Maxim Gorki
Das Leben des Klim Samgin
Maxim Gorki

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Auf Drängen Großvater Akims bereitete Dronow sich gemeinsam mit Klim zum Gymnasium vor und legte während des Unterrichts bei Tomilin eine fieberhafte Hast an den Tag. Klim erschien auch diese als Gier. Wenn er den Lehrer fragte oder ihm antwortete, sprach Dronow sehr schnell, er sog die Worte gleichsam in sich hinein, als wären sie heiß und verbrannten ihm Lippen und Zunge, Klim drang wiederholt in den Kameraden, den der »richtige Greis« ihm aufgezwungen hatte:

»Weshalb bist du so gefräßig?«

Dronow rieb sich die Nase, schielte mit den irren Augen zur Seite und schwieg beharrlich.

Doch in einem günstigen Augenblick senkte er geheimnisvoll seine hohe, schrille Stimme und verriet:

»Ich habe einen hungrigen Wrum im Bauch.«

»Wurm«, verbesserte Klim.

»Deiner heißt Wurm und meiner Wrum.«

Und hastig flüsternd gestand er, seine Tante sei eine Zauberin und habe ihn behext: sie habe ihm den Wurm »Wrum« in den Bauch getrieben, damit ihn, Dronow, Zeit seines Lebens unersättlicher Hunger quäle. Er vertraute Klim ferner an, daß er im selben Jahr geboren sei, als sein Vater gegen die Türken kämpfte, in Gefangenschaft geriet und den türkischen Glauben annahm, und daß er jetzt ein reicher Mann sei, daß aber seine Tante, die Hexe, als sie davon erfuhr, die Mutter und die Großmutter aus dem Haus gejagt habe. Seine Mutter wolle gerne in die Türkei, aber seine Großmutter lasse sie nicht fort.

Klim, der bemerkte, daß Dronow seinen hungrigen Wurm »Wrum« nannte, glaubte ihm nicht. Doch wie er so dem geheimnisvollen Flüstern zuhörte, sah er staunend einen ganz anderen Jungen vor sich: das flache Gesicht des Enkels der Amme verschönte sich, die Augen irrten nicht mehr umher, in den Pupillen entzündete sich das bläuliche Feuer einer Seligkeit, die Klim nicht verstand. Beim Abendessen teilte Klim Dronows Erzählung dem Vater mit. Der Vater äußerte gleichfalls eine rätselhafte Freude:

»Du hörst, Wera? Was für eine Phantasie! Ich sagte immer, der Bengel sei hochbegabt.«

Aber die Mutter sagte Klim, ohne dem Vater zuzuhören, wie sie das oft tat, kurz und trocken, Dronow habe sich das alles ausgedacht: eine Tante, die eine Hexe sei, habe er gar nicht, sein Vater sei tot, er sei verschüttet worden, als er einen Brunnen grub. Die Mutter habe in einer Zündholzfabrik gearbeitet und sei gestorben, als Dronow vier Jahr alt war. Nach ihrem Tode verdingte die Großmutter sich als Amme zu dem Bruder Mitja. Das sei alles.

»Trotzdem, Wera«, sagte der Vater, »bedenke doch . . .«

Dmitri Samgin lächelte breit und sagte:

»Klim lügt auch gern.«

Der Vater wandte sich zu ihm hin:

»Das hast du recht plump ausgedrückt, Mitja, man muß zwischen Lüge und Phantasie unterscheiden.«

Jetzt trat Warawka ein, nach ihm erschien der »richtige Greis«. Man begann zu diskutieren, und Klim vernahm wieder einmal nicht wenig, was ihn im Recht und in der Notwendigkeit, sich etwas auszudenken, bestärkte, gleichzeitig jedoch ein Interesse für Dronow in ihm wachrief, das der Eifersucht ähnelte. Gleich am nächsten Tag fragte er Iwan:

»Warum hast du das mit der Tante gelogen? Du hast doch gar keine Tante gehabt.«

Dronow sah ihn wütend schief von der Seite an und erwiderte:

»Und du schwatz nicht Dinge, die du nicht verstehst. Deinetwegen hat mich die Großmutter bei den Ohren genommen. Klatschbase!«

Jeden Morgen um neun Uhr stiegen Klim und Dronow zu Tomilin ins Zwischengeschoß hinauf und saßen bis Mittag in dem kleinen Zimmer, das einer Rumpelkammer glich in die man in unordentlichem Durcheinander drei Stühle, einen Tisch, einen eisernen Waschständer, ein knarrendes Holzbett und einen Haufen Bücher geworfen hatte. In diesem Zimmer war es immer heiß, es roch muffig nach Katzen und nach Taubenmist. Durch das ovale Fenster sah man die Wipfel der Bäume im Garten, ausgeputzt mit Reif oder Schnee wie mit Wattebäuschen. Hinter den Bäumen ragte der graue Wachturm der Feuerwehr in die Höhe, auf seinem runden Dach bewegte sich ein Mensch in grauer Joppe eintönig und langsam im Kreise. Hinterm Wachturm war die Leere des Himmels.

Der Lehrer empfing die Kinder mit einem unbestimmten, stummen Lächeln. Zu jeder Tageszeit sah er aus wie ein Mensch, der eben aufgewacht ist. Er pflegte sich sogleich mit dem Gesicht nach oben auf das Bett zu legen, das Bett ächzte traurig. Die Finger in den ungepflegten roten Büscheln seiner straffen, rauhen Haare vergraben, das kupferbraune, gespaltene Bärtchen gegen die Zimmerdecke gerichtet und ohne seine Schüler anzusehen, fragte er ab und erzählte leise, doch mit verständlichen Worten. Aber Dronow fand, der Lehrer spreche »hinterm Ofen hervor«.

Manchmal und zumeist während der Geschichtsstunde stand Tomilin auf und ging im Zimmer auf und ab, sieben Schritte – vom Tisch zur Tür und zurück. Mit gesenktem Kopf vor sich auf die Füße stierend, scharrte er mit seinen abgetragenen Pantoffeln den Boden und versteckte die Hände auf dem Rücken, wobei er die Finger so fest zusammenpreßte, daß sie dunkelrot anliefen.

Klim Samgin sah, daß Tomilin Dronow lieber und gewissenhafter unterrichtete als ihn.

