit klang aus ihrer Stimme. Sie tat ihm leid. In ihrer Seele war soeben ein Stück Glauben an sich selbst zerstört worden. Er wußte, wie das tat. Und näher zu ihr hintretend, die immer noch auf ihre Arbeit blickte, mit einem herben, verschlossenen Ausdruck in den Zügen, fragte er:
»Wie lange malen Sie schon?«
»Erst zwei Jahre. Aber es fehlt mir an einer regelrechten Schulung. Ich bin eigentlich Autodidakt!«
»Das wäre an sich noch kein Unglück,« meinte er beschwichtigend. »Das bißchen Technik kann jeder lernen, immer noch. Die Hauptsache ist der innere Beruf. – Warum malen Sie eigentlich?«
Sie blickte betroffen zu ihm auf.
»Meine Frage klingt Ihnen sonderbar, vielleicht auch indiskret. Aber trotzdem, wenn Sie mir so viel Vertrauen schenken wollen, sagen Sie mir es, bitte.«
Er blickte sie ernst an und fuhr fort:
»Sehen Sie, es gibt viele, die pinseln nur zum Zeitvertreib. Wenn's bei Ihnen auch nur das wäre – in Gottes Namen, immer munter weiter! Kommt ja gar nicht darauf an. Aber wenn es Ihnen Herzenssache wäre, oder des Broterwerbs wegen, ja, dann ist die Sache doch anders – dann wäre es vielleicht doch Pflicht, Sie noch beizeiten vor einer eventuellen schmerzlichen Enttäuschung zu bewahren, die verhängnisvoll für Sie werden könnte.«
Sie sah ihn mit einem ruhigen, tiefen Blick an.
»Ich danke Ihnen – aufrichtig. Sie meinen es gut, wenn Sie mir auch im Augenblick weh tun. Und darum will ich Ihnen auch offen antworten: Ja, es ist mir Herzenssache mit dem Malen! Es ist mein Sehnen, solange ich denken kann, darin etwas zu leisten.« Ein warmes Leuchten strahlte in ihren klaren, grauen Augen auf. »Ich habe Jahre hindurch die schwersten Opfer gebracht, um mich ausbilden zu können. Nun bin ich so weit, und es hieße mir das Lebensziel nehmen, sollte ich meine Kunst aufgeben.«
Sie sah mit erregten Mienen zu ihrem Bilde hin.
Rennert war sehr ernst geworden, wie er es so in heiliger Begeisterung in ihrem Antlitz aufglänzen sah, und er erwog jedes Wort, ehe er ihr nun antwortete:
»Das hat meine Warnung vorhin auch nicht unbedingt gewollt.«
Ihre Augen hingen in banger Erwartung an seinem Munde.
»Sehen Sie, Fräulein Mertens, die Sache liegt so: Es ist möglich, daß in Ihnen noch etwas Besonderes steckt, was geweckt werden kann, was Ihre Arbeiten über den Durchschnitt hinauszuheben vermag. Tritt das ein, dann hat die innere Stimme in Ihnen recht gehabt. Sollte diese Sie aber getäuscht haben« – er zuckte vielsagend die Achseln – »ein verpfuschtes Leben, Geld und Zeit verloren, die Sie zur Gründung einer befriedigenden Existenz hätten verwenden können. Also, alles in allem ein Lotteriespiel – die Chancen für und wider im besten Falle gleich. Nun haben Sie selbst zu entscheiden.«
Hanna Mertens stand unbeweglich, ihre Augen waren wieder zu ihrer Arbeit hinübergeglitten. Mit gefalteter Stirn und zusammengepreßten Lippen musterte sie kritisch ihr eigenes Schaffen, ganz aus sich selbst heraustretend, ihr eigenes Können mit unerbittlich scharfen Augen begutachtend, Wertvolles und Minderwertiges kühl gegeneinander abwägend.
Lange stand sie so unbeweglich da. Dann aber sah er, wie ihre Brust sich in tiefem Atemzuge hob, und entschlossen wandte sie den Kopf nach ihm:
»Ich wag's – ich muß!«
Er sah ihr in das etwas blasse Antlitz, das eine hohe Energie durchleuchtete, so daß es in dieser Minute fast schön war. Da nickte er zustimmend:
»Dann tun Sie recht, wie es auch kommen mag. Und – Reue werden Sie nicht kennen?«
»Nie!« kam es fest von ihren Lippen.
»Glücklich, wer das von sich sagen kann.«
Bitter sagte er es, und langsam wandte er sich von ihr ab, um die erloschene Zigarette drüben an dem Rauchtischchen wieder zu entzünden.
»Reue ist nichts – besser machen alles!«
Wie ein Aufrütteln-Wollen klang das Wort zu ihm herüber, während er sich Feuer gab.
