Emil Gött
Die Wallfahrt
Emil Gött

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Das Rentier

Der Ennemann ist doch ein merkwürdiger Kerl. Man weiß nicht, ist er ein Spielverderber oder das Gegenteil. Man kann ihm nicht bös sein, dafür ist er eine zu gute Haut; und noch weniger ist er ein langweiliger Geselle, so schweigsam er meistens ist – wenn er nicht angezapft wird! Aber gemütlich? Nein, das kann man ihn nicht nennen. Allemal, wenn man am wenigsten daran denkt, bringt er so etwas Hinterdingliches daher, obwohl er es so nicht genannt haben will. »Das wäre alles noch auf der Haut der Dinge«, sagt er; woraus er uns schließen läßt, daß wir, mit ihm verglichen, eigentlich allesamt Schwachköpfe seien; er sagt es zwar nicht, aber so dumm ist man denn doch nicht, daß man es nicht merkt! Kurz, Dinge bringt er daher, daß es einen gruseln kann und das beste Bier nicht mehr schmeckt. Wenn nicht – merkwürdig! – in diesen schwülen Tagen fast immer frisch angestochen würde, liefe man regelmäßig auseinander! Aber nein, was der liebvertraute Ton des Anstichs für eine wiederbelebende Wirkung hat! Das ganze Lokal gerät in eine Art Meerleuchten davon.

Was war das nur gestern wieder: Kommt da der Wenzel, der zum Postfach übergegangen ist, aber noch mit uns verkehrt, an unseren Stammtisch und erzählt vergnügt: »Grad hab ich doch die kurioseste telefonische Meldung passieren hören, von Hölzlebruck nach dem Feldberg: Rentier gesehen!«

»Was?« sagen wir. »Rentier gesehen in Hölzlebruck?«

»Na«, sagt er, »wenn ihr's noch nicht wißt: Auf dem Feldberg hat man sich drei Rentiere kommen lassen, mehr von Sports als der Wissenschaft wegen. Der Wintersport ist eben riesig in der Woge. Nun soll es auch Rentierschlittenfahrten geben, auf dem 92 Feldberg, im biederen, gut badischen Schwarzwald! Ja, die Welt steht im Zeichen des Verkehrs!« – Seit er bei der Post ist, ist dies sein Leib- und Magenwort! – »Nun ist dieser Tage eins von den Viechern durchgebrannt, und hinc illae lacrimae!« – Mit diesen lateinischen Sprüchen betont er seine klassische Bildung, und mit dieser seine Zusammengehörigkeit mit uns ...

Na, natürlich gab es nun ein Hallo an unserem Biertisch, wo man in dem ewig alten Tratsch und Klatsch schon mal eine kleine Abwechslung brauchen kann.

Ein Rentier im Schwarzwald und eine Hatz hinterdrein! Das gab auch eine rechte ›Hetz‹ für uns. Alles fiel darüber her, und einer schob es dem anderen zu; denn so sind wir mal: jeder reißt seine Witze auf Kosten des anderen; da aber jeder sich revanchiert, bleibt die Bilanz dieselbe.

Nun sind wir eine recht bunte Gesellschaft: Studenten, Maler, natürlich auch Dichter, auch ein Forstpraktikant. Dieser als Waldmensch bekam es zuerst zu schmecken: es gäbe Stoff für ihn, ein ganzes Epos in Jägerlatein darüber zu erleben. Oder der Dichter solle es schreiben! Nun saß es auf dem; kühne Szenen wurden vorgeschlagen. Die Maler sollten es malen, vom Stilleben bis zum hoch bewegten oder komischen Genre: das alte Beerenweible hinter dem Bildstöckle Schutz vor dem schauerlichen Wesen suchend! Unser Landwirtler aber sollte hoch interessante Kreuzungsversuche mit dem verschiedensten Rindvieh anstellen. Und so weiter.

