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Wiedergeburt.

Was willst du noch? Was kannst du noch wollen? Verstoßen von der Heimath, verachtet von aller Welt, ein verfolgter Feind im eigenen Vaterlande! Nichts hast du auf der ganzen Erde, nicht einen Platz, dein Haupt auszuruhen, nicht einen Freund, dein Herz zu trösten; und nichts hast du in dir, nichts als ein Chaos, aber nicht das Chaos gährender Elemente, das aus sich eine neue Welt noch gebären will, sondern das Nichts, das nur seines Nichts bewußt wird an dem Hasse gegen Alles, was ist und leben kann, an dem Hasse gegen sich selbst. Und was willst du noch? Willst du noch leben? – Noch leben, fragst du? Hast du denn schon gelebt? War das ein Leben dieses Dasein ohne einen Pulsschlag der Freude, ohne Herzenswallung der Liebe, ohne Augenblick der Ruhe, ohne That der Befriedigung? Statt deß allein nur die ewigen, stillen, unermüdlichen Kämpfe hier im geheimsten Herzen, die nichts erzeugt als die Leere der Verwüstung darin und die Verzweiflung über die Leere – und dann wieder wilde Genußsucht, die vergeblich die Verzweiflung ersticken wollte. Aber jetzt nichts mehr von dem! Und wenn nichts mehr von dem, was willst du sonst noch? Laß die aufkräuselnde Welle deines Seins wieder hinschwinden in den Ocean des allgemeinen Seins; die Weise deiner Besonderheit behagt dir nicht, du trittst zur unendlichen Wesenheit zurück, von der du kamst. Was willst du noch?

So sprach Johannes am Kreuze über dem Rhein und dachte daran, das Schicksal einer starken, edlen Natur zu vollenden, die mit ihrem gewaltsamen inneren Drange an den äußeren Verhältnissen sich zerschmettert.

Wie ein Fluch hatte des Vaters Erziehung ihn ins Leben begleitet. Wie ein Kind unbekannt mit der Welt, hinausgehoben über das alltägliche Dasein, leer von jedem Inhalt des Denkens und Empfindens, nur von unklarer, heißer Sehnsucht nach dem Leben erfüllt, war er in die akademische Freiheit hinausgetreten. Er hatte nicht beobachten, nicht berechnen, nicht sich zügeln und genießen gelernt; alle Lebensfreude war ihm verpönt gewesen und nun er sie kennen lernte, dünkte sie allein ihm des Lebens werth. Doch ohne die Mittel, die Fähigkeiten und die Lebensweisheit, sich ästhetischen Genuß zu verschaffen, stürzte er in die wüsteste renommirende Brutalität der deutschen Studenten-Romantik.

Mit wie vielen Naturen theilte er dies Loos! Von Männern, fast immer ohne gesundes Naturell, meist ohne Gesinnung, selten von echter menschlicher Bildung, erzogen, wird die männliche Jugend aus der Zwangsjacke der Schulzeit auf den freien Tummelplatz des Lebens entlassen, und es stürzt nun die entfesselte Natur in die gewaltsamsten Versuche wilden, zügellosen Genusses, um ihre unerschöpflich geträumte Lebenskraft zu messen. Und wenn sie dann gemessen und erschöpft ist, dann treten die herangewachsenen Männer in das geordnete Leben zurück, aus dem sie hervorgegangen, und werden eben solche geistige Hämmlinge als jene ehrenwerthen Pedanten, die sie auf der Schulbank so unbarmherzig verhöhnen konnten.

So thun es die Meisten. Andere, aber wenige, haben die Consequenz und den Muth, lieber unterzugehen im Burschenthum, und nur die Wenigsten arbeiten sich hindurch zu edler Menschenwürde. Johannes gehörte nicht zu den Ersten und nicht zu den Zweiten, sondern versuchte es mit den Letzten.

Als er, von den letzten Semestern des Trienniums gedrängt, sich zu den Studien endlich zurückzog, da waren die orthodoxen Anschauungen, in die der Vater ihn geweiht hatte, in ihm als Wahrheiten stehen geblieben, aber ihm völlig gleichgültig geworden. Wie er nun jetzt nach den alten Büchern griff, wurde die Gleichgültigkeit zum Ekel. In neuen Bearbeitungen der alten Lehren suchte er Interesse zu finden und fand endlich neue Lehren, die ihm zur heißgeliebten Wahrheit wurden. Die Offenbarung von dem Gotte, der das All ist, und von dem All, das Gott ist, gab ihm ein neues Leben, gab ihm Befriedigung und Verlangen, gab ihm seine Religion, das Bewußtsein des freien Geistes, der geistigen Sittlichkeit, der intellectuellen Liebe.

Er wollte jetzt mit dem neuen Leben ein neues Studium beginnen, aber der Gehorsam gegen den Vater, den er nicht aus seinem Herzen ausrotten konnte, zwang ihn, das alte zu vollenden, und er that es, aber nur, um alsdann seinen neuen Gedanken zu leben und seine Religion in der Wissenschaft der Philosophie zu erfassen.

