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Auf den folgenden Blättern soll die Lyrik Goethes als Ganzes gewürdigt werden. Man mag sich fragen, ob die Aufgabe überhaupt zu bewältigen sei, ob sich der Gegenstand nicht, wie Proteus, dem Fragenden immer wieder entziehe und ihn nötige, zu bekennen: »Siehe, er geht vor mir über, ehe ichs gewahr werde, und verwandelt sich, ehe ichs merke.« Zwar gibt es in deutscher und in fremden Sprachen Lyriker, die noch zahlreichere Verse geschrieben haben als Goethe. Es gibt aber keinen, dessen lyrisches Werk so vielgestaltig wäre. Überall sonst bedeutet ungewöhnliche Fruchtbarkeit Virtuosität, Manier, eine Kunst, die, einmal erlernt, dem Meister zur Verfügung steht und ihm erlaubt, sich, wo er nur will, auf seine bewährte Weise zu äußern. So ist es bei Rückert, dessen unverdrossenes Reimen uns verblüfft, so bei den monströsen Kompendien, die den berauschten Fleiß italienischer und spanischer Dichter des Barock bezeugen. Da scheint die Sprache den Menschen nach und nach vollständig einzuspinnen. Ihr Schöpfer muß sich am Ende gestehen: »Ich bin nichts gegen das, was ich gemacht habe.« Goethes Reichtum ist anderer Art. »Ursprünglich« pflegt man ihn zu nennen, ohne immer sagen zu können, was dies bedeuten soll. Doch zweifellos ist es die vom zwanzigsten bis zum achtzigsten Lebensjahr ungebrochen waltende Ursprünglichkeit, die unsere Aufgabe so erschwert, die jede endgültige Feststellung eines Stils und bestimmter Formen verbietet und uns als Leser aufs höchste entzückt, als Kritiker in Verzweiflung setzt.
Nicht leichter wird unser Geschäft dadurch, daß über ein Jahrhundert hin im deutschen Sprachgebiet Goethes Lyrik maßgebend war für Wesen und Wert der lyrischen Poesie überhaupt. Trotz ihren großen Ahnen Friedrich Schlegel und Herder zeigte sich die deutsche Literaturwissenschaft wenig geneigt, historisch unbefangen jedem Dichter sein Recht widerfahren zu lassen. Das Beispiel Goethes war zu groß. Klopstock, Hölderlin, die Romantiker, Platen, C. F. Meyer, ja selbst Petrarca, die Römer und Griechen wurden nicht unmittelbar zu Gott, sondern unmittelbar zu Goethe gesehen, an Goethe gemessen und beurteilt. Das hat nicht minder ihre Würdigung als die Würdigung Goethes gestört. Der Einzige nämlich, mit dem die Dichter der ganzen Welt verglichen wurden, schien selber unvergleichlich zu sein. Und das Unvergleichliche, ist es faßbar? Heute freilich dürften wir einigen Abstand gewonnen haben. Von Rilke, George und Hofmannsthal wurden neue Ziele ins Auge gefaßt. Hölderlins Schaffen rückte ins hellste Licht. Die künstliche Lyrik des Barock erfreute sich einer späten, doch um so eifrigeren Bewunderung; und neuerdings entziffern auch deutsche Leser gern die subtilen Rätsel der absoluten Poesie. Man glaubt sich hier schon außerhalb oder mindestens an den Grenzen des Sprachbereichs der Goethezeit zu bewegen; und es läßt sich nicht leugnen, es wird sogar nicht selten mit fühlbarem Trotz erklärt, daß eine gewisse Unlust an Goethe, ein Unbehagen, eine Ermüdung an solchem Tun beteiligt sei. Das schadet nichts. Vielleicht wird so der weite Horizont eröffnet, von dem sich Goethes Eigenart erst in ihrer ganzen Größe abhebt. Wer zurückkehrt aus der Fremde, versteht und liebt die Heimat mehr, als wer sie nie verlassen hat. Wir werden gut tun, selber gleichsam ein Stück Fremde mitzubringen, wenn wir begreifen und aussprechen wollen, was wir an Goethes Gedichten besitzen.
Da müssen wir mit Verwunderung lesen, was der Dichter selber über sein Schaffen in »Dichtung und Wahrheit« erzählt:
»Ich war dazu gelangt, das mir inwohnende dichterische Talent ganz als Natur zu betrachten, um so mehr, als ich daraufgewiesen war, die äußere Natur als den Gegenstand desselben anzusehen. Die Ausübung dieser Dichtergabe konnte zwar durch Veranlassung erregt und bestimmt werden; aber am freudigsten und reichlichsten trat sie unwillkürlich, ja wider Willen hervor.
Durch Feld und Wald zu schweifen,
Mein Liedchen wegzupfeifen,
So gings den ganzen Tag.
Auch beim nächtlichen Erwachen trat derselbe Fall ein, und ich hatte oft Lust, wie einer meiner Vorgänger, mir ein ledernes Wams machen zu lassen und mich zu gewöhnen, im Finstern durchs Gefühl das, was unvermutet hervorbrach, zu fixieren. Ich war so gewohnt, mir ein Liedchen vorzusagen, ohne es wieder zusammenfinden zu können, daß ich einigemal an den Pult rannte und mir nicht die Zeit nahm, einen querliegenden Bogen zurecht zu rücken, sondern das Gedicht von Anfang bis zu Ende, ohne mich von der Stelle zu rühren, in der Diagonale herunterschrieb. In eben diesem Sinne griff ich weit lieber zu dem Bleistift, welcher williger die Züge hergab: denn es war mir einigemal begegnet, daß das Schnarren und Spritzen der Feder mich aus meinem nachtwandlerischen Dichten aufweckte, mich zerstreute und ein kleines Produkt in der Geburt erstickte. Für solche Poesien hatte ich eine besondere Ehrfurcht, weil ich mich doch ungefähr gegen dieselben verhielt wie die Henne gegen die Küchlein, die sie ausgebrütet um sich her piepsen sieht. Meine frühere Lust, diese Dinge nur durch Vorlesungen mitzuteilen, erneute sich wieder; sie aber gegen Geld umzutauschen, schien mir abscheulich.«
Unzählige Gedichte sind zweifellos auf diese Art entstanden. Vieles ist verlorengegangen. Was bleibt, erscheint als bares Wunder, so das »Mailied«, das in Straßburg aus der Seele des Jünglings hervorbricht, so die Folge »Auf dem See», wo dreimal während der kurzen Fahrt die Begeisterung zündet und jedesmal ein eigentümliches, von den andern Strophen unterschiedenes und doch zum Ganzen stimmendes Stück entsteht, so »Wanderers Sturmlied«, der »Halbunsinn«, den Goethe in einem scheußlichen Wetter laut intoniert zu haben gesteht, und so die Lieder an Belinde, an Lili Schönemann, mit ihrem wehmutsvollen herbstlichen Glanz. Auch aus späteren Jahren sind solche Wundergeschichten bekannt. »Alles geben Götter . . .« hat Goethe vor sich hingesungen, »als er tief in einer herrlichen Mondnacht aus dem Flusse stieg, der vor seinem Garten durch die Wiesen floß«. »Über allen Gipfeln ist Ruh« schrieb er im Augenblick, da die Verse sich bildeten, an die Bretterwand der Jagdhütte auf dem Gickelhahn. Noch 1828, in Dornburg, werden ihm liedhafte Strophen geschenkt: »Früh, wenn Tal, Gebirg und Garten . . .«, »Dem aufgehenden Vollmonde«, »Der Bräutigam«. Daß hin und wieder eine glättende, ausgleichende oder Einzelnes stärker herausarbeitende Hand sich solcher Stücke noch einmal annimmt, ändert an dem Gesamtbild nichts. Die Lieder fallen dem Dichter zu; er nimmt sie mit frohem Erstaunen entgegen.
Der Deutsche liebt es, sich den lyrischen Sänger so vorzustellen. Und weil er sich mit Recht auf Goethe beruft, meint er leicht, es dürfe nicht anders sein; das Echte komme nur so zustande. Kein einziger deutscher Dichter vor Goethe hat aber so sicher improvisiert. Klopstock, Haller, Gryphius, Fleming, sie lassen sichs alle sauer werden; und ebenso nach Goethe wieder Platen, Meyer, Stefan George. Es fehlt auch heute noch nicht an Stimmen, die diesen Dichtern eben deshalb die höchste Auszeichnung vorenthalten. Das ist ein deutsches Vorurteil. Ob mühsam errungen oder geschenkt, gefeilt oder wie von selber entstanden, entscheidet den Wert von Versen nicht. Es gilt im Gegenteil, einzusehen, daß die lyrische Improvisation im Bereich der hohen Literatur eine Ausnahme ist, die nur durch Goethe und alle, die sein Geist in Deutschland, Italien, Frankreich und England erweckt hat, für einige Jahrzehnte den Schein des einzig rechten dichterischen Verfahrens erhielt.
Gewiß ein ungeheures, aber zugleich ein historisch bedingtes Geschehen! Wie immer, wo das Vollkommene, das ganz Erstaunliche sich ereignet, haben auch hier der Genius und die Umstände glücklich zusammengewirkt. Als Goethe auftrat, war die deutsche Sprache, nach ihrer tiefsten Verderbnis am Ende des Barockzeitalters, schon wieder einigermaßen gereinigt und stellte sich dar als vertrauenswürdiges Instrument. Wieland hatte den Vers geschmeidigt und eine durch französische Muster empfohlene Eleganz erzielt. Klopstock dagegen, weit entfernt, dies für erstrebenswert zu halten, verlieh dem einzelnen Wort eine eigene Tiefe und ein neues Gewicht. Nach zwei entgegengesetzten Richtungen waren die Wege also gebahnt; und wer in den Musenalmanachen und Taschenbüchern vom Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre blättert, wird leicht gewahr, wie Anmut und Würde mit mehr oder minder Erfolg nach einem Ausgleich, nach einer Vereinigung streben. Durch Herder aber wurde das Reich des Möglichen unabsehbar erweitert. Die Stimmen der Zeiten und Völker in Liedern von orientalischer Poesie bis zu den Balladen des hohen Nordens, von der neueren geistlichen Dichtung bis hinab zum ältesten Volksgesang: dies alles war nun auf einmal da und wollte erworben, wollte in Besitz genommen sein. Es ist heute nicht mehr leicht zu begreifen, was eine solche Entdeckung bedeutet. Wenn sich ein Dichter des Rokoko an den Schreibtisch begab und Verse schrieb, so war seine Wortwahl, der Bau seiner Sätze und Strophen von vornherein durch ein eng begrenztes Kunstideal bestimmt. Er mochte sich persönlich der reichsten und originellsten Sprache bedienen – wie etwa Goethes Mutter, deren Briefe uns so viel Vergnügen bereiten –; als Dichter hatte er alles auszuschließen, was nicht kanonisch war. Daher die etwas ängstliche Grazie eines Gellert und Ewald von Kleist oder Ramlers formale Pedanterie. Nun war die Zone des Dichterischen ins Unübersehbare ausgedehnt. Und ungezählte neue Formeln, Wendungen, Verse boten sich an. Wer den Mut aufbrachte, die Fülle des Gültigen wirklich anzuerkennen, trat ein gewaltiges Erbe an. Herder selbst brachte den Mut nicht auf. Er gab seine Volksliedersammlung mit seltsam entschuldigenden Bemerkungen heraus und kam in seinem Geschmack nie ganz von den älteren Dichtern los. Goethe aber stürzte sich mit dem glücklichen Leichtsinn seiner Jugend auf die ausgebreiteten Schätze, tastete, spürte und schmeckte herum, schuf das »Heidenröslein« im Volksliedton, die Künstlergedichte in Knittelversen, die Hymnen in freien Rhythmen, die er als Pindarisch glaubte ausgeben zu dürfen, und blickte einstweilen mit Neid auf Heinse, dem scheinbar Unmögliches, strömende Stanzen in deutscher Sprache, gelungen waren. Er durfte sich einer kaum mehr eingeengten Beweglichkeit erfreuen und fühlte sich heimisch und wohlversehen.