»Also, Wanja«, fragte er von der Tür her und zupfte sich sein Hemd zurecht. »Was tat Alexander Newski?« Dronow antwortete rasch und bestimmt:

»Der heilige und rechtgläubige Fürst Alexander Newski rief die Tataren ins Land und schlug mit ihrer Hilfe die Russen.«

»Warte mal, was ist das? Woher hast du das?« staunte der Lehrer und bewegte seine buschigen Augenbrauen. Der Mund stand ihm lächerlich offen.

»Das haben Sie gesagt.«

»Ich? Wann?«

»Am Donnerstag.«

Der Lehrer schwieg eine Weile, glättete sich das Haar mit der flachen Hand, trat dann zum Tisch und sagte strenge:

»Das braucht ihr euch nicht zu merken.«

Er hatte die Angewohnheit, laut mit sich selbst zu sprechen. Oft, wenn er einen geschichtlichen Stoff behandelte, versank er eine oder zwei Minuten in tiefes Sinnen und begann dann sehr leise und unverständlich zu reden. In solchen Augenblicken stieß Dronow Klim mit dem Fuß an, blinzelte mit dem linken Auge, das unruhiger war als das rechte, zum Lehrer hin und grinste boshaft. Dronows Lippen glichen denen der Fische: sie waren abgeplattet und hart wie Knorpel. Nach der Stunde fragte Klim:

»Weshalb hast du mich angestoßen?«

»Hi hi!« schluckte aufgeregt Dronow. »Das mit dem Newski hat er gelogen, ein Heiliger wird sich auch mit den Tataren anfreunden! Weil er gelogen hat, – darum brauchen wir es uns auch nicht zu merken. Ein feiner Lehrer. Er lehrt einen etwas, aber merken soll man es sich nicht.«

Wenn er von Tomilin sprach, dämpfte Iwan Dronow die Stimme, sah sich ängstlich nach allen Seiten um und kicherte, und Klim fühlte, während er ihm zuhörte, daß Iwan seinen Lehrer mit Wonne haßte, und daß es ihm Freude bereitete zu hassen.

»Mit wem, glaubst du, unterhält er sich? Mit dem Teufel.«

»Es gibt keine Teufel«, wies Klim ihn streng zurecht.

Dronow sah ihm voll Verachtung in die Augen, spuckte über die linke Schulter, unterließ es aber zu streiten.

Klim, der Dronow eifersüchtig beobachtete, nahm wahr, daß Dronow danach strebte, ihn zu überflügeln, und sein Ziel leicht erreichen würde. Er sah, daß der frische Junge die Erwachsenen überhaupt nicht liebte und sie mit der gleichen Wollust haßte wie seinen Lehrer. Seine dicke, seelengute Großmutter, die sich rührend mit ihm abgab, brachte er zum Weinen mit seinen Bosheiten: er schüttete ihr Asche oder Pfeffer in ihre Tabakdose, verbog ihre Stricknadel, löste die Strumpfmaschen auf, warf den Wollknäuel den Kätzchen zum Spielen vor oder beschmierte den Faden mit Öl und Leim. Die alte Frau züchtigte ihn, bekreuzigte sich aber dann lange vor dem Ikonenwinkel und flehte unter Tränen:

»Mutter Gottes, verzeih mir um Christi willen das Leid, das ich der Waise zugefügt habe!«

Und seufzend steckte sie ihrem Enkel ein Stück Kuchen oder Süßigkeiten zu:

»Da – iß, Dronow, du mein Peiniger.«

»Dein Vater ist aber komisch«, sagte Dronow Klim. »Ein richtiger Vater ist grimmig, oh!«

Vor Wera Petrowna wand Dronow sich wie ein zutrauliches Hündlein. Klim beobachtete, daß der Enkel der Kinderfrau sie ebenso fürchtete wie den Großvater Akim, daß er aber am meisten Angst vor Warawka hatte:

»Der Teufel!« nannte er ihn und erzählte über ihn: Warawka sei ursprünglich Fuhrmann und später Pferdedieb gewesen, davon sei er reich geworden. Klim war sprachlos. Er wußte genau, daß Warawka der Sohn eines Gutsbesitzers und in Kischinew geboren war, in Petersburg und Wien studiert hatte und dann in diese Stadt gekommen war, in der er bereits das siebente Jahr lebte. Als er dies empört Dronow vorhielt, schüttelte der ungestüm den Kopf und murmelte:

»Wien – das gibt es, von dort kommen die Stühle, aber Kischinew existiert vielleicht nur im Geographiebuch . . .«

Klim empfand oft, daß von den seltsamen Einfällen Dronows, von seinen offenkundigen plumpen Lügen eine abstumpfende Wirkung auf ihn ausging. Es schien ihm manchmal, Dronow lüge nur, um ihn zu verhöhnen. Seine gleichaltrigen Kameraden haßte Dronow eher noch heftiger als die Erwachsenen, besonders seitdem die Kinder es ablehnten, mit ihm zu spielen. Beim Spiel glänzte er durch viele scharfsinnige Einfälle, war aber feige und benahm sich gegen die Mädchen roh, vor allem gegen Lida. Er nannte sie verächtlich eine Zigeunerin, kniff sie und suchte sie so hinzuwerfen, daß ihr Schamgefühl verletzt wurde.

Wenn die Kinder auf dem Hof tollten, saß Iwan Dronow als ein Ausgestoßener auf der Küchentreppe. Er hatte die Arme auf die Knie gestützt, preßte seine Hand an die Backenknochen und verfolgte mit von Schmerz verdunkelten Augen die Spiele der Herrenkinder. Selig kreischte er, wenn jemand hinfiel oder sich so verletzte, daß er sich vor Schmerz wand.

»Drück ihn feste!« feuerte er an, wenn Warawka und Turobojew sich prügelten. »Hau ihn gegen das Schienbein!«

Wenn im Garten gespielt wurde, stand Dronow am Zaun, stemmte den Bauch gegen das Gitter und steckte seinen Kopf durch die Stäbe. So stand er und rief von Zeit zu Zeit:

»Faß sie! – Hinterm Kirschbaum hat sie sich versteckt! – Von links mußt du herankommen . . .!«

Er suchte auf jede Weise die Spielenden zu stören. Mit berechneter Langsamkeit schlenderte er über den Hof und sah dabei angestrengt auf den Boden.

