Friedrich Glauser
Wachtmeister Studer
Friedrich Glauser

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Besuche

Sonjas Hände lagen auf Studers Schultern. Er fand diese Berührung angenehm. Auch hatte es aufgehört zu regnen, der Himmel war weiß. Die Brise wehte kalt, aber Studer fuhr mit dem Wind, da schadete es nicht viel. Ein guter Karren, den sich der Landjäger Murmann da zugelegt hatte. Er machte nicht viel Lärm. Wenn Studer auf die schwarze Asphaltstraße herniedersah, wurde sie von weißen Strichen gemustert. Es wäre alles gut und schön gewesen, aber der Wachtmeister fühlte sich nicht im Blei. Der Kopf schmerzte ihn, außerdem machte sich auf der rechten Seite der Brust, ziemlich weit unten, ein stechender Punkt bemerkbar. Bei der ersten Wirtschaft stoppte Studer, trat ein und bestellte einen Grog. Es war seine Universalmedizin.

»Von wo ist schon die Saaltochter?« fragte er, und die Worte kamen ein wenig schleppend aus seinem Mund.

»Welche Saaltochter?« fragte Sonja.

»Die vom ›Bären‹. Die Freundin von deinem Bruder.«

»Von Zägerschwil. Warum Wachtmeister?«

»Zägerschwil? Ist das weit?«

»Nicht gerade sehr weit«, sagte Sonja. Aber die Wege seien schlecht. Es sei so ein Krachen im Emmental. Auf einem Hügel…«

– Woher sie das wisse? – Armin habe einmal davon er zählt, er sei mit der Saaltochter an einem ihrer freien Tage oben gewesen. – Ja, ob der Armin denn das Meitschi heiraten wolle, es sei doch viel älter als der Bruder. Oder? – Das schon, aber die Eltern hätten Geld – und das Berti habe Erspartes. Armin sei schon ein paarmal bei den Eltern gewesen.

»Wollen wir die Eltern besuchen gehen?« fragte Studer und bestellte noch einen Kaffee-Kirsch. Man mußte sich stärken. Der stechende Punkt verschwand langsam, das Kopfweh hob sich ab und schwebte durch die Luft davon wie eine leichte Kappe, die der Wind fortweht.

»Was wollt ihr dort?« fragte Sonja.

»Du Dumms! Den Armin besuchen. Ich muß ihn doch ein paar Sachen fragen.«

»Meint ihr, er sei…«

»Wo soll er sonst sein? Einen Paß hat er nicht, er ist nicht ins Ausland, vor der Stadt hat er Angst, stimmt's?«

Sonja nickte schweigend.

»Dann bleiben also nur die zukünftigen Schwiegereltern. Wie heißen sie?«

Sie hießen Kräienbühl. Warum auch nicht? Berta Witschi-Kräienbühl, das klang gut, das klang solid. Solider als Witschi-Mischler. Es hing wohl sehr vieles von den Namen ab. Studer riß sich zusammen. Was dachte er da für sturms Züüg zusammen. Er griff verstohlen mit der linken Hand an den Puls der Rechten. Ein wenig Fieber sicher. Aber jetzt konnte man sich eben nicht zu Bett legen. Zuerst mußte der Tod dieses Witschi Wendelin aufgeklärt werden. Da gab's ke Bire… Witschi-Kräienbühl oder Kräienbühl-Witschi. Einerlei! Nur los. Der Kaffee war gut, sollte man noch einen trinken? Gut. Und Studer trank einen zweiten Kaffee.

Sonja tunkte ein Weggli in ihr Glas, sie aß; natürlich, so ein Meitschi mußte ja Hunger haben.

Sollte man sie zuerst heimfahren? Aber daheim bekam sie doch kein warmes Mittagessen.

»Hast Hunger, Sonja?« fragte Studer. »Wenn du was essen willst, sag's nur! Ein Schinkenbrot?« Sonja schüttelte den Kopf.

»Später«, sagte sie.