Auch so und gerade so hätte sich aber die leerste Virtuosität ausbilden können, wie etwa bei Lenz, der alle Formen nicht minder behend als Goethe aufgriff und gut damit umzugehen verstand. Wir schätzen ihn heute nicht allzu hoch, während jeder Goethesche Vers, er sei matt oder kräftig, weich oder hart, überzeugt. Hier pflegt sich der Kritiker auf das Geheimnis der schöpferischen Persönlichkeit zu berufen, das heißt, sich auf den Begriff »Genie« als ein asylum ignorantiae zurückzuziehen. Zuletzt bleibt freilich nichts anderes übrig. Vielleicht ist es aber doch möglich, noch eine kleine Strecke weit vorzudringen.
Wir fragen: Was bedeutet es, wenn die Sprache so reich geworden ist, daß sie dem Dichter freigebig, mit überschwenglicher Huld entgegenkommt? Ein Literat wie Lenz wird hier nichts als ein sprachliches Phänomen entdecken. Dem Dichter dagegen, der seine Kunst als Leben, das Leben als Kunst versteht, erscheint die Welt, erscheint sein eigenes Dasein in einem helleren Licht, wenn seine Sprache ihn begünstigt. Im tiefsten Grunde nämlich – auch diese Erkenntnis verdanken wir Herder – sind Sprache und Leben nicht rein voneinander zu scheiden. Die Welt der Dinge bildet sich für unser Bewußtsein mit den Wörtern, und ihren Zusammenhang stellen wir in grammatischen Relationen fest – daher sich, streng genommen, für jedes Volk die Wirklichkeit anders aufteilt und ihre Bezüge andere sind. Die Wirklichkeit, sagt Hofmannsthal, ist die »fable convenue der Philister«. Das trifft: insofern zu, als der Sprachgeist des Alltags entscheidend den Sinn der Dinge bestimmt. Daraus ergibt sich aber auch, daß der Dichter in einer anderen Welt lebt, in einer Welt, die später vielleicht, wenn er allgemein anerkannt ist, zur fable convenue eines Volks werden kann. Im höchsten Grade gilt dies von Homer, dem Schöpfer der europäischen Welt. Es gilt in bescheidenerem Umfang von Goethe, in dessen Sprache sich unser Verständnis des Lebens, mehr als wir wissen, bewegt.
Wie stellt sich das Leben für Goethe dar? Ununterscheidbar von der Sprache, kommt es ihm freundlich wie diese entgegen. Er fühlt sich heimisch; er fühlt sich geliebt. Und die Liebe des Lebens begegnet in ihm einer unerschöpflichen Liebeskraft. Ich liebe dich, und du liebst mich; wir sind zutiefst miteinander vertraut, verwandt, wir sind im Grunde eins. In diesem Gefühl erfüllt sich menschlich Goethes historische Situation; auf ihm beruht die echte Innigkeit seiner lyrischen Poesie.
Mit dem Straßburger Mailied hebt es an:
O Mädchen, Mädchen
Wie lieb ich dich!
Wie blickt dein Auge!
Wie liebst du mich!
Mit der Geliebten schließt der entzückte Jüngling die ganze Natur ins Herz und fühlt sich ins Herz geschlossen von ihr. »Umfangend umfangen!« Ganymeds seliger Ruf, Liebesgruß- und Antwort vom All zum Menschen, vom Menschen zum All, beseelt als gnadenreiches Geheimnis Goethes Dichten. Und es ist kein Zufall, daß dieselbe Wendung, das hochbeglückte »Einander«, auch in den Versen über den Dichter und die Sprache wiederkehrt:
Greif milde drein und freundlich Glück
Fließt, Gottheit, von dir aus.
Wenn der Dichter milde dreingreift, fließt freundliches Glück von der Sprache aus; sie wird ihm begegnen wie der alliebende Vater dem liebenden Knaben.
Der Sinn des Verses »Umfangend umfangen!« ist aber damit noch nicht erschöpft. Es dürfte sich lohnen, zu bedenken, daß er sich gliedert in ein aktives und ein passives Partizip. Auch darin deutet sich die einzigartige Stellung Goethes an. Franzosen, Engländer, Italiener nennen Goethes Werk romantisch und ordnen es ein in die Bewegung, die Rousseau ausgelöst hat. Die Deutschen, obwohl sie die Goethezeit immer mehr als Ganzes zu sehen gewohnt sind, obwohl sie sogar den Begriff des »vorromantischen« Stils übernommen haben, grenzen Goethes Kunst doch scharf gegen alle romantische ab. Die Weite dieses Problems kann hier nicht ausgemessen werden. Wohl aber ist es möglich und nötig, im engeren Bereich der lyrischen Gattung Unterschiede herauszuarbeiten.
Romantische Lyriker wie Tieck oder wie der größte, Clemens Brentano, gehen schon nicht mehr von Wieland, Klopstock und Herder, sondern von Goethe aus. Die deutsche Sprache ist für sie nicht nur gesäubert, notdürftig geglättet und vorbereitet zu schönerem Gelingen; das Vollkommene ist hier bereits geglückt; die reinsten Töne sind erklungen. So strömt sie den jüngeren Dichtern zu als übermächtiges Element und schwemmt sie gleichsam mit sich fort. Sie sind umfangen von ihr. Doch die umfangende Gebärde der Dichter fehlt oder reicht nicht aus, die Fülle zu fassen. Das zeigt sich in der Art, wie das Klangspiel, die Folge von Reimen und Assonanzen, den Sinn der Worte überwiegt; im Gleiten der Sätze, die nicht gefügt, die nur lose aufgereiht sind; es äußert sich, zumal bei Brentano, in einem Zerfließen und Zerrieseln, derart, daß oft der Anfang gewichtig, das Ende völlig belanglos ist. Die Kräfte des »oberen Leitenden«, des Geistes sind nicht ausgebildet; es fehlt den zu reich bedachten, verwöhnten Erben an zielbewußter Führung, weil die Erfahrung des Widerstands fehlt.
In Goethe waren die tätigen und die empfangenden Organe des Gemüts vollkommen ins Gleichgewicht gesetzt. Schiller durfte ihm einen weiblichen Sinn zusprechen, Friedrich Schlegel dagegen männlich überlegene Kraft. Der eine sah dies, der andere jenes. So spricht ihm das Urteil seiner Zeit wie jedes seiner Werke das Glück und die Würde des Geistes der Mitte zu. Und eben dies befähigte ihn zum größten Dichter in einer Epoche, da vieles vorbereitet, aber das Höchste noch zu erringen war. Das Ringen, Streben und Leisten mag im »Faust«, in »Wilhelm Meister« klarer zutage treten als in der ungewollten, improvisierten Lyrik. Ein instinktives Zielen jedoch, ein dunkles Vorwärtstasten einem Abschluß, einer Vollendung entgegen läßt sich sogar erkennen in der unbewußtesten Schöpfung, im Lied. Goethes Lieder zerrinnen nicht. Wie »Auf dem See« nach dem reizvollen Schwanken zwischen Glück und Wehmut sich zuletzt in der »reifenden Frucht« erfüllt, so gehen die meisten und gerade die schönsten Beispiele liedhafter Lyrik in Versen aus, die den seelischen Vorgang mit einer fast an Epigramme gemahnenden Prägnanz beschließen. Dazu gehört die Seligpreisung im Lied »An den Mond«, das »Warte nur, balde Ruhest du auch« in »Wandrers Nachtlied«, »Schon seh ich das Land« in »Meeresstille und glückliche Fahrt«, oder gar in »Der Bräutigam« die unerschöpfliche, ein ganzes Dasein krönende Zeile »Wie es auch sei, das Leben, es ist gut«. Wer nur die äußere Form betrachtet, mag an die Sinngedichte Lessings, die Lieder Hagedorns, Gleims und aller jener Poeten denken, die sich im Geist des Rokoko und des Barock die Pointe schuldig sind. Von der Romantik aus gesehen schließt Goethe sich in dieser Hinsicht zweifellos an das Vergangene an, und Spuren anakreontischer Übung verschwinden aus seiner Kunst bis in die letzten Lebensjahre nicht ganz. Allein, die freundlichen Meister, die sich als deutscher Horaz und Tyrtaios fühlten, gingen anders zu Werk als er. Sie hatten es von vornherein auf die geistreiche Spitze abgesehen und berechneten klüglich den Effekt. Je besser er glückte, desto leichter fiel es dem Leser, einzusehen, warum das Gedicht im Einzelnen und im Ganzen gerade so angelegt war. Eine Belustigung des Verstandes und Witzes kam dabei heraus. Goethes Lieder entziehen sich einer solchen verständigen Berechnung, weil ihre »Pointe« – wenn dieses Wort überhaupt noch am Platz ist – nicht erstrebt, nicht vorgesehen, sondern ein augenblickliches, zwar notwendiges, aber den Dichter wie den Leser überraschendes zartes Ereignis ist. Unbewußt führend, mit Wissen getragen: nur solche paradoxe Formeln werden dem Schaffen Goethes gerecht. Sie gelten auch für den Bau der Verse, die ebenso weit entfernt sind von der starren metrischen Gliederung, die Opitz den Deutschen beigebracht hatte, wie von der unwillkürlichen, den Takt verschleiernden Rhythmik, der sich die jüngere Generation überläßt. Sie gelten von dem holden Schweben zwischen grammatisch geordneter Rede und kleinen Lizenzen aller Art, und nicht zuletzt von dem Bezug des unwillkürlichen seelischen Spiels auf ein deutlich feststellbares Motiv, den Kern des Gedichts, den Goethe jederzeit als unentbehrlich betrachtet und gegen das vage Fluten der Stimmung im Sinne der Romantik verteidigt hat.
