Paul Grabein
Die Herren der Erde
Paul Grabein

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Auf Zeche Willibrod rauschten dumpf gurgelnd und tosend, unaufhörlich, bei Tag und Nacht, die Wasserfluten hinab in die Tiefen der Schächte, das ganze gewaltige Grubenfeld mit seinem Netz von Hunderten von Strecken und Örtern ausfüllend bis zur Firste. Die verheerenden Gewalten der Flammen wurden so vernichtet, aber andere lösten sie ab – das Wasser stand in der Wut der Zerstörung dem vertriebenen Feuer nicht nach.

Und daß dem anscheinend der Vernichtung geweihten Werke der letzte und schlimmste Gegner nicht fehle, auch der Mensch war mit im Bunde – das düstere Schreckgespenst des Streiks erhob sich drohend auf Zeche Willibrod wie auf allen anderen Heckesschen Werken.

Wie ein dumpfes Wettergrollen drang die Kunde davon hinaus in den Industriebezirk, in das ganze Land, in dem noch die Erregung über die ungeheure Grubenkatastrophe auf Willibrod nachzitterte.

Streik in Aussicht auf den Heckesschen Werken – das war ja keine private Angelegenheit mehr! Zwanzigtausend Arbeiter im Ausstand, hunderttausend Menschen in Mitleidenschaft gezogen – ein Vorgang von tiefeinschneidender Bedeutung.

Im engeren Bezirk, im Kohlenrevier wurden die Mienen ernst, wuchs eine dumpfe Unruhe groß – wenn der Funke übersprang auf die anderen Werke, gerade jetzt, wo das Geschäft wieder anzog!

Und auch im ganzen Reich begannen sich die Blicke auf den Industriebezirk zu richten. Drohende Gerüchte schwirrten schon durch die Blätter, von einer bevorstehenden, allgemeinen Aktion der westfälischen Grubenarbeiter, einem geplanten Generalstreik der dreihunderttausend Mann, die dort im Kohlenbergbau beschäftigt waren – eine schwere, wirtschaftliche Krise, die die deutsche Industrie, ja schließlich die gesamte Bevölkerung in Mitleidenschaft ziehen würde, handelte es sich doch um die Kohle, das Hausbrandmittel von hoch und niedrig.

Und man begann dem Ausgangspunkt der drohenden Bewegung seine Beachtung zu widmen – den Vorgängen auf Zeche Willibrod. Es wurde schließlich zu einer ständigen Rubrik in den Zeitungen: »Die Arbeiterbewegung auf den Heckes-Werken«, eine Rubrik, in der bald immer lauter Töne wachsender Leidenschaft angeschlagen wurden.

Was ging da eigentlich vor? Die Öffentlichkeit hatte ein Recht, es zu wissen. Und bald hörte sie es, von allen Seiten, nur zu vernehmlich:

Höchst bedenkliche Dinge – schreiende Mißstände – eine förmliche Reinkultur all der verhängnisvollen Begleiterscheinungen des modernen Kapitalismus, der gigantisch angewachsenen Großbetriebe amerikanischen Stils. Die Willkür krasser Herrschsucht, man jagte eines schönen Tages Hunderte von willigen Arbeitern ohne jeden Grund davon, man kaufte Zechen auf, nur um sie stillzulegen, um blühende, im Aufwachsen befindliche Ortschaften dem Ruin auszuliefern. Aber noch Schlimmeres, viel Schlimmeres! Man trieb in der Grube einen überhitzten Raubbau, der mit dem Leben der Arbeiter in unerhörter Weise spielte – die entsetzliche Katastrophe auf Willibrod nur die grauenhafte Probe aufs Exempel! – und nun, wo jetzt die Arbeiterschaft aufgestört, geängstigt, selber vom gleichen Schicksal bedroht, das doch nicht mehr als billige Verlangen stellte, wenigstens für die Zukunft ihr Leben besser sicherzustellen – eine harte, brutale Ablehnung!

War es denn zu glauben? Wer war dieser Herr Magnus Heckes, daß er wähnte, Recht und Billigkeit mit Füßen treten zu können? Hallo – noch hatten wir doch nicht bei uns, Gott sei Dank! amerikanische Verhältnisse, wo diese Kohlenmagnaten und Stahlkönige sich alles herausnehmen können, wo der Dollar regiert! Nein, noch lebten wir doch in einem Rechtsstaat. Aber wo blieb der Staat, wo die Regierung? Noch war es still da oben – wollte man etwa warten, bis es zu spät war? Videant consules!!

Und das Geschrei wuchs, ward von Tag zu Tag der Differenzen mit jeder weiteren, beunruhigender Meldung größer – da begannen denn doch die Federn der Regierungsmaschine im geheimen zu spielen.

Man trat an Magnus Heckes vertraulich heran, erst von seiten der Berufsgenossen, dann kamen Herren der Behörden – ob denn nicht ein friedlicher Ausweg möglich sei, eine Einigung, ehrenvoll für beide Teile.

Aber Magnus Heckes blieb unbeugsam. Er sah weiter als die andern. Er kämpfte hier nicht für sich allein – der Ausgang dieses Streitfalls würde ausschlaggebend sein für die ganze Kohlenindustrie; gab er heute nach, so kamen morgen all die andern daran. Und die Arbeiterschaft würde nicht stehen bleiben bei dem Errungenen; es würden immer neue Forderungen kommen, die Lohnfrage würde aufgerollt und damit an das Gedeihen der ganzen Kohlenindustrie die rüttelnde Faust gelegt werden.

Die Herren, die Berufsgenossen nickten mit tiefernsten Mienen: Wohl wahr, alles sehr richtig – aber trotzdem! Wenn man doch vielleicht um die Sache herumkäme – der geheime Wunsch, jener möchte allein die Kosten zu bezahlen haben.