Kräienbühl-Mischler, Aeschbacher-Ellenberger, Gerber-Murmann… Halt! Wie hieß die Frau des Landjägers mit dem Mädchennamen? Studer probierte so viele Kombinationen durch, daß ihm ganz sturm wurde. Er stand auf.

»Los, gehen wir.« Er hatte Mühe, das Wechselgeld von der Tischplatte aufzuklauben. Aber Sonja half ihm. Es ging.

Und es ging auch weiter gut, sobald er auf dem Sattel von Murmanns Karren hockte. Sonja dirigierte. Es kamen scheußliche Wege, mit tiefen Furchen, der Karren hopste wie bei einer Springkonkurrenz. Studer kam es vor, als fahre er in einem Traum.

Endlich, eine letzte Steigung (von Bangerten aus hatte sich Studer nach dem Weg erkundigen müssen) und sie waren da.

Ein großes Gehöft. Ein altes Einfahrtstor. Es war still. Kein Mensch zu sehen. Studer ging über den Hof, die Tür zur Küche war angelehnt, er klopfte.

»Ja!« rief eine ungeduldige Stimme.

»Grüeß di, Armin«, sagte Studer freundlich. »Die Sonja ist auch mitgekommen.«

Er sah ein wenig zerzaust aus, der Armin Witschi. Die Wellen seiner Haare schichteten sich nicht mehr so triumphierend über der niederen Stirne auf wie früher.

»Der Wachtmeister!« stotterte er.

»Pst!« machte Studer und legte einen Finger auf die Lippen. »Es braucht nicht jedermann zu wissen, daß die Polizei dich besucht. Es ist nur ein Freundschaftsbesuch, weißt, du kannst ruhig da oben bleiben, bis alles sich beruhigt hat. Hört uns niemand?« fragte Studer plötzlich.

Armin schüttelte den Kopf. Jetzt, da er allein war, schien er gar nicht mehr so frech. Kein höhnisches Lächeln war auf seinen Lippen zu sehen. Er war ein gewöhnlicher, ängstlicher Bub, der nur die eine Sehnsucht zu haben schien, eine unangenehme Geschichte so bald als möglich los zu sein.

»Warum bist du fortgelaufen? Weißt, ich hab es gleich gewußt, schon gestern Nachmittag, wie dir die Berta gewunken hat, von der offenen Tür. Aber wozu hast du fünfhundert Franken gebraucht? Hier kannst du doch nichts ausgeben?«

– Er habe weiter wollen, sagte Armin. Weit fort. Er wäre schwarz über die Grenze gegangen nach Paris; dort habe er einen Freund, der hätte ihm dann schon einen Paß besorgt. – Wo denn die Kraienbühls seien? – Beim Bohnensetzen, glaube er, sagte Armin. – Gut! meinte Studer. Das, was er wissen wolle, sei mit ein paar Worten gesagt.

Der Wachtmeister zog sein Notizbuch aus der Tasche. Dabei fühlte er, daß sein Herz hart und sehr schnell schlug – aber es war nicht der Fall Witschi, der dem Wachtmeister Herzklopfen verursachte.

Die Schwester hat schon alles erzählt. Wir wollen schauen, ob wir das mit dem Versicherungsbetrug einrenken können, denn um einen solchen wird es sich wahrscheinlich handeln, wenn… Eben wenn. Aber du mußt mir jetzt klare Auskunft geben: Was hast du damals mit deinem Vater ausgemacht?«

Und Armin Witschi gab anstandslos Auskunft. Er war sehr zahm, schier zu zahm. Aber das war eben immer so bei derartigen Charakteren, dachte Studer. Sie trumpfen auf, wenn sie in Gesellschaft sind, aber wenn man unter vier Augen mit ihnen spricht, so geben sie klein bei…

Der Vater habe sich lange geweigert, einen Unfall vorzutäuschen. Aber schließlich, als der Ellenberger kein Geld mehr geben wollte, als ihnen das Wasser fast an den Mund gestiegen war, da war schließlich der Vater einverstanden gewesen.