Wir haben uns bisher vor allem an die Lieder gehalten und dem Wandel des Stils in den sechzig Jahren Goetheschen Schaffens noch keine Beachtung geschenkt. Diese sechzig Jahre – von 1770 bis 1830 gerechnet – sind aber in der Geschichte der deutschen Dichtung die reichsten und wechselvollsten. Und was sich als Frühzeit, Hochblüte und Spätstil auf eine große Zahl von Talenten, Gruppen, Richtungen und Schulen verteilt, hat Goethe alles nacheinander in seiner Entwicklung erfahren, vollbracht und meist von vornherein ausgeglichen und vor den Exzessen bewahrt, denen andere, einseitigere Begabungen ausgesetzt waren. So schon den »Sturm und Drang«, den Aufstand der deutschen Jugend um 1770. Goethe führt ihn an und wird von den meisten als Führer anerkannt, obwohl er die Sache nur selten bis zum Krampfhaften und Verrückten treibt und eine gewisse Milde, eine gewinnende Anmut auch in den tollsten Extravaganzen nicht verliert. Als programmatisch dürfen hier vor allem die großen Hymnen und die derben Knittelverse gelten. Hier wird es am ehesten deutlich, daß sich der Dichter seiner Eigenart bewußt war, daß er sie betonte und gegen die Tradition ausspielte. Neuartig aber war das Impulsive seiner Poesie, das Vertrauen auf die eigene Kraft, die Gunst des Augenblicks zumal, der unwiederholbar, einzig ist und restlos ausgeschöpft sein will. Aus dem Drang, den göttlichen Augenblick restlos auszuschöpfen, entsteht eine explosive Sprache, die nicht entwickelt, nicht ausbreitet, sondern das Ungeheure auf den engsten Raum zusammenpreßt und plötzlich, mit einem Schlag, entlädt. Hierher gehören jene Neubildungen, die viel eher als die von Bodmer empfohlenen und von Klopstock geprägten den Namen »Machtwörter« verdienen: »Schlammpfad«, »sturmatmend«, »silberprangend«, »schlangewandelnd«. In der ersten, später gemilderten Fassung der Prometheushymne ist wohl ein Äußerstes an Verdichtung in jenem Kompositum erreicht, das niemand vergißt, der es je gehört hat: »Knabenmorgenblütenträume«. Im gleichen Sinne wirken die Kurzzeilen, die Goethe in vielen Gedichten bevorzugt. Das Schriftbild der frühen Hymnen ist schlank. Die Verse können nicht länger sein, weil jeder einzelne mit dem heftigsten Nachdruck ausgestoßen wird und wieder Atem geschöpft werden muß, wenn die nächste Zeile nicht abfallen soll. Eine Fortissimo-Instrumentation, in der poetischen Partitur durch zahlreiche, oft gehäufte Ausrufungszeichen angedeutet, setzt das künstlerische Wollen außer Zweifel, nicht minder die unverkennbare Neigung, Starktöne aufeinander folgen zu lassen: »Mir! Mir!«, »Allliebend« im »Ganymed«, »helleuchtend« und »sich Staub wälzt'« in »Wanderers Sturmlied«, »Weit, hoch, herrlich der Blick« in »An Schwager Kronos«; ferner, unterstützt durch Alliteration in einem der Künstlergedichte: »Die ich in Seel und Sinn, himmlische Gestalt«. – Wir haben uns durch Goethe und insbesondere durch Hölderlin wieder an solche Töne gewöhnt, obwohl sie auch in der nachgoetheschen deutschen Lyrik nicht allzu oft erklingen. Damals, zu Beginn der siebziger Jahre, waren sie unerhört. Sogar die Oden Klopstocks kommen als Vorbereitung kaum in Betracht. Denn Klopstocks Takte sind vorbedacht und, von den wenigen freien Rhythmen abgesehen, metrisch geregelt. Sie wirken deshalb hieratisch, während die Goetheschen Verse erschreckend und herrlich sind wie vulkanische Stöße. Über das 18. und 17. Jahrhundert mit ihrer Vorherrschaft des Alexandriners und anderer alternierender Maße hinweg scheint hier die Sprache wieder an Luthers Gepflogenheiten und wohl sogar an die noch älteren des germanischen Stabreims mit seinen steilen, zackigen Kurven anzuschließen: »Der Fürst dieser Welt, Wie saur er sich stellt«, »dâr ist lîp âno tôd, liocht âno finstrî«. Solche fast vergessene Kräfte des Deutschen kommen wieder zu Ehren. Ob Goethe selbst sich dessen bewußt war? In seinen Knittelversen freilich glaubte er sich Hans Sachs verpflichtet. Gerade diese Nachfolge aber beruhte auf einem fruchtbaren Irrtum, wie später wieder die Nachfolge Homers. Goethe hat nämlich die Regel des strengen Knittelverses gar nicht beachtet. Hans Sachs zählte sorgfältig die Silben. Sein Jünger hörte nur die Abweichungen vom Jambentrott und ahmte nur diese nach, um gegen die Langeweile, die Nivellierung des Gefühls und die Autorität akademischer Regeln zu protestieren. Er schrieb seine Knittelverse aus Trotz, indes Hans Sachs sich einer zwar groben, doch immerhin peinlichen Ordnung befliß. So dürfte es allgemein fragwürdig sein, aus einer Übernahme von Formen auf eine innere Verwandtschaft zu schließen. Ein und dassselbe Gebilde gewinnt in anderen Händen ganz anderen Sinn. Was wir, deutend und behutsam erklärend, von dem Stil der vorweimarischen Verse sagen können, läßt sich in der Zeile zusammenfassen: »Spude dich, Kronos!« Kronos ist hier der Gott der Zeit. Er soll sich sputen; das träge Nacheinander wird dem Jüngling lästig. Alles auf einmal, Jugend, Reife, innigste Nähe und weiteste Ferne, Konzentration des Gemüts, der Kraft auf einen einzigen Punkt, das Jetzt, Bereitschaft, der Glorie dieses Jetzt die Folge, die Dauer aufzuopfern: das ist es, was Goethes Frankfurter Lyrik die unwiderstehliche, aber auch rasch verbrauchte plötzliche Wirkung sichert. Alles wird unbedenklich auf die Karte des Augenblicks gesetzt.
Eine gefährliche Existenz! So möchte man sagen und Werthers gedenken, der sich die Kugel vor den Kopf schießt, weil ihm der Augenblick untreu wird. Doch Goethe – man hat es mit Recht betont – darf nicht mit Werther gleichgesetzt werden. Es ist vielleicht, in jenen Jahren, nicht einmal so sehr sittlicher Ernst, was ihn davor bewahrt, sich ebenso der Verzweiflung wie dem Entzücken, ebenso der Versuchung des Todes wie der des Lebens auszusetzen. Schon hier ist es ein unerklärliches, tiefes Vertrauen seiner Natur, die sich geborgen, behütet fühlt. Und es ist vor allem ein glücklicher Leichtsinn. Er nahm sich selber bei weitem noch nicht so ernst, wie ihn die anderen nahmen. Er nahm auch seine Kunst nicht ernst. Wohl mochte der Wanderer im Sturm erschauernd die Macht des Jupiter Pluvius fühlen und der vom Frühling Angeglühte im innersten Herzen entzündet sein. War die Offenbarung der Stunde in stammelnder Rede festgebannt, so fiel sie gleich dem Vergessen anheim. Jacobi konnte sich noch nach Jahren über den Trotz des Prometheus empören; für Goethe war dies längst vorüber; fromme, herzliche, derbe Töne hatten sich seither in buntem, unübersehbarem Wechsel abgelöst, und wenn sich daraus ein Zusammenhang, eine gewisse persönliche Einheit ergab, so mußte dies Goethe selbst überraschen. Noch gab es für ihn keine Linie; und vor allem gab es noch keine Verpflichtung und also kein künstlerisches Gewissen. Er ließ seine Eingebungen gewähren und taumelte in dem neu erschlossenen Reichtum der Sprache hin und her, unentschieden in Form und Gehalt, und dennoch, jetzt schon, immer er selbst, als solcher stets erkennbar für uns, die wir das Ganze seines Lebens überschauen, aber noch dunkel, unbegreiflich für den eigenen, von Stunde zu Stunde befangenen Blick.
Mit dem Eintritt in Weimar ändert sich nun aber das Bild. Die Lieder an Lili bilden den Übergang. Die ersten schließen sich noch an die Sesenheimer und Frankfurter Lyrik an; das letzte, »Jägers Abendlied«, gehört dem Ton und dem Motiv nach bereits zu den Mond- und Nachtgesängen, in denen sich Goethes Liebe zu Frau von Stein und eine Sehnsucht nach dem Dauernden, Unvergänglichen ausspricht. Das geheimnisvollste Gedicht aus diesem Kreis, das am meisten bewunderte und umstrittene, ist das Lied »An den Mond«, dessen Entstehungsgeschichte und Wortlaut die Wissenschaft noch heute beschäftigen, dessen Zauber jedes zarte Gemüt nur um so inniger anrührt, je mehr sich die Bedeutung in Dämmerlicht und Nebelglanz verliert. Ohne auf die gelösten und ungelösten Fragen einzugehen, dürfen wir den lebendigen Sinn in dem unentschiedenen Schweben zwischen dem Fluß und dem stillen Gestirn erkennen, zwischen dem Wogen des Gefühls, dem der Dichter sich bisher anvertraut hat, und der Ahnung des Ewigen, immer Gleichen, das sich von fern und noch traumhaft verkündigt. Alle wesentlichen Gedichte der ersten Weimarer Jahre bleiben auf diese Weise in der Schwebe. In den beiden populärsten Balladen »Der Erlkönig« und »Der Fischer« führt der feste, kühle Geist Zwiesprache mit dem Elementarischen, den Schauern des Waldes, dem Rätsel des Wassers. In der »Harzreise im Winter«, in »Ilmenau« zieht der reifere Goethe den noch nicht ganz überwundenen jüngeren zur Rechenschaft, dort in der Begegnung mit Plessing, dem wertherkranken Jüngling, dem »Balsam zu Gift ward«, dem zum Verderben ausschlug, was dem Dichter selber die Freiheit gab; hier in der kühnen Erfindung, daß sich Goethe in zwei Gestalten teilt und streng, von höherer Warte aus, die früheren Wege und Irrwege bedenkt. In »Grenzen der Menschheit«, »Das Göttliche« tastet Goethe nach dem gültigen Maß, ohne doch schon die ganze Einsicht zu finden, die ihn beruhigen könnte. Beide Hymnen sind Versuche, denen die Leuchtkraft der wahren Entdeckung noch fehlt. Weder die scharfe Unterscheidung der göttlichen und der menschlichen Sphäre noch die Isolierung des Menschen inmitten der »unfühlenden Natur« wird später aufrechterhalten werden.
