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Die Krankheit und die durch sie hervorgerufene Schlaffheit hielten Samgin davon ab, sich rechtzeitig um Aufnahme an die Moskauer Universität zu bemühen. Später beschloß er, auszuruhen und in diesem Jahr nicht zu studieren. Doch das Leben zu Hause war zu reizlos, und so fuhr er an einem windigen Tag Ende September dennoch nach Moskau und streifte durch die Gassen, auf der Suche nach Lidas Wohnung.
Vom Wind abgerissene Blätter flatterten durch die Luft gleich Fledermäusen, es sprühte ein feiner Regen. Von den Dächern fielen schwere Tropfen und trommelten gegen den Schirm. Zornig knurrte das Wasser in den rostigen Abflußrohren. Die nassen, verdrossenen Häuschen sahen Klim aus verweinten Fenstern an. Er mußte daran denken, daß solche Häuser Falschmünzern, Hehlern und Unglücklichen zusagen mußten. Zwischen diesen Häusern sahen vergessen kleine Kirchen hervor.
»Nicht Tempel, sondern Hundehütten«, dachte Klim, und dieser Vergleich gefiel ihm sehr.
Lida wohnte im Hinterhof eines dieser Häuser, im zweiten Stock des Traktes. Seine Mauern entbehrten jeglichen Schmucks, die Fenster waren ohne Einfassung, der Verputz abgebröckelt. Der Trakt hatte ein mißhandeltes, ausgeraubtes Aussehen.
Lida begrüßte Klim lebhaft, mit Freude. Ihre Züge zeigten Erregung, – die Ohren waren rot, die Augen lachten. Sie machte einen angeheiterten Eindruck.
»Samgin, ein Landsmann und Gespiele meiner Kindheit!« schrie sie, als sie Klim in ein weitläufiges Zimmer mit einem gestrichenen, zu den Fenstern hin abschüssigen Fußboden führte. Aus dem Rauch erhob sich ein Mann von kleinem Wuchs, ergriff eilig Klims Hand und sagte, während er sie hin und her zerrte, leise und schuldbewußt:
»Semjon Diomidow.«
Eine spitznäsige Jungfrau mit pompöser, tragisch zerwühlter Frisur nannte ihren Namen:
»Warwara Antipow.«
»Stepan Marakujew«, sagte ein kraushaariger Student mit dem Gesicht eines Sängers und Tänzers aus einem Kaschemmenchor.
Von den blauen Kacheln des Ofens löste sich hinkend ein kahlköpfiger Mensch in einem langen bis über die Knie fallenden und mit einer dicken Quastenschnur gegürteten Hemd, bellte heiser und sagte, die Worte in sich hineinsaugend:
»Onkel Chrisanf. Warja, sorg für den Gast! Ehre und Platz!«
Er nahm Klim am Arm und setzte ihn sorglich wie einen Kranken auf das Sofa.
Fünf Minuten später war Samgin berechtigt, zu glauben, daß Onkel Chrisanf ihn seit langem ungeduldig erwartet habe und schrecklich froh sei, daß er endlich erschien. Das Gesicht des Onkels, rund und rot wie das eines Neugeborenen, erstrahlte in einem entzückten Lächeln. Dieses Lächeln, das unaufhörlich erschien, entstand auf seinen vollen Lippen, dehnte die Nüstern seiner stumpfen Nase, blähte seine Backen, um endlich, nachdem es die säuglinghaft kleinen Augen von unbestimmter Farbe überzogen hatte, auf der Stirn und der geschliffenen, rosigen Haut seines Schädels zu erstrahlen. Es war ein seltsamer Anblick, es schien, als glitte Onkel Chrisanfs Gesicht aufwärts und könnte sich plötzlich im Nacken befinden, und an der Stelle des Gesichts ein blindes, rundes Stück roter Haut zurückbleiben.
»Wir haben eben den ›Tartuffe‹ durchgenommen«, sagte Onkel Chrisanf, nachdem er neben Klim Platz genommen hatte, und scharrte mit seinen bunten Pantoffeln am Fußboden.
Zwei Lampen erhellten das Zimmer. Die eine stand auf dem Spiegelschränkchen zwischen den eine graue Feuchtigkeit ausschwitzenden Fenstern. Die andere hing an einer Kette von der Decke herab. Unter ihr stand in der Pose eines Erhängten, mit am Körper herabbaumelnden Armen, den Kopf auf die Schulter geneigt, Diomidow. Stand – und sah mit einem durchdringenden, irritierenden Blick auf Klim, der durch die singende, begeisterte Redeweise Onkel Chrisanfs betäubt war:
»Ich vergöttere Moskau! Rühme mich, Moskauer zu sein! Wandle erschauernd dieselben Straßen mit unseren weltberühmten Schauspielern und Gelehrten! Bin glücklich, den Hut vor Wassili Ossipowitsch Kljutschewski ziehen zu dürfen! Bin Leo Tolstoi – Leo, sage ich! – zweimal begegnet. Und wenn Maria Jermolow zur Probe fährt, bin ich bereit, mitten auf der Straße in die Knie zu sinken. Auf Ehre!«
Im Nachbarzimmer waren Lida, in roter Bluse und schwarzem Rock, und Warwara, in einem dunkelgrünen Kleid, geschäftig. Es lachte der unsichtbare Student Marakujew. Lida schien kleiner und erinnerte mehr denn je an eine Zigeunerin. Sie war gleichsam voller geworden, und ihr zierliches Figürchen hatte seine Körperlosigkeit eingebüßt. Dies beunruhigte Klim, der unaufmerksam die begeisterten Ergüsse Onkel Chrisanfs über sich ergehen ließ und versteckt, mit scheelen Blicken Diomidow betrachtete, der lautlos von Ecke zu Ecke wandelte.
Auf den ersten Blick bestürzte Diomidows Gesicht durch seine festliche Schönheit, doch bald entsann sich Klim, daß man gerade diese süßliche Schönheit Engelsschönheit nannte. Das von saphirgrünen, mädchenhaften Augen erhellte, runde und weiche Gesicht schien künstlich gemalt. Übertrieben grell waren die vollen Lippen, allzu stark und dicht die goldfarbenen Brauen. Alles in allem die starre Maske einer Porzellanpuppe. Das hellbraune, lockige Haar schlängelte sich bis zur Schulter und flößte den lächerlichen Wunsch ein, nachzusehen, ob Diomidow nicht weiße Fittiche auf dem Rücken habe. Während er im Zimmer auf und ab schritt, zwang er häufig und behutsam mit beiden Händen Haarsträhnen hinter seine Ohren zurück und preßte seine Schläfen in einer Weise zusammen, als fühle er nach, ob auch sein Kopf noch da sei. Dann entblößten sich zwei kleine Ohren von edler Form.
Mittelgroß, sehr schlank, trug Diomidow eine schwarze Bluse mit breitem Ledergürtel. Seine Füße waren mit geräuschlosen, gut geputzten Stiefeln bekleidet. Klim bemerkte, daß dieser Junge einige Male – nach einem unsicheren Blick zu ihm hin – sich auf die Lippe biß, als getraue er sich nicht, ihn etwas zu fragen.