Doch Magnus Heckes lächelte nur, sein leises, kaltes Lächeln; er kannte diese frommen Wünsche. Aber sie würden vergebens auf die Erfüllung warten. Mit eiserner Entschlossenheit ging er seinen Weg.

Noch zweimal hatte er Arbeiterabordnungen empfangen – natürlich resultatlos. Dann wurde ihm ein Ultimatum der Arbeiterschaft übermittelt: Falls er nicht binnen drei Tagen ihre Bedingungen annähme, so würde die gesamte Belegschaft nunmehr wirklich in den angedrohten Ausstand treten. Und einzelne der Leute blieben daraufhin schon jetzt von der Grube fort.

Magnus Heckes erwiderte mit Anschlägen auf allen Werken: Die unter Kontraktbruch nicht mehr zur Arbeit gekommenen Leute wären hiermit entlassen – ihre Wiedereinstellung auf seinen Werken ausgeschlossen. Dies Schicksal würde jeder teilen, der nicht sofort bedingungslos sich der bestehenden Arbeitsordnung unterwürfe.

Das war der Funke ins Pulverfaß. Am selben Abend noch stürmisch erregte, bis tief in die Nacht hinein dauernde Verhandlungen, und am andern Morgen meldete es der Telegraph in alle Himmelsrichtungen:

»Streik auf den Heckesschen Werken!«

Von der nach Tausenden zählenden Belegschaft jeder seiner Zechen waren nur Hunderte eingefahren – gerade soviel wie etwa nötig waren, um die Arbeiten zur Instandhaltung der Grube zu bewältigen; die Förderung aber war stillgelegt auf allen seinen Werken.

Doch Magnus Heckes empfing den Schlag nicht unpariert. Schon seit Tagen waren seine Werber an der Arbeit gewesen, binnen kurzem würden Ersatzkräfte dasein aus den östlichen Provinzen, aus dem Auslande – er würde weiter fördern, trotzdem!

Die Kunde davon drang gleichfalls hinaus, und eine ungeheure Erregung war das Echo. Die Arbeiterschaft bisher noch ruhig, bloß passiv in ihrem Widerstand, entbrannte im Zorn der Enttäuschung: vergeblich ihr Widerstand, die Opfer und Entbehrungen, zu denen sie sich entschlossen hatten – der da schaltete sie einfach aus, machte sie allesamt brotlos. Mit seinen Millionen holte er sich seine Arbeiter anderswoher. Und die aufbrandende Wut kehrte sich nicht nur gegen ihn, sondern alle, die ihm beistanden: seine Beamten, die noch Arbeitswilligen, die »Streikbrecher«, und die neu Herzuziehenden. Der Ausstand auf den Heckesschen Werken ging zum Aufruhr über.

Und die ungeheuere Erregung mitten im Herzen des Kohlenreviers zündete weiter. Solidarität mit unseren Kameraden auf den Heckesschen Werken! – wie mit einem Schlage war es die Parole im ganzen Industriebezirk.

Keiner wußte recht, wie es geschah – außer denen, die wie Freukes im verborgenen gewühlt hatten schon seit langem und die nun den großen Moment da hatten zum Losschlagen – förmlich über Nacht war es gekommen: fast die gesamte Belegschaft des Kohlenreviers, an dreihunderttausend Bergleute, erhob sich wie ein Mann, machte die Sache der Heckesschen Kameraden zu der ihren, forderte von ihren Zechen die gleichen Bedingungen, größeren Schutz und – da war es – Erhöhung des Lohnes!

Generalstreik im westfälischen Kohlenbezirk, im deutschen Industriezentrum! Der ganze Wirtschaftsorganismus des Landes verspürte den Schlag. Die Börsen schwankten, rapide Kursstürze, Zahlungseinstellungen von Firmen, Tausende von Kontoren in Sorge und Unruhe . . . und überall im Reich fiebernde Erregtheit: der Winter vor der Tür, und nun die unausbleibliche Verteuerung der Kohle, empfindliche Schädigung, Not des kleinen Mannes. Mußte das sein? Warum gab man den Forderungen der Bergarbeiter nicht nach? Den armen Teufeln waren doch die paar Groschen täglich mehr wirklich zu gönnen – was konnte es den Kohlenbaronen darauf ankommen? Sie sackten auch so noch genug ein.

Und die Sympathien für die Ausständigen gingen hoch, noch höher die Wellen der öffentlichen Entrüstung gegen die Zechenbesitzer, als sie nicht sogleich nachgaben.

Wenn man dort bisher auch mit geteilten Empfindungen dem partiellen Ausstand auf den Heckes-Werken zugesehen hatte, nun war das mit einem Schlage anders geworden – jetzt spürte man die schwielige Faust an der eigenen Kehle, nun war man selber in der Notwehr. Und wie die Arbeiter drängten sich plötzlich auch die Arbeitgeber zusammen – Macht gegen Macht. Das große Ringen begann: wer war der Herr der Erde?

Mit bangen Blicken schaute die Welt dem sich entspinnenden, gigantischen Ringen zu.

* * *

Auf dem Werke, dessen Leitung der Bergrat Vermeren hatte, waren sämtliche höhere Beamten versammelt – eine Stunde von ernstester Bedeutung – da draußen vor der Tür stand der Arbeiterausschuß.

