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Im Sessel schaukelnd, fühlte Klim sich aufgewühlt und unfähig, die Unruhe, die Lidas Ankunft in ihm hervorrief, zu deuten. Dann begriff er plötzlich, daß er Furcht hatte, Lida könne vom Dienstmädchen Fenja seinen Roman mit Margarita erfahren.
»Hätte Mutter diese Dirne nicht bestochen, so würde Margarita mich abgewiesen haben«, dachte er und preßte seine Finger so heftig zusammen, daß sie knackten. »Eine seltene Mutter.«
Lida war, von niemand bemerkt, von ihrem Spaziergang zurückgekehrt. Als man sich zum Abendessen setzte, stellte es sich heraus, daß sie schon schlief. Am nächsten Morgen tauchte sie nur einmal morgens und abends für kurze Zeit auf. Wera Petrownas Fragen beantwortete sie nicht gerade höflich und so, als suche sie Streit.
Wera Petrowna reichte ihr den Maupassant. »Hast du das gelesen?« erkundigte sie sich.
»Ja, es ist recht langweilig.«
»Wirklich? Ich finde es nicht.«
»Eine komische Angewohnheit, das Lesen«, meinte Lida. »Es ist dasselbe, als ob man auf fremde Kosten lebte. Und alle fragen einander: hast du gelesen, hat er gelesen, hat sie gelesen?«
»Gott weiß, was du da redest«, bemerkte, ein wenig verletzt, Wera Petrowna; Lida aber fuhr boshaft lächelnd fort:
»Das reine Spatzengezwitscher. Außerdem stimmt es gar nicht, daß die Liebe ›stärker als der Tod‹ ist.«
Jetzt war es Wera Petrowna, die lachte:
»Was du sagst! Du hast es wohl schon erfahren.«
»Ich sehe es. Man liebt fünfmal hintereinander und lebt doch.«
Klim schwieg besorgt, er sah voraus, daß sie sich zanken würden, und fühlte, daß er Angst vor Lida hatte.
Am späten Abend fuhr er in die Stadt zurück. Das alte, verwahrloste Wägelchen der Kleinbahn rüttelte wie ein Bauernkarren. Draußen schwamm der schwarze Strom des Waldes vorüber, am Himmel funkte Wetterleuchten. Klim ängstigte die Vorahnung böser Dinge. In sein Grübeln über sich mischte sich das seltsame Mädchen und zwang ihn immer herrischer, an sie zu denken. Dies aber war mühselig. Sie entzog sich seinen Versuchen, Sinn und Richtung ihres Fühlens und Denkens zu ergründen. Doch war es notwendig, daß sie berechenbar sei wie alle anderen Menschen, wie Zahlen. Man mußte feste Schranken finden, alle künstlichen Einfälle, die einen am leichten, einfachen Leben hinderten, aufdecken und von sich werfen und sich in jene Schranken einfügen, – das war notwendig!
Am nächsten Tage trafen Lida und ihr Vater ein. Klim besichtigte mit ihnen, durch Hobelspäne und Abfälle watend, das von Bretterstapeln eingeschlossene Haus, an dem die Stuckateure arbeiteten. Das Eisen des Dachs dröhnte unter den Schlägen der Dachdecker. Warawka schüttelte zornig seinen Bart und hämmerte Klim seine immer ungewöhnlichen Urteile in den Schädel:
»Sie arbeiten wie Sargtischler, flüchtig und unsolide.«
Lida schmiegte sich an ihren Vater, bei dem sie sich eingehakt hatte, was ein neuer Zug an ihr war, und sagte:
»Du, Papa, wärst imstande, eine ganze Stadt zu bauen.«
»Jawohl!« bestätigte Warawka. »Zehn Städte würde ich bauen. Die Stadt, liebes Kind, ist ein Bienenkorb, in der Stadt sammelt sich der Honig der Kultur. Wir müssen um jeden Preis das halbe bäuerliche Rußland in Städten aufsaugen, dann erst werden wir anfangen zu leben.«
Nachdem er mit Lida und Klim geplaudert hatte, schimpfte er mit den Arbeitern, teilte reichlich Trinkgelder aus und fuhr irgendwohin. Lida zog sich auf ihr Zimmer zurück, verkroch sich dort und neckte beim Abendessen Tanja Kulikow mit Fragen:
»Warum ist das so interessant?«
Tanja Kulikow wurde immer grauhaariger, trocknete ein und verblich, als hätte sie es eilig, zu einem Nichts zusammenzuschrumpfen.
»Wie wenig lest ihr jungen Leute, wie wenig wißt ihr!« sagte sie bekümmert. »Unsere Generation . . .«
Lida zog ihre Worte ins Lächerliche.
Jene Rüdheit, die Klim in der Kindheit an ihr aufgefallen war, nahm jetzt Formen an, deren Härte Klim betreten machte. Sie hielt ihm immer die gleiche Frage entgegen:
»Weshalb soll man sich interessieren? Wozu muß man das wissen?«
Beim Tee, während des Mittagessens, immer versank sie unvermittelt in Gedanken, saß minutenlang da wie eine Taubstumme, schrak dann zusammen, wurde unnatürlich lebhaft und neckte wieder Tanja, indem sie erklärte, Katin zöge sich Bastschuhe an, wenn er Geschichten aus dem Bauernleben schreiben wolle.
»Das braucht er für die Inspiration.«
Klim, der sie scharf beobachtete, sah ihre gerunzelten Brauen, den gespannt suchenden Blick ihrer dunklen Augen, hörte die allzu stürmische Wiedergabe der zarten Musik Chopins und Tschaikowskis und ahnte, daß sie sich an etwas, was sie sehr erbitterte, festgehakt hatte, ja, festgehakt wie an einer Dornenhecke, das war es.