»Ich habe die Ehre, Nikolai Nikolajewitsch Slatowratski persönlich zu kennen«, legte der entzückte Onkel Chrisanf dar.
Als Lida zum Tee rief, schwelgte er auch drüben noch lange in Schilderungen des an berühmten Leuten reichen Moskaus.
»Hier ist sowohl Rußlands Hirn als auch sein weites Herz«, rief er aus und zeigte mit dem Arm nach dem Fenster, an dessen Scheiben sich die feuchte Dunkelheit des Herbstabends feucht anschmiegte.
Die spitznäsige Warwara hielt das Haupt stolz erhoben. Ihre grünlichen Augen lächelten den Studenten Marakujew an, der ihr etwas ins Ohr flüsterte und lachlustig die Backen aufblies. Lida, die den Tee in die Gläser goß, war düster.
»Diese Lobgesänge können ihr nicht gefallen«, dachte Klim, während er den über sein Glas gebeugten Diomidow beobachtete. Onkel Chrisanf wischte sich müde, mit der Bewegung eines Katers, den Schweiß von Gesicht und Glatze, rieb die feuchte Handfläche an seiner Schulter ab und fragte Klim:
»Petersburg ist mehr nach Ihrem Herzen?«
Klim kam es so vor, als klinge die Frage ironisch. Aus Höflichkeit wollte er mit dem Moskauer in der Beurteilung der alten Stadt nicht verschiedener Meinung sein. Bevor er aber Anstalten treffen konnte, Onkel Chrisanfs Herz zu erquicken, sagte Diomidow, ohne den Kopf zu erheben, mit lauter und überzeugter Stimme:
»In Petersburg ist der Schlaf schwerer. An feuchten Plätzen ist der Schlaf immer schwer. Auch die Träume sind in Petersburg eigenartig. So grausige Dinge wie dort träumt man in Orjol nicht.«
Er blickte Klim an und fügte hinzu:
»Ich bin aus Orjol.«
Lida sah mit gespanntem Blick auf Diomidow, doch er beugte sich wieder vor und versteckte sein Gesicht.
Klim begann nach dem Herzen Onkel Chrisanfs von Moskau zu sprechen: Vom Berg der Anbetung gesehen erscheine es wie eine regellose Anhäufung von Kehricht, aus ganz Rußland zusammengefegt, doch die goldenen Kuppeln zahlreicher Kirchen seien beredte Zeugen dafür, daß es nicht Kehricht, sondern kostbares Erz sei.
»Wundervoll gesagt!« billigte Onkel Chrisanf und erstrahlte von oben bis unten in einem glücklichen Lächeln.
»Ergreifend sind diese Kirchlein, verirrt zwischen den Häusern der Menschen. Hundehütten Gottes . . .«
»Zu Herzen gehend! Treffend!« stieß Onkel Chrisanf aus und hüpfte auf seinem Stuhl empor.
Und von neuem kochte die Begeisterung in ihm über.
»Ja, Hundehütten des russischen, moskowitischen, volkhaftesten Gottes! Einen herrlichen Gott haben wir – Einfalt! Nicht in der Soutane, nicht im Bischofsmantel – im Hemd, jawohl! Unser Gott ist wie unser Volk: der ganzen Welt ein Rätsel!«
»Sind Sie gläubig?« fragte Diomidow leise Klim, doch Warwara zischte ihn an. Onkel Chrisanf redete mit schwingenden Bewegungen der Hand, bestrebt, seine winzigen Augen möglichst weit zu öffnen, erreichte jedoch nur, daß die grauhaarigen Brauen zitterten, und die Augen stumpf glänzten wie zwei zinnerne Knöpfe in roten Schlitzen.
Diomidow fuhr wie gebissen oder als habe er sich plötzlich an etwas Beängstigendes erinnert, von seinem Stuhl auf und schob der Reihe nach jedem schweigend seine Hand hin. Klim fand, daß Lida diese allzu weiße Hand einige Sekunden länger als notwendig in der ihren behielt. Auch der Student Marakujew verabschiedete sich. Noch im Zimmer schob er verwegen seine Mütze in den Nacken.
»Möchtest du dir ansehen, wie ich wohne?« sagte Lida freundlich.
In einem schmalen und langen Zimmer stand, zwei Drittel seiner Breite einnehmend, ein massives Bett. Sein hohes, geschnitztes Kopfende und der ragende Berg üppiger Kissen ließen Klim denken:
»Das ist das Bett einer Greisin.«
Eine bauchige Kommode und auf ihr ein Trumeau in Form einer Lyra, drei plumpe Stühle, ein alter kurzbeiniger Sessel vor einem Tisch am Fenster, – das war die ganze Einrichtung des Zimmers. Die Wände, weiß tapeziert, waren nüchtern und kahl, nur gegenüber dem Bett hing das dunkle Quadrat einer kleinen Photographie: die See, glatt wie ein Spiegel, das Heck einer Barkasse und auf ihr, umschlungen, Lida und Alina.
»Asketisch«, sagte Klim, der sich an das gemütliche Nest der Nechajew erinnerte.
»Ich mag nichts Überflüssiges.«
Lida setzte sich in den Sessel, schlug die Beine übereinander, faltete die Hände auf der Brust und begann, etwas ungeschickt, sogleich von der Reise auf der Wolga, durch den Kaukasus und von Batum übers Meer nach der Krim zu erzählen. Sie sprach so, als beeile sie sich, Rechenschaft über ihre Eindrücke abzulegen, oder als gebe sie eine von ihr gelesene, interessante Beschreibung von Dampfern, Städten und Routen wieder. Nur gelegentlich flocht sie einige Worte ein, die Klim als ihre eigenen empfand.
»Wenn du gesehen hättest, wie grauenhaft das ist, wenn Millionen Heringe als eine einzige blinde Masse zum Laichen ziehen! Das ist dermaßen dumm, daß man sogar erschrickt.«
Über den Kaukasus lautete ihr Urteil:
»Eine Höllenlandschaft mit schwarzen Figürchen halbverkohlter Sünder. Eiserne Berge, auf ihnen trauriges Gras, das wie Grünspan aussieht. Weißt du, ich empfinde eine immer heftigere Abneigung gegen die Natur«, schloß sie ihren Bericht lächelnd und das Wort »Natur« mit einer Grimasse des Ekels betonend. »Diese Berge, Wasser, Fische, all dies ist erstaunlich drückend und dumm. Und zwingt einen, die Menschen zu bedauern. Ich aber verstehe es nicht, zu bedauern.«
»Du bist alt und weise«, scherzte Klim, der fühlte, daß die Übereinstimmung ihrer Ansichten mit seinen eigenen unfruchtbaren Grübeleien ihm wohltat.
