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Es war etwa zehn Uhr abends, als bei Dr. med. Neuenschwander (Sprechstunden 8-9) die Nachtglocke schellte. Der Arzt war ein großer, knochiger Mann, Ende der dreißiger Jahre, mit einem langen Gesicht und ziemlich weit im Umkreis bekannt und beliebt. Er hatte die merkwürdige Angewohnheit, den reichen Bauern sehr hohe Rechnungen zu stellen. Dafür vergaß er manchmal bei anderen Leuten eine Zwanzigernote oder einen Fünfliber auf dem Küchentisch. Wenn er dabei erwischt wurde, konnte er sehr böse werden.
Als er die Glocke schellen hörte, saß er in Hemdsärmeln an seinem Schreibtisch. Er ging im Geiste die Patienten durch, die ihn vielleicht brauchen könnten, aber er konnte sich auf keinen schweren Fall besinnen.
»Vielleicht ein Unfall«, murmelte er. Dann ging er öffnen.
Ein fester Mann in einem blauen Regenmantel stand vor der Tür. Sein Gesicht war nicht recht zu sehen unter dem breitrandigen, schwarzen Filzhut.
»Wa isch los?« fragte der Doktor ärgerlich. – Ob der Herr Doktor ein Mikroskop habe? – Ein was? – Ein Mikroskop. – Doch. Das habe er schon. Aber wozu? Jetzt in der Nacht? Ob das nicht Zeit habe bis morgen? – Nein.
Der Mann im blauen Regenmantel schüttelte energisch den Kopf. Dann stellte er sich vor– Wachtmeister Studer von der Fahndungspolizei.
»Chömmed iche«, sagte der Doktor und führte den späten Besuch kopfschüttelnd in sein Sprechzimmer.
»Fall Witschi?« fragte Neuenschwander lakonisch.
Studer nickte.
Der Doktor nahm den hellen Kasten vom Schrank, in dem er sein Mikroskop versorgte, stellte ihn auf den Tisch, ging an den Wasserhahnen, wusch ein Glasplättchen, tauchte es in Alkohol, rieb es ab…
Studer hatte ein Kuvert aus der Tasche gezogen. Er schüttete vorsichtig eine winzige Menge des Inhalts auf das Glasplättchen, ließ einen Wassertropfen darauffallen, legte ein zweites, noch viel dünneres Plättchen darauf.
»Färben?« fragte Dr. Neuenschwander.
Studer verneinte. Sein Kopf war feuerrot, von Zeit zu Zeit drang ein sehr unerfreuliches Krächzen aus seinem Hals, seine Augen waren richtig blutunterlaufen. Der Arzt besah sich den Wachtmeister, kam näher, setzte eine Hornbrille auf die Nase, besah sich Studer noch eingehender, griff dann schweigend nach dessen Handgelenk und sagte trocken:
»Wenn Ihr dann fertig seid, will ich Euch noch untersuchen, Ihr gefallt mir gar nicht, Wachtmeister, aber wirklich kes bitzli.«
Studer stieß ein heiseres Gekrächz aus, hustete – es war ein peinlicher Husten.
»Ihr macht an einer Pleuritis herum. Ins Bett, Mann, ins Bett!«
»Morgen!« ächzte Studer. »Morgen nachmittag, wenn Ihr wollt, Herr Doktor. Aber ich hab noch soviel zu tun… Eigentlich, das Wichtigste ist ja gemacht, und wenn das hier…«
Studer stellte das Mikroskop zurecht, so, daß das Licht der sehr hellen Schreibtischlampe in den kleinen Spiegel fiel und beugte sich dann über das Okular.
Seine zitternden Finger drehten an der Schraube, aber es gelang ihm nicht, die richtige Einstellung zu finden. Einmal schraubte er so lange, daß der Doktor dazwischenfuhr.
»Ihr zerbrecht noch das Plättli!« sagte er ärgerlich.
»Stellt Ihr ein, Doktor«, sagte Studer ergeben. »Das verfluchte Zittern!«
»Was wollt Ihr denn so Wichtiges finden?«
»Pulverspuren«, ächzte Studer.