»Wenn es nicht schon zu spät ist.«
Müde kam seine Antwort, während er den Rauch von sich blies.
Mit einem stummen, drängenden Blick sah sie zu ihm hin.
»Es ist nie zu spät für den, der will.«
»Doch vielleicht – wenn es nichts mehr zu retten gibt.«
Schwer fiel das Wort in den stillen Raum, und langsam ließ sich Rennert auf den Sessel nieder.
Da trat sie unwillkürlich auf ihn zu.
»Nichts mehr? Auch nicht mehr den göttlichen Funken wahrer Kunst?«
Düster starrte er vor sich hin.
»Der ist erloschen – in jahrelanger Fron vor einem Götzenbilde.«
Es klang hoffnungslos.
Da entfuhr es ihr:
»So zertrümmern Sie den Götzen!«
Das Wort traf ihn wie ein Hammerschlag.
So zertrümmern Sie den Götzen! Die Afterkunst, der er diente, hatte sie gemeint, wie sie das Wort ihm hinwarf; aber in seinen Ohren hatte es einen ganz anderen Sinn bekommen.
Zertrümmern Sie den Götzen! Und er sah plötzlich das ewig süße, lächelnde Bild vor sich, das er verabscheute, haßte – das Bild seiner Frau.
Schwer ging sein Atem, wie er Hanna mit einem Blick anstarrte, der deutlich verriet, daß es erregt hinter seiner Stirn arbeitete.
Wohl war in Rennert schon manchmal als letzter rettender Ausweg der Gedanke aufgetaucht, sich von der Frau loszumachen, die sein Verderben war. Aber die Zweifelsucht, die sein ganzes Wesen zerfraß, hatte ihm immer gleich wieder zugerufen: Was würde dir das nutzen? Es ist ja zu spät! Du kannst doch nicht mehr etwas Rechtes schaffen, du bist in deinem Inneren zu sehr zerstört. Eine Künstlerseele muß wie ein klarer, stiller Wasserspiegel sein, der all das Schöne, das an ihn herantritt, groß und rein wiedergibt. Aber was soll die trübe, bis in den Grund aufgestörte Flut widerspiegeln?
Dazu war noch das Mitleid mit seiner Frau gekommen. Sie war ja nicht eigentlich schlecht; sie war sich in ihrem naiven Egoismus dessen gar nicht bewußt, was sie an ihm tat. Wenn er nur ein anderer gewesen wäre, ein skrupelloser, geschickter Macher, mehr lächelnder Lebenskünstler, so hätte er die denkbar glücklichste Ehe mit seiner Frau führen können. Sie hatte ihn ja auf ihre Art liebgehabt; wie solche Naturen eben lieben können. Hätte er nur munter darauf los gemalt, vergnügt sein schönes Geld eingestrichen und seine kleine Frau wie ein reizendes Püppchen angeputzt und verhätschelt – er hätte ein Leben wie im Himmel haben können.
Schließlich lag also die Schuld doch nur an ihm, daß er es nicht so machte. Oder war das sein Unglück, daß er es nicht konnte? Aber sollte er sie darum so hart strafen? Nur deshalb, weil sie eben sie selbst war? Sollte er sich von ihr lossagen, ihr Leben zerstören? Warum hatte er nicht beizeiten die Augen aufgemacht, ehe er sich für immer band? Jetzt war es nur seine Pflicht und Schuldigkeit, das Wort auch zu halten, mit dem er sich ihr angelobt hatte.
Das alles schoß ihm auch jetzt wieder durch den Kopf, und langsam ging er endlich auf die Worte von Hanna Mertens ein, wie sie diese gemeint hatte, und erwiderte:
»Wenn ich den Götzen wirklich zertrümmerte, wer sagt Ihnen, daß mir das jetzt noch etwas nützte? Und vor allem: Die Hand ist gebunden, die den befreienden Streich führen sollte.«
Sein Blick streifte unwillkürlich seine Rechte, die den Goldreif trug.
Hanna folgte diesem Blick und verstand. Einen Augenblick kämpfte sie mit sich. Dann aber sagte sie fest:
»Die Fesseln, durch die Sie gebunden sind, dürfen Sie nicht hindern, sonst –«
»Sonst?«
»Müssen Sie sie zerreißen!«
Er zuckte zusammen; mit großen Augen starrte er sie an. Aber ihr Blick, in dem jetzt etwas stählern Hartes lag, hielt den seinigen ohne zu zucken aus.
»Das sagen Sie mir? Eine Frau?«
»Es gilt Ihre Existenz. Der Selbsterhaltungstrieb ist das oberste Gesetz.«
Ein Zug unbeugsamer Energie trat um ihre Mundwinkel.