Draußen rauschte Regen und streichelte die Scheiben. Eine Gaslaterne flammte auf. Ihr blutloses Licht erhellte die feine, graue Perlenschnur der Regentropfen. Lida schaute mit auf der Brust gekreuzten Armen stumm aus dem Fenster. Klim fragte:
»Wer ist eigentlich dieser Onkel Chrisanf?«
»Vor allem ein sehr gütiger Mensch. Weißt du, so ein unerschöpflich guter. Unheilbar, würde ich sagen.«
Und mit einem Lächeln ihrer dunklen Augen begann sie so lebhaft und mit so viel Wärme zu reden, daß Klim sie mit Erstaunen ansah: als wäre jene, die vor einigen Minuten in so trockenem Ton Rechenschaft abgelegt hatte, eine andere gewesen.
»Ich bin tief überzeugt, daß er Moskau, das Volk und die Menschen, von denen er spricht, aufrichtig liebt. Übrigens, Menschen, die er nicht liebte, gibt es auf der Welt nicht. Einem solchen Menschen bin ich noch nicht begegnet. Er ist unerträglich, er besitzt in einzigartiger Weise die Gabe, mit Begeisterung Plattheiten zu sagen, aber dennoch . . . Man möchte einen Menschen beneiden, der so das Leben feiert . . .«
Sie erzählte, Onkel Chrisanf habe sich in seiner Jugend politisch komprimittiert, das habe ihn mit seinem Vater, einem reichen Gutsbesitzer, entzweit. Darauf habe er sich als Korrektor und Souffleur sein Brot verdient und nach dem Tode seines Vaters eine Bühne in der Provinz aufgemacht. Er verkrachte und saß sogar in Schuldhaft. Später war er Regisseur an privaten Theatern, heiratete eine reiche Witwe, die starb und ihr ganzes Vermögen ihrer Tochter Warwara hinterließ. Jetzt lebte Onkel Chrisanf bei seiner Stieftochter und erteilte an einer privaten Theaterschule Unterricht im Deklamieren.
»Und diese – Warwara?«
»Warwara hat Talent«, sagte zögernd Lida, und ihre Augen hefteten sich fragend auf Klims Gesicht.
»Weshalb siehst du mich so an?« fragte er verlegen.
»Ich frage mich, ob du wohl Talent hast?«
»Ich weiß es nicht«, erwiderte Klim bescheiden.
Sie betrachtete ihn nachdenklich.
»Irgendein Talent mußt du haben«, sagte sie.
Klim machte sich ihr Schweigen zunutze, um sie nach dem zu fragen, was ihn hauptsächlich interessierte: nach Diomidow.
»Er ist wunderlich, nicht wahr?« rief Lida aus, von neuer Lebhaftigkeit erfüllt. Es ergab sich, daß Diomidow eine Waise war, ein Findelkind. Bis zu seinem neunten Jahr wurde er von einer alten Jungfer, der Schwester eines Geschichtslehrers erzogen, dann starb sie. Der Lehrer ergab sich dem Trunk und starb gleichfalls schon zwei Jahre darauf. Ein Drechsler, der Ikonenschreine schnitzte, nahm Diomidow in die Lehre. Nachdem Diomidow fünf Jahre bei ihm gearbeitet hatte, übernahm ihn sein Bruder, der Requisitenmacher war, ein Junggeselle und Säufer. Bei ihm lebt er auch heute.
»Chrisanf drängt ihn, zur Bühne zu gehen. Aber ich kann mir keinen weniger theatralischen Menschen als Semjon vorstellen. Oh, was für ein reiner Jüngling er ist!«
»Und in dich verliebt!« bemerkte Klim lächelnd.
»Und in mich verliebt«, wiederholte Lida automatisch.
»Und du?«
Sie antwortete nicht, aber Klim sah, daß ihr braunes Gesicht sich sorgenvoll verdunkelte. Sie zog die Beine auf den Sessel herauf, schlang die Arme um ihre Schultern und krümmte sich zu einem Klümpchen zusammen.
»Mit wunderlichen Menschen komme ich in Berührung«, sagte sie seufzend. »Mit sehr wunderlichen. Und überhaupt, wie schwer ist es, die Menschen zu verstehen.«
Klim nickte zustimmend. Wenn er sich nicht auf den ersten Blick ein Urteil über einen Menschen bilden konnte, empfand er diesen Menschen als eine Bedrohung. Die Zahl dieser bedrohlichen Menschen wuchs ständig. Unter ihnen stand Lida ihm am nächsten. Diese Vertrautheit empfand er in diesem Moment besonders deutlich, und plötzlich bemächtigte sich seiner der Wunsch, ihr alles von sich zu sagen, ohne einen einzigen Gedanken zu verhehlen, ihr noch einmal zu gestehen, daß er sie liebe, aber nicht verstehe und etwas an ihr fürchte. Beunruhigt durch diesen Wunsch stand er auf und verabschiedete sich von ihr.
»Komm bald wieder«, sagte sie. »Komm morgen schon. Morgen ist Feiertag.«
Auf der Straße rieselten immer noch die feinen Körnchen des herbstlich ausdauernden Regens. Langweilig gurgelte das Wasser in den Sielen. Die Häuser, eng aneinander geschmiegt, fürchteten gleichsam zu zerfließen, wenn sie sich trennten. Sogar das Licht der Laternen hatte etwas Flüssiges. Klim winkte einem schwarzen, wütenden Kutscher. Sein nasser Gaul wackelte mit dem Kopf und pochte mit den Hufeisen gegen die Pflastersteine. Klim schauerte fröstelnd zusammen, betroffen von der kalten Feuchtigkeit und von unmutigen Gedanken über die Menschen, die schwärmerisch unglaubliche Dummheiten zu sagen verstanden, und über sich, der noch immer ohnmächtig war, sich sein eigenes Satzsystem aufzubauen.
»Der Mensch ist ein System von Sätzen, nicht mehr. ›Hundehütten Gottes‹ war dumm von mir gesagt. Dumm. Aber noch dümmer ist der ›moskowitische Gott im Hemd‹. Und warum sind Träume in Orjol angenehmer als Träume in Petersburg? Es ist klar, die Menschen brauchen diese Abgeschmacktheiten nur, damit einer sich vom anderen unterscheiden kann. Im Grunde ist das Betrug.«
Einige Abende bei Onkel Chrisanf verbracht, überzeugten Samgin vollkommen davon, daß Lida unter wahrhaft wunderlichen Menschen lebte. Jedesmal sah er dort Diomidow, und diese gemalte Puppe erregte in ihm ein Gefühl, gemischt aus Neugier, Ratlosigkeit und zögernder Eifersucht. Der Student Marakujew begegnete Diomidow feindselig, Warwara gnädig und gönnerhaft, während Lidas Verhalten sprunghaft und launisch war. Zuweilen übersah sie ihn während des ganzen Abends, unterhielt sich mit Makarow oder verspottete Marakujews Liebe für das einfache Volk. Ein anderes Mal sprach sie den ganzen Abend halblaut nur mit ihm oder lauschte seiner summenden Rede. Diomidow sprach immer mit einem Lächeln und so langsam, als formten sich die Worte ihm schwer.