Das ungewisse Klima mag den rein lyrischen Stücken günstig sein. Es kommt wohl auch der Ballade, dieser gemischten Gattung, zugut. Im übrigen aber wird Goethes Sprache in dieser Zeit seltsam undeutlich. Man glaubt zu erkennen, wie er den allzu kräftigen, allzu leidenschaftlichen, allzu verdichteten Ausdruck scheut, wie er sich – im genauesten Gegensatz zu dem Bestreben seiner Jugend – fast ängstlich hütet, dem Einzelnen ein zu großes Gewicht zu geben. Er spricht gedämpft, mit verhaltener Stimme. Er gibt sich nie mehr restlos aus. In jedem Augenblick bedenkt er den nächsten und ist um eine Folge, um ein reines, in allen Teilen abgestimmtes Ganzes bemüht. Den Grundton aber, auf den er alle Teile des Kunstwerks abstimmen möchte, scheint er noch nicht gefunden zu haben. So machen viele Schöpfungen dieser Epoche einen unsicheren Eindruck. Einem Verlust an Kraft oder einem Verzicht auf das überwältigend Große scheint der Gewinn nicht zu entsprechen. Und doch, wenn der Leser bereit ist, die oft nur angedeuteten Linien zu verfolgen, wird er ihn nicht übersehen. Diese Lyrik gewinnt nicht weniger als eine neue Dimension. Im Augenblick wirkt sie minder stark. Statt der plötzlichen Wirkung aber geht eine nachhaltige von ihr aus. Aus gesammelter Stille geboren, fordert sie Sammlung auch von uns. Sie will belauscht, ergründet sein. Dann teilt sie uns etwas von dem Geheimnis der eingesponnenen Puppe mit, die des Tages ihrer Erlösung harrt.
Er bricht für Goethe in Italien an. Die italienische Reise, die er selber als Hedschra bezeichnet und noch im höchsten Alter als glücklichste Zeit seines Lebens gepriesen hat, läßt freilich in seiner Lyrik unmittelbar nur wenige Spuren zurück. Außer »Amor als Landschaftsmaler« und »Cupido, loser, eigensinniger Knabe« sind in den Jahren 1786–88 keine Gedichte entstanden. Natur und Kunst, Volk und Landschaft als Objekte einer bestimmten, zuverlässigen Erkenntnis, nehmen die ganze Kraft in Anspruch. Traum und Sehnsucht lösen sich in dem Glück der Erfüllung auf. Als »nordische Dunst- und Nebelwege« mochten nun Goethe sowohl die gewaltsamen Ausbrüche seiner Jugend wie das gleichsam blinde Tasten der eben vergangenen Epoche erscheinen. Und das war kein vorübergehender Zustand. Auch nach der Rückkehr findet er nur selten die alten Töne wieder. Das »Lyrische« im engeren Sinne des Wortes, die Kunst der Stimmung, der innigen Fühlung, tritt in den Hintergrund. Dagegen blüht nun eine Poesie auf, die sich nicht mehr mit deutscher Überlieferung, sondern mit der Antike, mit Römern und Griechen, verbunden weiß. Das erste Beispiel ist der Zyklus »Römische Elegien«, für alle, die in Goethe den Dichter des »Werther« und, im engeren Kreis, den Dichter der »Iphigenie« verehrten, ein schwer verständliches Ärgernis, für jene aber, die die Einheit des europäischen Geistes, die Wiederholung der gültigen, von den Alten geschaffenen Motive und Formen erfreut, ein Gegenstand unbegrenzten Entzückens. Gewiß, die »Seele«, das »Gemüt«, die »Innerlichkeit« und »Tiefe«, und wessen der Deutsche sich so gerne rühmt, es spielt hier höchstens am Rande mit. Was den Dichter vor allem beschäftigt, ist jene vollkommene Gegenwart, auf die der oft mißbrauchte Ausdruck »plastisch« angewandt werden darf. Plastisch gegenwärtig ist die Stadt, die Landschaft, die Geliebte, alles in jener zeitlosen Art, die Goethe von nun an »klassisch« nennt. Der mythologische Horizont, durch die lateinischen Götternamen bezeichnet, die römische Welt, wie sie Properz und Tibull in ihren Elegien gestalten, das Italien des 18. Jahrhunderts: im wesentlichen fällt dies zusammen in Eines, in das ewig wahre Leben, das der Dichter zu seinem Heil nun endlich entdeckt zu haben gewiß ist.
Mit den antiken Göttern kehren auch die antiken Versmaße ein. Goethe hat die »Römischen Elegien« in Distichen abgefaßt. Er war dafür vorbereitet durch die Epigramme, mit denen er in den letzten voritalienischen Jahren Felsen, entlegene Plätze und Grotten im Weimarer Park ausgezeichnet hatte. Weiter zurück reicht aber seine Bemühung um das Distichon nicht, obwohl es ihm aus Klopstocks Gedichten (der Hexameter auch aus dem »Messias«) von früher Jugend auf vertraut war. Es ist reizvoll, den Gründen dieses langen Zuwartens nachzuspüren. Das Distichon ist klar gegliedert und ruht, wie schon der einzelne Hexameter, sicher in sich selbst. Deshalb eignet es sich schlecht zum Ausdruck jener Sehnsucht, jener rastlos schweifenden Ungeduld, die Goethes Gemüt in Frankfurt erfüllte, schlecht auch für das Schwebende, Unkörperliche der Gedichte an Frau von Stein. Dagegen läßt sich das Angeschaute, Vorgestellte, allenfalls das prägnant Gedachte, in Distichen fassen. Deutsche Hexameter und Pentameter sind Versmaße der Gegenwart, des festen Bestehens in sich selbst – was ebensowohl von den Gegenständen wie von dem Betrachter gelten soll. Außerdem aber untersteht der Dichter hier einem Gesetz, dem nicht so leicht wie in freien Rhythmen, in freien Knittelversen oder in liedhaften Reimstrophen genügt werden kann. Der Generalbaß des Distichons verlangt ein gewisses Studium.
Da muß man sich fragen, ob Goethe demnach mit der Pflege des Distichons nicht die vollkommene künstlerische Freiheit aufgibt, die der Ruhm seiner Jugend gewesen war, ob er nun also nicht zu einer Poesie nach Regeln zurückkehrt. Tatsächlich bekundet er in der Epoche, die mit der »Italienischen Reise« beginnt und bis zum Tode Schillers währt, ein tiefstes Verständnis für das Gesetz, in der Sitte sowohl wie in der Kunst. Gesetze in der Natur zu erkennen, Gesetze als Dichter zu befolgen, ist seine Leidenschaft, seine Lust schon während der italienischen Tage, dann in den naturwissenschaftlichen Schriften und insbesondere in der Freundschaft mit Schiller, die nicht zuletzt durch die Idee, eine eigentliche poetische Schule zu gründen, unterhalten wird. Was die Freunde zusammen besprechen, was sie schaffen, soll vorbildlich sein. Ein Gedicht wie »Alexis und Dora«, an dem sich alle Eigenheiten des klassischen Stils ablesen lassen, hat fast den Charakter eines Musters. Auch mit Balladen wie »Der Schatzgräber« oder »Der Zauberlehrling« sollen Beispiele aufgestellt und zur Nachahmung empfohlen werden. In den lyrischen Gesprächen »Der Edelknabe und die Müllerin«, »Der Junggesell und der Mühlbach« glaubt Goethe sogar eine neue poetische Gattung entdeckt zu haben. Der Wille zum Maßgebenden, Kanonischen ist unverkennbar und findet seinen negativen Ausdruck in dem Xenienstreit, in der höchst unfreundlichen, scharfen Belehrung, die Goethe und Schiller ihren künstlerischen Widersachern zuteil werden lassen. Seit Gottsched – man darf wohl so weit gehen – hat sich in Deutschland die Hoffnung auf eine Stabilisierung der Poesie, auf eine Verpflichtung aller Talente auf das einzig Wahre und Schöne nie mehr so lebhaft hervorgewagt wie jetzt, am Ende des Jahrhunderts.
Allein, man ginge völlig fehl, wenn man dies wirklich als Rückkehr zur kritischen Dichtkunst des Rokoko auffassen wollte. Goethe gibt die herrliche Spontaneität seines Schaffens auch jetzt nicht preis. Sich äußerlichen Geboten zu fügen, ist ihm so unbequem wie je. Doch es erscheint ihm als höchstes Glück, daß seine Natur von selbst, aus eigenem Antrieb, den Gesetzen zustimmt, die er als zeitlos-gültig erkennt, daß es ihn drängt, so zu verfahren, wie er gemäß der neugewonnenen ästhetischen Einsicht verfahren muß. Der klassische Stil, wie Goethe ihn meistert, ist gleichsam gesetzliche Improvisation. Die Formel deckt sich ungefähr mit Schillers »Einheit von Pflicht und Neigung«, mit dem Begriffspaar »Dauer im Wechsel«, und findet ihre Bewährung gerade auch in der Kunst des Distichons. Denn eben dies ist das Eigentümliche der daktylischen Verse, daß sie zwar streng gesetzlich sind, zugleich aber improvisiert werden können. Wer sich einmal in ihren Takt eingewiegt hat, kann sich ziemlich ungezwungen bewegen und kostet die Freude, bis in die geheimsten rhythmischen Schwingungen seines Gemüts mit Griechen und Römern einig zu sein.