»Ich habe eine Kopeke verloren!« klagte er, auf seinen krummen Beinen schwankend, darauf bedacht, mit den Kindern so zusammenzustoßen, daß sie ihn umwarfen. Dronow kauerte dann an der Erde, jammerte und drohte:

»Ich beschwere mich!«

Zwei oder drei Wochen war Ljuba Somow mit Iwan innig befreundet, sie gingen zusammen spazieren, versteckten sich in den Winkeln und tuschelten geheimnisvoll und lebhaft. Doch bald – eines Abends – kam Ljuba in Tränen gebadet zu Lida gelaufen und schrie empört:

»Dronow ist ein Dummkopf!«

Warf sich aufs Sofa, vergrub ihr Gesicht in den Händen und wiederholte:

»Ach, was für ein Dummkopf!«

Ohne jemand von dem Geschehenen ein Wort zu sagen, stürmte Lida, die tief errötet war, in die Küche, kehrte zurück und verkündete triumphierend und wild:

»Er hat sein Teil bekommen!«

Noch drei Tage danach lief Dronow mit Beulen auf der Stirn und unterhalb des linken Auges herum.

Ja, Dronow war ein unangenehmer, ein abscheulicher Junge. Klim sah aber, daß sowohl der Vater und der Großvater als auch der Lehrer von seinen Fähigkeiten begeistert waren, und witterte in ihm den Rivalen. Neid, Eifersucht und Sorge verzehrten ihn. Gleichwohl zog ihn Dronow an, und oft genug verschwanden die unfreundlichen Gefühle für diesen Knaben, um einem plötzlichen Interesse und der Zuneigung für ihn Platz zu machen.

Es gab Augenblicke, in denen Dronow aufblühte und ein ganz anderer wurde. Versonnenheit nahm von ihm Besitz, er bekam gleichsam Haltung und vertraute Klim mit sanfter Stimme wunderbare Wachträume und Märchen an. So erzählte er einmal, aus dem Brunnen im Hof sei ein riesiger, wie ein Schatten leichter und durchsichtiger Mann gestiegen, durchs Tor hinaus und die Straße hinab gewandert. Als er am Glockenturm vorbeigegangen, sei dieser schwarz geworden und habe sich nach links und rechts geneigt wie ein schlanker Baum im Windstoß.

»Und neulich, bevor der Mond aufging, flog ein ungeheurer schwarzer Vogel über den Himmel, flog an einen Stern heran und pickte ihn auf, flog zu einem zweiten und pickte ihn auch auf. Ich schlief nicht, saß auf dem Fenster und plötzlich wurde mir unheimlich. Ich lief ins Bett, zog die Decke über den Kopf, und, weißt du, mir taten die Sterne so leid, – ich dachte, morgen ist der Himmel ganz leer . . .«

»Das denkst du dir aus«, sagte Klim nicht ohne Neid.

Dronow widersprach nicht. Klim begriff, daß er sich alle diese Dinge ausdachte. Aber er erzählte mit einer so überzeugenden Ruhe von seinen Visionen, daß Klim wünschte, die Lügen möchten Wahrheit sein. Zuletzt war Klim sich selbst über sein Verhältnis zu diesem Jungen, der ihn immer heftiger bald anzog, bald abstieß, im unklaren.

Die Aufnahmeprüfung bestand Dronow glänzend. Klim fiel durch. Das traf ihn so hart, daß er, heimgekehrt, den Kopf in den Schoß der Mutter vergrub und laut schluchzte. Die Mutter beruhigte ihn freundlich, sagte ihm viel liebe Worte und lobte ihn sogar:

»Du bist ehrgeizig, das ist gut.«

Abends hatte sie Streit mit dem Vater. Klim hörte sie zornig sagen:

»Du solltest endlich begreifen, daß ein Kind kein Spielzeug ist.«

Nach einigen Tagen aber fühlte der Knabe, daß seine Mutter aufmerksamer und freundlicher geworden war. Sie fragte ihn sogar:

»Liebst du mich?«

»Ja«, sagte Klim.

»Sehr?«

»Ja«, wiederholte er überzeugt. Die Mutter drückte seinen Kopf fest an ihre weiche, duftige Brust und sagte strenge:

»Du sollst mich sehr lieben.«

Klim erinnerte sich nicht, daß seine Mutter ihn früher schon einmal danach gefragt hätte. Sich selbst würde er ihre Frage kaum mit solcher Bestimmtheit beantwortet haben können wie ihr. Unter allen Erwachsenen war Mama die Unzugänglichste, über sie konnte man sich so wenig Gedanken machen wie über eine Heftseite, die noch unbeschrieben war. Alle im Hause fügten sich ihr gehorsam, selbst der »richtige Greis« und die eigensinnige Maria Romanowna – die »Tyrannenmieze«, wie Warawka sie hinter ihrem Rücken nannte. Die Mutter lachte selten und redete wenig, sie hatte ein strenges Gesicht, dichte dunkle Brauen über sinnenden blauen Augen, eine lange spitze Nase und kleine rosige Ohren, Sie flocht ihr mondblondes Haar in einen schweren Zopf und legte ihn sich in Kränzen um den Kopf, was sie sehr groß, viel größer als der Vater, erscheinen ließ. Ihre Hände waren immer heiß. Es war für jedermann klar, daß ihr von allen Männern Warawka am besten gefiel. Sie unterhielt sich mit ihm am liebsten und lächelte ihm viel häufiger zu als den anderen. Alle Bekannten sagten, sie nehme erstaunlich an Schönheit zu.

Auch der Vater veränderte sich – unmerklich, aber stark. Er wurde noch quecksilbriger und zupfte sich sein dunkles Bärtchen, was er früher nicht getan hatte. Seine Taubenaugen blinzelten kurzsichtig und blickten so verloren, als habe er etwas vergessen, woran er sich auf keine Weise erinnern könne. Er war noch redseliger geworden und seine Stimme noch schreiender und betäubender. Er redete über Bücher, Dampfschiffe, Wälder, Feuersbrünste, über den dummen Gouverneur und die Volksseele, über die Revolutionäre, die sich grausam getäuscht hatten, über den wunderbaren Menschen Gleb Uspenski, der »durch alles hindurchsah«. Er redete immer von etwas Neuem und stets mit einer Hast, als fürchte er, daß ihm morgen jemand verbieten würde, davon zu sprechen.