»Ob sie verliebt ist?« fragte er zweifelnd, vermochte aber nicht daran zu glauben. Nein, wenn sie liebte, würde sie sich wohl anders verhalten.
An einem unfreundlichen Augustabend, als Klim von der Sommerfrische zurückkehrte, fand er bei sich Makarow vor. Er saß mitten im Zimmer in gebückter Haltung auf einem Stuhl, stützte die Arme auf die Knie und wühlte mit den Fingern in seinem verwilderten Haar. Zu seinen Füßen lag seine zerdrückte an der Sonne ausgeblichenen Mütze. Makarow rührte sich nicht, als Klim leise die Tür öffnete.
»Er ist betrunken«, dachte Klim und sagte vorwurfsvoll:
»Du bist ja reizend.«
Makarow hob, ohne die Finger aus dem Haar zu nehmen, schwerfällig den Kopf. Sein Gesicht war formlos zerschmolzen, die Backenknochen gleichsam geschwollen, die Augäpfel rot, doch die Augen glänzten nüchtern.
Klim erkundigte sich, wann er aus Moskau zurückgekehrt sei und ob er die Universität bezogen habe. Makarow kramte in den Hosentaschen und sagte leise:
»Vor drei Tagen. Die Universität habe ich bezogen.«
»Die medizinische Fakultät?«
»Verschone mich!«
Nachdem er so eine Minute gesessen hatte, stand er auf und ging in einer ihm fremden Art, träge die Füße nachschleifend, zur Tür.
»Zu ihr?« Klim deutete mit den Augen zur Decke. Makarow sah gleichfalls zur Decke empor, faßte den Türpfosten an und antwortete:
»Nein. Lebewohl.«
Beim Anblick seiner langsamen, unsicheren Schritte dachte Klim mit einem aus Furcht, Mitleid und Schadenfreude gemischten Gefühl:
»Hat er sich angesteckt?«
Fenja lief ins Zimmer und rief verängstigt:
»Das Fräulein bittet, auf ihn aufzupassen und ihn nirgendwo hinzulassen!«
Sinnlos glotzend, stöhnte sie:
»Was das für einen Auftritt gegeben hat!«
Klim ging nach oben. Ihm entgegen lief Lida und rief mit schallender Stimme:
»Du hast ihn weggehen lassen? Warum?«
Im Schein der Wandlampe, die dürftig des Mädchens Kopf erhellte, sah Klim, daß ihr Kinn zitterte, ihre Hände krampfhaft das Tuch an die Brust preßten und daß sie vornüber sank und jeden Augenblick hinfallen konnte.
Erschrocken und wie im Traum rannte Klim davon. Vor dem Tor horchte er. Es war schon dunkel und sehr still, aber ein Geräusch von Schritten war nicht vernehmbar. Klim rannte in der Richtung der Straße, in der Makarow wohnte. Bald erblickte er in der Dunkelheit Makarow unter den Linden der Kircheneinfriedigung. Mit einer Hand hielt er sich am hölzernen Stakett der Einfriedigung, die andere war zur Schläfe erhoben, und wenngleich Klim keinen Revolver darin sehen konnte, begriff er doch, daß Makarow im nächsten Augenblick abdrücken würde, und schrie:
»Unterlaß das!«
»Er war auf zwei Schritte an Makarow herangekommen, als der mit betrunkener Stimme sagte:
»Halleluja, zum Teufel mit dem Ganzen!«
Klim konnte ihm gerade noch einen Stoß geben und prallte zurück, erschreckt durch den Knall. Makarow ließ die Hand mit dem Revolver sinken und stöhnte gepreßt auf.
In der Folge, wenn Klim sich diese Szene ausmalte, erinnerte er sich, wie Makarow schwankte, als sei er unschlüssig, nach welcher Seite er hinstürzen solle, wie er langsam den Mund öffnete, aus seltsam runden Augen erschrocken um sich blickte und stammelte:
»Jetzt . . . jetzt . . .«
Klim faßte ihn um, hielt ihn aufrecht und führte ihn weg. Es war eigenartig: Makarow hinderte ihn am Gehen, stieß, ging aber selbst rasch, er lief beinahe. Der Weg zum Hoftor war qualvoll lang. Makarow knirschte mit den Zähnen, flüsterte und pfiff:
»Laß, laß mich . . .«
Auf dem Hof, an der Vortreppe, auf der drei weibliche Gestalten standen, murmelte er undeutlich:
»Ich weiß . . . es war dumm . . .«
Tanja Kulikow schüttelte vorwurfsvoll den glattgescheitelten Kopf und jammerte weinerlich:
»Schweig!« befahl Lida, »Fekla, hol den Arzt!«
Und Makarow stützend, sagte sie leise:
»Wohin hast du geschossen, du – Gymnasiast?«
Sie sprach es erbittert, ja, voller Verachtung aus.
In seinem Zimmer, bei Licht, sah Klim, daß Makarows Bluse auf der linken Seite dunkel war, feucht schimmerte und daß schwarze Tropfen auf den Fußboden fielen, Lida stand schweigend vor ihm und stützte seinen vornüber sinkenden Kopf, Tanja richtete eilig Klims Bett und schluchzte dabei auf.
»Zieh ihn aus«, befahl Lida. Klim näherte sich, ihn schwindelte von dem süßlichen, fetten Geruch.