Bisher war hier die Arbeit noch ungestört fortgegangen. Das Werk lag abseits vom eigentlichen Industriebezirke, nahe dem Rhein, und man hatte einen Stamm seßhafter, langjähriger Arbeiter, mit dem die Beziehungen immer gut gewesen waren. Doch seit ein paar Tagen waren die Hetzapostel auch hier an der Arbeit gewesen. Ganze Haufen, Hunderte von Streikenden, waren schließlich aus den nächstgelegenen Ausstandsgebieten hergezogen gekommen, hatten gewühlt und gehöhnt, an das kameradschaftliche Gefühl der Belegschaft hier appelliert, und gestern abend war es so zu einer großen Arbeiterversammlung gekommen. Ein paar Steiger, die dabeigewesen, hatten heute morgen gemeldet: Nach langen, erregten Debatten hätte die Mehrheit gesiegt, die für den Streik auch hier entschlossen war, falls ihnen die Zeche nicht die von den Heckesschen Arbeitern aufgestellten und zur allgemeinen Streikparole erhobenen Bedingungen bewilligte.

Nun hatten eben die höheren Beamten des Werks unter dem Vorsitz des Bergrats ihrerseits zu der Frage Stellung genommen, und Vermeren faßte das Resultat der Aussprache kurz noch einmal zusammen:

»Also, meine Herren, es kann kein Zweifel darüber bestehen – die Bedingungen, die man uns aufnötigen will, sind für uns unannehmbar. Sie wissen ja alle, ich bin stets für eine friedliche Einigung, für beste Beziehungen mit unserer Arbeiterschaft – aber auch da gibt es Grenzen. Wenn es sich um eine wirkliche, schwere Notlage handelte, die die Arbeiter in den Kampf trieb, ich wäre selbst der erste, der sagte: Wir wollen sehen, ob wir den Leuten nicht entgegenkommen können. Aber hier handelt es sich um eine mutwillig vom Zaune gebrochene Gelegenheit – eine Kraftprobe, eine reine Machtfrage.«

Der Bergrat sah bei Volkmar Heckes, dessen Augen achtungsvoll an den Lippen des verehrten Mannes hingen, eine unwillkürliche, leise Bewegung, wie einen stummen Einwand, und er fügte ergänzend hinzu:

»Gewiß, ich weiß, unsere Leute haben das nicht aus sich heraus, die sind nur verhetzt, von den andern aufgestachelt – aber das kommt im Effekt auf dasselbe hinaus. Ich habe immer den Standpunkt vertreten und vertrete ihn so auch diesmal: Arbeiter sind für mich wie Kinder. Man soll sie gut, mit Wohlwollen und Menschlichkeit behandeln, ein warmes Herz für sie haben – aber ihnen nie die Zügel schießen lassen. Konsequent und streng, wo's nötig ist. Und hier ist es nötig. Gäben wir jetzt nach, so erzeugten wir bei ihnen nur Begehrlichkeit und ein Bewußtsein ihrer Macht, das sie leicht zum Mißbrauch verführen könnte. – Aber ganz abgesehen davon, sprechen ja auch rein sachliche Gründe gegen ein Nachgeben, und ich sagte Ihnen ja auch schon, die Herren vom Aufsichtsrat halten es für richtig, daß wir uns von dem Handinhandgehen aller großen Werke im Bezirke nicht ausschließen. Nach allem ist uns also unser Standpunkt fest vorgeschrieben – Hat einer der Herren sonst noch etwas vorzubringen? Nein? Nun gut – dann bitte ich, die Leute hereinzuführen.«

Volkmar Heckes, der jüngste hier im Kreise, erhob sich sofort, um der Aufforderung nachzukommen. Ein paar Minuten später trat der Arbeiterausschuß ein. Ersichtlich verlegen, den Hut in der Hand drehend und mit unsicheren Blicken, blieben die Männer nahe der Tür stehen. Sie hatten sich alle zu dem Erscheinen vor ihrer Direktion in den schwarzen Anzug geworfen, eine Achtungbezeugung, die allein schon bewies, daß man es hier mit keinem schlechten Menschenmaterial zu tun hatte.

Mit einem aufrichtig bedauernden Blick ließ daher auch Vermeren sein Auge über die Leute gleiten; darunter manche, mit denen er schön an fünfzehn, ja zwanzig Jahre zusammengearbeitet hatte, ohne je eine ernste Differenz gehabt zu haben.

»Nun, treten Sie nur näher und setzen Sie sich.«

Seine Stimme hatte den gewohnten freundlichen Ton, wie er sie so an den Konferenztisch winkte, wo gegenüber den Beamten Stühle auch für sie bereitstanden.

Beklommen, fast mit einem Gefühl von Beschämung traten die Leute heran. Dieses Wohlwollen, auch jetzt noch, wo sie mit feindlicher Absicht kamen, verwirrte sie vollends. Keiner brachte ein Wort heraus.

»Na, was wollen Sie uns denn sagen? Klapdohr,« er sah den Ältesten der Leute an, »nun, erzählen Sie es uns nur ruhig, wir wissen ja doch schon, worum es sich handelt. Sie wollen nun auch streiken – nicht wahr?«

Der Mann kämpfte ersichtlich mit sich, dann holte er tief Atem zu einem Entschluß und nickte treuherzig, beinahe traurig sah er den leitenden Direktor dabei an.

»Jo, Hähr Bergrat, dat is all nich anners. Wi möt nu woll ok streiken.«

»So, Klapdohr, müssen Sie das wirklich?«

Der Angeredete zuckte verlegen die Achseln, aber antwortete nichts.

»Na, nun sagen Sie mir doch wenigstens, warum müssen Sie denn? Sind Sie denn unzufrieden mit uns hier? Werden Sie schlecht behandelt von uns oder den Beamten sonst?«

Fast entrüstet schüttelte der Mann den Kopf.

»Wu könnt wi woll sowat seggen! Ne, Hähr Bergrat – deswegen kann kener nich vön us klagen.«

Und er sah die Kameraden auffordernd an, die alle durch lebhaftes Kopfnicken beistimmten.