»Wunderbar!« rief er. »Erstaunlich!«

Warawka gab ihm den Spitznamen »Wanja, der Staunende!«

»Du bist wahrhaftig ein Meister im Staunen, Iwan!« sagte Warawka und spielte mit seinem üppigen Bart.

Seine Frau hatte er ins Ausland gebracht, Boris nach Moskau auf eine vorzügliche Schule, die auch Turobojew besuchte. Lida wurde von einer großäugigen alten Frau mit einem grauen Schnurrbart abgeholt und reiste mit ihr in die Krim zu einer Traubenkur. Aus dem Ausland kehrte Warawka verjüngt und spottlustiger denn je zurück. Er hatte gleichsam an Schwere verloren, trat aber im Gehen noch lauter auf und verweilte häufig vor dem Spiegel, mit seinem Bart liebäugelnd, den er so zurechtgestutzt hatte, daß die Ähnlichkeit mit einem Fuchsschweif noch auffälliger wurde. Er begann sogar in Versen zu reden. Klim hörte, wie er zur Mutter sagte:

»Da ich der Finsternis des Irrtums
Mit heißem Wort der Überredung
Die gefallene Seele entriß,

natürlich, damals war ich ein Idiot . . .«

»Das ist wohl nicht ganz richtig und sehr roh ausgedrückt, Timofej Stepanowitsch«, tadelte die Mutter. Warawka pfiff wie ein Gassenjunge und sagte dann scharf:

»Eine zarte Wahrheit gibt es nicht.«

Beinahe an jedem Abend hatte er Streit mit Maria Romanowna, und sogleich zankte sich auch Wera Petrowna mit ihr. Die Hebamme fuhr in die Höhe, reckte sich kerzengerade auf und sagte ihr mit finster gerunzelten Augenbrauen:

»Wera, besinne dich!«

Der Vater lief aufgeregt zu ihr hin und schrie:

»Beweist denn nicht England, daß das Kompromiß ein Erfordernis der Zivilisation ist?«

Die Hebamme polterte:

»Hören Sie auf, Iwan!«

Darauf lief der Vater zu Warawka:

»Du mußt zugeben, Timofej, in einem gewissen Augenblick verlangt die Evolution einen entscheidenden Schlag . . .«

Warawka schob ihn mit einer Bewegung seiner kurzen, starken Hand beiseite und rief, spöttisch lachend:

»Nein, Maria Romanowna, nein!« Der Vater ging zum Tisch, um Doktor Somow beim Biertrinken Gesellschaft zu leisten, und der halbbezechte Doktor knurrte:

»Nadson hat recht: die Feuer sind heruntergebrannt und . . . wie heißt es doch weiter?«

». . . die Zeit der Blüte ist dahin«, half der Vater nach, verständnisvoll mit dem schon ein wenig kahlen Schädel nickend. Nachdenklich trank er sein Bier und schrumpfte gleichsam zusammen.

Auch Maria Romanowna ergraute unversehens, magerte ab und fiel zusammen. Ihre Stimme sank, bekam einen hohlen, zersprungenen Klang und verlor das Herrische. Ihre immer schwarz gekleidete Gestalt rief Wehmut hervor. An sonnigen Tagen, wenn sie über den Hof ging oder im Garten mit einem Buch in der Hand auf und ab wandelte, schien ihr Schatten schwerer und dunkler zu sein als der aller anderen Menschen, er kroch hinter ihr her wie eine Verlängerung ihres Trauerkleides und entfärbte die Blumen und das Gras. Die Streitigkeiten mit Maria Romanowna endeten damit, daß sie hinter dem Wagen, der ihre Sachen fortbrachte, den Hof verließ, – fortging, ohne jemandem Lebewohl zu sagen, in hoheitsvoller Haltung wie immer, in der einen Hand einen Reisesack mit Instrumenten tragend, mit der anderen einen grünäugigen schwarzen Kater an ihre flache Brust drückend.

Gewöhnt, die Erwachsenen zu beobachten, sah Klim, daß unter ihnen etwas Rätselhaftes und Beängstigendes anhub. Es war, als setzten sie sich auf andere Stühle als die, auf denen sie zu sitzen gewohnt waren. Der Lehrer veränderte sich gleichfalls zum Schlechten. Noch immer blickte er auf alles mit den komischen Augen eines Menschen, den man eben aufgeweckt hat, aber jetzt beleidigt und mürrisch, und bewegte dabei die Lippen, als müsse er gleich losschreien, traue sich aber nicht. Klims Mutter sah er genau so an wie Großvater Akim einen falschen Zehnrubelschein, den ihm jemand in die Hand gesteckt hatte. Er sprach mit ihr nur noch in unehrerbietigem Ton. Eines Abends betrat Klim den Salon in dem Augenblick, als Mama auf dem Flügel spielen wollte, und hörte die groben Worte Tomilins:

»Das ist nicht wahr, ich habe gesehen, wie er . . .«

»Was willst du, Klim?« fragte eilig die Mutter, der Lehrer verschränkte die Arme auf dem Rücken und ging, ohne seinen Schüler anzusehen, hinaus.

Einige Tage darauf jedoch, in der Nacht, als Klim aufgestanden war, um das Fenster zu schließen, sah er den Lehrer und die Mutter durch den Garten kommen. Mama wehrte mit den Zipfeln ihres blauen Schals die Mücken ab, der Lehrer rauchte und schüttelte seine kupferbraune Mähne. Das Mondlicht war schwerflüssig wie Öl, sogar der Rauch der Zigarette färbte sich in ihm golden. Klim wollte gerade rufen: »Mama, ich schlafe noch nicht!« Aber da schien Tomilin über etwas zu stolpern, fiel auf die Knie, fuchtelte drohend mit den Armen in der Luft herum, stieß einen brüllenden Laut aus und umarmte die Beine der Mutter. Die prallte zurück, stieß seinen zottigen Kopf von sich und ging, nervös den Schal zerreißend, fort. Der Lehrer sank schwer in eine hockende Stellung, sprang dann auf, fuhr sich in die straffen Haare, strich sie glatt und eilte Mama, mit den Armen fuchtelnd, nach. In diesem Augenblick rief Klim angstvoll:

»Mama!«

Sie blieb stehen, wandte den Kopf und ging, dem Lehrer ausweichend wie einem Laternenpfahl, ins Haus. An Klims Bett erschien sie mit einem ungewöhnlich strengen, beinahe fremden Gesicht und tadelte ihn unwillig:

»Du schläfst noch nicht, obwohl es bald zwölf ist, und morgens bist du nicht wachzukriegen. Jetzt wirst du früher aufstehen müssen, Stepan Andrejewitsch wird nicht mehr bei uns wohnen.«

»Weil er deine Beine umarmt hat?« fragte Klim.

