Paul Grabein
Die Herren der Erde
Paul Grabein

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Volkmar Heckes sollte seine erste Grubenfahrt als Hilfssteiger machen, unter Führung Freukes', der ihm sein Revier heute zeigen wollte.

Vom Beamtenbad her, wo Volkmar den Grubenanzug angelegt hatte, ging er so durch die Waschkaue, um sich droben auf dem Schachtgerüst mit Freukes zu treffen. Die mächtige, hohe Halle der Kaue war jetzt um die Stunde des Schichtwechsels voll wimmelnden Lebens und bot ein seltsames, phantastisches Bild.

Hell fiel das Sonnenlicht durch das Glasdach und auf die nackten Leiber der vielen Hunderte von Männern, die sich da entkleidet hatten, entweder um den Kohlenruß aus der Grube unter den warmen Brausen in den Seitenhallen abzuspülen oder um den guten Anzug mit dem Grubenzeug zu vertauschen, das ihnen hier aufbewahrt wurde.

An zahllosen Schnüren hingen droben hoch an den eisernen Tragbalken der Decke Arbeitskleider zum Trocknen und Auslüften. Eingeknöpft in die zusammengeschnürten Jacken mit den lang herabhängenden Hosen glichen diese Kleiderbündel vielfach menschlichen Gestalten. Es sah aus, als baumelte da eine Unzahl Gehängter. Beständig wurden diese Kleiderpuppen auf und nieder gezogen – ein grotesker Anblick.

Ein dumpfes Schwirren und Murmeln, ein rastloses Durcheinanderlaufen war in dem weiten Raum. An Ein- und Ausfahrenden waren an 2000 Menschen in dieser Stunde in der Waschkaue beieinander. In die anfangs reine Luft des wohl ventilierten Trockenraums mischten sich allmählich die Ausdünstungen so vieler bloßer Leiber, die von schwerer Arbeit drunten in der feuchtwarmen Grube kamen.

Mit patschenden Tritten eilten die nackten, muskulösen oder doch starksehnigen Gestalten, oft mit abenteuerlichen, blauen Tätowierungen auf Armen und Brust, hinüber unter die Brausen. Die hier in dichten Gruppen zu Hunderten beisammenstehenden, weißen Leiber, die sich wohlig unter dem warmen Wasserstrahl reckten, hätten mit den Fleischtönen aller Nuancen im flimmernden Sonnenlicht einem Maler ein dankbares Motiv geboten.

Ohne jede Scheu boten sich die Männer einander den Blicken dar. Sie waren das ja auch seit Jugend an nicht anders gewohnt. Drüben hinter der hohen Bretterschranke, der »Schamwand«, von wo lustiges Pfeifen und helles Singen herüberklang, standen die »Jugendlichen«, die unter 18 Jahren, ja ebenso beieinander. Das war so altüberlieferter Brauch im Bergwerksbetriebe.

An den soeben vom Bad Zurückkehrenden drängten sich hart die erst aus der Grube frisch Heraufgekommenen vorbei mit ihren schmierigen, oft feuchten Arbeitskleidern und kotigen Schaftstiefeln. Schacht III war seiner reichen Wasserhaltigkeit wegen als ein »Dreckloch« bekannt. Dazwischen schoben sich auch schon die bereits wieder Angezogenen hindurch dem Ausgang der Kaue zu, mit ihrer guten Kleidung – viele mit hohem Stehkragen, weißem Chemisette und der Zigarette zwischen den Lippen – seltsam abstechend von den Kameraden, in der schmutztriefenden Arbeitstracht.

Volkmar Heckes wand sich durch das Gewimmel langsam hindurch, holte sich droben in der Lampenausgabe sein Grubenlicht und schritt dann die Treppe zu der großen eisernen Plattform in dem Schachtturm, der Hängebank hinauf, wo die Aus- und Einfahrt stattfand. Ein beständiger Doppelstrom von Menschen zog hier aneinander vorbei, der Hunderte, die aus dem Schacht herausquollen und gleichzeitig in ihn hinabsanken. Mit dem Strom der letzteren kam Volkmar Heckes an den Förderturm heran. Freukes war noch nicht zur Stelle. So trat denn Volkmar abseits und sah dem ständigen Kommen und Gehen am Schacht zu.

Aufmerksam standen die Anschläger in ihren blauen Maschinistenjacken am Schutzgitter des Fahrtrums. Kein Geräusch drang aus der dunkeln Tiefe, und doch verriet das lautlos nach oben gleitende Drahtseil, daß gleich wieder der eine Korb heraufkommen würde.

Nun das Anschlagen einer Glocke, und wenige Augenblicke später tauchte aus dem Dunkel des Schachtes ein eiserner Riesenkäfig auf. Durch sein Gitterwerk sah man eng zusammengepfercht am Boden hockend ein Dutzend schwarzer Gestalten, zwischen ihnen schwachleuchtende Grubenlichter.