»Na, was ist denn aber sonst der Grund? Sie müssen doch wissen, was Sie eigentlich in den Streik treibt. So was ist doch eine bitterernste Sache, Klapdohr, für beide Teile. Denken Sie doch auch mal daran. Sie fügen Ihren Arbeitgebern einen schweren Schaden zu, beim letzten Streik – Sie werden das ja wissen, ist manche Zeche stillgelegt worden, manche Grube ersoffen – aber Sie schädigen doch auch genau so schwer, vielleicht noch schwerer sich selbst, Ihre armen Frauen und Kinder. Also ehe man sich wirklich in solch einen Kampf stürzt, da muß man doch wissen, warum, ob einem auch wirklich nichts anderes übrig bleibt. Nun, und ist das nun so bei Ihnen? Zwingt Sie etwas in diesen Verzweiflungskampf hinein?«

Die Miene Klapdohrs wurde immer ernster und bedrückter. Auch in den ehrlichen, ruhigen Gesichtern der anderen spiegelte es sich deutlich wider: sie handelten nicht aus freier Überzeugung, sondern gehorchten nur einem Druck von außen her. Und endlich antwortete er:

»Wi sind jo sowit all ganz tofreden un möchten jo ok woll gern noch Freden hollen, obers wi könnt doch nich. Wi möt doch tosammenhollen mit use Kameraden, wi möt doch solidarisch mit ehn sin – wi willt us doch nich Hundsfotts vön Streikbrecher schimpen loten –«

Vermeren nickte seinen Herren zu: da war es ja klar heraus – nur aufgehetzt von den Brandreden, mit tönenden Schlagwörtern gebannt und irregeleitet – war es nicht eigentlich schändlich?

Auch Volkmar sah, innerlich bewegt, zu den Männern hin. Ein warmes Mitleid faßte ihn. Daß diese braven, ehrlichen Männer sich so verblenden ließen, durch ein falsches Ehrgefühl! Könnte man ihnen doch mit Gewalt die Augen öffnen, daß sie erkannten, wem eigentlich sie die Geschäfte besorgen sollten, wer die zweifelhaften Dunkelmänner waren, die unter der Flagge: »Fürs arme, unterdrückte Volk« im trüben fischten.

Aber hier würde alles Reden nichts helfen, und so einer mit Engelszungen predigte – die Entwicklung der Dinge nahm ihren Lauf, unaufhaltbar. Das wußte ebensogut auch Vermeren, und so sagte er denn aufstehend:

»Ja, wenn's so ist, Klapdohr, dann wird ja alles nichts helfen. Dann werdet ihr schon streiken müssen.«

»Jo, dat möt wi nu woll.«

Auch die Männer hatten sich erhoben, und traurig nickte der Wortführer zu Vermeren hin. Es erschien ihm wie eine drückende Undankbarkeit gegen den Leiter des Werks, der ihnen allzeit ein gütiger Vorgesetzter gewesen war. Und er blieb stehen, als hätte er ihm noch etwas zu sagen.

»Na, haben Sie noch was, Klapdohr?«

»Ach, ick wollt Ju man bitten, Hähr Bergrat, dat Se us dat nich verübeln möchten. Wi hewt nix geggen Ju un de annern Hährn Direktoren und Beamten ok nich – et is man ja man bloß wegen die Solidarität.«

Es lag etwas Rührendes in der kindlichen Art des Mannes, dem die Gutmütigkeit aus den Augen leuchtete. Auch Vermeren konnte sich dem nicht entziehen, und in einem warmen Impulse reichte er plötzlich dem vor ihm Stehenden die Rechte:

»Das freut mich, Klapdohr, und darum also, keine Feindschaft zwischen uns! Müssen wir jetzt auch kämpfen miteinander, leider Gottes, so wollen wir doch anständige Leute bleiben, nicht wahr? Ich habe also zu euch allen das Vertrauen, daß es hier zu keinen Ausschreitungen kommen wird. Kann ich mich darauf wenigstens verlassen, Klapdohr?«

»Jo, dat könnt Ji, Hähr Bergrat!«

Die breite, harte Hand des Mannes preßte die Rechte Vermerens. Das würden sie ihm nicht vergessen, daß er sie so behandelte, auch jetzt noch. Und feierlich erklärte er nochmals:

»Do könnt Ji Ju drup verloten – dor willt wi all tosammen vör instohn!«

So brach der unvermeidliche Ausstand auch hier aus. Aber Volkmar nahm aus dieser Stunde trotzdem etwas innerlich Erhebendes mit fort.

War das, was er hier eben mit eigenen Augen gesehen hatte, nicht ein lebendiger Beweis für seine innerste Überzeugung, die er sich errungen hatte drüben auf den Werken seines Vaters, wo eine solche Szene ja nie denkbar gewesen wäre:

Nicht durch kaltherziges Herrschen, durch äußere Machtmittel wurde man zum Herrn der Erde. Nein – wenn die Erreichung dieses Ziels einem Irdischen überhaupt beschieden war – durch Liebe nur konnte es geschehen! Durch die warm aus dem Herzen quellende Liebe, die alle diejenigen gütig umfaßte, die sich da still im Joch der Arbeit mühten.

* * *

Mutter Freukes saß mit sorgenvoller Miene in ihrem kleinen Häuschen, in dem sonst immer Frohsinn und Zufriedenheit geherrscht hatten. Im Schein der Lampe erschien ihr Antlitz tief gefurcht und welk – das war so gekommen seit jenem Tag, wo sie ihr die Kunde ins Haus gebracht hatten: Ihr Jupp, ihr ganzer Stolz, er läge mit hundert anderen drunten in der brennenden Grube. Mit jenem Moment war die so lange erhaltene jugendliche Kraft von Mutter Freukes zusammengebrochen – eine vergrämte, alte Frau schlich seitdem müde im Häuschen hier umher.