Während sie sich mit dem Schal das Gesicht wischte, sprach sie nicht mehr ungehalten, sondern in dem eindringlichen Ton, womit sie ihm während der Musikstunde eine unbegreifliche Konfusion in den Noten erklärte. Sie sagte, der Lehrer habe ihr eine Raupe vom Rock genommen, weiter nichts, Ihre Beine habe er nicht umarmt, denn das wäre unanständig gewesen.

»Ach, mein Junge, mein Junge! Du denkst dir ja immer etwas aus«, seufzte sie. Klim, der nicht wünschte, daß sie ihm an den Augen ablese, daß er ihr nicht glaubte, senkte den Blick. Aus Büchern und aus den Gesprächen der Erwachsenen wußte er schon, daß ein Mann nur dann vor einer Frau niederkniet, wenn er in sie verliebt ist. Es war keineswegs nötig, auf die Knie zu fallen, um eine Raupe vom Rock zu nehmen.

Die Mutter streichelte zärtlich sein Gesicht mit ihrer heißen Hand. Er erwähnte den Lehrer nicht weiter, bemerkte nur noch, Warawka liebe den Lehrer auch nicht. Und fühlte, wie die Hand der Mutter zusammenzuckte und seinen Kopf heftig in das Kissen stieß. Als sie fort war, dachte er im Einschlafen: Wie seltsam! Die Erwachsenen fanden immer dann, wenn er die Wahrheit sprach, daß er sich etwas ausdachte!

 

Tomilin war in eine kleine, schmale Sackgasse gezogen, die von einem blauen Häuschen abgeriegelt wurde. Über der Vortreppe des Hauses hing ein Schild:

Koch und Konditor.
Nehme Bestellungen für Hochzeiten, Bälle
und Leichenfeiern entgegen.

Das Zimmer, das Tomilin beim Koch gemietet hatte, lag ebenfalls im Zwischengeschoß, war aber heller und sauberer. Doch er verschandelte es in wenigen Tagen mit Bergen von Büchern. Es schien, als sei mit ihm seine ganze frühere Behausung samt ihrem Staub, ihrer schwülen Luft und dem leisen Knarren ihrer von der Sommerglut ausgetrockneten Dielenbretter übergesiedelt. Unter den Augen des Lehrers hatten sich bläuliche Säckchen gebildet, die goldenen Funken in den Pupillen waren erloschen, der ganze Mensch irgendwie kläglich verwahrlost. Jetzt erhob er sich in den Stunden überhaupt nicht mehr von seinem liederlichen Bett.

»Die Beine schmerzen mir«, sagte er.

»Weil er sich damals im Garten die Knie verletzt hat«, mutmaßte Klim.

Seine Stunden erteilte Tomilin jetzt ungeduldig, in seiner leisen Stimme klang Gereiztheit. Zuweilen schloß er die schwermütigen Augen, schwieg lange und fragte plötzlich wie aus weiter Ferne:

»Nun, verstanden?«

»Nein.«

»Denk nach!«

Klim dachte jedoch nicht darüber nach, was es mit dem Gerundium für eine Bewandtnis hatte und wohin der Fluß Amu-Darja floß, sondern darüber, warum und weshalb niemand diesen Menschen liebte. Weshalb sprach der kluge Warawka stets in einer so spöttischen und verletzenden Weise von ihm? Der Vater, Großvater Akim, alle Bekannten übersahen Tomilin wie einen Schneider. Einzig Tanja Kulikow fragte von Zeit zu Zeit: »Was meinen Sie dazu, Tomilin?«

Er antwortete ihr barsch und achtlos. Er hatte über alles eine andere Meinung als die anderen, und eigensinnig klang seine blecherne Stimme, wenn er mit Warawka stritt.

»Im Grunde genommen . . .« war seine beständige Redewendung.

»Im Grunde genommen!« äffte Warawka nach. »Hol der Teufel Ihren Grund! Hundertmal wichtiger ist die Tatsache, daß Karl der Große Gesetze über Hühnerzucht und den Handel mit Eiern erlassen hat.«

Der Lehrer widersprach salbungsvoll:

»Der Sache der Freiheit sind die Laster eines Despoten viel weniger gefährlich als seine Tugenden.«

»Fanatismus!« rief Warawka, Tanja aber sagte erfreut:

»Ach nein, das ist unglaublich wahr! Ich will es mir notieren!«

Sie kritzelte die Worte auf den Umschlag von Klims Heft, vergaß aber, sie abzuschreiben, und so verbrannten sie, ohne in die Grube ihres Gedächtnisses gelangt zu sein, im Ofen. Das war nämlich Warawkas Ausdruck:

»Nun, Tanja, wühlen Sie rasch mal in der Müllgrube Ihres Gedächtnisses!«

An vieles hatte Klim zu denken. Alles rings um ihn wuchs ins Weite und drängte ebenso brutal und beharrlich in seine Seele wie die Wallfahrer in die Himmelfahrtskirche mit dem wundertätigen Bild der Mutter Gottes. Noch vor gar nicht langer Zeit standen die vertrauten Dinge an ihrem Platz, ohne Interesse zu wecken. Nun lockten sie ihn an, während andere, liebe Dinge ihren Zauber verloren. Selbst das Haus dehnte sich aus. Klim, der überzeugt war, daß es darin nichts Unbekanntes gäbe, sah plötzlich Neues auftauchen, das er früher nicht bemerkt hatte. Im halbdunklen Korridor über dem Kleiderschrank blickten ihn von einem Bild, das früher nur ein dunkles Viereck gewesen war, die sinnenden Augen einer grauhaarigen, in Nacht begrabenen alten Frau an. Auf dem Dachboden, in einem altertümlichen, eisenbeschlagenen Koffer entdeckte er eine Menge reizvoller, wenn auch zerbrochener Gegenstände: Bilderrahmen, Porzellanfiguren, eine Flöte, ein mächtiges Buch in französischer Sprache mit Bildern, die Chinesen darstellten, ein dickes Album mit den Porträts lächerlicher, schlecht frisierter Menschen. Das Gesicht eines von ihnen war mit Blaustift übermalt.