Er sollte sich ins Bein schießen, dann warten, bis er, Armin, den Revolver versteckt habe, und dann schreien. Sicher würde jemand kommen, die Baumschulen vom Ellenberger seien ganz in der Nähe des Platzes gewesen, den sie ausgesucht hätten, und dann solle der Vater behaupten, er sei überfallen worden, beraubt.

»Wir haben gemeint, am besten wird es sein, die Sache« (›die Sache!‹ sagte Armin) »am späten Abend zu machen. Dann kann der Vater seine Geschichte erzählen und die Leute werden ihm auch glauben, daß er seinen Angreifer nicht gesehen hat. Dann gibt's kein lästiges Gefrage, der Verdacht fällt auf alle Arbeiter des Ellenberger; und die sind ja vorbestraft. Aber es kann ja keinen treffen, denn sie werden ihre Unschuld beweisen können; die Sache wird niedergeschlagen, und die Versicherung zahlt uns das Geld…«

»Hm«, brummte Studer. »Aber dann ist es anders gegangen?«

Wir haben einen Abend festgesetzt, an dem der Vater mit etwas Geld hat heimkommen müssen und haben sogar davon erzählt, das heißt, der Vater hat beim Ellenberger davon gesprochen, während die Arbeiter dabei waren. Das haben wir so ausgemacht. Der Vater hatte einen Browning.«

»Von wem?«

»Der alte Ellenberger hat ihn in der Stadt gekauft…«

»Ist das sicher?«

»Ja. Der alte Ellenberger hat um die Geschichte gewußt. Auch der Onkel Aeschbacher.«

»So?«

»Die Mutter hat's ihm erzählt. Er war doch ein Verwandter von ihr.«

»Und Gemeindepräsident…«, sagte Studer leise und wiegte den Kopf hin und her, wie ein alter Jude, dem plötzlich die Bedeutung eines dunklen Talmudsatzes klar geworden ist.

»Ja. Der Vater hat den Browning probiert, Zigarettenblätter in den Lauf geschoppt, bis er gewußt hat, wie man es zu machen hat, daß es keine Pulverspuren gibt. Also, an dem Abend hab' ich ihm abgepaßt. Von zehn Uhr an. Ich hab' das ›Zehnderli‹ vom Vater gehört, er ist abgestiegen, wie wir es vereinbart hatten, er hat mich gesehen, und mir noch zugewunken, hat neben das Rad seine Brieftasche, seine Uhr, seinen Füllfederhalter…«

»Parker Duofold«, sagte Studer, mit der Stimme eines anpreisenden Verkäufers.

»Richtig. Und dann ist er in den Wald gegangen. Es hat lange gedauert, bis ich den Schuß gehört habe. Und dann war es nicht einer, sondern zwei. Das hat mich gewundert. Denn die Schüsse sind kurz hintereinander gefallen. Ich kam nicht recht draus. Wenn er sich mit dem ersten nicht verwundet hatte, so war es doch eine Dummheit, noch einmal zu schießen, denn das zweite Mal hätte er doch wieder Zigarettenblättli in den Lauf schoppen müssen, und das ging doch eine Weile.«

Schweigen. Sonja seufzte kurz auf, zog ihr verknäueltes Taschentuch hervor und wischte sich die Augen. Studer legte seine Hand über die Hand des Mädchens.

»Nicht weinen, Meitschi«, sagte er. »Es ist wie beim Zahnarzt, nur wenn er die Zange ansetzt, spürt man's, nachher geht's von selbst.« Sonja mußte ein wenig lächeln.

Im Küchenofen knackte das Holz, von dem Deckel, der eine Pfanne bedeckte, fielen Tropfen auf die Herdplatte und zischten leise. Der Wachstuchüberzug des Tisches, an dem die Drei saßen, fühlte sich speckig und kalt an. Durch die offene Tür sah man ein einsames Huhn, das vergebens versuchte, die Pflastersteine wegzukratzen. Es war sehr emsig, das kleine weiße Huhn, und sehr still…

»Ich ging dann in den Wald. Ich hab den Vater gesucht. Wir hatten den Platz ausgemacht, damit ich nicht zu lange nach dem Revolver zu suchen brauchte. Endlich hab' ich den Vater gefunden. Er lag an einer ganz anderen Stelle.«

»An einer andern Stelle? Bist du sicher?«

»Ja, wir hatten eine große Buche als Treffpunkt ausgemacht, aber er lag etwa dreißig Meter davon entfernt unter einer Tanne.«

»Ja, unter einer Tanne. Und das war ein Glück…« sagte Studer leise.