Waren es wirklich Menschen, die sich nun aus ihrer gebückten Haltung in der niedrigen Etage des Förderkorbs, die kein Stehen erlaubte, schnell aufrichteten und herauskamen? Mit ihren kohlenschwarzen Gesichtern, aus denen unheimlich drohend das Weiße im Auge blinkte, ähnelten sie eher Dämonen der Tiefe, die aus ihrem Bergverlies hervorbrachen.

Wieder ein Glockenzeichen wie vorhin, und jedesmal ruckte unten in der Maschinenhalle das riesige Förderrad, jedesmal stieg eine neue Etage des Förderkorbs bis zur Höhe der Plattform, der Hängebank, und jedesmal quoll ein neues Dutzend solch schwarzer Berggeister aus dem engen und schmierigen Käfig, der sonst nur zur Aufnahme der Kohlenförderwagen da war, jetzt um die Stunde der Seilfahrt aber die Bergleute auf und nieder beförderte.

An ihre Stelle drängte sich eilends dieselbe Anzahl aus den Reihen der Einfahrenden, der Ablösungsbelegschaft für die Grube.

Eine halbe Stunde ging das so ohne Aufenthalt, dann waren alle Leute eingefahren, als letzte die Steiger. Nun änderte sich das Bild hier oben auf der Hängebank: die Kohlenförderung begann. Anstatt der Menschen wurden die eisernen Förderwagen zum Schacht hinuntergeschickt. Leer stiegen sie hinab und andere, bis zum Rand mit Kohle beladen, kamen herauf.

Nebenan, auf der Brücke, standen an dem Becherwerk die Sortierer und lasen aus dem langsam vorbeigleitenden, ununterbrochenem Kohlenstrom mit geübtem Auge die tauben Berge heraus, beigemengte Steine, die den Wert der Kohlenlieferung beeinträchtigt hätten. Neben halbwüchsigen Jungen standen hier in der langen Reihe alte Männer, vielfach mit gichtisch gekrümmten Gliedmaßen – Leute, die noch nicht oder nicht mehr zu der schweren Arbeit in der Grube selbst zu gebrauchen waren. Auch das Leben des Bergmanns ist ein Kreislauf. Er endet, wo er angefangen: auf der Brücke.

Volkmar dachte es, während er mit ernstem Blick eine Weile still zu den Halbinvaliden da neben den jugendlichen Arbeitern hinübersah. Die Hoffnung, die noch mit vollen Segeln ins Leben hinaustreibt, und die stumpfe Resignation – wie nah beieinander!

Doch dann entriß er sich seinem Sinnen. Wo blieb denn nur der Jupp? Schon wollte er zum Telephon gehen und unten im Steigerbureau nachfragen, da kam der Erwartete endlich eilends die Treppe herauf.

»Entschuldige – ich hatte noch unten was zu tun, einen Bericht für den Oberinspektor. Na, nun vorwärts – halt mal, wir woll'n mit!«

Er gab einem der Abnehmer ein Zeichen, der gerade einen leeren Wagen auf den hinabgehenden Korb schieben wollte, und er selber mit Volkmar trat in die niedrige Etage des Korbs ein. Halb kauernd hockten sie in dem schmierigen, engen Eisenkäfig, der sich alsbald mit ihnen in die Tiefe zu senken begann.

Ein seltsames Gefühl, wie sie nun so plötzlich mit großer Schnelligkeit hinunterglitten – ganz unhörbar, kein Geräusch deutete es an; man merkte es nur an sich selber, an einem beklemmenden Gefühl im Herzen und einem steigenden Druck in den Ohren.

Völlig dunkel war es um sie her. Das Licht oben zu ihren Häuptern war im Handumdrehen verschwunden gewesen, nun umfing sie die tiefe Nacht des Schachts. Nur der Schein der beiden Grubenlampen erhellte schwach die Mitte des Korbes, ihre Gesichter lagen jedoch im Dunkel.

Plötzlich aber tauchte ein heller Lichtschein neben ihnen auf – es war, als wenn sie an einem Hohlraum, einem horizontalen Gang, der in den Schacht mündete, im Fluge vorübergeglitten wären – die erste Sohle, die jetzt nur noch als Wettersohle benutzt wurde, zur Ansammlung der verbrauchten Luft.

Und wieder dies fast unkörperliche Gleiten, wie ein freies Fallen oder Niederschweben im Luftballon, dann aber plötzlich ein leichtes Schüttern im Korb, ein bremsendes Geräusch, das Einsetzen der Hemmung. Die Bewegung verlangsamte sich, Lichtschein drang unter ihnen herauf, wurde stärker und plötzlich hielt der Korb, strahlende Helle elektrischer Glühlampen umfing sie – sie waren am Füllort der Fördersohle angelangt, die Seilfahrt beendet.

Wirr stürmten hier die Eindrücke auf die Ankömmlinge ein. Es war, als sei man in eine Zyklopenwerkstatt geraten – so ein ohrenbetäubender Lärm, so ein wild durcheinander hastendes Treiben rings herum.

Volkmar trat rasch beiseite. Denn wie er gerade erst dem Korb entstiegen war, kam es schon auf den Eisenplatten des Bodens donnernd angerasselt, ein Förderwagen, bis an den Rand voll schwarzflimmernder Kohle – ein Schwung von entblößten nervigen Armen, der 20 Zentner schwere Wagen flog herum wie ein Spielzeug, ihm hart am Leibe vorbei und stand schon auf dem Korb.