»Das sind die Helden der Großen Französischen Revolution, und dieser Herr dort ist Graf Mirabeau«, erklärte der Lehrer, er erkundigte sich mit spöttischem Lächeln: »Unter dem Gerümpel hast du es gefunden, sagst du?« und im Album blätternd, wiederholte er nachdenklich:

»Ja, ja, die Vergangenheit . . . Gerümpel . . .«

Klim entdeckte im Hause sogar ein ganzes Zimmer, bis zur Decke vollgestopft mit zerbrochenen Möbeln und einem Haufen von Gegenständen, deren einstige Bestimmung schon dunkel, ja geheimnisvoll geworden war. Es sah aus, als seien alle diese verstaubten Dinge plötzlich ins Zimmer gestürmt wie ein Menschenhaufen, den eine Feuersbrunst erschreckt. In der Panik hatten sie sich übereinander gewälzt, sich zermalmend und verstümmelnd, bis sie einander zertrümmert hatten und gestorben waren. Traurig war der Anblick dieser Verwüstung, die zerbrochenen Dinge erfüllten mit Mitleid.

 

Ende August, eines Morgens früh, erschien ungewaschen und struppig Ljuba-Clown. Mit den Füßen trampelnd und vor Schluchzen erstickend, keuchte sie:

»Kommt rasch, – Mama ist verrückt geworden!« Sie fiel vor dem Sofa nieder und versteckte ihren Kopf unter dem Kissen.

Klims Mutter machte sich sogleich auf den Weg. Das Mädchen befreite ihren Kopf aus dem Kissen, kauerte sich auf dem Boden nieder, sah Klim kläglich mit nassen Augen an und berichtete:

»Ich habe schon gestern, als sie mit einander schimpften, gesehen, daß sie verrückt geworden ist. Warum nicht der Papa? Er ist immer betrunken.«

Auf die Füße springend, ergriff sie Klims Ärmel.

»Wir gehen hin!«

Ohne zu wissen wie, von Ljuba mitgezogen, stand Klim auf einmal in der Wohnung der Somows. Im halbdunklen Schlafzimmer, dessen Fensterläden geschlossen waren, auf einem verwühlten, zerfetzten Bett wand sich Sofia Nikolajewna in Zuckungen. Ihre Hände und Füße waren mit Handtüchern zusammengebunden. Sie lag mit dem Gesicht nach oben, zuckte wild mit den Schultern, krümmte die Knie, schlug mit dem Kopf gegen die Kissen und brüllte:

»Nein, nein!«

Ihre Augen, schrecklich aus den Höhlen getreten, hatten sich bis zum Umfang von Fünfkopekenstücken geweitet. Sie stierten in den Lampenschein und waren rot wie glühende Kohlen. Unterhalb des einen Auges brannte eine Schramme, aus der Blut sickerte.

»Nein!« schrie die Doktorsfrau mit hohler Stimme und, noch lauter:

»Nein, nein!«

Ihre Zuckungen wurden heftiger, ihre Stimme klang böser und schriller. Der Doktor lehnte zu Häupten des Bettes an der Wand und nagte und kaute an seinem schwarzen, borstigen Bart. Er war unanständig aufgeknöpft, struppig, seine Hosen wurden von einem Hosenriemen gehalten, den anderen hatte er sich um den Handrücken gewickelt und zerrte ihn hoch. Die Hosen rutschten hinauf und hinunter, die Beine des Doktors zitterten wie die eines Betrunkenen, und seine trüben Augen zwinkerten so heftig, daß es schien, als klapperten die Lider wie die Zähne seiner Frau. Er schwieg, wie wenn sein Mund für immer unter dem Bart zugewachsen wäre.

Ein zweiter Arzt, der alte Williamson, saß am Tisch, blinzelte ins Kerzenlicht und schrieb vorsichtig etwas auf. Wera Petrowna schüttelte ein Glas mit einer trüben Flüssigkeit. Mit einem Teller mit Eis und einem Hammer lief das Dienstmädchen durch das Zimmer.

Plötzlich krümmte die Kranke sich wie ein Bogen, fiel auf den Fußboden, schlug mit dem Kopf auf und kroch weiter, wobei sie wie eine Eidechse den Körper wand und triumphierend kreischte:

»Aha? Nein!«

»Haltet sie!« rief Klims Mutter. Der Doktor löste sich schwerfällig von der Wand, hob seine Frau auf, legte sie auf das Bett, befahl irgend jemandem: »Geben Sie noch Handtücher!« und setzte sich dann zu ihren Füßen.

Die Frau fuhr in die Höhe und stieß ihren Kopf gegen seine Backe. Er erhob sich mit einer heftigen Bewegung, und sie schlug von neuem dumpf auf den Fußboden. »Aha, aha!« röchelnd, machte sie sich daran, ihre Füße loszubinden.

Klim versteckte sich im Winkel zwischen der Tür und dem Schrank. Wera Somow kauerte hinter ihm, legte ihr Kinn auf seine Schulter und flüsterte:

»Das geht doch vorüber, nicht wahr, das geht vorüber?«

Ljuba rannte mit Handtüchern an ihnen vorbei und wimmerte:

»O Gott, o Gott!«

Plötzlich fragte sie, mit dem Fuß aufstampfend, die Schwester:

»Werka, bekommen wir keinen Tee?«

Klims Mutter wurde auf den Lärm aufmerksam und rief streng:

»Kinder, hinaus!«

Sie befahl ihnen, Tanja Kulikow zu holen. Alle Bekannten dieses jungen Mädchens bürdeten ihr die Pflicht einer aktiven Teilnahme an ihren Trauerspielen auf.