»Es gibt häusliche Menschen und wilde. Ich bin ein wilder«, sagte er schuldbewußt. »Die häuslichen Menschen verstehe ich wohl, aber ich gewöhne mich schwer an sie. Immer scheint es mir, als trete jemand an mich heran und fordere mich auf: ›Komm mit!‹ Und ich gehe dann mit, ohne zu wissen wohin.«
»Das bin ich, ich bin es, der dich führt!« schrie Onkel Chrisanf. »Ich werde aus dir einen erstklassigen Schauspieler machen. Du wirst einen solchen Romeo, einen solchen Hamlet hinlegen . . .!«
Diomidow glättete sein Haar, schmunzelte ungläubig, und seine Ungläubigkeit war so deutlich, daß Klim dachte:
»Lida hat recht. Dieser Mensch kann kein Schauspieler sein, er ist viel zu dumm, um sich zu verstellen.«
Doch eines Tages ließ Onkel Chrisanf Diomidow und seine Stieftochter einige Szenen aus »Romeo und Julia« spielen. Klim, von jeher gleichgültig gegen das Theater, war bestürzt über die erhabene Gewalt, mit der der lichthaarige Jüngling die Worte der Liebe und Leidenschaft aussprach. Er erwies sich im Besitz eines sanften Tenors, arm an Schattierungen, doch klangvoll. Samgin lauschte den schönen Worten Romeos und fragte sich, weshalb dieser Mensch Bescheidenheit heuchelte, wenn er sich einen Wilden nannte. Weshalb verheimlichte Lida, daß er Talent besaß? Wie sie ihn jetzt ansah, mit geweiteten Pupillen, trat durch die bräunliche Haut ihrer Wangen eine helle Röte, und ihre Finger, die auf ihrem Knie ruhten, zitterten.
Onkel Chrisanf, der rittlings auf einem Stuhl saß, erhob Arm, Oberlippe und Brauen, spannte die dicken Waden seiner kurzen Beine an, hüpfte auf seinem Sitz empor, schleuderte seinen feisten Rumpf vor, und Gesicht und Stimme strahlten vor Entzücken. Er zwinkerte wollüstig und klatschte dreimal in die Hände:
»Vortrefflich!« schrie er. »Ausgezeichnet, aber verkehrt! Das war kein Italiener, sondern ein Mordwine. Das war Grübelei, aber nicht Leidenschaft, Reue, aber nicht Liebe! Die Liebe verlangt die große Geste. Wo ist bei dir die Geste? Dein Gesicht lebt nicht! Deine ganze Seele liegt in den Augen, das ist zu wenig! Nicht jedermann im Publikum sieht durch das Binokel auf die Bühne . . .«
Lida zog sich ans Fenster zurück und sagte, während sie mit dem Finger auf der beschlagenen Scheibe malte, mit dumpfer Stimme:
»Mir scheint auch, es ist zu . . . weich.«
»Nicht im geringsten zündend«, bestätigte Warwara und maß Diomidow mit einem ärgerlichen Blick aus ihren grünlichen Augen. Erst in diesem Augenblick fiel Klim ein, daß sie die Repliken Julias mit blaßer Stimme gegeben und beim Sprechen unschön den Hals gereckt hatte.
Diomidow senkte den Kopf, schob die Daumen zwischen seinen Gurt und sagte, einem »O« ähnelnd, schuldbewußt:
»Ich glaube nicht an das Theater.«
»Weil du nicht so viel weißt«, schrie tobend Onkel Chrisanf. »Lies mal das Buch ›Die politische Rolle des französischen Theaters‹ von . . . wie heißt er doch? Boborykin!«
Er drang auf Diomidow ein und trieb ihn in die Ofenecke. Dort beteuerte er ihm:
»Mit dem Evangelium sollte man dich auf den Schädel schlagen, mit der Predigt über die Talente!«
»An diese Predigt glaube ich auch nicht«, hörte Klim leise antworten.
»Gewiß, er ist dumm«, entschied Klim. Lida begann zu lachen, und Klim nahm ihr Lachen für eine Bestätigung seines Urteils.
Später, als er bei ihr im Zimmer saß, sagte er:
»Weißt du noch, dein Vater sagte, jeder Mensch sei an seinem Faden befestigt, und dieser Faden sei stärker als die Menschen.«
»Er hängt selbst an einem Faden«, meinte Lida gleichmütig, ohne ihn anzusehen.
»Wenn du auf Semjon anspielst, so ist dies nicht richtig«, fuhr sie fort. »Er ist frei. Er hat etwas Beschwingtes.«
Sie sprach gezwungen, wie eine Frau, die die Unterhaltung mit ihrem Mann langweilt. An diesem Abend schien sie um fünf Jahre gealtert. Eingehüllt in ihren Schal, der straff ihre Schultern umspannte, fröstelnd in den Sessel gekauert, war sie, wie Klim fühlte, weit fort von ihm. Doch dies hielt ihn nicht ab, sich zu sagen, mochte dieses Mädchen häßlich und fremd sein, er wollte doch gern zu ihr treten, seinen Kopf in ihren Schoß legen und noch einmal jenes Einzige empfinden, das er einst erfahren hatte. In seinem Gedächtnis ertönten Romeos Worte und der Ausruf Onkel Chrisanfs:
»Die Liebe verlangt die große Geste!«
Doch er fand bei sich keine Entschlossenheit zur Geste, verabschiedete sich gepreßten Herzens von ihr und ging fort, zum zehntenmal an dem Rätsel verzweifelnd, warum es ihn gerade zu dieser Frau ziehe. Warum?
»Ich erklügle sie. Sie kann mir doch nicht die Tür in ein sagenhaftes Paradies öffnen!«
Und doch fühlte er, daß irgendwo tief in ihm die Überzeugung beharrte, Lida sei für ein besonderes Leben, eine besondere Liebe geschaffen. Über seine Empfindungen für sie ins reine zu kommen, daran hinderte ihn der Sturzbach von Eindrücken, ein Sturzbach, in dem Samgin willenlos und immer schneller dahintrieb.
An Sonntagabenden versammelten sich bei Onkel Chrisanf seine Freunde, Leute gesetzten Alters und gleicher Gemütslage. Alle fühlten sich vom Schicksal ungerecht behandelt, und jeder von ihnen brachte Gerüchte und Tatsachen mit, die das Gefühl des Unrechts noch vertieften. Alle waren dem Trinken und Essen zugetan. Onkel Chrisanf aber war im Besitz der mächtigen Köchin Anfimowna, die unglaubliche Fischpasteten zu backen verstand.
Unter diesen Menschen gab es zwei Schauspieler, die überzeugt waren, daß sie ihre Rollen so spielten, wie nie ein Mensch vor ihnen und nach ihnen. Der eine war würdevoll, grauhaarig, mit hängenden Wangen und dem allesverachtenden Blick der streng aufgerissenen Augen eines Menschen, den der Ruhm ermüdet hat.