Die schwarzen Gestalten, die hier zu Dutzenden so ihre Wagen herumschleuderten, nahmen keine Rücksicht weder aufeinander noch auf müßige Zuschauer. Bei dem jagenden Getriebe ihrer Arbeit war die Zeit nicht dazu, und außerdem – wer hier herunterkam, der mochte seine Augen aufmachen.

Wie ein rauher Luftzug wehte es Volkmar an. Es war eine ganz andere Welt, in die man hier unten eintrat; eine, in der man all das Zarte, Feine nicht kannte, das da oben im sonnigen Schein des Tages gedieh. Man mußte sich erst allmählich wieder daran gewöhnen.

Doch es war hierzu nicht viel Zeit. Schon war Freukes in den Hauptquerschlag eingetreten, in dem die Gleise der Seilbahn lagen, ein gut ausgemauerter und erleuchteter Tunnel, in den nun auch Volkmar dem Führer nachtrat.

»Vorsicht!« mahnte dieser. »Die Drähte hier oben nicht berühren. Hochspannung – 2000 Volt,« und er deutete auf die Leitung, die nur drei Finger breit über seinem Haupte hinführte. Er schritt aber, zu seiner vollen Höhe aufgerichtet, gleichmütig dahin; machte er diesen Weg doch täglich.

Ein Rasseln vor ihnen, ein Rasseln hinter ihnen – zwei Wagenzüge kamen heran und glitten an ihnen vorüber. Der eine an ihrer Seite so dicht an den beiden vorbei, daß er bisweilen fast ihre Ellbogen streifte.

Dann tauchte ein Mann vor ihnen im Dunkel auf, der Bahnwärter.

»Na, Alterchen, wie geht's?« begrüßte ihn Freukes. »Leben immer noch frisch?«

»Danke, Herr Fahrsteijer,« schreiend erwiderte es der Angeredete, um den ratternden Lärm des noch nahen Wagenzuges zu übertönen.

»Danke – et ha't noch ömmer, ömmer, ömmer jut jejange, et jeht noch ömmer, ömmer ju't.«

Und er lüftete freundlich den schmierigen Filzhut vor dem zweiten, ihm fremden Gesicht. Aus dem rußigen Antlitz, dessen Alter nicht zu erkennen war, leuchteten noch jugendlich hell und lustig die Augen.

»Das ist nämlich hier unser Senior,« stellte ihn lächelnd Freukes vor. »Bald sechzig und noch immer in der Grube tätig. Das soll ihm mal einer erst nachmachen.«

»Ja, wie wir uns aber auch jehalten haben, Herr Fahrsteijer! Da jab's kein Schabbau (Schnaps) schon zur Morjenschicht, aber wat jetzt die Jungens sind, die müssen die janze Nacht rumsaufen und dann – – dat tut nich ju't, dat jeht über die Knochens. Dat halt de Stärkste nicht aus.«

»Ja, ja, Alterchen,« und Freukes klopfte ihm zum Abschied auf die Schulter, »da haben Sie recht. Na, Glück auf!«

»Jlück au'f, Herr Fahrsteijer!«

Weiter ging es, und sie kamen dann an einen ihren Weg durchquerenden Bremsberg, auf dessen Gleisen gerade die leeren Förderwagen zu einem tiefer gelegenen Abbau hinunter gelassen werden sollten. Oben verriet ein schwaches Licht den Mann am Haspel.

»Hö – upp! Kumpel, halt! Sind Leute im Berg.«

Hohl schallte der Ruf aus Freukes mächtiger Brust durch den niedrigen Gang. Ein schwacher Gegenruf bestätigte ihm, daß er gehört war.

»Also warten, bis wir durch sind – verstanden?«

Und dann gingen sie langsam hintereinander den glatten, kohlschwarzen Gang im Flöz hinab, in gebückter Haltung, die Decke war wenig über Meter hoch. Es war für einen der Sache nicht mehr Gewöhnten wie Volkmar anstrengend. Der Nacken schmerzte ihm bald von dem beständigen Beugen. Die fünf Minuten kamen ihm endlos lang vor. Endlich aber standen sie drunten wieder in einem Abteilungsquerschlag, wo sich Volkmar zur Not aufrichten konnte, nur Freukes nicht mit seiner Riesengestalt. Aber es tat ihm nichts, er konnte stundenlang so in krummer Haltung in der Grube herumlaufen, ohne jede Spur von Ermüdung – alles Gewohnheit.

Es war hier in dem Querschlag, der nicht zur Förderung benutzt wurde, still; man konnte gemächlich nebeneinander hergehen und ein Wort in Ruhe miteinander sprechen. Diese Gelegenheit benutzte Volkmar. Er hatte da vorhin etwas in der Steigerstube gehört, und es drängte ihn, von dem Freunde selbst Bestimmtes darüber zu erfahren.