Nur einer schwieg – natürlich der Ennemann! Schließlich, wahrscheinlich, als wir anderen erschöpft waren, fiel es auf. Da saß er, stumm und starr, und sog langsam an seiner Zigarre. Sein Gesicht war dunkler und sah ungesunder aus als sonst.

»Hallo, Ennemann, was hast du? Was machst denn du damit?«

»Gebt acht!« rief einer. »Der philosophiert darüber!«

»Alle Wetter, ja! Paßt auf, nächstens erscheint sein neuestes Hauptwerk: Die Welt aus der Rentier-Per-, Hyper- und Metaspektive! Was?«

93 »Laßt mich in Ruhe!« knurrte Ennemann und sah an die Wand nach seinem Hute.

Wir spürten etwas von Ernst in ihm und hielten ein bißchen an.

»Was hast du denn?« frage ich – ich liege ja so ziemlich am nächsten an seiner Brust.

»Was ich hab? Nichts! Ich finde nur nichts zum Lachen an der Geschichte!«

»Das heißt: Du findest nichts zum Lachen daran! Du hast einen üblen Tag!«

»Tag? Er hat ein übles Leben!« rief Winning, unser dicker Epikur, Ennemanns Widerspiel.

Ennemann warf ihm einen kaltdüsteren Blick zu und sagte in anerkennendem Tone:

»Das ist das beste Wort, das ich von dir gehört. Ich habe in der Tat, mit euch verglichen, ein übles Leben. Leichtfüßig gleitet ihr über den sicheren Boden – ich schleppe einen schweren Klumpfuß hinter mir drein; wo ihr frei darüber schwebt, da breche ich ein; die gleichen Dinge kommen zu uns, aber euch bleiben sie drei Schritte vom Leibe – in mich reißen sie ein und schlagen Bresche für tausende nachstürmende Feinde meines Lebens – so auch dieses einfältige Rentier! Euch eine Quelle unendlichen Gelächters, mir –«

Er verstummte. Wir waren ein wenig verlegen, aus instinktivem Mitleid vor unbekanntem Schmerz; und doch prickelte noch die Lustigkeit in uns.

»Na, was hat es denn dir getan?« fragte endlich einer zwischen Ernst und Lachen.

»Mir? Ich weiß nicht, ob es mir etwas getan hat. Sicher ist nur, daß ich mich an ihm verwundet hab. Es muß am Tag liegen, oder am Leben – frei nach Winning! Schon als der Wenzel das Wort ›Rentier‹ aussprach, wurde ich wach, wie aufgeregt, als ob etwas käme. Da müßt ihr übrigens wissen, daß für mich ein 94 Rentier etwas Melancholisches an sich hat und mit Melancholie ansteckt. Es gibt nun mal Geschöpfe, Formen des Lebens, in denen dieses uns auffälliger sinn- und aussichtslos erscheint als in anderen. Ich will damit nicht sagen, daß wir es so unendlich weit über das Rentier gebracht hätten, aber dennoch leben wir in einer so dichten, schützenden Atmosphäre von Illusionen, eine über oder unter den anderen wie die neun Schalen der Zwiebel, daß wir im allgemeinen nur die niederen, zurückgelegten Stufen des Lebens in erbarmungsloser Nacktheit, Kahlheit und Desillusionierung sehen; und das nur in hintersichtigen Stunden und, wie gesagt, in bestimmten exemplarischen Formen.