Die Kinder begaben sich in raschem Schritt nach dem Vorort. Klim schwieg bedrückt. Er ging hinter den Schwestern und hörte durch sein tiefes Entsetzen hindurch, wie die ältere Somow ihrer Schwester Vorhaltungen machte:

»Mama ist verrückt geworden, und du schreist, ich will Tee haben!«

»Halts Maul, du Drachen!«

»Du bist gierig und schamlos.«

»Und du willst vielleicht die Tugendhafte spielen?«

Sie blieb stehen und schloß sich Klim an:

»Ich gehe nicht mehr mit ihr, komm, laß uns spazierengehen.«

Klim ging willenlos an ihrer Seite. Nach einigen Schritten sagte er:

»Liebst du deine Mama?«

Ljuba bückte sich, um das gelbe Blatt einer Pappel aufzuheben, seufzte und sprach:

»Ich . . . ich weiß nicht. Vielleicht liebe ich überhaupt noch niemand.«

Während sie mit dem staubigen Blatt ihre geschwollenen Augenlider rieb und ungeschickt stolperte, fuhr sie fort:

»Vater klagt, es sei schwer, zu lieben. Einmal hat er sogar Mama angeschrien; versteh doch, Närrin, ich liebe dich ja! Siehst du?«

»Was?« fragte Klim, aber Ljuba hörte seine Frage wohl nicht.

»Und sie sind vierzehn Jahre verheiratet . . .«

Klim fand, Ljuba redete dummes Zeug, und achtete nicht mehr auf ihre Worte, sie aber redete unaufhörlich fort, langweilig wie eine Erwachsene, und schwenkte dabei einen Birkenzweig, den sie vom Trottoir aufgenommen hatte, in der Luft herum. Ihnen selbst unerwartet, waren sie an das Ufer des Flusses getreten und ließen sich auf einem Stapel Balken nieder. Aber die Balken waren feucht, Ljuba beschmutzte sich ihren Rock, wurde unwillig und lief über die Balken zu einem Boot, das an ihnen festgemacht war. Sie setzte sich ans Steuer, Klim folgte ihr. Lange saßen sie schweigend. Ljuba betrachtete das verzerrte Bild ihres Gesichts im Wasser, schlug mit dem Zweig hinein, wartete, bis es im grünlichen Spiegel von neuem auftauchte, schlug wieder hinein und wandte sich ab:

»Wie häßlich ich bin! Nicht wahr, ich bin häßlich?«

Da sie keine Antwort erhielt, fragte sie:

»Warum schweigst du?«

»Weil ich keine Lust habe, etwas zu sagen.«

»Daß ich häßlich bin?«

»Nein, ich mag überhaupt nichts sagen.«

»Du schämst dich einfach, die Wahrheit zu sagen«, beharrte Ljuba. »Aber ich weiß, daß ich garstig bin und einen schlechten Charakter habe. Das sagen Papa und Mama, beide. Ich muß ins Kloster gehen . . . Ich will nicht mehr hier sitzen!«

Sie sprang auf, lief rasch über die Balken und verschwand. Klim saß noch lange am Steuer des Bootes und blickte ins trägfließende Wasser, niedergedrückt von einer öden Trauer wie er sie noch niemals empfunden hatte, wunschlos, durch seine Trauer hindurch ahnend, daß es nicht gut war, den Menschen zu gleichen, die er kannte.

Die Mutter empfing ihn mit dem erschreckten Ausruf:

»Herrgott, wie du mich ängstigst!«

Klim schien, diese Worte galten nicht ihm, sondern dem Herrgott.

»Hast du dich sehr erschrocken?« verhörte ihn die Mutter. »Es war überflüssig, daß du hingingst. Wozu?«

»Was hat man mit ihr gemacht?« fragte Klim.

Die Mutter sagte, die Somows hätten sich gezankt, und die Frau des Doktors habe einen heftigen nervösen Anfall bekommen. Man habe sie ins Krankenhaus bringen müssen.

»Es ist keine Gefahr. Sie sind beide nicht recht gesund. Sie haben viel Schweres erlebt und sind vor der Zeit alt geworden.«

Nach ihrer Erzählung waren der Doktor und seine Frau zerbrochene Menschen, und Klim erinnerte sich an das Zimmer, das mit Gerümpel vollgestopft war.

»Es ist keine Gefahr«, wiederholte die Mutter.

Aber Klim konnte ihr aus irgendeinem Grund nicht glauben, und es zeigte sich, daß sein Gefühl ihn nicht trog: zwölf Tage später starb des Doktors Frau. Dronow vertraute ihm unter dem Siegel der Verschwiegenheit an, sie sei aus dem Fenster gesprungen und habe dabei den Tod gefunden.

Am Tage ihrer Beerdigung, morgens früh, kam der Vater von einer Reise zurück. Er hielt am Grabe der Doktorsfrau eine Rede und weinte. Alle Bekannten weinten, nur Warawka hielt sich abseits, rauchte eine Zigarre und schimpfte mit den Bettlern.

Doktor Somow ging vom Friedhof aus zu Samgins, betrank sich rasch und krakeelte in seinem Rausch:

»Ich habe sie geliebt, sie aber haßte mich und lebte nur, um mir das Dasein zu verleiden.«

Klims Vater tröstete den Doktor wortreich, der aber reckte seine schwarze behaarte Faust bis zur Höhe des Ohrs, schüttelte sie und krächzte, während Tränen der Betrunkenheit sein Gesicht überströmten:

»Fünfzehn Jahre habe ich mit einem Menschen gelebt, mit dem mich nicht ein gemeinsamer Gedanke verband, und ich liebte ihn, liebte ihn und liebe ihn noch. Sie aber hat alles gehaßt, was ich las, dachte und sprach . . .«

Klim hörte, wie Warawka halblaut zur Mutter sagte:

»Sehen Sie mal, was der sich alles ausgedacht hat.«

»Es ist ein Körnchen Wahrheit darin«, verwies ihn ebenso leise die Mutter.

Man schaffte den Doktor ins Bett, in das Zwischengeschoß, wo Tomilin gewohnt hatte. Warawka hielt ihn unter den Achseln fest und stemmte seinen Kopf gegen seinen Rücken, während der Vater mit einer brennenden Kerze voranging. Doch eine Minute später stürzte er, mit dem Leuchter, dem die Kerze entfallen war, fuchtelnd, ins Eßzimmer und rief mit gedämpfter Stimme:

»Wera, komm rasch, Großmutter ist es schlecht geworden.«

Die Großmutter war gestorben.