Und dann all das andere, was mit jenem Unglück gekommen war: der schreckliche Streik, die Unruhen auf dem Werk, daß man kaum noch seines Lebens sicher war. Denn ihr Mann, der alte Freukes, war ja einer von den wenigen, die noch immer zur Arbeit gingen; er hielt treu zum Werk, mit dem er seinerseits stets zufrieden gewesen war.

Aber diese Treue wurde ihm und den paar anderen Arbeitswilligen schwer gemacht. Die Streikenden verfolgten sie auf dem Weg zur Zeche mit gemeinsten Schimpfworten und Drohungen. Heimlich, schon viel früher als nötig, schlich sich daher Vater Freukes nur noch zur Arbeit fort.

So war es auch heute gewesen, zur Nachtschicht. Ob er wohl gut hinübergekommen sein mochte? Voller Sorgen dachte es die alte Frau, dann aber schweiften ihre Gedanken ab. Doch zu nichts Frohem. An ihren Ältesten mußte sie denken, den Maschinisten, der ja der Anführer geworden war bei dem ganzen Streik, wie er hier vor ein paar Tagen seinen eigenen Vater im grauen Haar so ingrimmig angefahren, ihn einen Streikbrecher, einen Verräter an der Sache der Arbeiterschaft gescholten hatte, bis ihm der Alte schließlich die Tür gewiesen.

Was war das alles so tieftraurig! Da saßen sie nun zu Hause bei dem Sohne, die arme Frau und die vier Kinderchen, mit den paar Streikgroschen – der Mann ohne Brot . . . Ach Gott, er würde ja auch nirgends mehr welches finden. Wer würde ihn wieder anstellen wollen, der so hetzte gegen seinen Brotgeber?

Tiefer sank der alten Frau der Kopf. Sie war so müde. Mitunter mußte sie denken, was ihr sonst stets wie eine Sünde vorgekommen wäre, es wäre doch das beste, wenn sie von all dem nichts mehr zu sehen und zu hören brauchte.

Da plötzlich ein schmetterndes Klirren und dann ein dumpfes Aufschlagen auf den Fußboden! Erschrocken fuhr die alte Frau vom Stuhl auf.

Was war das?

Zitternd sah sie sich in der ganzen Stube um. Sie hatte doch draußen abgeriegelt, wie es dunkel wurde; etwas, was sie früher auch nie gekannt hatte.

Aber da war auch keiner, nur dort – auf dem Fußboden, mitten im Zimmer, lag ein Stein, mit einem Papier umwickelt. Und nun begriff sie: durchs Fenster geworfen! Jetzt sah sie ja auch deutlich drüben die zertrümmerte Scheibe.

Ihre alten Finger flogen, wie sie dann den Stein aufnahm, einen halben Ziegel, und den Brief abnahm, der daran festgebunden war. Sie holte aus der Kommode die Brille und las nun die Aufschrift:

»An den verdammten feigen Schuft und Lumpsack von Streikbrecher und seine anderen erbärmlichen Hunde.

Frei.«

Ein Dolch war darunter gemalt.

Das galt ihrem Mann!

Vor Schrecken wollte die Frau im ersten Augenblick den Drohbrief fortwerfen, ihn gleich im Herde verbrennen, daß ihr Mann sich nicht erst ängstigte; aber da fiel ihr Blick auf die Rückseite des Kuverts mit der Aufschrift:

»Aufbrechen und lesen!
Vorläufige Warnung.«

Unwillkürlich folgte sie der Aufforderung und las nun den Brief selbst:

»Die Verschwörung kennt Euch alle hier, Ihr feigen Halunken – Du Streikbrecher! Dein Todesurteil ist gefällt, wenn Du noch einmal auf die Schicht gehst.

Die Verschwörung.«

Und wieder darunter zwei gekreuzte Dolche mit der Unterschrift: »Für Dich!«

Da brach die alte Frau in ein Schluchzen aus. Barmherziger Vater – was waren das für Zeiten!

* * *

Auf Zeche Willibrod arbeiteten nur noch die Kokereien und die Pumpen, die immer und immer noch unaufhörlich die Wassermengen aus dem Flußlauf da hinten hoben und in die Schächte trieben. Der alte Freukes tat aushilfsweise jetzt mit Dienst an den Maschinen; auch die Maschinisten waren ja fast alle mit im Ausstand.

Die tiefe Stille der Nacht lag über dem großen, taghell erleuchteten Raum wie draußen über dem Zechenplatz. Der Maschinist und der alte Freukes versahen ihre Arbeit, aber es fand sich Gelegenheit, dabei manch Wort zu wechseln.

»De Jakob kump nu woll nich mähr.« Mit einem Blick auf die Uhr sagte es der Maschinist; er sprach von dem dritten Kollegen, der noch gestern hier mit ihm gearbeitet hatte. »Sine Fru wör ja ok all van nachmiddage bi den Betriebsführer. He möcht ja woll, obers he riskiert dat nich mähr; van nacht, as se all in't Bedde wörn, sind se bi em inbrocken, n' halw Dutzend Kerle hewt em de Füste in't Gesicht schmetten un em gedroht: Hund, dat de bis, wann du morgen noch enmol up de Zeche gehst, dann reten wi di de Gedärme ut dat Liw! – De Fru berwt noch an ale Knocken.«

Der alte Freukes nickte nur still, während er mit einem Lappen an einem Stahlteil der Maschine putzte und der andere fortfuhr:

»Weste, et möcht ja woll manch ener arbeten, obers se trauen sick nich. Se hewt Angst, datt se de Knocken inschlagen kriegt. Un dat is ok bold so. Mi hewt se van Dage ok wehr uplauert – en ganze Koppel, Lümmels wörn dorbi, de dat Galt noch nich dicht hewt. Obers natürlich, just de schlimmsten! Mit Gejank un Gejohl sind se den ganzen Wegg achter mi, un akkerat an de Eck, west du, bi den Pättenerlenbrok, do röpt de Bande: He, schmit doch den verfluchten Streikbrecher in't Water! Junge, well wet, wat passert wör, wenn dor nich 'n paar Schandarms tüsken kommen wärn.«

»Ja, dat sind jetzt schwore Tiden.«

Mit einem bedrückten Seufzen sagte es der alte Freukes. Er mußte an all das Schwere denken, das ihn zudem noch im eigenen Hause betroffen hatte. Und wieder ward es still in der Maschinenhalle; schweigend taten die beiden Männer ihre Arbeit.

Plötzlich aber ein wüster Lärm draußen auf dem Zechenplatz, ein drohendes Gebrüll und Getobe, wie von einer im Aufruhr befindlichen Menge.

»Wat is nu dat all wehr?«

Schnell trat der Maschinist an die Tür der Halle. Draußen am Zechentor, wo eine Abteilung der Zechenfeuerwehr, zugleich auch Zechenpolizei, Wache hielt, schien ein wahrer Kampf zu toben. Es sah aus, als wollte sich der wilde Haufen, der jetzt da draußen sichtbar war, mit Gewalt Einlaß verschaffen.

Und nun kam ein einzelner Mann dort vom Tor her über den Zechenplatz gelaufen, geradeswegs hierher zum Maschinenhaus: der Jakob Teelen, wahrhaftig doch noch – aber wie sah er aus!

»Menschk, di hewt se ja schön togerichtet!«

Dem Mann hingen die Kleider in Fetzen vom Leib; das Gesicht war blutrünstig von Hieben.

»Verdammt, jo!« Teelen flog noch die Brust, er war ganz blaß vor Aufregung. »Ick hew ment, se reten mi noch kapott!«

Er ließ sich erschöpft auf eine Bank niederfallen. Erst allmählich bekam er wieder Atem.

»Ick wollt erst gar nich kommen. Obers so geggen Obend hew ick't doch riskert. Ick dacht, so in't Düstere, dor schleich ick mi all dör. Obers wu ick vör't Hus kum, richtig – steht all 'n Posten, 'n Pfiff . . . glicks hadde ick de ganze Hetze up den Hals. Ick nu dwas dör't Feld, wat de Buxe hölt, obers de Bande immer dichte achter mi her un 'n Geschrei: ›Wochte, Hund dat de dis! Di makt wi kolt!‹ Un hier vör de Zeche hewt se mi stellt, vön vörn quammen se ja ok noch – Kerl, 'n Wunner, dat ick man dorvön kommen bin.«

Und der Mann trank begierig aus der Kaffeetröte, die ihm der alte Freukes hingereicht hatte.

Draußen nahm unterdessen das Toben seinen Fortgang. Der wüste Lärm lockte Hunderte von Radaulustigen an. In allen Kneipen der Umgegend saßen ja noch trotz der späten Abendstunde Streikende. Die Wirtshäuser waren ihr Hauptquartier. Da hörte man immer das Neueste vom Kriegsschauplatz, und der reichlich genossene Alkohol steigerte noch die Erregtheit der erhitzten Köpfe.

Jetzt lief man tatendurstig von allen Seiten herbei.

»Wat is los? Wat giw dat?«

»Ha, all wehr so'n verdammter Hund von Streikbrecher! He is us man nah mol dör de Lappen gohn!«

»Rin in de Zeche? Halt doch de Schufte rut! Haut alles kort un klen drinnen, dat kin so'n Lumpenkerl noch wat to arbeten findet.«

»Ja – rin, Kerls!«

Und der Haufe stürmte johlend gegen das Zechenportal an. Doch das schwere Eisentor bot ihnen Widerstand, so war das nicht zu machen.

Da wollten sie es anders anpacken – einer hatte es ausgeheckt, und mit fanatischer Wut tat der Haufe mit.

Die Menge zog ab, verlor sich im Dunkel der Nacht, eine schwüle, unheimliche Stille trat ein – aber dafür zehn Minuten später ein Höllenlärm, um so furchtbarer. Der Haufe hatte die Zechenmauer an der Hinterseite überstiegen, nun stürmte er auf die Kokerei los, deren weißrote Gluten sich deutlich in der Finsternis abzeichneten.

Ein lautes Gebrüll.

»Steckt doch de ganze Baracke in Brand – in ehre egenen Öfen de Hunde!«

Und Schüsse krachten aus der Menge gegen das Gebäude hin und was darinnen war.

* * *

Magnus Heckes war trotz der späten Stunde noch auf dem Werke. Er wartete in seinem Bureau auf das Eintreffen Schürmanns. Heute abend sollte ja der erste Transport Ersatzleute, zweihundert Mann, aus Masuren ankommen. Mit starker Erregung schritt er im Zimmer auf und ab, oft nach der Uhr sehend. Sie konnten längst hier sein – warum also nicht? Was mochte da passiert sein?

Plötzlich schrillte das Telephon. Aha – und er nahm auch schon den Hörer ab.