So legte er denn seinen Arm vertraulich in den des Kameraden und begann, mit einem Lächeln:

»Du, Jupp, ist's wirklich wahr, was sie von dir erzählen?«

Der Fahrsteiger sah verwundert auf. »Was sollen sie von mir erzählen – und wer denn?«

»Deine Kollegen! Du sollst auf Freiersfüßen gehen und dich ja schon bei Dircks« – er meinte den Direktor der Zeche – »wegen einer Familienwohnung zum Herbst beworben haben, so erzählten sie's wenigstens vorhin auf der Steigerstube.«

»Schwätzer – wie die alten Weiber!« brummte Freukes. »Man kann faktisch kein Wort hier auf dem Pütt zu einem sprechen, so wissen's auch schon alle andern.«

»Also ist doch was dran an der Sache, mein Junge!« neckte Volkmar gutmütig.

Der Freund schwieg einige Augenblicke, erst noch etwas verärgert, dann aber gab er zu:

»Na, wo du doch schon hast was läuten hören – also ja, es ist was dran, ich denke ans Heiraten.«

»Also doch!«

»Nun, mein Gott – es ist ja doch schließlich das einzige, was man hier mit sich anfangen kann. Vom Pütt weg kommt man nicht, tagsüber hat man ja auch vollauf zu tun – aber die Abende! Einen Tag wie den andern im Beamtenkasino oder auf der Kegelbahn hocken – es hängt einem schließlich zum Halse raus.«

»Du sprichst ja gerade, als ob du dich nur aus reiner Verzweiflung in das Unvermeidliche stürztest.«

»Na, es ist auch, weiß Gott, bald so.«

»Jupp – alter Junge!« Volkmar blieb stehen und legte dem Freunde die Hand auf die Schulter. »Ich kenn' dich doch besser, dein Herz hat doch bei der Sache auch noch das Wort.«

Der Riese machte eine Gebärde wie ein ertappter Schulbube. Er sah weg und stocherte mit der Stockspitze über sich im Hangenden.

»Na ja – natürlich – jede xbeliebige nimmt man sich ja doch schließlich nicht zur Frau.«

»Und wer ist es denn – darf ich es wissen?«

Wieder ein Zögern.

»Pardon, ich will selbstverständlich nicht indiskret sein,« und Volkmar ging weiter.

»Nein, nein, du kannst es ja wissen – nur die Sache ist noch gar nicht soweit wie du denkst,« Freukes ging ihm zur Seite weiter. »Also ganz unter uns: Das Mädel vom alten Schürmann gefällt mir sehr – die Maria – du kennst sie ja wohl auch, vom Ansehen?«

Im Dunkel der Strecke hatte der Fahrsteiger das plötzliche Zusammenzucken seines Kameraden nicht bemerkt, der jetzt erwiderte:

»Ja, ich kenne sie, gewiß.«

Der etwas stockende, seltsame Ton fiel dem andern nicht auf, der jetzt ganz in seine Angelegenheit vertieft war.

»Ich habe das Mädel ja von klein auf heranwachsen sehen und nun – na, sie ist eben ein liebes, hübsches Ding geworden, dem man gut sein kann. Kurzum, ich glaube, das wäre die Rechte für mich. Meinst du nicht auch?«

Volkmar spürte einen dumpfen Druck an der Kehle. Jene Wahrnehmungen in den Ostertagen – was sich da zwischen Maria und seinem Bruder angesponnen hatte! War es nicht Freundespflicht, dem Arglosen davon zu sprechen? Aber nein! wie durfte er? Hatte er denn Beweise, wußte er überhaupt etwas Genaues? Was er selber gesehen hatte, das waren nur Blicke gewesen – alles übrige war Vermutung – durfte er daraufhin dem Ruf einer vielleicht doch ganz Makellosen zu nahe treten? Sein Bruder war ja gleich nach dem Fest wieder abgereist, vielleicht war es also doch nur bei jenem ungefährlichen Anfang geblieben.

»Du sagst ja nichts – bist du nicht der Meinung, daß sie für mich paßt?«

Verwundert, ja ein wenig verletzt klang es. Da erwiderte Volkmar schnell:

»Aber natürlich, gewiß – ein liebes Kind, und ich glaube wohl, daß sie eine gute Frau für dich abgeben könnte. Nur,« und Volkmar, dem wieder die schlanke zierliche Mädchengestalt vor Augen stand – das Wort des Bruders: »Schmaltierchen« hallte ihm dabei unwillkürlich in den Ohren – sah mit leisem Bedenken zu der schweren Figur des Riesen da neben ihm hin, »ist sie nicht noch etwas sehr jung?«

»Das hat mir der Alte allerdings auch gesagt,« gab Freukes zu. »Ich habe nämlich schon mal bei ihm auf den Busch geklopft, weißt du. Und es ist ja vielleicht richtig – kaum achtzehn. Obschon, meine Mutter war auch nicht älter. Aber na ja, man könnte schließlich noch warten, ein halbes Jahr oder auch ein ganzes, wenn's sein muß – wenn man nur schon im reinen wär', nur wüßte: es würde was aus der Geschichte.«