Er trug mit Adel einen Samtfrack und weiche sämischlederne Schuhe. Unter seinem Bulldoggenkinn war ein blauer Schlips zu einer pompösen Schleife geknüpft. Er litt an Podagra und setzte die Füße so behutsam auf, als verachte er auch den Erdboden. Er aß und trank viel, sprach wenig, und wessen Namen immer in seiner Gegenwart genannt werden mochte, er winkte mit der schweren, bläulichen Hand ab und verkündete grollend und im Ton des großen Herrn:
»Ich kenne ihn.«
Weiter sagte er nichts, da er offenbar annahm, in diesen seinen drei Worten sei eine hinlänglich vernichtende Kritik dieses Menschen eingeschlossen. Er war Anglomane, vielleicht deshalb, weil er nur »Englischen Bittern« trank, und zwar mit fest zugekniffenen Augen und so heftig zurückgeworfenem Kopf, als wünschte er, daß der Schnaps ihm zum Nacken hinausdrang. Der andere Schauspieler war unansehnlich: kahlköpfig, mit zahnlosem Mund und einem Kneifer auf einer Habichtsnase. Er hatte die großen und wachsamen Ohren eines Hasen. Rastlos geschäftig in seinem dürftigen grauen Jackett und grauen Hosen an dünnen Beinen mit spitzen Knien, erzählte er Anekdoten, trank mit Wollust Wodka, die er nur mit Roggenbrot begleitete, und ergänzte, boshaft die Lippen schiefziehend, die Urteile des würdevollen Schauspielers mit gleichfalls drei Worten:
»Er war Alkoholiker.«
Er versicherte, daß er »Memoiren eines Nachtvogels« schriebe, und erläuterte:
»Der Nachtvogel bin ich, der Schauspieler. Schauspieler und Frauen leben nur nachts. Ich liebe bis zur Selbstvergessenheit alles Historische.«
Zum Beweise seiner Liebe für die Historie erzählte er nicht schlecht, wie der hochbegabte Andrejew-Burlak vor der Aufführung das Kostüm vertrank, in dem er den Judas von Qolowljow spielen mußte; wie Schumski soff; wie die Rinna-Syrowarow in betrunkenem Zustand nicht unterscheiden konnte, wer von drei Männern ihr Gatte war. Die Hälfte dieser Geschichte, wie auch die meisten übrigen, teilte er im Flüsterton mit, wobei er die Worte verschluckte und mit dem linken Bein strampelte. Das Zucken dieses Beins bewertete er ziemlich hoch:
»Ein solches Zucken befiel Napoleon in den besten Augenblicken seines Lebens.«
Klim Samgin hatte sich daran gewöhnt, die Menschen mit dem ihm verständlichsten Maßstab zu messen, und diese beiden Mimen färbten in Klims Augen mit ihrer Farbe alle Freunde Onkel Chrisanfs.
Einen Menschen, der einst eine Rolle gespielt hatte, lernte er in der Person eines bekannten Schriftstellers kennen, eines langbärtigen, knorrigen Greises mit kleinen Augen. Dieser Literat, der sich in den 70er Jahren durch die Idealisierung des Bauerntums einen Namen gemacht hatte, hatte, obwohl mäßig begabt, durch den Lyrismus seiner Liebe und seines Glaubens an das Volk die ehrlichste Begeisterung der Leser erweckt. Er hatte seinen Ruhm überlebt, doch seine Liebe war lebendig geblieben, wenn auch verbittert, weil der Leser sie nicht mehr schätzte, nicht mehr verstand. Dadurch verwundet, schalt der Greis zänkisch die jungen Literaten und beschuldigte sie des Verrats am Volk.
»Alles Lejkins, die für die Unterhaltung schreiben. Korolenko schreibt bald so, bald so, haut aber in dieselbe Kerbe. Über Kakerlaken hat er geschrieben! In der Stadt spielen die Kakerlaken keine Rolle, man muß sie auf dem Dorf beobachten und beschreiben! Man lobt zum Beispiel Tschechow. Aber er ist ein herzloser Taschenspieler, der nur grau in grau malt. Man liest und sieht nichts. Es sind alles Halbwüchsige.«
Vor allen Dingen konnten ihn die Marxisten bis zu einem bösen Leuchten in den Augen erbittern. Während er sich am Bart zupfte, sagte er finster:
»Kürzlich hat mir ein Dummkopf ins Gesicht hinein gekläfft: Ihr Einsatz auf das Volk ist geschlagen. Es gibt kein Volk, es gibt nur Klassen. Ein Jurist im zweiten Semester. Jude. Klassen! Er hat vergessen, wie klassisch man erst unlängst gegen seine Rassegenossen gewütet hat.«
Befriedigt von dem einfältigen und düsteren Kalauer, schmunzelte er so breit, daß sein Bart bis zu den Ohren hinaufwanderte und eine gutmütige, stumpfe Nase entblößte.
Seine Bewegungen waren schwer, wie die eines Bauern hinter dem Pflug. Überhaupt war in seinen Gesten und Redewendungen viel Bäurisches. Samgin, der sich an den Tolstoianer erinnerte, der sich als Bauer aufgeputzt hatte, sagte zu Makarow:
»Er schauspielert geschickt.«
Aber Makarow runzelte die Stirn und entgegnete:
»Ich finde nicht, daß er schauspielert. Vielleicht hat er alle diese Manieren irgendwann einmal angenommen, weil sie Mode waren, doch jetzt sind sie sein echtes Wesen. Du solltest beobachten, wie naiv und gar nicht gescheit er zuweilen redet, und trotzdem wird es einem nicht einfallen, über ihn zu lachen. Nein! Der Alte ist echt! Eine Persönlichkeit!«
Wenn der alte Schriftsteller Branntwein getrunken hatte, liebte er es, von der Vergangenheit zu erzählen, von Menschen, mit denen er gemeinsam angefangen hatte zu arbeiten. Die jungen Leute hörten die Namen von Literaten, die ihnen unbekannt waren, und tauschten verständnislose Blicke:
»Naumow, Bashin, Sassodimski, Lewitow . . .«
»Hast du die gelesen?« erkundigte sich Klim bei Makarow.
»Nein. Von den beiden Uspenskis habe ich Gleb gelesen, aber daß es noch einen Nikolai gab, höre ich zum ersten Male. Gleb ist ein Hysteriker. Übrigens verstehe ich wenig von Belletristen, Prosaisten, überhaupt von ›Isten‹.« Er lächelte, fügte aber sogleich finster hinzu:
»Ich fürchte, sie werden Lida noch in die Politik hineinziehen . . .«
Makarow war häufiger Gast bei Lida. Aber er blieb nie lange. Mit ihr sprach er im Ton des älteren Bruders, mit Warwara wegwerfend und bisweilen sogar spöttisch. Marakujew und Pojarkow nannte er »Choristen«, Onkel Chrisanf den »Moskauer Knecht Gottes«. All das behagte Klim, der jetzt den barfüßigen, müden und Naivitäten propagierenden Makarow auf der Veranda des Landhauses vergessen hatte.