»Aaah!« sagte Dr. Neuenschwander und begann an der Schraube vorsichtig zu drehen.
»Deutlich«, sagte er schließlich und richtete sich wieder auf. »Ich bin zwar kein Gerichtschemiker, aber ich erinnere mich von früher. Da, seht, Wachtmeister, die großen Kreise sind Fettropfen und in den Fettropfen könnt ihr die gelben Kristalle sehen. Es stimmt wohl. Ob's aber zu einem gerichtlichen Beweis langen wird?«
»Das wird's wohl nicht brauchen«, sagte Studer mühsam. »Und verzeiht, Herr Doktor, daß ich Euch so spät noch gestört hab…«
»Dumms Züg!« sagte Dr. Neuenschwander. »Aber Ihr müßt noch sagen, wo Ihr den Staub da«, er deutete mit dem Zeigefinger auf das Kuvert, »gefunden habt. Halt, nicht reden jetzt. Zuerst Kittel ausziehen, Hemd, dann legt Ihr Euch dort auf das Ruhebett, damit ich ein wenig hören kann, was in Eurer Brust los ist. Und dann geb' ich Euch etwas für diese Nacht.«
Dr. Neuenschwander horchte, klopfte, klopfte, horchte. Besonders schien ihn die Stelle zu interessieren, an der Studer den stechenden Punkt spürte. Er steckte dem Wachtmeister ein Fieberthermometer in die Achselhöhle, betrachtete nach einiger Zeit kopfschüttelnd den Stand der dünnen Quecksilbersäule, sagte bedenklich: »Achtunddreißig neun!« Er prüfte noch einmal den Puls, brummte etwas, das klang wie: »Natürlich, Brissago!« und ging dann an einen Glasschrank. Während er die kleine Spritze aus einer Ampulle füllte, sagte er:
»Also, Wachtmeister, sofort ins Bett. Ich geb Euch da ein paar ganz starke Sachen. Wenn Ihr ordentlich schwitzt die Nacht, so könnt Ihr morgen noch zu Ende machen. Aber auf Euer Risiko, verstanden? Und wenn Ihr dann mit Euerm G'stürm fertig seid, so seid Ihr reif fürs Spital. Ich würd dann an Eurer Stelle ein Auto nehmen und direkt hinfahren. Könnt noch froh sein, daß es eine trockene Brustfellentzündung ist. Aber es kann schon noch böser kommen. Und jetzt möcht ich wirklich gern wissen, warum Ihr mich so spät noch um ein Mikroskop angegangen habt. Wartet noch!« Er schüttete aus etlichen Gutteren verschiedene Flüssigkeiten in ein Glas, füllte heißes Wasser nach und ließ Studer trinken. Es schmeckte gruusig. Studer schüttelte sich. Dann bekam er noch eine Einspritzung, durfte sich wieder anziehen, wollte aufstehen.
»Liegen bleiben!« schnauzte ihn der Arzt an.
Und Studer blieb liegen. Die Lampe auf dem Schreibtisch hatte einen grünen Blechschirm. Dicke Bücher standen auf den Regalen an der Wand. Im Raum roch es nach Apotheke. Studer lag auf dem Rücken, die Hände hatte er im Nacken verschränkt.
»Also?« fragte der Doktor.
Studer atmete tief. Es war das erste Mal an diesem Tage, daß er wieder so richtig tief atmen konnte.
»Die Pulverspuren«, sagte er, »sie waren das letzte Glied, wie es so schön in den Romanen heißt. Ich hätt' es eigentlich nicht gebraucht. Denn es war schon vorher alles klar…«
Und er erzählte von der Fahrt nach Thun, von Sonjas Aussage, vom Besuche bei Armin Witschi, von der Fahrt nach Bern.