Volkmar nickte nachdenklich. Dann fragte er mit leiser Spannung:

»Nun, und die Hauptsache: Maria, hast du mit ihr selber schon –?«

»Nein, das allerdings noch nicht.« Es kam ein wenig zögernd. Der sonst stets so Resolute schien vor dieser schweren Frage mit einem unbehaglichen Gefühl der Unsicherheit zu stehen. »Weißt du, es fehlte immer noch die rechte Gelegenheit – so was kann man doch nicht so vom Zaun brechen – so ein Mädchen will doch ein bißchen zart genommen sein.«

»Ja, ja, gewiß,« stimmte Volkmar gutherzig zu, da er Jupps Verlegenheit bemerkte. Aber er mußte an die unbedenkliche Keckheit seines Bruders denken, mit der dieser sich Maria genähert hatte, und sie hatte es durchaus nicht übel genommen. Er empfand plötzlich ein heimliches Mitleid mit dem großen Mann da, der so unbeholfen und doch rührend in seiner achtungsvollen Scheu vor ihrem mädchenhaften Empfinden war.

»Kurzum – die Sache ist eben noch ganz in der Schwebe, wie ich dir ja gleich sagte,« schloß Freukes das Thema ab. »Aber, nicht wahr, ich habe dein Wort? Kein Mensch erfährt etwas davon!«

»Meine Hand darauf,« versicherte Volkmar, und dann gingen die beiden weiter, in Schweigen versunken.

In einer seltsamen Gedankenverbindung war Volkmar plötzlich bei Hedwig Vermeren. Er empfand ein Sehnen nach ihr – es war so viel Unausgesprochenes zwischen ihnen, was des erlösenden Wortes harrte. Und die Gedanken an die Jugendgefährtin füllten ihn ganz aus, während er mit Freukes kreuz und quer durch das unterirdische Labyrinth der Strecken und Querschläge weiter ging.

Nun waren sie wieder in eine Förderstrecke gelangt. In ihrem Dunkel schritten sie dahin. Plötzlich scholl durch die Stille ein dumpfes Rollen, das drohend immer näher kam, und doch wußte man in der Dunkelheit nicht, woher, bis plötzlich vor ihnen ein Lichtschein auftauchte und bald darauf der ungewisse Umriß eines Pferdes – riesig, übernatürlich in der Finsternis, die alle Maße verlieren ließ. Ein Wagenzug kam, vorn neben dem Tier hergehend, der Pferdejunge; sein Licht hatte er an den ersten Wagen gehängt.

Das Pferd, übrigens wirklich ein riesiges großes Tier – wie allenthalben hier in den Gruben ein Belgier von der schweren, gedrungenen Form dieser Rasse – kam nun dicht auf sie zu. Instinktiv drehte es den Kopf zur Wand, vom Schein der vor ihm auftauchenden Grubenlichter geblendet.

»He – halt mal an!«

Freukes rief es dem Jungen zu, der alsbald dem Pferde in den Zaum fiel.

»Brr, Grette – steh'!«

Das Pferd stand still und, inzwischen schon an das Licht gewöhnt, wandte es schnobernd den kolossalen Kopf zu den vor ihm Stehenden; es war, als verließ es sich hier unten, wo ihm der Gesichtssinn im Dunkel verkümmerte, nur noch auf den Geruch, um seine Wahrnehmungen zu machen.

»Das arme Tier – es kommt nun nie mehr hinauf ans Tageslicht!« mitleidig sagte es Volkmar.

»Wenn es gesund bleibt, nein,« bestätigte Freukes.

»Ein trauriges Los.«

»Warum traurig?« mit seiner frischen Stimme warf es der Freund ein. »Was geht ihm ab hier unten? Es hat hier seine Ordnung und Pflege besser als mancher Gaul über Tag – arbeitet auch nur seine Schicht von acht Stunden. Und ob es nun hier seinen Wagen zieht oder da! Die Hauptsache für so'n Tier ist doch schließlich das Fressen, na und da fehlt's ihm bei uns nicht. Da, sieh mal, wie gut der Bursche im Stande ist!« und er klatschte ihm die breite, runde Kruppe.

Aber da stutzte er und hielt plötzlich die Lampe dicht an das Pferd. Sein Fell glänzte feucht, Dampf stieg daraus auf, und die Flanken des Tieres flogen noch zitternd wie von großer Anstrengung.

»Hallo! Der ist ja quitschenaß! Was hast du gemacht mit dem Gaul, Bengel?«

»Hat sich nix gemacht,« versicherte der Junge in seinem Pollackendeutsch. »War'n sich nurr an Zug ein parr Waggen aus Spurr gesprungen. Da hat err müssen ziehn, so kolossall. Blieb sich immer stehn alle parr Schritt und zog immer widder an von neuem.«

»So – na, dann paßt besser auf ein andermal, ihr verdammten Bengel, daß ihr mir die Wagen richtig aufs Gleis setzt, wenn ihr den Zug zusammenstellt! Dann kann so was nicht vorkommen. Das ist ja 'ne Tierschinderei, 'ne elendige. Aber an so was denkt ihr Kroppzeug ja nicht. Na, vorwärts nun  –«

»Hoitz, Grette – vorran!«

Und alsbald legte sich das Tier wieder ins Zeug, rasselnd zogen die Wagen an.