»Nein, erst wollen wir ihn ins Bett legen«, kommandierte Lida, Klim schüttelte verneinend den Kopf, ging in halber Ohnmacht in den Salon und sank dort in einen Sessel.
Als er wieder zu sich kam und in sein Zimmer zurückkehrte, lag Makarow, nackt bis zum Gürtel, auf seinem Bett. Über ihn beugte sich ein fremder, grauhaariger Arzt, schürzte die Ärmel, bohrte mit einer langen, blinkenden Sonde in seiner Brust herum und sagte:
»Daß ihr jungen Leute immer Unfug treiben und knallen müßt!«
An den Schläfen und auf der Stirn Makarows glitzerte Schweiß. Seine Nase war totenhaft spitz geworden. Er biß die Lippen zusammen und schloß fest die Augen. Am Fußende des Bettes stand Fenja mit einer kupfernen Schale und die Kulikow mit Bandagen und Gaze.
»Die Puschkins und Lermontows schossen anders«, murmelte der Arzt.
Klim ging ins Eßzimmer. Am Tisch saß Lida und starrte ins Kerzenlicht. Sie hatte die Arme auf der Brust gekreuzt und die Beine von sich gestreckt.
»Ist es gefährlich?« preßte sie zwischen den Zähnen hervor.
»Weiß ich nicht.«
»Der Doktor scheint ein Grobian zu sein?«
Klim antwortete erst, nachdem er sich ein Glas Wasser vollgegossen und es geleert hatte:
»Da hast du es. Deinetwegen schießt man sich schon tot!«
Lida sagte leise, aber strenge:
»Hör auf!«
Sie verstummten und lauschten.
Klim stand am Büfett und rieb sich die Hände mit dem Taschentuch ab. Lida saß regungslos und starrte hartnäckig in das goldene Lichtbündel der Kerze. Kleinliche Gedanken nahmen von Klim Besitz. Der Arzt hatte mit Lida achtungsvoll wie mit einer Dame gesprochen. Natürlich nur, weil Warawka eine immer bedeutendere Rolle in der Stadt spielte. Wieder würde sie Stadtgespräch werden, wie nach ihrem kindischen Roman mit Turobojew. Unbegreiflich, warum sie Makarow auf sein Bett gelegt hatten! Man sollte ihn auf den Dachboden schaffen. Dort hatte er es auch ruhiger.
Diese Gedanken waren unpassend, Klim wußte das, konnte aber an nichts anderes denken.
Der Doktor kam herein und sagte, sich die Hände abtrocknend:
»Nun, alles steht so gut wie möglich. Der Revolver war miserabel. Die Kugel prallte auf die Rippe, hat sie, wie es scheint, ein wenig gequetscht, ist dann durch die linke Lunge hindurchgegangen und in der Rückenhaut steckengeblieben. Ich habe sie herausgeschnitten und dem Helden zum Andenken verehrt.«
Während er redete, sah er unverwandt mit einem Schmunzeln auf Lida. Aber sie merkte es nicht, damit beschäftigt, mit dem Stiel eines Teelöffels den Ruß von der Kerze abzukratzen. Der Doktor erteilte einige Ratschläge und verbeugte sich. Auch dies beachtete sie nicht. Als er gegangen war, sagte sie, in die Ecke starrend:
»Die Nachtwache übernehmen Tanja und ich. Du geh schlafen, Klim.«
Klim war froh, daß er gehen durfte. Er wußte nicht, wie er sich verhalten und was er sagen sollte. Er fühlte, daß seine schmerzliche Miene sich in eine Grimasse nervöser Müdigkeit verwandelt hatte.
Vier Tage verbrachte Makarow in Klims Zimmer, am fünften bat er, ihn nach Hause zu bringen. Diese Tage, voll von schweren und ängstigenden Erlebnissen, waren Klim eine Last. Gleich am ersten Tag fand er Lida am Lager des Kranken. Ihre Augen waren gerötet und glänzten unnatürlich, während sie das graue, erschöpfte Gesicht Makarows mit den eingesunkenen Augen betrachtete. Seine dunkel gewordenen Lippen gaben ein trockenes Flüstern von sich. Manchmal schrie er auf und knirschte mit entblößten Zähnen.
»Er spricht im Fieber«, hauchte sie, Klim winkend. »Geh hinaus.«
Doch Klim säumte einen Augenblick auf der Schwelle und vernahm eine erstickende, heisere Stimme;
»Ich bin nicht schuld, ich kann nicht . . .«
Lida wiederholte in befehlendem Ton:
»Geh hinaus!«
Gegen Abend trat eine Besserung ein, und am dritten Tag sagte er lächelnd zu Klim:
»Entschuldige, Bruder! Ich hab dir hier alles verschmiert.«
Er war befangen und sah Klim mit tief umränderten Augen unangenehm durchdringend an, als erinnere er sich an etwas, was er nicht glauben könne. Lida benahm sich affektiert und schien es selbst zu empfinden. Sie redete Nichtigkeiten, lachte, wo es nicht am Platze war, befremdete durch eine an ihr ungewohnte Ungezwungenheit und neckte, dann plötzlich wieder gereizt, Klim:
»Du hast den Geschmack eines alten Mannes. Nur Greise und alte Weiber hängen sich so viele Photographien hin.«
Makarow schwieg, sah auf die Decke und erschien neu, fremd. Auch das Hemd, das er trug, war ein fremdes – es gehörte Klim.