»Schürmann?«

»Jawohl, Herr Heckes.«

»Wo bleiben Sie denn mit den Leuten in aller Welt? Von wo aus sprechen Sie?«

»Vom Bahnhof. Nicht möglich, durchzukommen – eine dichte Menge, wohl an die Tausende, hält den Bahnhof umlagert. Man hat in Erfahrung gebracht, daß heute abend Arbeitswillige von außerhalb zuziehen wollten – da haben sie alles mobil gemacht. Wie ich mit den Leuten von der Station wollte, empfing es uns wie ein Donnerwetter, ein Sturm von Drohungen, Steine flogen gegen uns, die paar Gendarmen waren machtlos – da sind mir die Kerls schließlich alle wieder in den Bahnhof reingelaufen. Nun haben sie's mit der Angst gekriegt; sie wollen lieber wieder zurück in die Heimat. Und ich kann sie nicht halten.«

Es zuckte Heckes in allen Gliedern. Zu viel, alles stand ja hier auf dem Spiel! Kehrten diese ersten wieder um, so würden auch all die andern, die er mit größten Kosten draußen hatte anwerben lassen, um sich Ersatz für die Streikenden zu schaffen, nicht bleiben oder überhaupt gar nicht erst herkommen. Der Ausgang des ganzen Streiks konnte in dieser Stunde entschieden werden! Und laut, dringlichst rief er in den Apparat:

»Fest bleiben, Schürmann! Ich komme selbst, sofort! Fahre nur noch vorher zum Landrat – requiriere Militär. Halten Sie mir nur so lange noch die Leute. Sagen Sie ihnen: Es kommt Schutz!«

»Sehr wohl, Herr Heckes, werde mein möglichstes versuchen.«

Magnus Heckes hing ab und klingelte nach dem Diener.

»Das Automobil!«

Der Chauffeur mußte sich in dieser Zeit zu jeder Stunde bereit für ihn halten. Er selber schonte sich ja auch nicht.

Während er sich dann in Mantel und Mütze warf, schlug plötzlich das Krachen der Schüsse an sein Ohr. Er riß das Fenster auf – drüben, an der Kokerei! Und eilends ging er die Treppe hinunter.

Auf halbem Wege stürzte einer an ihm vorbei, ein Mann aus der Kokerei, der ihn im Halbdunkel wohl nicht erkannte und ihm angstvoll zuschrie:

»Sie wollen die Kokerei stürmen, die ganze Zeche in Brand stecken!«

»Die Torwache her – schleunigst!«

Der Mann erkannte nun die Stimme des Herrn und lief, den Befehl auszuführen.

Heckes aber eilte weiter, ohne Besinnen, ohne Zaudern.

Nun war er dicht an der Kokerei, da liefen ihm schon die ersten der Angreifer entgegen.

»Halt!«

Der donnernde Anruf bannte die Leute unwillkürlich auf den Fleck fest. Und dann scholl es weiter zu ihnen herüber:

»Seid ihr streikende Arbeiter – oder Mordbrenner?«

Sprachlos starrten die Leute ihn an, ganz verblüfft von der Kühnheit des einen hier, der sich ohne Waffen und Beistand ihnen kaltblütig gegenüberstellte.

Aber inzwischen waren noch andere von hinten herzugelaufen gekommen. Einer von ihnen hatte die letzten Worte gehört, und nun erkannte er Magnus Heckes:

»Mordbrenner – wi? Sülwst ener!«

Mit wilder Herausforderung auf die Opfer des Grubenunglücks anspielend, schrie er es dem Zechenherrn zu.

Der rauhe Ruf durchbrach den Bann wie mit einem Zauberschlag. Wild johlte der Haufe auf. Da stand ja der, der an allem schuld war. Vorwärts – auf ihn! Und die Menschenwelle brandete drohend heran.

Magnus Heckes war bei dem furchtbaren Schimpfwort blaß geworden bis unter die Haarwurzeln. Aber er regte sich nicht. Und so stand er auch jetzt, wie sie gegen ihn andrängten.

Da geriet der Angriff noch einmal ins Stocken. Trotz all der Erhitztheit, die ersten da vorn waren schon dicht an ihm, wagten sie es nicht, die Hand an den zu legen, der ohne ein Zeichen von Furcht vor ihnen stand als sei er gefeit gegen alles, nur mit flammenden Blicken auf sie starrend.

Bis es von hinten wieder erscholl:

»Vorwärts! Hewt ji denn Angst? De kann ju doch nich upfreten! Man drup!«

Und von neuem wollten sie vorwärts drängen, aber da plötzlich der warnende Ruf:

»De Zechenwehr – de scheten!«

In der Tat, im eilenden Lauf stürmte die Wachmannschaft vom Haupttor heran.

Der Anblick der zum äußersten entschlossenen kleinen Truppe wirkte Wunder; die Angreifer traten einen beschleunigten Rückzug an. Ihr Haufe war nicht groß genug, sie fühlten sich nicht in der Masse geborgen. Aber von der Mauer her, über die sie retirierten scholl ihr Drohen:

»Wi kumpt wehr! Morgen nach halt wi ju Hunde doch 'runner!«

* * *

Auch der Landrat war trotz der späten Stunde noch auf. Alles war ja im Kreis in Aufruhr. Ein beständiges Telephonieren und Telegraphieren, Gendarmen gingen und kamen mit Meldungen. Bürgermeister, Werkbesitzer bestürmten die Behörde um Direktiven, um Schutz – mehr Gendarmen! Ja, wo sollte er die Leute nur noch hernehmen?

Und nun gar wieder einer persönlich. Der Diener kam mit der Karte. Der Landrat winkte nervös schon von weitem ab:

»Für Privatpersonen nicht zu sprechen.«

»Herr Heckes, Herr Landrat!«

Heckes? Ja freilich – etwas anderes. Außerdem, der kam ihm wie gerufen.

»Ich lasse bitten,« und er schickte alle übrigen aus dem Zimmer hinaus.