Wortlos sah er auf sie. Was steckte hinter diesem stillen Mädchen? Es war ihm, als sähe er plötzlich eine ganz Fremde vor sich. Wenn er an neulich dachte, wie sie sich da so weiblich warm gezeigt hatte, und jetzt?
Aber hatte sie nicht recht?
Kam ihm nicht aus ihren Worten mit hartem, ehernem Klang eine Wahrheit entgegen, die jetzt bei ihm im tiefsten Herzen ein Echo auslöste?
Er war im Begriff, zugrunde zu gehen als Künstler und Mensch. Seine Frau war es, die ihn dem Abgrund zudrängte. Hatte er da nicht das Recht, sich gegen sie zu stemmen, mit ihr zu ringen? Ich oder du!
Rennert sprang plötzlich von seinem Stuhl auf und begann erregt im Atelier auf und ab zu gehen.
Hanna Mertens folgte von ihrem Platze aus mit den Blicken dem hin und her Schreitenden; äußerlich war sie ganz ruhig, unbeweglich, und doch pochte ihr das Herz bis in den Hals hinauf.
Sie wußte, sie hatte den zündenden Funken in die Seele dieses Mannes geschleudert. Nun griff der Brand um sich. Ein Zagen befiel sie nun doch: Hast du recht getan? Kannst du das verantworten, vor dir selbst und – jener Frau?
Der Kopf senkte sich ihr auf die Brust, und scharfe Falten, die sie plötzlich viel älter erscheinen ließen, traten auf ihre Stirn.
So waren sie beide eine Beute ihrer quälenden Gedanken.
Plötzlich aber trat Rennert vor sie hin.
»Was haben Sie mir da gesagt?« Tiefer drang ihr sein Blick ins Auge, mit der ganzen Schwere eines sich durchringenden Entschlusses. »Wissen Sie, was Sie soeben getan haben?«
Da richtete sie sich hoch auf; sie war mit sich klar geworden.
»Ja – und es war recht so.«
Wie sie ihn dabei so unerschütterlich, so überzeugt ansah, da kam es über ihn: In diesem Moment entschied sich sein Lebensschicksal!
Schweigend drangen die Blicke der beiden ineinander, jedes dem anderen bis auf den tiefsten Grund der Seele schauend.
Dann brach Hanna die entscheidungsschwere Stille, wie um eine stumme Frage zu beantworten, die in seinen Augen lag.
»Ich habe ein Recht, so zu sprechen. Auch ich habe um der Not willen, die mich zwang, Bande zerrissen, die mir einst heilig waren. Ich wollte nicht anderen zuliebe zugrunde gehen.«
Es zitterte eine leise Leidenschaftlichkeit aus ihren Worten, ein Andeuten, was ihr das an innerstem Gut gekostet haben mochte.
Da fühlte er: Er hatte einen Schicksalsgefährten gewonnen, einen, der sein Los teilte, der ihn bis in die Tiefen seiner Seele verstand, der ihm in dem Kampf, den er nun führen würde, zur Seite stand.
Ja, er wollte ihn! Ein neuerfachter Wille straffte ihm plötzlich die Nerven, die so lange in träger Schlaffheit entspannt waren. Ein Wille zum Kampf, denn der Glaube an den Sieg war in dieser Stunde über ihn gekommen.
Schon vorhin, wie er, der verlorenen Melodie lauschend, so träumend dasaß, hatte er da nicht visionär empfunden, es könnte noch einmal alles gut mit ihm werden? Wenn er nur noch einmal ganz von vorn anzufangen vermöchte! Und nun jetzt, wo er es an einem lebendigen Beispiel vor Augen sah, wie ein Mensch die Ketten gesprengt und sich frei aufgerichtet hatte, die alte Kraft in den so lange gelähmten Armen wiedergewinnend und neue, stärkere dazu – da schwand der nagende Zweifel an sich selbst, der ihm bisher immer die Hand mutlos hatte niedersinken lassen, wenn sie sich je einmal gegen die Fessel hatte kehren wollen.
Aber nun wollte er die Entscheidung herbeiführen und nicht zaudern. Keine Minute mehr verlieren, wo kostbare, unersetzliche Jahre schon nutzlos dahingegangen waren!
Und plötzlich griff er nach Hut und Handschuhen.
»Sie wollen schon gehen?«
Ungewiß, fast bang, sah Hanna Mertens auf ihn.
Aber ein freies, stolzes Leuchten brach aus seinen Augen. Straff aufgerichtet stand er vor ihr, fast schien es ihr, auch körperlich gewachsen. So hielt er ihr die Hand hin.
»Ja, Fräulein Mertens, ich gehe – den Weg, den Sie vor mir geschritten sind.«
Ein kraftvoller Druck preßte ihre Rechte.
»Wenn Sie mich wiedersehen – bin ich ein Freier!«