Als Wera Petrowna und Warawka, von der Sommerfrische zurückgekehrt, Klims eingehenden Bericht entgegengenommen hatten, fingen sie sofort leise zu streiten an. Warawka stand vorm Fenster und wandte der Mutter sein Profil zu. Er umschloß seinen Bart in der Faust und schnitt eine Grimasse, als habe er Zahnschmerzen. Die Mutter kämmte vor dem Trumeau ihr üppiges Haar aus und schüttelte den Kopf.
»Lida ist zu kokett«, sagte sie.
»Nun, das ist eine Einbildung von dir! Nicht ein Schatten von Koketterie!«
»Die Mittel der Koketterie sind verschieden.«
»Weiß ich, aber . . .«
»Makarow ist ein sittenloser Jüngling, Klim weiß es.«
»Du bist ungerecht gegen Lida!«
Klim hörte wortlos zu. Die Mutter sprach immer rechthaberischer, Warawka geriet in Zorn, kläffte, brüllte und ging fort. Dann sagte die Mutter zu Klim:
»Lida ist arglistig. Ich wittere in ihr etwas von einem Raubtier. Aus solchen kalten Mädchen entwickeln sich die Abenteurerinnen. Sei auf der Hut vor ihr!«
Klim wußte längst, daß seine Mutter Lida nicht liebte, aber in so bestimmtem Ton sprach sie es zum erstenmal aus.
»Ich würdige natürlich deine kameradschaftlichen Gefühle, aber es wäre wirklich vernünftiger, diesen Menschen ins Krankenhaus zu schaffen. Ein Skandal, bei unserer Stellung in der Gesellschaft, du verstehst natürlich . . . O du mein Gott!«
Über ihnen stampfte Warawka wie ein Elefant, und man vernahm sein dumpfes Schreien:
»Ich verbiete es. Unsinn!«
Dann hörte man Lida die innere Treppe hinabrennen und Klim sah vom Fenster aus, daß sie in den Garten stürmte. Nachdem Klim geduldig noch einige Bemerkungen über sich ergehen lassen hatte, ging er ebenfalls in den Garten, überzeugt, Lida dort beleidigt und in Tränen aufgelöst zu finden und sie trösten zu müssen.
Aber sie saß mit übergeschlagenen Beinen auf der Bank vor der Laube und empfing Klim mit der Frage:
»Du wirst dich aus Liebe nicht totschießen, nicht wahr?«
Sie fragte ihn so gelassen und unhöflich, daß Klim dachte:
»Sollte die Mutter recht haben?«
»Es kommt darauf an«, antwortete er achselzuckend.
»Nein, du tust das nicht!« sagte sie überzeugt, und, wie in den Kindertagen, lud sie ihn ein:
»Komm, sitzen wir ein wenig!«
Dann sah sie ihn von der Seite an und sagte nachdenklich:
»Du wirst wohl einmal unsittlich leben. Ich glaube, schon jetzt, nicht wahr?«
Der verblüffte Klim kam nicht dazu, zu antworten. Lidas Gesicht zuckte, verzerrte sich, sie warf den Kopf heftig in den Nacken, umschlang ihn mit den Händen und flüsterte voller Verzweiflung:
»Wie ist das furchtbar! Und wozu? Du bist geboren, ich bin geboren und wozu? Was denkst du darüber?«
Klim setzte eine würdige Miene auf und schickte sich an, eine gescheite und lange Rede zu halten, aber sie sprang auf, sagte: »Laß nur. Schweig!« und ging weg.
Es trieb Klim, der Verschwundenen nachzulaufen, aber nicht mehr, um Weisheiten von sich zu geben, sondern bloß, um an ihrer Seite zu gehen. Der Trieb war so mächtig, daß Klim aufsprang und ihr nachlief, doch vom Hof her ertönte der leise, aber klangvolle Ausruf Almas:
»Wirklich? Aha, ich habe dir ja gesagt!«
Klim zögerte eine Weile, setzte sich dann wieder und überlegte: Ja, Lida und vielleicht auch Makarow kannten eine andere Liebe. Diese Liebe weckte in der Mutter und in Warawka offenbar sehr eifersüchtige und mißgünstige Gefühle. Weder er noch sie haben auch nur einmal den Kranken besucht. Warawka rief den Wagen des Roten Kreuzes herbei, und als die Sanitäter, die wie Köche aussahen, Makarow über den Hof trugen, stand er am Fenster und hielt sich an seinem Bart fest. Er erlaubte Lida nicht, Makarow zu begleiten. Die Mutter war anscheinend demonstrativ ausgegangen.
Auf dem Hof erhellte sich Makarows Gesicht augenblicklich, er wurde lebhaft und sagte, während er in den durchsichtigen, kühlen Himmel blickte, leise:
»Wunderbar!«
Im Wagen krümmte er sich unter den heftigen Stößen der Räder und streichelte mit der rechten Hand Klims Knie.