Das letztere ist nun freilich wieder ein fruchtbarer Irrtum wie einst der Glaube, mit den Knittelversen den Spuren des Nürnberger Meisters zu folgen. Lateinische und griechische Distichen lassen sich nämlich mit den deutschen in keiner Weise zur Deckung bringen. In den alten Sprachen sind die Akzentverhältnisse anders geregelt, und der einzelne Fuß ist ein Vierviertel-, kein Dreivierteltakt. Wir geben uns einer Illusion hin, wenn wir mit unsern Hexametern antikes Erbe zu verwalten glauben. Voß und A. W. Schlegel haben zwar versucht, die griechischen Längen und Kürzen nachzuahmen. Doch damit wurde offensichtlich mehr verdorben als gewonnen. Die mit dem peinlichsten philologischen Gewissen ausgeklügelten Verse sind im Deutschen nicht sprachgerecht. Ein unverbildetes Ohr begegnet gerade dort rhythmischen Widerständen, wo der Pedant sich der reinsten Treue zum Griechischen rühmen zu dürfen glaubt. Für Goethe hatte dies nur zur Folge, daß er, ständig belehrt, gerügt, die Lust an den griechischen Maßen verlor, nicht etwa, weil ihm die »richtigen« Verse schlechter gefielen als seine »falschen«, doch im Sinne des Deutschen reinen – er scheint hier den Autoritäten mehr als dem eigenen Gehör vertraut zu haben – aber deshalb, weil sich die »richtigen« Hexameter nicht improvisieren ließen. Wollte er Voß und Schlegel gehorchen, so mußte er ständig auf der Hut sein und gleichsam im Codex der Metrik nachschlagen, bevor er einen Vers niederschrieb. Und so zu verfahren, lag ihm nicht. Deshalb hat er sich auch nie der antiken Odenstrophe bedient. Man sollte sich füglich darüber verwundern. Der größte deutsche Lyriker, der das Land der Griechen mit der Seele suchte, der in der Antike die höchste Vollendung der Kunst und des Lebens verehrte, er hat sich nie in den Maßen Sapphos, Alkaios', Anakreons versucht, obwohl gerade auf diesem Feld von Klopstock und einigen Dichtern des Göttinger Hains schon Großes vollbracht worden war. Wahrscheinlich hat er bereits die metrischen Schemata über Klopstocks Oden mit Mißvergnügen betrachtet. Denn gar nicht entsprach es seiner Art, sich das Gesetz gegenüberzustellen, zu einer Ordnung aufzublicken und seine Schritte danach zu regeln. Mit seiner Idee von Harmonie vertrug sich nur die Natur gewordene, nicht mehr gebietende, sondern höchstens leise beschwichtigende Regel.
Die Elegien, die Venezianischen Epigramme, die Episteln, die beiden Lehrgedichte »Die Metamorphose der Pflanzen« und die »Metamorphose der Tiere« bilden innerhalb des lyrischen Werks das eigentlich klassische Reich, dessen Einheitlichkeit mit denselben Grundbegriffen bezeichnet werden könnte, die Goethe selbst in seinen ästhetischen und naturwissenschaftlichen Schriften aufgestellt und erläutert hat: Typisch, symbolisch, organisch, plastisch, gegliedert, geschlossen, schön. Ihr Zauber freilich wird mit solchen zwar richtigen, aber viel zu allgemeinen Vokabeln nicht erfaßt. Alle, die nach demselben Rezept Ähnliches hervorzubringen versuchten, sind kläglich gescheitert oder haben höchstens, wie viele klassizistische Maler, blasse Umrißzeichnungen hervorgebracht. Das heißt: die Klassik war nicht übertragbar. Sie blieb die persönliche Leistung Goethes und wurde lebendig nur in ihm, der vielleicht auch ohne die antiken Meister – um den Ausdruck Schillers zu brauchen – ein Griechenland aus sich geboren hätte. Und wie soll der Kritiker den Kategorien der klassischen Ästhetik noch vertrauen, wenn er zuletzt zugeben muß, daß der Wert der Gedichte sich keineswegs nach ihrer Gesetzestreue abstuft. »Euphrosyne«, die Totenklage um die Schauspielerin Christine Becker, greift uns wunderbarer ans Herz als »Alexis und Dora«, obwohl der Mensch dort nicht, wie die klassische Lehre fordert, auf dem Höhepunkt seiner Erscheinung, sondern in dem schmerzlichen Licht des ›zu früh‹ und ›zu spät‹ den Schauplatz betritt. Goethe selbst mochte in seinen Prosaschriften zur Literatur und Kunst streng auf dem klassischen Stil beharren. Als Dichter blieb er, wie immer, frei und behielt sich das Unergründliche vor. Das zeigt sich unter anderem darin, daß auch jetzt das Lied, die eigentlich lyrische Poesie, nicht ganz verschwindet, obwohl ihr in dem Reich der Klassik nirgends ein Raum zugewiesen ist. Die meisten »geselligen Lieder« und ein so reizvolles Stück wie »Frühzeitiger Frühling« sind in diesen Jahren entstanden. In dieselbe Zeit gehören aber sogar die beiden Balladen »Der Gott und die Bajadere« und »Die Braut von Korinth«, unheimliche fremde Gäste in der sonst so lichten, lebenswilligen Welt. Thematisch freilich fügen sie sich sehr wohl in den Zusammenhang. Sie bekunden den antichristlichen Sinn, der schon aus den »Römischen Elegien« und den »Venezianischen Epigrammen« spricht. Wie fremd aber bleibt in dieser Umgebung der innige Bund von Liebe und Tod, wie fremd zumal die Vampyrsage mit ihrer verführerisch grausigen Stimmung! Gleich einem ungeheuren Traum, zu dem der Erwachte sich kaum zu bekennen wagt, muß das Gedicht sich von der Seele Goethes losgelöst haben. Wir hören denn auch, daß es als Geheimnis jahrzehntelang in ihm verborgen lag, bevor es in solcher Vollendung, in solcher dämonischen Stille, in diesen Strophen von einzig evokativer Kraft als Kunstwerk gestaltet werden konnte. Einige Freunde, darunter bedeutende Kenner des Dichters, waren bestürzt. Sie mußten es sich gefallen lassen, daß Goethe schon wieder anderswo war, wenn sie ihn endlich zu fassen, wenn sie ihn endlich begriffen zu haben glaubten.
Goethe ist hochbetagt gestorben. Da wir das wissen, vergessen wir leicht, daß ihm die Stunde des Todes so unbekannt war wie jedem anderen Menschen, und sind erstaunt, ihn immer wieder mit seinem baldigen Ende rechnen zu sehen. Schon in Italien denkt er daran. Die erste Gesamtausgabe der Werke ist aus dem Gefühl, abschließen, bereinigen zu müssen, zustande gekommen. In den neunziger Jahren hören wir öfter ein ähnliches Bekenntnis. Und wenn der Dichter manchmal auch ein höheres Alter erwartet, so hält er es doch für ausgeschlossen, daß seine schöpferische Kraft andaure. Überblicken wir die Gedichte der Jahrhundertwende und sehen wir von den späteren ab, so können wir uns dem Eindruck, daß er recht gehabt habe, nicht entziehen. Mehr und mehr bekommen die Verse einen abschließenden Charakter. Die letzte vollkommen gültige Formel scheint nicht selten gefunden, manchmal sogar bereits wiederholt zu sein. Außerdem wendet sich Goethe jetzt besonders gern der Spruchdichtung zu, bei der es nur noch darauf ankommt, für schon bekannte Bezüge und Gesetze den knappsten, einprägsamsten Ausdruck zu finden. Als »stufenweises Zurücktreten aus der Erscheinung« hat er selbst das Alter verstanden. Die Sprüche bewähren dieses Wort. Die sinnliche Fülle des Lebens ist hier auf ein Minimum reduziert. Die Wahrheit stellt sich nicht mehr in breit und kräftig ausgeführten Bildern, sondern fast abstrakt, gelegentlich wohl noch in flüchtigen Gleichnissen dar. Nichts ist begreiflicher als dies, wenn ein Dichter sich dem sechzigsten Lebensjahr nähert.
Nun aber durchbricht zunächst der Zyklus der Sonette das biologische Gesetz. Die Liebe zu Minna Herzlieb, der Sängerkrieg im Hause Frommann, der Wunsch, den jugendlichen, in Sonetten schwelgenden Zacharias Werner bei der Geliebten – die von allem wohl gar nichts ahnte – auszustechen: von all dem darf uns der Biograph mit gebührender Lust und Liebe erzählen. Nur darf er nicht meinen, er habe mit seiner Erzählung das Ereignis erklärt. Denn was geschieht hier? Die Sonette, ein ganzer Zyklus, können nicht wie manche Lieder und Balladen als gelegentliche Lizenz des Klassikers aufgefaßt werden. Wir haben den ganz entschiedenen Willen zu einem neuen Stil zu würdigen. Goethe selber äußert sich so in seinen poetischen Reflexionen über die Kunstform des Sonetts; und einen ähnlichen Vorgang bemerken wir in denselben Jahren auf dem Gebiet der dramatischen Poesie: Goethe gibt den Blankvers auf und geht zum Trimeter über. Läßt sich ein plausibler Grund für diesen Stilwandel ausfindig machen? Man kann dieser Frage wohl nur mit einer ganz trivialen Antwort begegnen. Daß etwas erreicht und vollendet ist, ist Grund genug für den Wandel des Stils. Der Künstler kann die Lust am Schaffen verlieren, wenn er keine Widerstände mehr überwinden muß. Er kann sich in Manier, das heißt, in einem äußerlichen Gebrauch von fertigen Tropen und Formeln verirren. Wenn aber die Kraft noch nicht erschöpft ist, wird er sich neue Widerstände schaffen, um sich seiner Kunst wie in den Tagen der Jugend zu freuen. Die Form des Sonetts, für den Italiener kein sehr schwieriges Gebilde, für Dichter wie Tieck, Zacharias Werner, A. W. Schlegel ein Vorwand, ihre Armut in Klangspielereien zu verstecken, bedeutet für Goethe, der auch hier Gewichtiges auszusprechen gedenkt, einen höchst empfindlichen Widerstand, den er nicht immer mit gleichem Glück überwindet, der aber doch auch so große Stücke wie »Mächtiges Überraschen« zeitigt.
Indes führt dieser Weg nicht weiter. Man könnte es ja für möglich halten, daß Goethe das Bedürfnis fühlte, die größere Kunst an immer größeren Schwierigkeiten zu bewähren. Das geschieht aber nicht. Wir besitzen aus den beiden letzten Jahrzehnten Stanzen, Terzinen (»Schillers Reliquien»«) und die, freilich unkorrekten, Ghaselen im »Westöstlichen Divan«. Im übrigen weist gerade der »Divan« und was neben und nach ihm entstanden ist, wieder in eine andere Richtung. Wenn wir uns nicht aufs neue besinnen, entschlüpft uns der Proteus abermals.