Es gab dort noch einen Schriftsteller, den Autor süßlicher Erzählungen aus dem Leben kleiner Leute mit kleinen Leiden. Makarow nannte diese Erzählungen »Korrespondenzberichte an Nikolaus den Wundertäter«. Der Schriftsteller selbst war ebenfalls klein, vierschrötig, mit schlechtem Teint, einem dünnen schwärzlichen Bärtchen und unfreundlichen Augen. Um ihren harten Ausdruck zu mildern, lächelte er unbestimmt und gewaltsam, und dieses Lächeln, das sein dunkles Gesicht verzerrte, machte ihn alt. In nüchternem Zustand redete er wenig und behutsam, betrachtete mit großer Aufmerksamkeit seine bläulichen Fingernägel und hüstelte trocken in seinen Rockärmel. Wenn er jedoch getrunken hatte, stieß er, fast immer am falschen Platz, vieldeutige Sätze hervor:
»Ich bin Sklave, ich bin Zar, ich bin Wurm, ich bin Gott! Die Substanz ist die gleiche, beim Wurm wie bei Goethe.«
Er erfand Redensarten, die er ebenfalls unvermittelt und sinnlos in die Unterhaltung einflocht. Man nannte ihn Nikodim Iwanowitsch, und Klim hörte einmal, wie er, rätselhaft lächelnd, zu Diomidow sagte:
»Warten wir ab, vertrauen wir ihm, folgen wir dem Nikodim!«
Wenn er etwas im Volkston oder im Jargon des Alltags gesagt hatte, hüstelte er besonders eifrig und gedankenvoll in seinen Ärmel. Doch bereits fünf Minuten später sprach er in anderen Wendungen und so, als ob er in Gedanken die Festigkeit seiner Worte prüfte.
»In unserem Innern ist alles nicht so, wie wir es sehen. Das wußten schon die Griechen. Das Volk erwies sich anders, als die Generation der 70er Jahre es gesehen hatte.«
Er gab sich überhaupt rätselhaft und zerstreut, was Samgin anzunehmen gestattete, daß diese Zerstreutheit eine gemachte sei. Nicht selten brach er mitten im Satz ab, nahm aus der Seitentasche seiner dunklen Jacke ein Notizbüchlein aus Leder, barg es unter dem Tisch auf seinen Knien, und schrieb dort mit einem dünnen Bleistift etwas hinein.
Auf diese Weise entstand der Eindruck, daß Nikodim Iwanowitsch sich in einem dauernden Zustand ruhelosen Schaffens befand, was bei Diomidow ein feindseliges Verhalten gegen den Schriftsteller hervorrief.
»Schon wieder notiert er, sehen Sie es?« sagte er ein wenig furchtsam und leise zu Lida.
Nikodim Iwanowitsch aß viel und mit unschönen Manieren. Da er dies zu wissen schien, bemühte er sich, unauffällig zu essen, und schluckte die Speisen eilig, ohne zu kauen, hinunter. Aber sein Magen war schwach, der Schriftsteller litt an Schlucken, und wenn er genügend lange geschluckt hatte, zwinkerte er verlegen mit den Augen, hielt die Hand vor den Mund, steckte sodann seine Nase in den Rockärmel und entfernte sich hüstelnd zum Fenster, wo er, allen den Rücken zuwendend, sich heimlich den Bauch rieb.
In einer solchen Minute tauschte der lustige Student Marakujew mit Warwara ein Zwinkern des Einverständnisses, trat zu ihm hin und fragte:
»Was beschauen Sie da, Nikodim Iwanowitsch?«
Sich windend, sagte der Schriftsteller:
»Ja, sehen Sie, da brennt ein Stern, unnütz für Sie und für mich. Er entflammte zehntausend Jahre vor uns und wird noch zehntausend Jahre nutzlos brennen, während wir nicht einmal mehr fünfzig Jahre leben werden.«
Diomidow, der Zwetschkenbranntwein getrunken hatte und daher leicht angeheitert war, erklärte laut und in protestierendem Ton:
»Das wissen Sie aus der Astronomie. Aber vielleicht hängt die ganze Welt an diesem einzigen Stern, vielleicht ist er ihr letzter Halt. Sie aber wollen . . . Was wollen Sie?«
»Das ist nicht Ihre Sache, junger Mann«, sagte der Schriftsteller verletzt.
Ferner verkehrte bei Onkel Chrisanf ein rotköpfiger, rotgesichtiger Professor, der Autor eines politischen Programms, geschrieben vor zehn Jahren. In diesem Programm bewies er, daß in Rußland die Revolution unmöglich, daß eine allmähliche Verschmelzung aller oppositionellen Kräfte des Landes in einer Reformpartei erforderlich sei, die die Aufgabe habe, beim Zaren nach und nach die Einberufung des Landständeparlaments durchzusetzen. Doch auch für diesen Artikel entfernte man ihn von der Universität. Seitdem lebte er im Besitz des Titels eines »Märtyrers der Freiheit«, ohne den Wunsch, den Gang der Geschichte zu verändern, weiter, war selbstzufrieden, geschwätzig und trank, dem Rotwein vor allen Getränken den Vorzug gebend, so wie alle in Rußland: ohne ein Gefühl für Maß.
Der schneidige Marakujew und ein anderer Student, der ausgezeichnete Gitarrespieler Pojarkow, ein langer, blatternarbiger Mensch, an dem etwas an einen Küster erinnerte, machten Warwara einmütig den Hof. Sie rollte tragisch die grünlichen Augen, schüttelte ihr rötliches Haar und bemühte sich, mit tiefer Stimme zu sprechen wie die Jermolow, vergaß sich jedoch zuweilen und sprach durch die Nase, wie die Sawin.
Makarow und Diomidow behaupteten sich standhaft bei Lida. Auch sie beeinträchtigten sich gegenseitig nicht. Makarow behandelte den Gehilfen des Requisitenmachers geradezu mit Liebenswürdigkeit, wenngleich er hinter seinem Rücken mit Unmut von ihm sprach.
»Der Teufel mag wissen, ist er nun ein Mystiker oder wie? Ein halber Irrer. Lida scheint jedoch auch eine Neigung nach dieser Seite zu haben. Überhaupt, die Gesellschaft ist nicht eben glänzend.«
Klim Samgin, vom Beobachten völlig in Anspruch genommen, sah sich abseits von allen, doch das verletzte ihn nicht mehr sehr heftig. Er fühlte, daß die bescheidene Rolle des Zuschauers vorteilhaft und angenehm war und ihn innerlich Lida näherte. Ihre Haltung an diesen Abenden war die einer Ausländerin, die die Sprache ihrer Umgebung schlecht versteht und angestrengt den verworrenen Reden folgt, deren umständliche Deutung ihr die Zeit raubt, selbst etwas zu sagen. Ihre dunklen Augen glitten über die Gesichter der Menschen, bald auf dem einen, bald auf dem anderen verweilend, aber niemals lange, und stets so, als habe sie diese Gesichter erst soeben bemerkt. Klim suchte wiederholt zu ergründen, was sie über diese Menschen dachte. Aber sie zuckte schweigend, ohne eine Antwort zu geben, die Achseln, und nur ein einziges Mal, als Klim allzu heftig in sie drang, sagte sie, wie in der Absicht, ihn beiseite zu stoßen:
»Ich weiß nicht. Wahrscheinlich verstehe ich nicht zu denken.«
Zuweilen erschien das unscheinbare Männchen Sujew, glatt gekämmt, mit einem winzigen Gesicht, dessen Zentrum ein plattgedrücktes Näschen bildete. Auch der ganze Sujew, platt, in einem zerknüllten Anzug, erschien zerdrückt und ausgespuckt. Er war vierzig Jahre alt, aber alle nannten ihn Mischa.