»Nun, Bruder, habe Dank. Vielleicht war der Aderlaß heilsam. Er beruhigt.«
Er lächelte matt, als er hinzufügte:
»Aber du versuch es nicht, es tut weh, und obendrein muß man sich schämen.«
Er schloß die Augen, die in den dunklen Höhlen versanken und sein Gesicht auf unheimlichere Weise blind erscheinen ließen, als es bei Blinden von Geburt zu sein pflegt. Auf dem kleinen grasbewachsenen Hof eines Puppenhauses, das seine drei Fensterchen kokett hinter einer Palisade versteckte, empfing Makarow ein unnatürlich langer, hagerer Mensch mit dem Gesicht eines Clowns. Er hielt einen Besen in der Hand. Den Besen warf er fort, lief an die Tragbahre heran, beugte sich über sie, wobei er gleichsam in zwei Hälften einknickte, und fing, während er die Sanitäter anstieß, an, mit komischer Stimme zu sprechen:
»Ei Kostja, ei, ei, ei! Als Lida Timofejewna es uns sagte, da sind wir nur so erstarrt! Dann hat sie uns froh gemacht, es ist keine Gefahr, sagte sie. Na, Gott sei Dank! Sofort haben wir alles blank gescheuert und aufgeräumt. Mama!« rief er, faßte mit langen Fingern Klims Ellenbogen und stellte sich vor:
»Slobin Pjotr! Post- und Telegrafenbeamter. Sehr erfreut.«
Aus der Tür eines kleinen Schuppens kletterte eine starke, rotbäckige Alte in einem grauen Kleid, das wie eine Kutte aussah, bückte sich mit Anstrengung hinab, küßte Makarow auf die Stirn und brummte, während ihr Tränen übers Gesicht liefen:
»Du bist mir ein Dummchen!«
Klim empfand Rührung. Es war ergötzlich zu sehen, wie ein so langer Mensch und eine so riesenhafte Alte in einem Puppenhause lebten, in sauberen Stübchen, in denen es viel Blumen gab und wo an der Wand auf einem kleinen ovalen Tisch feierlich eine Geige in ihrem Kasten ruhte. Makarow wurde in einem freundlichen sonnigen Zimmer gebettet. Slobin setzte sich linkisch auf einen Stuhl und sagte:
»Weißt du auch, daß ich mir eigens zu diesem Anlaß erlaubt habe, eine kleine Pièce »Souvenir de Vilna« einzuüben? Sie ist ganz reizend. Drei Abende habe ich geschwitzt.«
Stumpfnasig, blauäugig, igelhaarig und schon graumeliert, erschien er Klim einem Clown immer ähnlicher. Seine massige Mama stapfte, sich in den Hüften wiegend, wie eine Kuh von Zimmer zu Zimmer und trug auf dem Tisch vor Makarows Bett alle möglichen Karaffen und Gläser zusammen, wobei sie brummte:
»Nun und was kommt dabei Gutes heraus? Ihr verhöhnt euch selbst, junge Leute, und hinterher trauert ihr!«
Sie bot Klim Tee an, Klim dankte höflich und drückte Makarow, der mit schweigendem Lächeln die Slobins ansah, die Hand:
»Komm bitte wieder«, bat Makarow. Die Slobins echoten einstimmig:
»Wir bitten!«
Klim trat auf die Straße. Ihm wurde traurig zumute. Die spaßigen Freunde Makarows mußten ihn wohl sehr lieb haben, und mit ihnen zu leben, mußte behaglich und einfach sein. Ihre Einfalt ließ ihn an Margarita denken. Das wäre der Mensch, bei dem er von den unsinnigen Aufregungen dieser Tage ausruhen könnte. Und wie er ihrer gedachte, fühlte er mit einemmal, daß dieses Mädchen in seinen Augen unmerklich gewachsen war, aber irgendwo seitab von Lida und ohne sie zu verdunkeln.
Sobald Lida in seinen Gedankengang einbrach, konnte er an nichts anderes mehr denken als an sie. Im Grunde war es gar kein Denken, er stand vor dem Mädchen und betrachtete es gedankenlos, so wie er zuweilen den Lauf der Wolken und die Strömung des Flusses betrachtete. Wolken und Wellen spülten jedes Denken fort und riefen in ihm eine ebenso gedankenleere Stimmung halber Hypnose hervor wie dieses Mädchen. Doch sobald er sie nicht geistig, sondern körperlich vor sich hatte, erwachte in ihm ein beinah feindliches Interesse für sie. Er empfand den heftigen Wunsch jeden ihrer Schritte zu überwachen, zu erfahren, was sie dachte und wovon sie mit Alina oder ihrem Vater sprach, und sie zu ertappen.
Einige Tage später fragte Lida so nebenhin, aber schnippisch, wie Klim schien:
»Warum besuchst du nicht Makarow?«
Er sagte, er sei sehr verstimmt durch das Verhalten der Lehrerkonferenz, ein Teil ihrer Mitglieder könne sich nicht entschließen, ihm das Reifezeugnis zu geben, und verlange eine nochmalige Prüfung.
»Na, Rziga wird's schon machen«, sagte achtlos Lida, dann kniff sie die Augen zu, kicherte und fügte hinzu:
»Versuch doch nicht, glauben zu machen, daß du bedauerst, deinen Kameraden am Selbstmord gehindert zu haben.«
Sie ging weg, ehe er antworten konnte. Natürlich scherzte sie, Klim sah es ihr vom Gesicht ab. Doch wenn ihre Worte auch scherzhaft gemeint waren, sie ärgerten ihn doch. Auf welche Weise und dank welchen Beobachtungen konnte ihr ein so kränkender Gedanke kommen? Klim prüfte lange und angestrengt sich selbst: hatte er jenes Mitleid empfunden, das Lida zu ahnen glaubte? Er entdeckte es nicht bei sich und beschloß, sich ihr zu erklären. Aber es vergingen zwei Tage, ohne daß er Zeit für eine Erklärung gefunden hätte, am dritten ging er zu Makarow, getrieben von einer ihm selbst nicht ganz klaren Absicht.
An der Schwelle eines der Stübchen des Puppenhauses hielt er mit einem unwillkürlichen Lächeln an: an der Wand, auf einem Sofa, lag, bis zur Brust in eine Decke verpackt, Makarow. Der aufgeknöpfte Hemdkragen entblößte seine verbundene Schulter. An einem runden Tischchen saß Lida. Auf dem Tisch stand eine mit Äpfeln gefüllte Schale. Ein schiefer Sonnenstrahl drang durch die oberen Scheiben und beleuchtete die tiefroten Früchte, Lidas Nacken und die Hälfte von Makarows höckernasigem Gesicht. Duft erfüllte das Zimmer, und es war sehr heiß. Der Kranke und das junge Mädchen aßen Äpfel.