Gedankenvoll sah Volkmar zu, wie das riesige, aber gutmütige Tier da dem Jungen aufs Wort gehorchte, der so winzig neben ihm erschien, den es mit einem leisen Druck hätte weitab schleudern, mit einem Tritt seiner massigen, eisenbeschlagenen Hufe hätte zermalmen können.

»Liegt nicht eigentlich etwas Rührendes darin?« wandte sich Volkmar nachdenklich an seinen Begleiter. »Dieses mächtige Tier, das sich seiner Kraft so unbewußt ist und geduldig von einem viel Schwächeren lenken läßt, erinnert mich unwillkürlich an die Massen des Volks, an die Tausende der Arbeiterschaft. Ist es bei ihnen nicht auch so?«

»Du – der Vergleich hinkt,« ließ sich Freukes trocken vernehmen.

»Wieso?«

»Nun, unsere Herren Arbeiter sind sich heutzutage schon recht gut ihrer Kraft bewußt. Siehe Streiks und so! Überhaupt lerne die Kumpels hier unten erst mal richtig kennen aus dem tagtäglichen Verkehr mit ihnen wie ich – und du wirst bald andere Ansichten kriegen. Da hab' ich gerade mit so 'nem Pferdejungen,« er nickte zurück, nach dem verschwindenden Zug hin, »erst dieser Tage was erlebt. Komme ich da mal zufällig in den Stall drüben und sehe dort ein Pferd, das nicht frißt, sondern ganz still vor seinem frisch aufgeschütteten Hafer steht, trotzdem es eben von der Arbeit gekommen ist. Ich gehe also ran, will mir den Gaul doch mal ankucken, aber plötzlich merke ich, er hat das ganze Maul voll Blut. Und wie wir näher zusehen, da zeigt sich – ist dem armen Tier die halbe Zunge weggerissen! Hat der Lump von Pferdejungen, wie sich nachher herausstellte, dem Gaul mit dem spitzen Lampenhaken ins Maul geschlagen und dabei die Sache angerichtet.«

»Entsetzlich!« Volkmar schauderte zusammen. »So einem armen, wehrlosen Tier!«

»Ja, eine Roheit sondergleichen. Aber da kannst du eben sehen, mit was für Pack man oft hier unten zu tun hat. Gesindel aus aller Herren Länder, das sonst nicht weiter kommt, dem der Boden anderswo zu heiß geworden ist, das kommt dann nachher zu uns. Und wir sind ja leider darauf angewiesen, müssen überhaupt noch froh sein, wenn wir die nötigen Arbeitskräfte kriegen!«

Volkmar schwieg einen Moment bedrückt. Es mochte ja wohl etwas daran sein an dem, was da der andere sagte; aber dennoch – das Urteil schien ihm zu hart, und er erwiderte jetzt:

»Nein, Jupp – Fälle solcher Art sind doch Gott sei Dank nur Ausnahmen. Natürlich, ich weiß ja – es ist unter den Hunderttausenden hier im Revier manch roher Geselle, manche dunkle Existenz; aber du darfst mir doch die Leute nicht so in Bausch und Bogen abtun. Und wenn unter ihnen, namentlich unter den Ausländern, auch noch viele sind, die auf einer niederen Kulturstufe stehen, ja – ist das ihre Schuld? Gib ihnen nur Gelegenheit, sich aufwärts zu entwickeln, und sie tun's. Verlaß dich darauf. In jedem Menschen, sei er noch so armselig, steckt der Trieb zum Höheren. Er will nur geweckt, gepflegt werden. Und das muß unsere Aufgabe sein. Daran lassen wir es noch viel zu viel fehlen – das ist unsere Schuld!«

Volkmar redete sich in hohen Eifer hinein. Seine Worte galten dem System, den Anschauungen seines Vaters, als deren Vertreter er hier Freukes vor sich sah. Magnus Heckes war kein Freund überflüssiger Wohlfahrtsbestrebungen. Er tat in dieser Hinsicht nur was nötig war, um den gesetzlichen Anforderungen zu genügen und sich die Leute zu erhalten, die er brauchte.

Jupp Freukes zuckte die Achseln.

»Alles recht schön, was du da sagst, lieber Volkmar, aber was geht's uns an? Wenigstens uns Beamte? Wir haben mehr als genug mit unserer Arbeit zu tun. Da bleibt keine Zeit mehr für solch schöne Ideen.«

Und der Fahrsteiger drängte zum Weitergehen. Sie hatten ja erst einen kleinen Teil des Reviers befahren.

Mehrere Stunden ging es noch so im Dunkel der Grube einher, kreuz und quer, hinunter, wieder hinauf und wieder hinunter. Sie bogen jetzt gerade aus einem Querschlag in eine Förderstrecke ein, da scholl ihnen plötzlich ein betäubender Lärm ans Ohr: Ein donnerndes Rattern, Zischen, Fauchen wie von einer losgelassenen Bestie und dazwischen anhetzende menschliche Stimmen: »Hö – Hö! Hoho – Hoho!« im höchsten Brüllton.