So sehe ich dieses stumpfsinnige Vieh da droben im Norden leben, hart an der Grenze der Lebensmöglichkeit überhaupt, im unwirtlichsten Klima; dreiviertel Jahr herrscht eisiger Winter, fast ein halbes Jahr Nacht. Sie vergehen in Tausenden in Schneestürmen, und auch das Überleben ist eine Kette von Leiden. Dann kommt der kurze Sommer, mit jenen ungezählten Myriaden von Mücken, vor denen die Menschen in die raucherfüllten Zelte flüchten, ihre Herden der unerträglichen Marter überlassend. So leben sie, eine Unterlage zum Leben höherer Wesen, unheimlicher, furchtbarer, unwiderstehlicher Mächte, Götter und Teufel in einer Person – Lappen, Eskimos, Tungusen, Tschuktschen, Kamtschadalen und wie sie alle heißen. Die halten sie in ihrer Gewalt, fangen sie ein, fesseln sie, schlachten ihre Kälber und sie selbst oder spannen sie an ihre Schlitten, bearbeiten sie mit Lederpeitschen und Spießen, und wenn sie zwei nebeneinander spannen wollen, zieht der Tschuktsche sein stumpfes Beil aus dem Gürtel und hackt ihnen die inneren Geweihgabeln ab – muß ein angenehmes Gefühl für den Schädel sein! Nun, dafür verehrt der Teufel, vor dem sie zittern, sie seinerseits als seinen Gott oder, in vorgeschritteneren Stämmen doch, als Geschenk seines Gottes, das ihm das Leben ermöglicht, das süße Leben, das Leben des Überrentieres! Denn er 95 führt das Leben seiner Tiere – aber er ist ein Mensch, stärkt sich durch eigene Illusionen, die ihm einen höheren Zweck verleihen, und hat immerhin Aussichten, es im Verlauf einiger Erdumwälzungen zu andren Kulturformen zu bringen, die zwar nicht gerade seinem Leben einen absoluten Sinn geben, aber doch was anderes sind. Und was anderes ist doch besser...! Variatio delectat!

Nun gebt acht: aus diesem Leben, an dem sie zwar leiden, aber darin sie doch heimisch sind, werden nun drei Stück herausgerissen, zwanzig Breitengrade südlicher transportiert und in Verhältnisse gebracht, wo sie zwar offenbar nach unserem Geschmack weniger zu leiden haben, wo sie aber doch fremd sind, so fremd, daß das Heimweh in einem von ihnen, vielleicht dem dümmsten, aber doch edelsten, so stark wird, daß es durchbrennt und wieder dem Norden zustrebt. Sein Instinkt findet sogar die Richtung heraus, aber weiß sein Intellekt von der Entfernung und den zahllosen, unüberwindlichen Hindernissen? Auf dem Feldberg hätte es wenigstens seine Gefährten beschnuppern und so die Heimat riechen können – nein, es genügt ihm nicht, der übermächtige Trieb reißt es los, und nun irrt es dahin durch eine völlig fremde Welt; es ist zwar nur ein Tier, aber seine Haut umspannt einen wunderbar vielfältigen Apparat von Sehen, Hören, Fühlen, Meinen, Hoffen und Fürchten. Und dieser Komplex von Leben sucht einen Weg – so furchtbar muß dieser Weg sein, daß das arme Vieh« – hier spielte es wieder wie schalkhaft um Mund und Augen des verdammten Kerls, als ob er uns doch zum besten halten wollte oder könnte, wenn er wollte! – »daß das arme Vieh, wenn es einen Schimmer von Verstand hat, wahnsinnig werden muß! Wenn es aber nicht wahnsinnig wird, so ist es doch ein größeres Rindvieh, als meine melancholische Anwandlung ihm zutraut!«

Und nun lachte er; aber es wollte bei uns nicht verfangen.

Und dann setzte er noch hinzu: »Nun seht ihr, dieses alles sah ich in einem einzigen Augenblick, als der Wenzel vorhin hinzufügte: ›Nun ist eines von den Viechern durchgebrannt‹, ich sah 96 es wie einen Brand Leiden durch unsere Wälder irren, und diese Welt, in der dieser Funke Schmerz brannte, den ich in keinen höheren Wert umzusetzen vermochte, als daß ihr, Menschenkinder, die ihr über diesem dunkeln Wesen droben im Licht wandelt, auf ›weichem Boden‹ – ja, hat sich was! – ›als selige Genien‹ – Prost! Winning! – als daß ihr darüber eine halbe Stunde ulken und lachen könnt, und ich Esel nun mit viel Geduld und Spucke darangehen muß, das verstauchte Gehirn wieder einzurenken, das erscheint nicht sofort als zulässiger Grund und Zweck zu dieser Marter – also diese Welt erschien mir auf einmal grausamer und unvernünftiger als sonst und als natürlich recht ist!«

Nun schwieg er, und wir mit. Wir waren finster und mürrisch.