»Eine paradiesische Beschäftigung«, murmelte Klim.
»Der Dritte im Paradiese war der Teufel«, gab Lida schlagfertig zurück und rückte mit dem Stuhl ein wenig vom Sofa ab, während Makarow, der Klim die Hand drückte, ihren Scherz aufnahm:
»Samgin gleicht mehr Faust als Mephisto.«
Beide Scherze mißfielen Klim und zwangen ihn zur Vorsicht. Makarow und Lida jedoch plänkelten witzig miteinander und verletzten ihn dabei immer häufiger. Er revanchierte sich ungeschickt und verlegen und glaubte aus ihren Worten den Verdruß von Menschen herauszuhören, die gestört worden sind. Unmut gegen sie stieg in ihm auf und noch ein anderes, wehmütiges Gefühl. Der Mensch, den er am Selbstmord verhindert hatte, war allzu aufgeräumt und noch schöner geworden. Die Blässe seines Gesichts unterstrich vorteilhaft den heißen Glanz seiner Augen, der Schatten auf der Lippe war tiefer und auffälliger geworden. Der ganze Makarow war in den wenigen Tagen auf unnatürliche Weise gereift. Er sprach sogar mit tieferer, wenn auch schwächerer Stimme. Lida benahm sich in seiner Gesellschaft unangenehm einfach, ohne jene Anmaßung und Aufgeblasenheit, die man bei ihr sonst gewohnt war, und wenn Klim auch bemerkte, daß sie zu ihm gütiger war als früher, so empfand er selbst das schmerzlich.
»Wie nett ist es hier, nicht wahr?« wandte sie sich an Samgin und zeigte mit der Hand im Kreis herum.
»Ganz gewöhnlich, so wie bei Spießbürgern.«
»Denkt mal, was für ein Aristokrat!« sagte Makarow und versteckte sein Gesicht vor der Sonne. Auch Lida lächelte, und Klim stellte sich rasch ihre Zukunft vor. Sie ist mit dem Gymnasiallehrer Makarow verheiratet. Er ist natürlich ein Säufer. Sie geht schon mit dem dritten Kind schwanger, latscht in Pantoffeln herum, die Ärmel ihrer Bluse sind bis zum Ellenbogen aufgekrämpelt, in der Hand hält sie einen schmutzigen Lappen, mit dem sie Staub wischt, wie eine Dienstmagd. Am Boden kriechen Säuglinge mit roten Hintern umher und wimmern. Dieses rasch entstandene Bild hob ein wenig seine gedrückte Stimmung. Jetzt blickte die alte Slobin ins Zimmer und lud ein:
»Bitte zum Tee! Heute gibt es Ihre Lieblingsplätzchen, Lida Timofejewna.«
Lida lief zu ihr hin, und flüsterte hastig etwas, wobei sie mit ihren dünnen Fingern die graue Haarflechte streichelte, die der Alten auf die feuerrote Backe gefallen war. Die Slobin schüttelte sich und lachte in tiefem Baß. Klim hörte nicht, was Lida sagte. Auf Makarows Frage: »Warum blickst du sie so an?« zuckte er nur die Achseln. »Also so steht es!« dachte er. »Sie kommt also seit langem und häufig hierher, sie gehört schon zur Familie? Aber weshalb wollte Makarow sich dann erschießen?«
Mit unwiderstehlicher Beharrlichkeit schoß ihm immer wieder der Gedanke durch den Kopf, daß Makarow mit Lida lebte, wie er selbst mit Margarita gelebt hatte, und während er sie von Zeit zu Zeit scheel ansah, schrie er innerlich: »Lügner! Falsche Menschen!«
Neben ihm saß Slobin, stieß ihn mit seiner knochigen Schulter an und redete davon, daß er nur die Musik und seine Mama liebe:
»Um dieser Liebe willen bin ich unverheiratet geblieben. Denn, wissen Sie, ein Dritter im Haus ist schon ein Störenfried! Und nicht jede Gattin erträgt Übungen auf der Geige. Ich übe aber jeden Tag. Meine Mama hat sich so daran gewöhnt, daß sie es nicht mehr hört.«
Klim verließ diese Leute in so niedergeschlagener Gemütsverfassung, daß er Lida nicht einmal seine Begleitung anbot. Doch sie selbst lief ihm bis vors Tor nach, hielt ihn an und bat freundlich, mit einem listigen kleinen Lächeln in den Augen:
»Sag zu Hause nichts davon, daß du mich hier gesehen hast.«
Er nickte zustimmend. Nach Hause zu gehen, hatte er keine Lust. Er trat an das Ufer des Flusses, schlenderte an ihm entlang und grübelte:
»Ich sollte rauchen, man sagt, es beruhigt.«
Hinter dem Fluß stülpte sich über die glattrasierte Erde gleich einem Becher eine rosafarbene Leere, die aus irgendeinem Grunde an das saubere Puppenhäuschen und seine Bewohner erinnerte.
»Wie dumm ist das alles!«
Zu Hause traf er Warawka und die Mutter im Eßzimmer. Der riesige Tisch war mit einer Menge Papiere überschwemmt. Warawka klapperte mit den Kugeln des Rechenbretts und brummte in seinen Bart:
»Spitzbuben!«
Die Mutter schrieb rasch Zahlen von gleichförmigen Papierblättchen auf einen großen weißen Bogen ab. Vor ihr stand eine Platte mit einer gewaltigen Wassermelone, vor Warawka eine Flasche Sherry.