»Warum ein Glück?« fragte Sonja mit erstickter Stimme.

»Weil ich sonst nicht hätte merken können, daß auf der Kutte des Vaters keine Tannennadeln waren.«

Die beiden blickten ihn erstaunt an, aber Studer winkte ab. Der stechende Punkt in der Brust meldete sich wieder, sein Kopf war heiß. Nur jetzt keine Erklärungen geben müssen!…

»Er lag unter der Tanne und hatte einen Schuß hinter dem rechten Ohr. Ich hab's gesehen, weil ich eine Taschenlampe mitgenommen hatte. Der Revolver lag neben seiner Hand.«

»Der rechten oder der linken?«

»Wart, Wachtmeister, ich muß nachdenken. Die Arme waren ausgestreckt, zu beiden Seiten des Kopfes, und der Browning lag in der Mitte…«

»Das bringt uns nicht weiter«, sagte Studer.

»Ich hab die Waffe aufgelesen und bin heim. Unterwegs hab ich mir dann überlegt, was wir machen sollen. Der Vater war tot. Vielleicht war das besser für ihn. Ich wußte, daß der Onkel Aeschbacher nur eine Gelegenheit abpaßte, um den Vater nach Hansen oder Witzwil zu versorgen.«

»Hast du die Brieftasche und die andern Sachen gleich aufgehoben, nachdem sie der Vater abgelegt hat?«

»Nein, nicht gleich. Es ist nämlich etwas dazwischengekommen, Ich hab ein Auto näherkommen hören…«

»Von wo kam das Auto, vom Dorf oder von der andern Richtung?«

»Vom Dorf, glaub ich.«

»Glaub ich! Glaub ich! Weißt du das nicht sicher?«

»Nein, denn wie ich's gehört hab, bin ich tiefer in den Wald…«

»Bist du auf der Seite gestanden, auf der dein Vater in den Wald ist oder auf der anderen?«

»Auf der anderen, ich hab dann noch die Straße überqueren müssen.«

»Und da war kein Auto mehr da?«

»Nein. Aber es ist etwas Merkwürdiges mit dem Auto losgewesen. Es ist ganz langsam gefahren, das hab ich am Geräusch vom Motor gehört, die Scheinwerfer haben die Straße beleuchtet, und auch den Wald, von weither, und ich hab mich auf den Boden geworfen, um nicht gesehen zu werden. Die Straße macht oben und unten von der Stelle einen Rank, so daß man nicht genau wissen kann, aus welcher Richtung ein Karren kommt«, fügte Armin entschuldigend hinzu.

»Und?«

»Ja, plötzlich ist das Licht von den Scheinwerfern ausgegangen, ich hab den Motor nicht mehr gehört. Ich hab gewartet eine Zeitlang, dann bin ich langsam näher zur Straße gekrochen. Aber da war das Auto verschwunden.«

Der alte Ellenberger besaß eine Camionette zum Transport seiner Hochstämme. Der Ellenberger hatte die Prämien der Lebensversicherung bezahlt…

»Und dann hast du die Sachen, die dein Vater am Waldrand niedergelegt hatte, aufgehoben und bist heimgegangen?«

»Ja.« Armin nickte.

Willst du mich nach Bern begleiten, Meitschi?« fragte Studer. »Ich glaub, wir haben hier alles erfahren, was nötig war.« Er zog seine Uhr. »Um Zwei werden wir wohl dort sein. Wir können dann bei mir daheim essen. Und dann wartest du bei uns zu Hause auf mich. Ich führ dich dann heut abend wieder heim. Apropos, wer hat den Revolver bei der Frau Hofmann versteckt? Der Gerber? Ich hab's gedacht…«


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