Der Werkherr stand vor ihm, ein flüchtiger Händedruck, jetzt nicht die Zeit zu umständlichen Höflichkeiten.

»Ein Besuch zu später Stunde, Herr Heckes. Wo fehlt's denn?«

»Überall. Auf der Zeche stürmen sie mir die Werkanlagen, und auf dem Bahnhof lassen sie mir meine Arbeitswilligen nicht heraus. So kann das nicht mehr weitergehen – Militär her, Herr Landrat!«

Der Landrat zog die Brauen hoch. Das war keine erwünschte Musik für seine Ohren.

»Gewiß fatal, Herr Heckes, sehr fatal – aber mit dem Militär, Sie wissen selbst, das ist ein zweischneidig Schwert. Und im Vertrauen, ich habe dienstliche Anweisung: Solange wie irgend möglich diese bedenkliche Maßnahme zu vermeiden. Sie erzeugt stets böses Blut, und die Öffentlichkeit ist sowieso schon hochgradig nervös über die ganzen Vorgänge hier.«

»Zum Teufel, was geht mich die Öffentlichkeit an! Und was geht sie die Regierung an!«

Der Landrat überhörte den brüsken, erregten Ton. Um so feiner erwiderte er, mit diplomatischer Überlegenheit:

»Bester Herr Heckes – man kann doch da oben nicht so einfach an einer Bewegung vorbeisehen, die das ganze Volk ergriffen hat bis in alle Schichten hinein. Und das ist doch eben einfach nicht zu leugnen: dieser unglückselige Bergarbeiterausstand ist eine affaire publique geworden. Die Sympathien des Publikums gehen mit den Leuten – die Zeitungen genau so, man sammelt in allen Kreisen für die Streikenden, selbst in durchaus gutgesinnten –«

»Ja, der Schwindel wächst sich nachgerade zum groben Unfug aus. Unerhört ist es, geradezu unerhört! Und dazu so bodenlos kurzsichtig! Man schneidet sich ins eigene Fleisch. Lassen Sie es nur noch ein paar Wochen so weitergehen, und die guten Leute werden es schon merken: wenn die Kohle unerschwinglich teuer geworden ist! Und wer hat dann davon den Profit? Das Ausland! Die englische Kohle kommt ins Land. Gehen Sie nur einmal an den Rhein – da können Sie jetzt schon tagtäglich die Ladungen ankommen sehen. Und solche Schädigung der nationalen Industrie, die schon so kaum noch konkurrenzfähig ist durch Arbeiterfürsorge und immer wieder Arbeiterfürsorge, duldet die Regierung? Das unterstützt man auch noch, anstatt energisch einen Riegel vorzuschieben – Herr Landrat, der Teufel bleibe ruhig dabei!«

Und Heckes schlug mit der Hand erregt auf den Tisch.

Der Landrat wandte sich ab, machte ein paar Schritt ins Zimmer. Hm – das war freilich nicht die geeignete Stimmung, um sich seines Auftrags zu entledigen. Aber was half es? Es mußte ja sein. Und so kehrte er sich denn Heckes wieder zu.

»Sie haben ganz recht, verehrter Herr Heckes, so kann das natürlich nicht weitergehen – eine unserer größten Industrien darf selbstverständlich nicht empfindlich geschädigt werden, und darum gerade möchte ich Ihnen anheimstellen – und Sie dürfen überzeugt sein, Sie würden damit an hoher Stelle auf größte Anerkennung rechnen können – Maßnahmen in die Wege zu leiten zu einer Verständigung mit dem anderen Teil, zu einer friedlichen Beilegung dieses unglückseligen Konflikts.«

»Wie – ich?«

»Ja, gerade Sie, Herr Heckes. Bei Ihnen hat ja doch die ganze Bewegung ihren Ausgang genommen, und außerdem, Ihre ganze Persönlichkeit, die Bedeutung Ihrer Werke. Sie können sich dabei der nachdrücklichen Mithilfe der Regierung versichert halten. Man ist, geneigtenfalls, gern bereit, Ihnen einen Herrn aus dem Ministerium –«

»Danke, danke ergebenst für diese Art von Unterstützung! Die brauch' ich nicht, Herr Landrat. Wenn ich vor meinen Leuten zu Kreuz kriechen will, brauch' ich dazu nicht erst noch eine Perücke aus Berlin. Aber ich denke ja nicht daran! Nein – was ich von der Regierung erwarte, ist ganz etwas anderes: Schutz, Herr Landrat – Schutz für meine Arbeitswilligen und Schutz für mein Eigentum, das keinen Augenblick mehr sicher ist. Oder ist unsereins etwa vogelfrei, Herr Landrat?«

Der Angeredete machte eine leichte Bewegung des Chokiertseins.

»Pardon, Herr Heckes – was für ein Wort!«

»Ja, mir ist nicht mehr danach zumute, meine Worte fein säuberlich zu wählen, wo mir vielleicht in der nächsten Minute das Haus überm Kopf angesteckt wird. Also bitte, Ihre Entscheidung: Bekomme ich das Militär oder nicht?«

Und sein Blick durchdrang den andern.

Eine kurze Spanne des Erwägens, dann neigte der Landrat den Kopf; aber es klang merklich kühler, wie er nun sagte:

»Ich werde die von Ihnen nachgesuchte militärische Hilfe sofort telegraphisch requirieren.«

»Ich danke Ihnen.«

Und auch Magnus Heckes wandte sich ab, ohne ein weiteres Wort. Mit einer stummen Verbeugung trennten sich die beiden Herren an der Tür.

Aber draußen, unten vorm Hause, hob Heckes das Haupt hoch empor. So, nun würde sich das Blatt wenden! Und er befahl einsteigend dem Chauffeur:

»Zum Bahnhof!«

* * *


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