Der dicke Winning aber löste das Schweigen. Wütend schrie er, daß die Leute im Lokal herguckten: »Du, das ist unappetitlich! Du denkst zuviel, und ich will dir sagen, woher es kommt: du säufst zu wenig! Du mußt mehr saufen!«

Ennemann sah halb nach ihm hin. »Und dadurch«, fragte er, mit einem Tone zwischen Mitleid, Hohn und Bitterkeit, »meinst du, würde die Welt und das Leben anders?«

»Die Welt nicht!« schrie Winning erbost. »Aber du! Mit zehn Schoppen im Leib siehst du sie wenigstens anders! Und was du anders siehst, das ist auch anders! Das ist meine Philosophie! Drum sag ich: du mußt mehr saufen!«

Er tat einen tiefen Trunk.

Ein behagliches Grunzen lief um unseren Tisch, mit einem kleinen Vortakt ihm voran ein Glitzern in den Augen.

Jetzt erst richtete Ennemann sein Auge ganz auf Winning und sah ihn eine Weile nachdenklich an; dann ließ er den Blick durch unsere Runde gleiten, flüchtig von einem zum anderen, bei mir hielt er ein wenig an, und ich wurde gottlob ein bißchen rot, und als er zu Winning zurückgekehrt war, sagte er langsam: »Ich will dir nun das Resultat meiner Philosophie sagen: Ich 97 muß noch mehr denken! Vom zu vielen Denken, meinst du, käme die Übelkeit meines Lebens – nun: 's ist ein Gesetz der Teufel und Gespenster: Wo sie herein geschlüpft, da müssen sie hinaus ... Durch das Denken kam mir das Üble, die Schwermut, herein, durch das Denken muß es wieder hinaus. Ich kann mir nicht denken, daß die höchste Tätigkeit des Lebens, die wir kennen, gegen das Leben, den Lebenswillen, den Lebensmut, die Lebenslust gerichtet sein soll! Ich bin nur noch nicht so weit gediehen, wo es wieder zum Leben einschwenkt! Ihr habt vielleicht schon davon gehört, daß das genossene Eiweiß auf dem Wege seines Verdautwerdens eine Reihe der allergiftigsten Giftformen durchläuft, von denen jede, unvermittelt genossen oder wenn sie nicht weiter verwandelt und wieder zu kräftiger Nahrung werden könnte, uns tödlich hinwürfe. Wenn ich also wieder fort und in die Höhe leben will – und aufwärts muß es sein, denn diesem giftigen, ungesunden, unappetitlichen – Hut ab, Winning, für dieses Wort! – Zustande wäre allerdings der Tod vorzuziehen – so muß ich diese Gedanken weiter und tiefer hinunterschlucken und verdauen und in Speise des Lebens verwandeln. Ich muß also denken, Winning, noch viel mehr denken; und den dicken, trüben, dumpfen Nebel des Bieres über die Schmerzen und Schauer dieser Welt zu breiten –«

Er verstummte. Offenbar verschwieg er: » überlaß ich dir!« Er hatte Mitleid mit uns, und ob es gleich ein verteufelt unangenehmes Gefühl ist, sich bemitleidet zu wissen, so mußte ich ihn in diesem Augenblick doch dafür lieben.

Es entstand nun, gerade durch sein Verstummen, das eine Erwiderung ausschloß oder doch verzögerte, eine schwüle Pause. Aber wie ich gerade darüber nachsann, wie sie zu brechen wäre, ertönte wieder einmal, fast wie eine Erlösung, vom Büfett her das bekannte, traute Klopklopklop! Und wie von einem Alp befreit, atmeten die Lungen auf, und die Herzen richteten sich empor, und nahezu einstimmig schmunzelten wir einander zu: »Frischer Anstich!« 98

 


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