Volkmar horchte auf.

»Eine Bohrmaschine?«

Jupp Freukes nickte.

»Sogar ihrer zwei – sie arbeiten um die Wette, an dem neuen Querschlag.«

Und wie sie abermals um die Ecke bogen, sahen sie auch die Ursache dieses Getöses. Zwei große Preßluftbohrer waren gegen die Gesteinswand gestellt, und ihre rotierenden, langen Stahlspitzen fraßen sich malmend in das Gebirge hinein, um die Löcher für die Sprengpatronen auszuhöhlen.

Die Mannschaften der beiden Maschinen, Italiener, suchten jede der anderen zuvorzukommen mit Schnelligkeit. Sie arbeiteten ja im Akkord. Je mehr sie schafften, je höher war der Verdienst, und das Geld lockte. Mit blitzenden Augen und glühenden Gesichtern feuerten sie sich selbst immer toller an. Dazu die knatternden, scharfen Explosionsgeräusche der Preßluft, das Prasseln einer Kohlenrutsche, die unmittelbar daneben in der Strecke einen Wagenzug belud, ein halbes Dutzend Schlepper, die die Eisenwagen hin und her schleuderten, umschwenkten, auf ein anderes Gleis setzten, unter lautem Fluchen, Toben, Rasseln, Dröhnen – das alles, Menschen, Maschinen, Förderwagen zusammengepfercht auf einen engen Raum von wenigen Metern, nur schwach beleuchtet von den Grubenlichtern, die tiefe Schatten ringsum warfen – es war wirklich wie eine Szene aus dem Inferno, als wenn hier wildwütige Dämonen losgelassen wären, bereit, sich im nächsten Augenblick alle aufeinander zu stürzen in einer grausigen Gigantomachie.

Und mitten in diesem nervenzerrüttenden Getöse stand zwischen den Gleisen, zwischen zwei sich aneinander vorbeischiebenden Wagenzügen ein Pferd, ganz still und ruhig, obwohl die Kanten der Wagen rechts und links fast seine Flanken streiften. Unbeweglich stand sein riesiger, massiger Leib, der mit dem Kopf an die Decke des Streckenganges reichte, in seltsamem, packenden Kontrast da. Zwischen den unter der Hetzpeitsche der Arbeit sich wie toll gebärdenden Menschen hatte die Ruhe dieses Tieres etwas Überlegenes.

In ernsten Gedanken ging Volkmar weiter. Es war ihm eine Erleichterung, als Jupp Freukes nun sagte:

»Na, ich denke, für heute ist's wohl genug.« Und sie gingen dann, den nächsten Weg nach oben wählend, zu einem kleinen, blinden Schacht, in dem ein Fördergestell den Aufzug der Kohlenwagen zur höher gelegenen Fördersohle bewerkstelligte.

Die Grube war in diesem Teil besonders wasserreich. Allenthalben sickerte von der Gesteinsdecke die Feuchtigkeit hernieder.

Ein leichtes Frösteln überlief Volkmar – er war das alles ja nicht mehr gewöhnt – wie er noch erhitzt vom Aufenthalt in der feuchtwarmen Luft der Örter da hinten, nun plötzlich an dem naßkalten Schacht stand, durch den die frische Luft mit empfindlichem Zuge einfiel. Bedauernd sah er zu dem Mann am Haspel, der hier ohne jede Schutzhülle in Kälte, Nässe und Wetterzug stand.

»Eine böse Arbeitsstätte,« sagte er mitleidig, halb zu dem Mann, halb zu Freukes. »Der reine Rheumatismuswinkel!«

Der erstere erwiderte nichts. Er sah nur verwundert auf den Sprecher. Derartige zartfühlende Bemerkungen hier unten in der Grube waren ihm wohl etwas Ungewohntes. Aber der Fahrsteiger entgegnete, zu dem Manne hinwinkend:

»Alles nicht so schlimm. Dafür hat er auch nur sechs Stunden Schicht. Was haben die Leute früher nicht alles ausgehalten, und es hat ihnen auch nichts geschadet. Mein Vater erzählt heute noch immer, wie sie vor 30, 40 Jahren oft noch viel nässer im Winter aus der Grube nach Haus gegangen sind, über 'ne Stunde weit, so daß sie mit gefrorenen Kleidern nach Haus kamen und erst am Ofen wieder auftauen mußten. Na, und er hat auch keinen Rheumatismus gekriegt. – Aber wir müssen rauf,« mahnte er dann zum Einsteigen. »Die Leute warten schon; die leeren Wagen sollen runter.«

Jede Minute war ja hier kostbar; Verzögerung der Kohlenbeförderung bedeutete Geldverlust.

So stiegen sie denn auf das Fördergestell und fuhren in dem engen, finstern Schacht empor, dessen Holzverschalung von ständig hereinrieselndem Wasser feucht glänzte. Prasselnd lief dieses auch über die beiden hin.