Sie hatte auf der Küchentreppe gesessen und die Küken gefüttert und war plötzlich ohne einen Laut umgesunken. Es war seltsam, aber nicht schrecklich, ihren großen breithüftigen Körper zu sehen, der vornüberhing. Der Kopf lag auf der Seite, und das Ohr war wie lauschend an die Erde gepreßt, Klim blickte auf ihre blaue Wange, auf ihr offengebliebenes ernstes Auge, fühlte keine Angst, sondern staunte nur. Er hatte gedacht, die Großmutter habe sich so sehr daran gewöhnt, mit dem Buch in der Hand, einem geringschätzigen Lächeln im dicken, würdevollen Gesicht und der stets gleichen Vorliebe für Hühnerbouillon fortzuleben, daß diese ihre Lebensweise unendlich lange währen konnte, ohne daß sie jemand störte.

Als man den unförmigen Körper, der wie ein riesiges Bündel alter Kleider aussah, ins Haus getragen hatte, sagte Dronow:

»Die ist mal schön gestorben.« Und fügte sogleich, zu seiner Großmutter gewandt, hinzu:

»Da, nimm dir ein Beispiel, Amme!«

Die Amme war der einzige Mensch, der stille Tränen über dem Sarg der Entschlafenen vergoß. Bei Tisch, nach der Beerdigung, hielt Iwan Akimowitsch eine kurze und dankerfüllte Rede über Menschen, die zu leben verstanden, ohne ihre Angehörigen zu stören. Akim Wassiljewitsch Samgin dachte nach und sagte:

»Auch für mich ist es wohl Zeit, mich zu den Vätern zu versammeln.«

»Er ist nicht sehr überzeugt davon«, flüsterte Warawka an Wera Petrownas rosigem Ohr. Das Gesicht der Mutter war nicht traurig, nur ungewöhnlich milde. Ihre strengen Augen leuchteten sanft. Klim saß an ihrer anderen Seite, vernahm das Flüstern und merkte, daß der Tod der Großmutter niemand schmerzte. Bald erkannte er, daß er für ihn sogar einen Gewinn bedeutete: die Mutter gab ihm das freundliche Zimmer der Großmutter mit dem Fenster auf den Garten und dem milchweißen Kachelofen in der Ecke. Das war schön, denn es wurde beunruhigend und unangenehm, mit dem Bruder in einem Zimmer zu wohnen. Dmitri arbeitete lange und störte ihn beim Schlafen. Seit einiger Zeit besuchte ihn auch der ungenierte Dronow, und häufig murmelten und wisperten sie bis spät in die Nacht.

Dronow trug jetzt einen engzugeknöpften langen, ihm über die Knie reichenden Gymnasiastenrock, war abgemagert, hatte den Bauch eingezogen und sah mit seinem kahlgeschorenen Kopf wie ein Liliputsoldat aus. Wenn er mit Klim sprach, schlug er die Schöße seines Rocks zurück, vergrub die Hände in den Taschen, spreizte gewichtig die Beine, rümpfte seinen rosa Nasenknopf und fragte:

»Und du, Samgin, lernst schlecht, höre ich? Ich dagegen bin schon der Dritte in der Klasse.«

Er straffte die Schultern, bewegte die Arme und sagte selbstgewiß:

»Sollst sehen, ich werde besser als Lomonossow.«

Großvater Akim hatte durchgesetzt, daß Klim doch ins Gymnasium aufgenommen wurde. Aber der Knabe glaubte sich beim ersten Examen von den Lehrern ungerecht behandelt und hatte bei der zweiten Prüfung bereits eine vorgefaßte Meinung gegen die Schule. Gleich nachdem Klim die Gymnasiastenuniform angezogen hatte, blätterte Warawka in den Schulbüchern und schleuderte sie verächtlich beiseite:

»Sie sind ebenso blöde, wie die Bücher, aus denen wir lernen mußten.«

Hierauf erzählte er lange und witzig von der Dummheit und der Bosheit der Lehrer, und Klim behielt besonders gut im Gedächtnis, was er von der Ähnlichkeit des Gymnasiums mit einer Zündholzfabrik sagte:

»Die Kinder werden wie die Hölzchen mit einem Stoff bestrichen, der sich leicht entzündet und schnell verbrennt. So erhält man miserable Zündhölzer, bei weitem nicht alle zünden, und lange nicht mit jedem kann man Feuer machen.«

Klim ging der Ruf eines Jungen von außergewöhnlichen Fähigkeiten vorauf, er machte die Lehrer doppelt aufmerksam und mißtrauisch und erregte die Neugier der Schüler, die in dem neuen Kameraden so etwas wie einen Zauberkünstler vermuteten. Sofort fühlte Klim sich wieder in der vertrauten, aber nur noch qualvolleren Lage eines Menschen, der die Pflicht hat, so zu sein, wie man ihn zu sehen wünscht. Doch er hatte sich an diese Rolle fast gewöhnt, die für ihn offenbar etwas Unentrinnbares war, so unentrinnbar wie die allmorgendlichen kalten Abreibungen, wie die Portion Lebertran, die Suppe zum Mittag und das lästige Zähnereinigen vor dem Schlafengehen.

Der Selbsterhaltungstrieb gab ihm ein, wie er sich zu benehmen hatte. Er erinnerte sich, daß Warawka dem Vater einzuschärfen pflegte:

»Vergiß nicht, Iwan, je weniger ein Mensch spricht, desto klüger erscheint er.«

Klim beschloß, so wenig wie möglich zu reden und der rasenden Herde kleiner Unholde aus dem Weg zu gehen. Ihre aufdringliche Neugier kannte kein Erbarmen, und Klim sah sich in den ersten Tagen in der Lage eines gefangenen Vogels, dem man die Federn ausrupft, bevor man ihm den Hals umdreht. Er war in Gefahr, sich unter den gleichaltrigen Knaben, die sich kaum voneinander unterschieden, zu verlieren, – sie rissen ihn in ihre Mitte hinein und suchten ihn zu einem unscheinbaren Teilchen ihrer Masse zu machen.

Erschreckt verbarg er sich hinter der Schutzmaske der Langenweile, in die er sich einhüllte wie in eine Wolke. Er zwang sich zu einem gemessenen Schritt, versteckte die Hände auf dem Rücken wie Tomilin und gab sich das Aussehen eines Knaben, der mit etwas sehr Ernstem beschäftigt ist, fern allen Streichen und wilden Spielen.

Von Zeit zu Zeit verhalf ihm das Leben selbst zur Einkehr: in einer regnerischen Septembernacht erschoß sich Doktor Somow auf dem Grabe seiner Frau.


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