»Nun, Mischa?« fragte ihn der alte Schriftsteller.
Mit leiser Stimme, als lese er eine Seelenmesse für einen Angehörigen, antwortete er:
»In Marjina Roschtscha. Verhaftungen. In Twer. In Nishnij Nowgorod.«
Bisweilen nannte er die Namen der Verhafteten, und diese Aufzählung von Menschen, die gefangen genommen waren, wurde von allen schweigend angehört. Dann sagte der alte Literat düster:
»Sie lügen. Alle werden sie nicht wegfangen. Ach, schade, sie haben Natanson verhaftet, einen prächtigen Organisator. Sie arbeiten zersplittert, daher die häufigen Verhaftungen und Aushebungen. Führer tun not, alte Leute. Die Welt erhält sich durch die Alten, die bäuerliche Welt.«
»Notwendig ist das Bündnis aller Kräfte«, erinnerte der Professor. »Notwendig ist Reserve, allmähliches Fortschreiten . . .«
Nikodim Iwanowitsch stimmte ihm zu mit dem Spruch:
»In der Hast kann man nicht einmal Bastschuhe flechten.«
»Und dennoch, man nimmt Verhaftungen vor, also leben die Brüder!« tröstete der unansehnliche Schauspieler.
Onkel Chrisanf, flammend, erregt und schwitzend, rannte unermüdlich vom Zimmer in die Küche und zurück, und es geschah nicht selten, daß in dem traurigen Augenblick des Erinnerns an Menschen, die im Kerker saßen, nach Sibirien verbannt waren, seine jauchzende Stimme schmetterte:
»Bitte, zu einem Schnäpschen!«
Bemüht, in den Gesichtern den Ausdruck der Nachdenklichkeit und des Leides zu bewahren, schritten alle in die Ecke zum Tisch. Dort glänzten ihnen verführerisch Flaschen mit bunten Schnäpsen entgegen, herausfordernd schichteten sich Teller mit verschiedenerlei Imbiß auf. Der würdevolle Schauspieler gestand seufzend:
»Eigentlich schadet mir das Trinken.«
Und fügte hinzu, während er sich einschenkte:
»Aber ich bleibe dem englischen Bittern treu. Ja, ich finde sogar an nichts anderem Geschmack.«
Herein trat die monumentale, wie aus rotem Kupfer gegossene Anfimowna, auf den ausgestreckten Armen eine halbpudschwere Fischpastete. Sie genoß die lauten Ausbrüche der allgemeinen Begeisterung über die solide Schönheit ihrer Schöpfung und verneigte sich dann vor allen, wobei sie die Hände an den Bauch drückte und wohlwollend sprach:
Onkel Chrisanf und Warwara trugen die Flaschen vom Imbißtisch zur Mittagstafel hinüber. Der unansehnliche Schauspieler rief aus:
»Karthago muß zerstört werden!«
Einmal legte er, gleich nachdem er den ersten Bissen hinuntergeschluckt hatte, geschwächt Messer und Gabel aus der Hand, preßte die Schläfen zwischen seine Hände und fragte mit stiller Freude:
»Hören Sie, was ist denn das?«
Alle sahen auf ihn, in der Annahme, daß er sich verbrannt habe. Seine Augen wurden feucht, doch kopfschüttelnd sagte er:
»Das ist ja in Wahrheit eine Götterspeise! Herrgott, wie begabt ist die russische Frau!«
Er schlug vor, Anfimowna einzuladen und auf ihre Gesundheit anzustoßen. Der Vorschlag wurde einmütig angenommen und ausgeführt.
In guter Erinnerung an die Osternacht in Petersburg trank Samgin vorsichtig und wartete den interessanten Augenblick ab, wenn die Menschen nach dem guten Mahl und reichlichem Trunk, noch nicht berauscht, alle zugleich anfangen würden zu reden. Es entstand ein Wirbelsturm von Worten, ein ergötzliches Durcheinander von Sätzen:
»In England kann sogar ein Jude Lord werden!«
»Um einen Auerhahn so zu braten, wie die Eigenart seines Fleisches es verdient . . .«
»Plechanowismus!« schrie der alte Literat, während der Student Pojarkow eigensinnig und mit Grabesstimme widersprach:
»Die deutschen Sozialdemokraten haben ihre Macht mit legalen Mitteln errungen.«
Marakujew behauptete, zwei Drittel aller Reichtagsabgeordneten seien Pfaffen, während Onkel Chrisanf bewies:
»Christus ist ins Fleisch des russischen Volkes übergegangen!«
»Überlassen wir Christus Tolstoi!«
»Niemals! Um keinen Preis!«
»Molière, das ist bereits ein Vorurteil.«
»Sie ziehen Sardou vor, nicht wahr?«
»Was noch mehr!«
»Das Theater besucht man jetzt aus Gewohnheit, wie die Kirche. Ohne Glauben, daß man das Theater besuchen muß.«
»Das ist nicht wahr, Diomidow!«
»Sie, Teuerster, sollten möglichst viel Buchweizengrütze essen, dann wird es vorübergehen!«
»Wir alle leben um Christi willen!«
»Bravo! Das ist traurig, aber – wahr!«
»Und ich behaupte, daß die Engländer Europa beherrschen werden.«
»Er war auch noch in die Sache Astyrews verwickelt.«
»Kisselewskis ganzes Talent lag in seiner Stimme, in seinem Herzen war auch nicht ein Körnchen.«
»Reichen Sie mir den Essig herüber!«
»Nein, Sie entschuldigen schon! In Nischnij Nowgorod, im Dorf Podnowje legt man Salzgurken besser ein als in Neshin!«
»Raus aus Europa mit den Türken! Raus!«
»Haben Sie Dostojewski vergessen!«
»Und Saltykow-Schtschedrin?«
»Seine Mätresse war in jener Saison die Korojedow-Smijew, so eine, wissen Sie, laut läßt sich das nicht sagen . . .«
»Jetzt wird Witte mit Rußland umspringen!«
»Unbeschränkt. Sie werden was erleben!«
Man lachte. Nikodim Iwanowitsch begann unerwartet zu deklamieren:
Der Schriftsteller, wenn er die Woge
Und Rußland der Ozean,
Er muß sich auch empören,
Empört sich das Element.