Von der Sohle aus brachte sie dann der große Förderkorb schnell und bequemer wieder empor ans Tageslicht.

Volkmar atmete unwillkürlich auf, als ihn beim Emportauchen auf der Hängebank durch das Gitterwerk des Korbes hindurch der warme Goldhauch des Spätnachmittags begrüßte. Die Stunden waren rasch hingeflogen im Reich der Schatten.

»Es ist einem doch immer wieder eine Wohltat, das Sonnenlicht zu begrüßen,« sagte er zu Freukes, wie sie nun die Treppe vom Schachtgerüst hinuntergingen. »Man sollte eigentlich meinen, die Bergleute müßten besonders fromme Menschen sein, jeden Tag von neuem Gott danken, daß er sie beschirmt hat und doppelt froh nun heim eilen zu den Ihren – doppelt sich ihres Lebens freuen. Wie schön war doch das noch früher, wo vor jeder Einfahrt noch ein feierliches Bergamt abgehalten wurde mit Bibelverlesung und Bergmannschoral. Aber heute –«

»Sieht's anders aus!« vollendete Freukes für ihn. »Sie schwören statt der Bibel auf den ›Vorwärts‹. Wenn sie heil rauskommen, ist es einfach selbstverständlich, und passiert ihnen was, sind die Zechenverwaltungen oder wir Beamte dran schuld.«

Volkmar schwieg. Noch stand er ganz unter dem Bann der schweren Eindrücke dieser ersten Grubenfahrt wieder nach langer Zeit. Jene Bilder, wo sich Menschen und Tier dort drunten in harter Arbeit im nächtlichen Dunkel der Erde quälten, traten wieder lebendig vor seine Seele, und nachdenklich sagte er:

»Ich habe stets, wenn ich unter Tag war, das Empfinden gehabt, als ob kein anderer Beruf so wie der des Bergmanns den Ernst des Lebens, seine tiefste Bedeutung widerspiegelte: Ein Kampf mit dunkeln Mächten, ein Spiel des Zufalls und ein Mühen im Schweiße des Angesichts um das tägliche Brot. Und dazu die ganze harte, unerbittliche Notwendigkeit dieses Mühens. Denn es ist kein Luxusbedürfnis, das den Bergmann in die dunkle Grube treibt – nein, der Zwang, die kostbare Kohle zu gewinnen, die heute die treibende Kraft unseres Lebens geworden ist: Wärme, Dampf, Elektrizität – wir danken sie ihr; was wären wir ohne sie? Darum liegt eine große, ernste Weihe über dieser Arbeit. Dem schlichten Mann im schmutzigen Grubenzeug da unten gebührt unsere Achtung genau so wie dem Landmann, der uns unser täglich Brot schafft.«

Diese Empfindungen hallten auch dann noch in Volkmar nach, als er nach der Trennung von Freukes allein von der Zeche nach Haus ging. Gedankenverloren schritt er dahin, ohne Aufmerksamkeit für seine Umgebung.

Sein Weg führte ihn an dem kleinen Erlenbruch vorüber, der, in einer Talwelle liegend, mit seinem dichten Buschwerk das einzige grüne Fleckchen hier in der Natur bildete.

Hinter einer Biegung des Fußwegs, der durch diesen lauschigen Winkel führte, stand vom Gebüsch verborgen ein Paar – ein großer, schlanker Mann in dunkelm Marineblau, gelben Strandschuhen und blendend weißem Panama, in seinen Armen ein Mädchen. Die Arme um seinen Hals geschlungen, hielt sie sich an ihn gepreßt, den Kopf mit dem feinen Nacken weit hintübergeneigt, trank sie geschlossenen Auges seine heißen, besinnungraubenden Küsse – ganz selbstvergessene Hingabe, ein völliges Untergehen in der berauschenden Seligkeit erster Liebe.

Da tönte plötzlich der Schritt des Wanderers draußen auf der Straße an ihr Ohr. Erschreckt fuhr Maria Schürmann zusammen, sie bemerkte durch eine Öffnung im Laubwerk den Vorübergehenden, und im selben Moment lösten sich ihre Hände mit einer jähen Bewegung vom Nacken Willibalds.

»Dein Bruder!«

Er fühlte durch ihr dünnes Gewand hindurch das Herz in ihrem jungen Leibe schlagen, den er noch immer an sich gepreßt hielt.

Auch er wandte den Kopf nach der Richtung, wo aber Volkmar inzwischen schon wieder verschwunden war.

»Unsinn – es hat uns niemand sehen können!«

Und schon klang wieder sein helles, sieghaftes Lachen, das auch ihr den jähen Schrecken, das wiederkehrende Selbstbesinnen hinwegscheuchte. Seine Augen tauchten sich tief in die ihren mit einem dunkeln Bitten und Werben, und sein Arm legte sich um ihren schlanken Leib.

»Komm!«

Sie schauerte im Innersten zusammen, aber wie willenlos folgte sie ihm – tiefer in das Gehölz hinein, durch dessen dichtes Laubversteck schon die dunkeln, weichen Schatten des Abends huschten.



 << zurück weiter >>