Nicht nur in der Lyrik, auf allen Gebieten des künstlerischen Schaffens, vielleicht auch in der Lebensführung, ist eine Verwandlung in den Jahren nach Schillers Tod zu bemerken. Goethe mußte einsehen, daß seine Idee einer klassischen Kunst in Deutschland nicht verwirklicht werden könne. »Die Pandora« erscheint wie eine letzte gewaltsame Steigerung und wie ein Abschiedsgesang der antikischen Muse. Die Wiederkehr der griechischen Schönheit wird in ferne Zeiten verlegt. Die Gegenwart gehört der Nacht, dem epimetheischen Erinnern und Hoffen. Darin liegt eine große, durch keine Klage, kein bitteres Wort bezeugte, doch unverkennbare Resignation. Sie erstreckt sich nicht nur auf die klassischen Ziele. Allgemein scheint Goethe nach dem Tode des einzigen Freundes, mit dem er sich wahrhaft verbündet fühlen durfte, auf ein tieferes Verständnis von Seiten der Zeitgenossen verzichtet zu haben. In den »Sonetten« versucht er noch, sich der Romantik anzunähern. Von nun an gewinnen wir den Eindruck, der Dichter bekümmere sich nicht mehr oder höchstens noch im kleinsten Kreis um eine unmittelbare Wirkung. Nach wie vor aber bleibt die schöpferische Lust in ihm lebendig, ja sie regt sich sogar mit neuer jugendlicher Kraft im zweiten Jahrzehnt des Jahrhunderts – nicht im Zusammenhang mit den bedeutenden politischen Ereignissen, sondern in bewußtestem Gegensatz dazu, in jener sich selbst genügenden Stille, von der die freilich erst später entstandenen Verse des Mandarinen berichten:
Sag, was könnt uns Mandarinen,
Satt zu herrschen, müd zu dienen,
Sag, was könnt uns übrigbleiben,
Als in solchen Frühlingstagen
Uns des Nordens zu entschlagen
Und am Wasser und im Grünen
Fröhlich trinken, geistig schreiben,
Schal auf Schale, Zug in Zügen?
Unter solchen Voraussetzungen entsteht jene Alterspoesie, deren Wert erst in unserm Jahrhundert gebührend gewürdigt worden ist. Offensichtlich bemüht sich Goethe nicht mehr um jene deutliche und vorbildlich reine Sprache, die seine hochklassischen Schöpfungen auszeichnet. Dialektisch gefärbte Reime schleichen sich wie in den Frankfurter Jahren ein. Knittelverse und freie Rhythmen kehren wieder, doch nicht mehr als Zeugen eines Protestes gegen die metrischen Regeln der Rokokolyrik, sondern als Ausdruck einer spielerisch-unbeschwerten Haltung, deshalb im Ton auch nicht mehr auf begehrerisch, vielmehr flüchtig, leicht. Mit der deutschen Grammatik erlaubt sich Goethe nun jede erdenkliche Freiheit. Der Wortschatz wird durch die sonderbarsten, reizvollsten Neubildungen bereichert. Es wäre aber kaum angebracht, sie einzeln aufzuzählen und als Urschöpfungen zu verbuchen. Anders als in den Jugendhymnen, spricht Goethe sie nicht mit Nachdruck aus. Er gleitet rasch darüber hinweg und möchte uns zu verstehen geben, daß er sich ihrer nur bediene, weil es ihm so, ohne jede Verpflichtung, im Augenblick am bequemsten sei. Jetzt nämlich geht es nicht mehr darum, das Wesen der lebendigen Schöpfung in symbolischen Bildern und Gestalten den Sinnen vorzuführen. Das Wesen, die Gesetze des Lebens stehen unerschütterlich fest. Sie sind jedwedem Zweifel entrückt. Goethe bedarf der Anschauung nicht mehr, sich ihrer zu versichern. Doch wenn er der Anschauung nicht bedarf, so schmeichelt ihr Zauber dem Alternden sich so lieblich wie einst dem Jüngling ein. Und so schweift er denn hin und wider, von keiner Aufgabe mehr beengt, ungebunden, in einer kaum vorstellbaren Beweglichkeit. Von jeher hatte ihn die Gewißheit, auf Erden heimisch zu sein, beglückt. Anders aber ist der Jüngling, anders der Greis in der Welt daheim. Die frühen Gedichte bekunden das ahnungsvolle Gefühl, das Herz der Schöpfung sei mit dem menschlichen Herzen eins. Dem alternden Dichter ist die Ahnung zur sicheren Überzeugung geworden. Er sieht den Dingen auf den Grund. Das nebulose Ahnen Gottes weicht einer geistigen Transparenz. Mit Goethes eigenen Worten: Er buchstabiert das Alphabet des Weltgeistes. Jede Pflanze bedeutet ihm den Prozeß des organischen Wachstums. In jeder Farbe wird das Geheimnis der ewigen Vereinigung von Himmel und Erde offenbar. Das leiseste Wort genügt, um unendliche Bezüge in Erinnerung zu rufen. Und all dies begründet jene heiter-erhabene, vollkommene Liberalität, die Goethe selbst in der orientalischen Dichtung verehrt und gepriesen hat:
»Der höchste Charakter orientalischer Dichtkunst ist, was wir Deutsche Geist nennen, das Vorwaltende des oberen Leitenden; hier sind alle übrigen Eigenschaften vereinigt, ohne daß irgendeine, das eigentümliche Recht behauptend, hervorträte. Der Geist gehört vorzüglich dem Alter oder einer alternden Weltepoche. Übersicht des Weltwesens, Ironie, freien Gebrauch der Talente finden wir in allen Dichtern des Orients. Resultat und Prämisse wird uns zugleich geboten; deshalb sehen wir auch, wie großer Wert auf ein Wort aus dem Stegreife gelegt wird. Jene Dichter haben alle Gegenstände gegenwärtig und beziehen die entferntesten Dinge leicht aufeinander, daher nähern sie sich auch dem, was wir Witz nennen; doch steht der Witz nicht so hoch, denn dieser ist selbstsüchtig, selbstgefällig, wovon der Geist ganz frei bleibt, deshalb er auch überall genialisch genannt werden kann und muß.«
Unvergleichlich spricht dieser Geist aus dem »Westöstlichen Divan«, der Goethe in den Jahren 1814–19 beschäftigt. Aber auch spätere Gedichte bekunden dieselbe wunderbare Mischung von höchster Reife und Jugendmut, so etwa der Zyklus zu Tischbeins Idyllen mit seinen bezaubernd nachlässigen, manchmal kaum verständlichen Andeutungen zartester seelischer Rätsel; so die »Chinesisch-deutschen Jahres- und Tageszeiten«, in denen sich eine vorsichtig ausgewählte, mit feinsten Pinselstrichen gemalte Natur als Chiffernschrift des Herzens und zugleich als unverbindliche, selig gezogene Arabeske darstellt. Ein Satz aus Ottiliens Tagebuch drängt sich dem Leser auf die Lippen: »Das Schwierige leicht behandelt zu sehen, gibt uns das Anschauen des Unmöglichen.« Wenn uns aber das »Anschauen des Unmöglichen« gelingen soll, so müssen wir selbst imstande sein, leicht mit dem Schwierigen umzugehen. Das ist nur möglich, wenn wir mit Goethes ganzem dichterischem Schaffen vertraut sind. Nur dann entrinnen wir der Gefahr, über der flüchtigen Diktion den höchst bedeutenden Sinn zu verkennen, sowie der andern, nicht minder großen, angesichts des bedeutenden Sinns, die innere Leichtigkeit einzubüßen.
Auch ein Goethescher Altersstil läßt sich indes nicht eindeutig fassen. Der »Divan«, der Zyklus zu Tischbeins Idyllen, die »Chinesisch-deutschen Jahres- und Tageszeiten«, auch die »Zahmen Xenien« sind Zeugnisse einer unanfechtbaren Souveränität und inneren Freiheit. Sogar im höchsten Alter noch kann Goethe aber die Freiheit verlieren und sich gezwungen sehen, sie mit dem Aufgebot der letzten Kräfte des Denkens und Bildens zurückzugewinnen.
Könnt' ich vor mir selber fliehn!
Das Maß ist voll.
Ach! Warum streb ich immer dahin,
Wohin ich nicht soll.
Und:
Ach! Wer doch wieder gesundete!
Welch unerträgliche Schmerzen!
Wie die Schlange, die verwundete,
Krümmt sichs im eignen Herzen.
Dem Spürsinn von Erich Trunz ist es gelungen, den Ort dieser Verse in der Lebensgeschichte Goethes nachzuweisen. Sie stammen aus den Jahren 1822 oder 23 und beziehen sich zweifellos auf Ulrike von Levetzow, das fast noch kindliche Mädchen, dem auch die »Trilogie der Leidenschaft« gilt. Der beinahe schon vergessene Widerstand, dem der Künstler begegnen kann, hier wird er als Leidenschaft, Verwirrung, Selbstverlust wie in den Tagen des »Tasso« und des »Werther« fühlbar. Über fünfzig Jahre hinweg grüßt Goethe den Schatten von Lottes Freund, mit dem er sich noch immer verwandt fühlt; und er spricht die Worte Tassos von der Qual des Menschen und der Gabe, zu sagen, was er leide, aus, als habe sich seither nichts verändert, als wisse er sich wie je von den elementaren Gefahren der Seele bedroht. Wer sich dann in die »Elegie« vertieft und ihre Verse belauscht, wird zugeben, daß dem wirklich so ist, daß ihm nun, wie einst in Tasso ein gesteigerter Werther, jetzt ein gesteigerter Tasso vor Augen tritt. Denn je gewaltiger sich ein Mensch gebildet und ausgebreitet hat, desto erschütternder ist das Schauspiel seines Wankens, desto triumphaler der letzte, knappe Sieg, nachdem so viel auf dem Spiele stand. Es kann nicht fehlen, daß uns auch sprachlich hier abermals ein völlig unerwartetes Phänomen begegnet. Keine Spur von der Lässigkeit und Liberalität der meisten andern Gedichte aus dieser späten Zeit. Wohl strömen uns die Worte, die Bilder, die Gedanken unaufhaltsam entgegen; wohl bewährt sich in jeder Strophe die einzigartige Meisterschaft. Es scheint jedoch, als genüge dem Dichter selbst seine höchste Kunst nicht mehr, als taste er, wie Tizian in seinen letzten Gemälden, weiter in ein unerforschtes Gebiet. Dahin deuten einige Zeilen, deren Sinn kaum zugänglich ist, die wir nur mit einem ängstlichen Schwindel uns anzueignen vermögen; dahin deuten die hinreißenden Aufschwünge dort, wo bereits das Unüberbietbare zu vermuten war; das Wogen des klarsten Geistes, die kristallene Klarheit der Leidenschaft. Es ist so: Noch einmal erweitert der Greis die Grenzen der Poesie. Die Marienbader Elegie ist eine der ganz seltenen, völlig einsamen Entdeckungsfahrten der Seele, bei denen das Ufer des Möglichen in der Ferne verschwindet.