»Hauptsache, halten Sie die Füße warm.«
»Rußland kocht über! Wird von neuem überkochen!«
»Die Studentenschaft! Der Bundesrat . . .«
»Nein, die Marxisten können den Volkstümlern nichts anhaben . . .«
»Ich weiß schon, was Kunst ist, ich bin Requisitenmacher . . .«
In diesen Wirbel warf auch Klim von Zeit zu Zeit Warawkasche Sprüche, und sie verschwanden spurlos zusammen mit den Worten aller anderen.
Der Professor erhob sich mit einem Glas Rotwein. Mit hocherhobenem Arm verkündete er:
»Herrschaften! Ich bitte, die Gläser zu füllen! Stoßen wir an auf ›sie‹!«
Auch die übrigen erhoben sich und tranken schweigend, wissend, daß sie auf die Verfassung tranken. Der Professor leerte sein Glas und sprach:
»Möge sie kommen!«
Er wählte fast immer unfehlbar für seinen Toast den Augenblick, wenn die reiferen Leute schwerer wurden, wenn ihnen traurig ums Herz ward, während die Jungen, umgekehrt, Feuer fingen. Pojarkow spielte virtuos auf der Gitarre. Darauf sang man im Chor die verdammten russischen Weisen, von denen das Herz vergeht und alles im Leben in einem einzigen Schluchzen erscheint.
Schön und selbstvergessen sang mit hohem Tenor Diomidow. Er legte Eigenschaften an den Tag, die niemand bei ihm vermutete und die Klims Sympathie erregten. Es war klar, daß der junge Requisitenmacher heuchelte, wenn er von seiner Furchtsamkeit gegenüber den häuslichen Menschen sprach. Einmal tadelte Marakujew erregt den jungen Zaren, weil der Zar nach Anhörung eines Berichts über die Studenten, die sich geweigert hatten, ihm den Treueid zu schwören, gesagt hatte:
»Ich werde auch ohne sie auskommen.«
Fast alle stimmten ihm darin zu, daß das eine Unklugheit gewesen war. Nur der weichherzige Onkel Chrisanf rieb mit der flachen Hand Luft in seine Glatze hinein und versuchte, den neuen Führer des Volkes zu rechtfertigen.
»Er ist jung. Übermütig.«
Der unansehnliche Schauspieler unterstütze ihn durch Entfaltung seiner Kenntnis der Geschichte:
»Sie alle sind in der Jugend übermütig. Zum Beispiel Heinrich IV.«
Diomidow sagte mit einem Lächeln, das sein gemaltes Gesicht unbewegt ließ, freudig und gleichsam neiderfüllt:
»Ein sehr kühner Zar.«
Mit dem gleichen Lächeln wandte er sich an Marakujew:
»Da gründen sie nun so einen allgemeinen Studentenbund, er aber, sehen Sie wohl, fürchtet sie nicht. Er weiß schon, daß das Volk die Studenten nicht liebt.«
»Heilige Einfalt Simeons! Reden Sie keinen Unsinn«, unterbrach ihn ärgerlich Marakujew. Warwara brach in lautes Lachen aus, auch Pojarkow lachte, so metallisch, als zwitscherte in seiner Kehle die Schere eines Friseurs.
Doch als berichtet wurde, daß der Zar erklärt habe, alle Hoffnungen auf eine Begrenzung seiner Gewalt seien grundlos, meinte selbst Onkel Chrisanf gedrückt:
»Er hört auf Schurken, das ist schlimm!«
Aber der Requisiteur umfing alle Anwesenden mit den Augen eines Erwachsenen, der auf Kinder herabblickt, und wiederholte beifällig und eigensinnig:
»Nein, er ist ehrlich. Er ist tapfer, weil er ehrlich ist. Er ist allein gegen alle . . .«
Marakujew, Pojarkow und ihr Kamerad, der Jude Preis, schrien:
»Wie – allein? Und die Gendarmen? Die Bürokraten?«
»Das sind die Dienstboten!« sagte Diomidow. »Niemand fragt die Dienstboten, wie man leben muß.«
Drei Stimmen redeten wechselseitig auf ihn ein, doch er schwieg eigensinnig, senkte den Kopf und starrte unter den Tisch.
Klim Samgin begriff, daß Diomidow unwissend war, aber dies befestigte nur seine Sympathie für den Jüngling. So einen konnte Lida nicht lieben. Im günstigsten Fall würde sie großmütig sein, ihn bemitleiden wie den Bastard einer seltenen Katzenrasse. Er neidete Diomidow sogar ein wenig seine standhafte Hartnäckigkeit und seine spöttische Ablehnung der Studenten. Ihrer erschienen immer mehr in der gemütlichen, im Hof verborgenen Behausung Onkel Chrisanfs. Sie tagten emsig in Warwaras Zimmer, das mit zahlreichen Photographien und Gravüren geschmückt war, die berühmte Bühnenkünstler darstellten. Sie besaß seltene Porträts von Hogarth, Alridge – der Rachel, der Mlle Morse, Talmas. Die Studentenversammlungen beunruhigten Makarow sehr und rührten Onkel Chrisanfs Herz, der sich als Komplice heranreifender großer Ereignisse fühlte. Er war felsenfest davon überzeugt, daß mit der Thronbesteigung Nikolaus II. die großen Ereignisse vor der Tür standen.
»Nun, Sie werden sehen, Sie werden sehen!« sagte er geheimnisvoll den gereizten jungen Leuten und zwängte listig die Knöpfe seiner Augen durch die roten Schlitze der Lider. »Er wird alle hintergehen, gebt ihm nur Zeit, sich umzutun! Sie müssen seinen Augen, dem Spiegel der Seele, keine Beachtung schenken. Blicken Sie genau in sein Gesicht!«
Und er scherzte:
»Ach, Diomidow, wenn man dir das Bärtchen abnähme und dir deine Locken stutzte, du wärst wie geschaffen für die Rolle des Thronprätendenten. Jeder Zug!«
Klim Samgin war sehr zufrieden über seinen Entschluß, in diesem Winter nicht zu studieren. In der Universität herrschte eine unheilschwangere Stimmung. Die Studenten pfiffen den Historiker Kljutschewski aus, bedrohten einige weitere Professoren, die Polizei jagte Ansammlungen auseinander, zweiundvierzig liberale Professoren schmollten und zweiundachtzig erklärten sich für eine strenge Gewalt. Warwara lief von einem Antiquar zum anderen, suchte Porträts der Madame Roland und bedauerte, daß kein Bild der Téroine de Méricourt aufzutreiben war.
Überhaupt nahm das Leben einen überaus beunruhigenden Charakter an, und Klim Samgin stand nicht an, zuzugeben, daß Onkel Chrisanf mit seinen Vorahnungen recht hatte. Besonders dauerhaft ritzten sich in Klims Gedächtnis einige Gestalten ein, denen er in diesem Winter begegnete.