»Ich hab heut schon einmal mikroskopiert«, sagte er und lächelte gegen die Decke, dicke Schweißtropfen liefen ihm übers Gesicht, hin und wieder fuhr er sich mit dem Handrücken über die Stirn. »Und wissen Sie, Doktor«, Studer sprach plötzlich hochdeutsch, aber diesmal war es nicht irgendein Ärger, der ihn den heimatlichen Dialekt vergessen ließ, es war eher das Fieber, »die Kugel, die im Kopfe des Herrn Wendelin Witschi gefunden worden ist – und Herr Wendelin Witschi war nach der Aussage von Dr. Giuseppe Malapelle vom Gerichtsmedizinischen Institut in Bern eine Alkoholleiche mit über 2 pro Mille im Blut, – die Kugel also, sie stammte aus dem Revolver, den ich bei dem Einbrecherdilettanten Augsburger heute morgen gefunden habe.« Studer kicherte wie ein Schulbub. »Wenn der Untersuchungsrichter wüßte, daß ich ihm den Revolver gestaucht habe! Guter Kerl, der Untersuchungsrichter, aber jung! Und wir so alt! Nicht wahr, Doktor? Uralt. Wir verstehen alles, wir müssen alles verstehen. Wie hat die Frau Hofmann gesagt? Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet! Sehr richtig! Ausgezeichnet! Wer hat das schon gesagt? Ich weiß es nicht mehr. Und dann war doch die Frage leicht zu lösen, woher der Revolver stammte. Aber das verrät der Studer nicht. – Es ist so heiß bei Ihnen, Herr Doktor, haben Sie im Mai auch geheizt? Wie der Untersuchungsrichter? Ich hab einmal einen großartigen Traum gehabt, von einem Daumenabdruck, von einem riesigen Daumenabdruck. Sie sind doch kein Daumendeuter, eh… Traumdeuter, Herr Doktor? Ich habe einmal einen Fall bearbeiten müssen, der spielte in einem Irrenhaus. Und da hab ich es mit einem Herrn zu tun gehabt, der war – warten Sie einmal, wie heißt das schon? – Ja, der war Psychoanalytiker. Er deutete die Träume und konnte Ihnen dann ganz genau sagen, was mit Ihnen los war. Ist gestorben, der Herr Analytiker, seine ganze Traumdeutung hat ihm nichts genützt. Aber was wollte ich Ihnen erzählen? Es geht alles durcheinander… – Sie haben wissen wollen, wo ich den Pulverstaub gefunden hab? Warten Sie noch… – Kennen Sie den Cottereau? Den Obergärtner? Ja? Was halten Sie von dem Mann? Ein wenig greisenhaft vertrottelt, hab ich nicht recht? Er wußte etwas, aber ein paar Burschen haben ihn verprügelt. Er hat ihn gesehen, denjenigen, welchen… Ich will seinen Namen nicht nennen. Er hat ihn gesehen an jenem Abend, oder wenn Sie lieber wollen, in jener Nacht. Wann endet eigentlich der Abend und wann beginnt die Nacht? Können Sie mir das definieren, Herr Doktor?… – Sie kennen doch die Taschen an den Seitentüren der Autos, dort, wo man gewöhnlich die Landkarte versorgt? Den Staub dort, den hab ich aus so einer Tasche herausgekratzt. Das letzte Glied, Herr Doktor, der Wachtmeister Studer hat sich nicht blamiert. Aber der Wachtmeister Studer hat keine Ahnung, wie die ganze Geschichte ausgehen wird. Keine Ahnung! Denken Sie!… Ich will schlafen«, sagte plötzlich Studer. Er schloß den Mund, die runzligen Lider fielen ihm über die Augen, er tat einen tiefen Seufzer.
»Armer Kerl!« sagte Dr. Neuenschwander. Er ging einen Nachbarn holen. Zu zweit trugen sie Studer ins Gastzimmer, zogen ihn aus und deckten ihn ordentlich zu. Neuenschwander füllte noch eine Bettflasche mit heißem Wasser, legte sie an Studers Füße, die eiskalt waren. Er ließ die Zimmertüre offen und ging zurück an seinen Schreibtisch. Dort las er bis gegen ein Uhr. Alle Stunden sah er nach dem Wachtmeister. Der mußte schwere Träume haben. Er murmelte oft, fast immer die gleichen Worte:
›Mikroskop‹, war zu verstehen, ›Daumenabdruck‹. Und noch ein Mädchenname. ›Sonja‹.
Um vier Uhr stand Dr. Neuenschwander noch einmal auf. Studers Temperatur war auf siebenunddreißig gefallen.