Endlich ist noch eine zweite Gruppe von Gedichten zu nennen, in denen sich Goethe gleichfalls nicht seine bezaubernd leichten Spiele gestattet, sondern jedem Vers mit dem unbeugsamsten Ernst sein Gepräge gibt und »höchsten Sinn im engsten Raum« – nach seinem eigenen Wort – mitteilt. Dazu gehören die »Urworte« und insbesondere das »Vermächtnis«, wo schon im Titel erklärt wird, worum es hier geht: um nichts Geringeres nämlich als um den Versuch, die gesamte Existenz, den Sinn des ganzen Lebens und Schaffens, der Weisheit letzten Schluß auf einem einzigen Blatt, in wenigen Strophen, der Nachwelt zu überliefern. Wer von diesen beiden Gedichten eine vollständige Auslegung böte, der dürfte sich rühmen, das ganze Dasein des Dichters erkannt und verstanden zu haben. Aber so plan und klar sich auch die einzelnen Verse darstellen mögen, ihre Bezüge sind unübersehbar. Jeder resümiert eine Epoche, einen Bezirk der Natur, der Kunst, der Sitte, des Glaubens, der ewigen Wahrheit, zu deren Aneignung das lange Leben des größten Menschen der neueren Geschichte erforderlich war. –
Überblicken wir nun das ganze lyrische Werk und versuchen wir noch einmal, seine Eigentümlichkeit zu erfassen, so denken wir wohl an das Wort des Dichters, daß jedes seiner Werke »Bruchstück einer großen Konfession« sei. Wir haben es aber kaum ausgesprochen, so sind wir schon wieder zur Vorsicht gemahnt.
Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt,
Gab mir ein Gott, zu sagen, wie ich leide.
Die Verse aus dem »Torquato Tasso« hat Goethe selbst als Motto über die Marienbader Elegie gesetzt und damit den Bekenntnischarakter dieses Gedichts noch unterstrichen. Darüber dürfen wir nicht vergessen, daß er in seiner Lyrik vieles verschweigt und gerade den äußersten Schmerz nur ausnahmsweise bekennt. Der liebende und wiedergeliebte Jüngling in Straßburg singt das »Mailied«; der scheidende, dem nach seinem eigenen Geständnis »übel zumut ist«, bleibt stumm und gestattet sich höchstens mittelbar, etwa in der Ballade »Der untreue Knabe« oder in der Gestalt Weislingens im »Götz«, die Not des Herzens kundzutun. Sogar im Lied »An den Mond« wird der Qual nur zwischen dem Frieden des Anfangs und der Seligkeit der beiden letzten Strophen für einen Augenblick Sprache verliehen. Die Sonette an Minna Herzlieb bleiben trotz allen heimlichen Spannungen heiter; die Leiden dieser Liebe enthüllen sich deutlicher in den Gesängen des Epimetheus und in den »Wahlverwandtschaften«. Fast immer zieht es Goethe vor, die extremen Seelenlagen, das tiefste Weh und die höchste Lust, im Roman oder auf dem Theater zu zeigen, offenbar deshalb, weil dort das kaum Erträgliche ausbalanciert werden kann, sei es, indem der Dichter andere, hellere Farben dagegen setzt, sei es auch nur durch die unangefochtene ruhige Objektivität des Erzählers, wie sie sich etwa besonders wirksam in den Worten des Herausgebers an den Leser im »Werther« durchsetzt. In lyrischen Gedichten ist es nicht so leicht möglich, Vorbehalte zu machen. Ebendeshalb hütet sich Goethe hier meist, die Grenzen zu überschreiten und übermächtige Gefühle – mit den »Wanderjahren« zu reden – »lyrisch und ausschließlich« anzuerkennen. Die Gefühlssucht des letzten und unseres Jahrhunderts vermittelt freilich ein anderes Bild. Sie verwechselt Größe mit Reizbarkeit und glaubt die Bedeutung des Lyrikers Goethe dadurch sichern zu müssen, daß sie mit Nachdruck immer wieder auf die leidenschaftlichsten Verse hinweist. Der Leser hält das Buch in der Hand. Da erübrigt es sich wohl, festzustellen, daß das Helle, Glückliche, Lebenswillige, Behagliche überwiegt – wie bei Anakreon und Horaz, bei Hafis und bei Litaipe.
Ja, man darf hier noch weitergehen. Wie die Klage, so werden Sehnsucht, Erinnerung, Hoffnung eher zurückgedrängt oder irgendwie eingeklammert. Die wunderbarsten Lieder der Sehnsucht legt Goethe Mignon in den Mund. Im eigenen Namen überläßt er sich solchen verzehrenden Stimmungen nie. Lieber treibt er mit dem Herzweh manchmal ein freundlich lächelndes Spiel. Den betörenden Klang aus der Jugend, aus den unwiederbringlich vergangenen Tagen der Kindheit, des ersten Liebesglücks, dem viele romantische Dichter zu lauschen nicht müde geworden sind, vernehmen wir bei Goethe selten und nur im Vorübergehen, in einer Strophe, in einer Zeile vielleicht, die gleich von andern Versen abgelöst und zugedeckt wird. Und ebensowenig dringen in diesen Gedichten prophetische Töne durch, Verheißungen einer lichteren Zukunft, Träume von überirdischer Schönheit.
Denn Goethe läßt auch als Lyriker dem Augenblick sein Recht widerfahren. Ohne sie zu bepfählen, ohne ihr nachzuhängen, ohne ihr eine alleinzige Bedeutung zuzuschreiben und ihre Vergänglichkeit zu beklagen, aufs innigste zwar, doch ohne Verpflichtung, spricht das Goethesche Gedicht den Sinn, den Wert einer Stunde vollkommen aus, gemäß den Worten Suleikas im »Divan«:
Der Spiegel sagt mir, ich bin schön!
Ihr sagt: zu altern sei auch mein Geschick.
Vor Gott muß alles ewig stehn,
In mir liebt ihn für diesen Augenblick.
Den unvergleichlichen Rat hat niemand treuer als Goethe selbst befolgt. Gott lieben für diesen Augenblick: das heißt, sich dem Augenblick ganz hingeben und zugleich wissen, daß er vergeht, daß sein Vergehen aber nur neuen Augenblicken und einer verwandelten Gottesliebe Raum gewährt. Deshalb ist die Lyrik Goethes so innig und doch so unbeschwert; und deshalb ist die Sprache seines Alters noch so ursprünglich wie die seiner Jugend. Wir dürfen es jetzt vielleicht wagen, den unbestimmten Begriff bestimmter zu fassen.
Ursprünglich ist eine Kunst, die nicht bereits Vollendetes nachahmt, wiederholt oder allenfalls überbietet, die nicht vom schon Geleisteten ausgeht, sondern irgendwie von vorn beginnt, das heißt, in Zonen des Gemüts, der Einbildungskraft anhebt, die der Kritik, dem Stilwillen, der künstlerischen Absicht noch entrückt sind. Es scheint kaum erlaubt, bei Goethe in diesem Sinne von ursprünglicher Kunst zu sprechen, da er doch ohne Zweifel ein höchst gebildeter Dichter war, der Muster anerkannt und nachgeahmt hat. Doch gerade die Art, wie Goethe einem Properz oder einem Hafis nacheifert, ist grundverschieden zum Beispiel von der Art, wie Geßner Theokrit oder Voß den Homer nachzuahmen versucht. Nicht darauf kommt es an, wer seinem Vorbild gegenüber mehr Freiheit bewahrt. Sondern wesentlich ist, daß Goethe nie von einem Muster ausgeht, sondern sich unmerklich älteren Meistern nähert und beglückt erkennt: ich bin mit dir verwandt. Ebenso unfreiwillig wie die Annäherung ist dann der Abschied. Nach Schillers Tod gelingen keine Elegien in Distichen mehr, obwohl er den antiken Maßen theoretisch noch immer den Vorzug gibt und endlich sogar den Entschluß faßt, sich um die Pedanterien der Metriker nicht mehr zu kümmern. Nach 1819 ist es für immer vorbei mit der persischen Poesie. Goethe versteht sich selber in seiner Neigung zum Orient nicht mehr.
Er hat die Gnade, zu vergessen. Darauf, letzten Endes, beruht das Geheimnis seiner Ursprünglichkeit. Er wird sich selber nie zum Bild. Er legt sich, als Dichter, niemals fest. Wenn Hölderlin nach dem Abschluß des »Hyperion« so etwas wie ein geschichtsphilosophisches, metaphysisches, mythologisches System ausbildet und jede Regung seiner Seele, jeden Schmerz und jede Hoffnung, jede Erleuchtung und jede Verfinsterung zu diesem System in Beziehung setzt – mit einer Anstrengung, die schließlich über die Kraft eines Einzelnen geht –, so bildet sich Goethe zwar als Denker, als Forscher gleichfalls eine feste, nach Gesetzen gefügte Welt; dem Dichter aber scheint jeweils sein geistiger Besitz zu entschwinden. Er taucht ins Ungewisse, in die Nebeltiefen des Werdens ein; und wenn er sich daraus zur Helle des sicheren Bewußtseins wieder erhebt, darf er sich verwundert gestehen, daß sich abermals eine seinem Wissen längst vertraute Wahrheit aus dem Dunkel der Seele befreit.
Man mag sich fragen, wie auf diese Weise längere, mannigfaltig verwobene Gedichte entstehen können. Goethe selbst gibt darüber Auskunft. Es liegt ihm nicht, Entwürfe, erste Fassungen zu Papier zu bringen und das Niedergeschriebene in einem langen und mühsamen Arbeitsprozeß allmählich zu vollenden. Spätere Änderungen beziehen sich immer nur auf Einzelheiten. Der Gesamtplan reift im stillen. Viele größere Gedichte hat Goethe jahrzehntelang im stillen gehegt und dann, zum Erstaunen der Umgebung, in wenigen Tagen oder gar in wenigen Stunden aufgezeichnet. Was bedeutet dies anderes, als daß er das Ganze gleichsam immer wieder ins Unbewußte, in den Schoß des Lebens zurücknimmt, daß er gelassen der gütigen Natur das Bildungsgeschäft überläßt und mit der fixierenden, endgültigen Schrift nur den genauen Augenblick wahrnimmt, in dem die reife Frucht sich von selber vom Baum in die pflückende Hand löst.