»Nun, was macht dein Schütze?« fragte Warawka. Nachdem er Klims Bescheid entgegengenommen hatte, musterte er ihn mißtrauisch, goß sich sein Glas voll, leerte es andächtig zur Hälfte, leckte sich die fleischige Lippe und fing an zu reden, wobei er sich im Stuhl zurückwarf und mit dem Finger auf dem Tischrand Takt schlug.
»Die Welt zerfällt in Menschen, die klüger sind als ich. Diese kann ich nicht leiden. Und in solche, die dümmer sind als ich. Diese verachte ich.«
Die Mutter warf einen forschenden Blick auf ihn und fragte:
»Was hast du bloß auf einmal?«
»Notgedrungen«, antwortete Warawka, enterte mit der Gabel ein würfelförmiges Stück Melone und beförderte es in den Mund. »Aber«, fuhr er klangvoll und eindringlich fort, »es gibt auch eine Sorte Menschen, die ich fürchte. Das sind die guten echtrussischen Leute, die glauben, man könne mit der Logik der Worte auf die Logik der Geschichte einwirken. Ich rate dir freundschaftlich, Klim, hüte dich, einem guten russischen Menschen Glauben zu schenken! Er ist ein reizender Mensch, gewiß! Mit ihm über die Zukunft zu plaudern ist ein Hochgenuß! Aber die Gegenwart ist ihm ein Buch mit sieben Siegeln, und er sieht nicht, wie traurig diese Rolle eines Kindes ist, das verträumt in der Mitte der Straße schlendert und von den Pferden zerstampft werden wird, weil den schweren Lastwagen der Geschichte Pferde ziehen, die von erfahrenen, aber nicht zartfühlenden Kutschern gelenkt werden. Unsere guten Leute sind an dieser Arbeit völlig unbeteiligt. Im besten Fall dienen sie als Stuck auf der Fassade des zu errichtenden Gebäudes, doch da dieses Gebäude ja erst errichtet werden soll, so . . .«
Die Mutter unterbrach eifrig den Redner:
»Denke aber auch daran, daß Christus . . .«
»Auch eine verfrühte und folglich schädliche Erscheinung ist«, ergänzte Warawka, mit seinem dicken Finger Takt schlagend. »Die sogenannte christliche Kultur gleicht einem regenbogenfarbigen Fleck Petroleum auf einem breiten und trüben Fluß. Kultur, das ist vorerst: Bücher, Bilder, ein wenig Musik und sehr wenig Wissenschaft. Die Kultiviertheit einiger weniger Menschen, die sich das »Salz der Erde«, »Ritter des Geistes« und so weiter zu nennen belieben, äußert sich lediglich darin, daß sie nicht laut fluchen und ironisch vom Wasserklosett sprechen. Alle die »in Christo« leben, sind tief kulturfeindlich in meinem Sinne des Kulturbegriffs. Kultur, meine Teure, ist Liebe zur Arbeit, aber eine ebenso unzähmbar gierige wie die Liebe zum Weibe.«
Hastig zündete er sich eine Zigarette an und redete unermüdlich weiter, zwischendurch blauen Rauch ausstoßend. Die Saffianhaut seiner Stirn glitzerte rötlich, die scharfen Äuglein funkelten erregt, sein Fuchsbart rauchte, und ebenso rauchten auch seine Worte. Klim waren Warawkas Anfälle von Beredsamkeit längst vertraut, sie befielen ihn besonders heftig in Tagen der Müdigkeit. Die Leute grüßten Warawka immer respektvoller. Klim wußte, daß sie in ihren vier Wänden immer schlechter und böser über ihn redeten. Er nahm auch ein merkwürdiges Zusammentreffen wahr: je mehr und schlechter man in der Stadt über Warawka sprach, desto hemmungsloser und wilder philosophierte er zu Hause.
Heute war der Anfall besonders hartnäckig. Warawka knöpfte sich sogar unten die Weste auf, wie er es zuweilen bei Tisch tat In seinem Bart funkelte ein rotes Lächeln. Unter ihm ächzte der Stuhl. Die Mutter hörte ihm zu und beugte sich dabei so ungeschickt vornüber, daß ihre mädchenhaften Brüste auf der Tischkante lagen. Klim berührte dieser Anblick peinlich.
»Erlaube mal, erlaube mal«, schrie Warawka sie an, »diese Menschenliebe, die wir erfunden haben, ist unserer eigenen Natur, die nicht nach Liebe zu unserem Nächsten, sondern nach Kampf gegen ihn dürstet, zuwider. Diese unselige Liebe bedeutet nichts und ist nichts wert ohne den Haß und Ekel gegen den Schmutz, in dem dieser Nächste lebt. Endlich darf man nicht vergessen, daß das geistige Leben sich nur auf dem Boden materieller Wohlfahrt entfalten kann.«
Klim, der in sich hineinhorchte, verspürte in seiner Brust und in seinem Kopfe eine stille, nagende Schwermut, fast Schmerz. Das war ihm eine neue Empfindung. Er saß neben der Mutter, aß träge Melone und fragte sich, warum alle philosophierten. Ihm kam es so vor, als philosophierte man in der letzten Zeit mehr und heftiger. Er war erfreut, als man im Frühjahr, unter dem Vorwand, der Flügel solle renoviert werden, dem Schriftsteller Katin die Wohnung kündigte. Jetzt sah er, wenn er über den Hof kam, mit Vergnügen die geschlossenen Fensterläden des Flügels.