Die Dichterethik der Römer, das »nulla dies sine linea« oder die Forderung, daß ein Gedicht nach Öl, nach dem Öl der Studierlampe, riechen müsse, verliert so bei Goethe durchaus ihren Sinn. Papier, Feder, Tinte – diese so oft mit Ernst oder Ironie verherrlichten Utensilien des poeta doctus, des Humanisten –, sie spielen nur eine beiläufige Rolle; und es entspricht der Lage durchaus, daß Goethe in späteren Jahren seine Werke lieber diktierte als schrieb, daß er das Schreiben schließlich sogar einen Mißbrauch der Sprache zu nennen wagte. Wenn nämlich von einem Streit zwischen Literatur und Leben zu reden ist, so entschied er ihn ganz zugunsten des Lebens. Er ist kein Dichter, der sich den Wechselfällen des Lebens möglichst entzieht, um einer bestimmten Idee der Vollendung, der er sich einmal verschrieben, zu dienen. Es liegt überhaupt nicht in seiner Natur, das Leben im Dienst der Kunst zu verachten, aufzuzehren oder zu opfern. Die Künstleraskese kennt er nicht, jedenfalls nicht als eine Haltung, die rigoroser wäre als das Entsagen, zu dem das Leben uns nötigt. Gewissen letzten Raffinements, Effekten, wie sie nur die peinliche, listige, unverdrossene Arbeit, unendliches Brüten über dem Blatt erzielt, begegnen wir deshalb hier nicht. Mörike ist ein subtilerer Künstler; und wer das Aparte, das Einzig-Köstliche über die Maßen schätzt, wird diesem letzten König von Orplid für holdere Verzauberungen danken. Doch Mörike, zu ängstlich, um sich dem Stirb und Werde anzuvertrauen, war auf Erden ein trüber Gast. Goethe blieb frei und »rein« – in jenem Sinne, den er dem Wort verliehen, das heißt: im Einklang mit dem Ganzen, dem Leben, der sich wandelnden und immer steigernden Natur. So mag uns Einzelnes, eben weil er sich auf nichts versteifte, heute weniger wunderbar erscheinen als manche Gebilde von Artisten, die sich kaum genug tun können und verliebt sind in ihr mit Sorge gesammeltes poetisches Vokabular. Mehr als aufgewogen wird dergleichen durch die volle menschliche Bewährung jedes Goetheschen Worts. Nie überwächst hier den Menschen die Kunst. In dem Augenblick, da eine Strophe sich bildet, erfüllt der Dichter ihren Gehalt durch seine gesamte Existenz, und er gibt ihr nicht mehr und nicht minder Gewicht, als einem Augenblick zukommt. So fügt die Poesie sich in die Lebensgeschichte Goethes ein. Jedes Gedicht ist ein Kunstwerk für sich und ein biographisches Dokument, selbständig also und dennoch als Teil auf ein übergeordnetes Ganzes bezogen.
Es läge deshalb nahe, Goethes Gedichte in chronologischer Folge herauszugeben. H. G. Graf hat in der Inselausgabe den Versuch gewagt. Da zeigt es sich aber, daß diese Ordnung nur bestimmten Bedürfnissen von Fachleuten dient. Wer wissen will, in welcher Nachbarschaft diese Gedichte entstanden, von welchen Versen jene begleitet sind, wie neue stilistische Möglichkeiten allmählich Raum gewinnen, während andere ebenso allmählich ausscheiden, der wird zu der Inselausgabe greifen und dem Herausgeber dankbar sein für seine unüberbietbare Sorgfalt. Im übrigen ist es ärgerlich, zwischen zwei kurzen, völlig belanglosen Sprüchen der geheimnisvollsten Ballade zu begegnen, ärgerlich, die Stücke der »Trilogie der Leidenschaft« nicht beisammen zu finden, sondern – obendrein in verkehrter Folge – zwischen Zahmen Xenien und Zeilen an Personen heraussuchen zu müssen – und was dergleichen mehr sein mag. Dem liebenden und verehrenden Leser ist damit nicht gedient.
So schien es geboten, auf die Ausgabe letzter Hand zurückzugreifen, die Goethes Gedichte in einer vom Dichter selbst getroffenen oder doch wenigstens gebilligten Anordnung bringt. Auch da sind aber einige erläuternde Worte unerläßlich. Jedermann erkennt sogleich, daß hier keineswegs, wie bei C. F. Meyer oder bei Stefan George, das Kunstwerk einer Gedichtsammlung vorliegt. Unter dem Titel »Lyrisches« finden sich ausgesprochen sangbare Stücke, während unter die »Lieder« einige gar nicht liedmäßige eingereiht sind. Auch eine Ballade hat sich in die Gruppe »Lyrisches« verirrt. Dafür steht das »Veilchen«, das man doch sicher mit dem »Heidenröslein« unter den »Liedern« suchen wird, verängstigt zwischen zwei Balladen, wo es nicht recht zu gedeihen vermag. Ein Sonett steht unter »Epigrammatisch«. Der Titel »Vermischte Gedichte« vollends faßt völlig Unvereinbares zusammen. So könnte man lange weiterfahren und seiner Verwunderung Ausdruck geben. Schließlich wird man sich – wie immer, wenn die ästhetische Deutung nicht ausreicht – nach historischen Gründen umsehen. Und da ergibt sich denn freilich ein so überaus kompliziertes Bild, daß hier nur in flüchtigen Andeutungen davon gesprochen werden kann.
1789 hat Goethe zum erstenmal eine Sammlung seiner Gedichte herausgegeben, dann wieder in den Jahren 1800, 1806, 1815 und endlich 1827. In den früheren Ausgaben sind gewisse Ordnungsprinzipien noch leicht erkennbar. Man bemerkt, daß Goethe manchmal eine seelische Entwicklung zu zeigen versucht, daß er Gedichte sozusagen an einem epischen Faden aufreiht. Aber er verfährt von Anfang an nicht mit strenger Konsequenz. Oft stellt er Ähnliches zusammen, oft versucht er Kontraste anzudeuten. Wie er in seiner Prosa gern mehrere Ausdrücke braucht, von denen jeder teilweise weiterführt, teilweise den früheren überdeckt, wie er die harten Linien lieber vermeidet und das »Übergänglich-Milde« bevorzugt und bemüht ist, die Folge durch den holden Zufall des Lebens aufzulockern, so verfährt er auch in den Gedichtsammlungen. Und wenn damit schon in den ersten Ausgaben nur eine angedeutete, halb verschleierte Ordnung zustande kommt, muß sie mit den Jahren fast unkenntlich werden. Immer neue Gedichte begehrten Einlaß. Die einzelnen Gruppen wurden vergrößert. Dann schien es auf einmal unerläßlich, neue Obertitel zu finden. Und so durchkreuzten sich die Prinzipien in einer Weise, daß Goethe um die bezaubernde Wirkung des Zufalls nicht mehr besorgt sein mußte. Es ist begreiflich, daß er schließlich den Dingen mehr oder weniger ihren Lauf ließ und nicht selten eine rasche Entscheidung traf, nur um sich nicht allzu lange mit unbequemen Problemen beschäftigen zu müssen. Mit unbequemen und, wenn wir es recht erwägen, mit unlösbaren Problemen! Wie sinnvoll lassen sich etwa Hölderlins Gedichte nach Epochen und metrischen Prinzipien ordnen! Wie selbstverständlich drängte sich Meyer eine thematische Anordnung auf! Bei Goethe geht eins ins andere über. Und so wenig sich seine Dramen den Gattungsgesetzen des Bühnenstücks fügen, so wenig seine Epen die Grenzen der rein erzählenden Dichtung wahren, so wenig entscheidet sich seine Lyrik bestimmt für überlieferte Arten. Was Schiller von der »Iphigenie« sagte, möchte man auf jede seiner dichterischen Schöpfungen anwenden: daß nämlich die allgemein poetische Wirkung die spezifische der Gattung oder der Art überwiege. Manche Lieder gehen unvermerkt in Erzählungen über; und was wie eine Erzählung aussieht, fordert seine Erfüllung in einer rein lyrischen Stimmung und will nicht als Vorgang in einzelnen Etappen behaftet sein.
So wäre es an und für sich wohl möglich, gewisse allzu fühlbare Unstimmigkeiten der Anordnung zu beseitigen. Einige Herausgeber haben sich dies gestattet. Doch sehr viel ist damit nicht zu gewinnen. Den Eindruck eines grenzenlosen, überreich blühenden, hie und da aber auch ein wenig verwilderten Gartens vermögen sie nicht zu beseitigen. Wenn wir das Bewußtsein, ein Abbild der letzten Ausgabe zu besitzen, in die andere Schale legen, so schwebt wohl die Waage im Gleichgewicht. Und wenn biographische Interessen mit einem chronologischen Verzeichnis der Gedichte (im zweiten Band der Artemisausgabe) zufriedengestellt sind, so dürfte das Mögliche getan sein, um allen Ansprüchen zu genügen.
Der Text beruht auf einer vorsichtigen Revision der Sophienausgabe. Das heißt, er bietet in der Regel die letzte von Goethe gebilligte Fassung. Wo sich diese aber sehr weit von der ersten Niederschrift entfernt, wird, bei bedeutenderen Gedichten, auch die frühere Fassung mitgeteilt. Orthographie und Interpunktion sind dem heutigen Stand angeglichen. Weitere Änderungen wird der vergleichende Leser nur im zweiten Buch der Elegien und bei den Epigrammen feststellen. Hier nämlich wurden jene Lesarten beseitigt, zu denen sich Goethe durch Schlegels aus einer falschen metrischen Theorie abgeleiteten Gründe bereden ließ, und werden die sprachgerechteren Fassungen der ersten Drucke wiederhergestellt. Freilich war es nicht möglich, mit eindeutiger Konsequenz zu verfahren. Denn manchmal führten metrische Änderungen inhaltliche mit sich; manchmal trat das Umgekehrte ein. Nicht selten entstanden nach Schlegels Empfehlungen auch wirklich metrisch reinere Verse. Man hat hier also nur die Wahl zwischen zwei Lösungen, die beide nicht ganz befriedigen: Entweder läßt man den durch Schlegels Dogma verdorbenen, Goethes Rhythmik immer wieder empfindlich störenden Text unangetastet; oder man prüft jede einzelne Zeile nach jedem erdenklichen Gesichtspunkt und wählt dann die Lesart, die Goethes Stil am ehesten zu entsprechen scheint. Von Fall zu Fall Rechenschaft abzulegen, ist hier nicht der Ort. Eine summarische Rechtfertigung liegt in dem bekannten Umstand, daß Goethe seinen eigenen Schöpfungen gegenüber die seltsamste Nachlässigkeit bewiesen hat und immer wieder von den Herausgebern gegen seine eigene Gleichgültigkeit in Schutz genommen werden muß.