Oft schien ihm, er sei so unter fremden Meinungen verschüttet, daß er sich selbst nicht mehr sah. Jeder Mensch schien etwas zu befürchten und suchte in ihm einen Verbündeten, bedacht, ihm seine Meinung in die Ohren zu schreien. Alle hielten ihn für eine Abladestelle für ihre Ansichten und begruben ihn im Sand ihrer Worte. Heute befand er sich gerade in einer solchen Stimmung.
Fenja kam und meldete, der Bauunternehmer sei da.
»Aha!« rief Warawka wütend, sprang auf und entfernte sich mit dem schwerfälligen und zugleich schnellen Schritt eines Bären. Klim stand ebenfalls auf, doch die Mutter nahm seinen Arm und führte ihn in ihr Zimmer. Inzwischen fragte sie:
»Dich hat die Geschichte mit Lida wohl sehr aufgeregt?«
Während sie sich auf dem Teppich des Salons erging, wiederholte sie mit gedämpfter Stimme ermüdend und offensichtlich bestrebt, nicht mehr zu sagen, als gut war, die Klim wohlbekannten Bemerkungen über Lida und Makarow. Ihr Sohn hörte schweigend diese Rede eines Menschen, der überzeugt ist, stets das Klügste und Wichtigste auszusprechen, und dachte unvermittelt: »Worin unterscheidet sich ihre und Warawkas Liebe von der Liebe, die Margarita kennt und lehrt?«
Er begriff sogleich die ganze Schwere, den ganzen Zynismus dieses Vergleichs, fühlte sich vor der Mutter schuldig, küßte ihr die Hand und bat, ohne ihr in die Augen zu sehen:
»Beunruhige dich nicht, Mama – und verzeih, ich bin so müde.«
Auch sie küßte ihn sehr innig auf die Stirn.
»Ich verstehe, du mit deiner besonderen Innerlichkeit hast es schwer.«
Bei sich in seinem Zimmer dachte er, während er seine Jacke abstreifte, wie schön es wäre, wenn er diese ganze Innerlichkeit, diesen Wirrwarr der Empfindungen und Gedanken genau so leicht abstreifen könnte wie die Jacke und so einfach leben könnte wie die anderen, ohne sich zu scheuen, alle Dummheiten auszusprechen, die ihm auf die Zunge kamen, ohne an die profunden Weisheiten eines Tomilin oder Warawka, – ohne an einen Dronow denken zu müssen!
Er schlief schlecht, verließ früh das Bett und fühlte sich halb krank. Er ging ins Eßzimmer Kaffee trinken und fand dort Warawka, der sich für die Schlacht des Tages rüstete, Toast aß und dazu Portwein trank.
»Höre mal«, sagte er mit zusammengerückten Augenbrauen leise, ohne Klims Hand loszulassen, was Unangenehmes verhieß. »Mit Rücksicht auf Wera habe ich gestern nicht sagen wollen und aus Zeitmangel auch nicht können, daß ich schlechte Nachrichten über Dronow habe. Friedensrichter Kusmin, der nicht weiß, daß dieses Subjekt nicht mehr bei mir arbeitet, gab mir davon Kenntnis, daß Dronow sich das Sparkassenbuch eines Mädchens angeeignet habe und daß Anzeige gegen ihn erstattet sei. Obgleich der Richter »sich aneignen« sagte, ist es doch klar, daß es sich um einen Diebstahl handelt und obendrein, da er dreihundert Rubel übersteigt, um eine Sache, die nicht vor den Friedensrichter gehört. Das bedeutet also Kreisgericht. In welchen Beziehungen stehst du zu dem Burschen? Aha, du hast dich von ihm getrennt? Ich bin sehr erfreut.«
Auch Klim war erfreut. Um es zu verbergen, senkte er den Kopf. Ihm war, als sei auch das triumphierende »Aha« in seinem Innern erklungen, ein Spektrum von Gedanken flammte auf, darunter von solchen der Teilnahme für Margarita.
Warawka, der offensichtlich seine Freude als Schreck mißverstanden hatte, sagte ein paar tröstende Aphorismen:
»Nun ja, für die Anständigkeit eines Menschen kann man niemals bürgen. Wir wählen uns unsere Freunde achtloser als ein Paar Stiefel. Merke dir: ein Mensch ohne Freunde ist mehr Mensch.«
Selbstgefällig schloß er:
»Ich habe keine Freunde.«
Da trieb ein Gefühl der Dankbarkeit Klim, ihm zu verraten, daß Lida häufig bei Makarow war. Zu seinem Erstaunen wurde Warawka nicht unwillig. Er blickte nur ängstlich in die Richtung des Zimmers der Mutter und sagte mit gedämpfter Stimme:
»Ja, ja, ich weiß. Romantik, der Teufel hole sie! Wenngleich Romantik immer noch besser ist als . . .«
Er machte eine unbestimmte Geste mit seiner rechten Hand, schob seine dicke Aktenmappe unter die Achsel und fragte leise:
»Du hast der Mutter nichts erzählt? Nein? Erzähl' ihr auch nichts. Sie lieben einander ohnehin nicht sehr. Nun, ich gehe.«
Kaum war er verschwunden, schwand auch Klims Freude, ausgelöscht von dem Bewußtsein, eine Schlechtigkeit begangen zu haben, als er Lida verriet. Da ging er, der sonst nicht zu raschen Entschlüssen neigte, immer zwei Stufen gleichzeitig nehmend, zu ihr hinauf.