Es ist so schön, eine Religion zu haben, aber so schwer, um ihretwillen, der man sein ganzes volles Sein schenken mochte, sich mit der Welt abzufinden. Für Johannes war sein freigeistiges Bewußtsein der Gährungsstoff, der ihn aus sich selbst weit hinaustrieb, aber, immer wieder von der Enge seines Daseins in sich selbst zurückgedrängt, sein eigenes Innere verwüstete. In der Abgeschiedenheit des Dorfes fand er Niemand, mit dem er seine Grundsätze theilen konnte, und Alles, was ihm früher vielleicht nahe gestanden, war ihm jetzt fremd; denn nur seine neuen Gedanken und, was sie ihm bestätigte, hatten noch Werth für ihn. So wollte er denn heimlich für sie in die weite Welt hinauswirken durch die Schrift; aber wie sollte er seine Stimme in der Presse laut werden lassen? In den Zeitschriften fand er jedes Plätzchen verpachtet. Die Buchhändler, wenigstens die, mit denen er Bekanntschaft machte, wußten nicht den Werth eines Manuskriptes, sondern nur den Namen eines Autors zu schätzen. Und als es ihm endlich doch gelungen war, eine schätzenswerthe popularphilosophische Schrift über die »innere Mission, vom reinmenschlichen Standpunkte« zu veröffentlichen, da fand er sich als den Prediger in der Wüste. Wer wußte von dem Buche? Wer sollte darauf aufmerksam machen? In der Literatur hatte jeder genug damit zu thun, seine Freunde zu loben und seine Feinde zu tadeln, und er war ja so unglücklich, keines Mannes Freund noch Feind zu sein. In Gedanken an eine akademische Laufbahn vertiefte er sich jetzt in das ernsteste Studium der Philosophie und, völlig von der ihn umgebenden Welt abgestorben, zog er sich allein in sich zurück. Aber wir sind einmal nicht reine Geister und auch der abstracte Denker mußte sich unglücklich fühlen, isolirt zu sein. Ohne Anregung versank er unmerklich ganz in sich selbst und war endlich nicht mehr der Mittheilung fähig. Wenn er sprechen wollte, fehlten ihm oft die gebräuchlichsten Ausdrücke; der geringste Einwand brachte ihn außer Fassung. Sein geistiges Auge konnte das Licht nicht mehr vertragen; ein dichter Schleier verhängte allmälig die Klarheit seines Denkens. Er war so weit Herzensmensch, daß er nur Das vermochte, dem er mit seinem ganzen Wesen sich widmete. So war es ihm kaum noch möglich, eine einfache Rede im Postillenstyle zu Stande zu bringen, und eines Sonntags blieb er plötzlich in der Predigt stecken, seine Gedanken verwirrten sich, er konnte kein Wort mehr finden und mußte das in einer Theologenfamilie Unerhörte über sich kommen lassen, ohne die Rede zu vollenden, von der Kanzel zu steigen. Er hatte seitdem nicht mehr den Muth, ein Wort vor der Gemeinde zu sprechen, und alle Drohungen des Vaters konnten ihn nicht dazu bringen.

So war der forschende Denker zugleich der erbärmliche, stotternde Philister, und wenn er es einsah, wie er Das, was er an seinem Vater haßte und verachtete, selbst geworden war, der mürrische, abstoßende Menschenfeind, der überstudirte Sonderling, dann rief die Verzweiflung auch noch den einstigen flotten Burschen, der noch immer nicht ertödtet war, in ihm wach. Er suchte Gesellschaft und fühlte sich in der schlechtesten wohl, weil er ihr seine Verachtung ins Gesicht sagen konnte. Der kriechende Schulmeister, das kluge, lüsterne Dorchen und deren liederliche Sippe in der nahen Stadt fanden ihn zu jeder Ausschweifung bereit. Aber auch hier war es der Mangel an Lebenskenntniß, was ihn aus seinen Vergnügungen in die Zerrüttung seines Lebensschicksals zu verwickeln drohte. In jener Nacht, als Werner ihn auf der Rückkehr vom Balle demaskirte, hatte die Klugheit eines Mädchen, die ihn durch einen leichtsinnigen Augenblick für Zeit seines Lebens gefangen zu haben meinte, aus seinem Taumel ihn erweckt. Der Anblick dieses Verhängnisses, zu dem ihn der Gehorsam gebracht hatte, trieb ihn zu dem Gedanken, es nun doch noch mit dem Ungehorsam zu versuchen. Wohl hundert Mal hatte er den Entschluß gefaßt, jetzt sah er sich gezwungen, ihn durchzuführen, von der Familie sich zu entfesseln. Die Preisschrift war die letzte Karte, auf die er seine Hoffnung setzte, und die unbegreifliche grillenhafte Unbeugsamkeit des Vaters hatte ihn zu dem leichtsinnigen Trotze gebracht, auch diese Letzte dem Ungefähr anheimzugeben. Er bedauerte aber diesen Frevel auch jetzt nicht. Er hatte nichts vom Leben zu verlangen und nichts zu erwarten. Was willst du noch? Was willst du noch? So sprach er jenen Monolog fortsetzend ein Mal über das andere zu dem Strome hinab, als er plötzlich von sanfter matter Stimme in seiner nächsten Nähe die Antwort hörte: Zum Vater! Er erschrak; aber in diesem Mangel jeglichen Gefühls that ihm der Schreck wohl. Wenn Ueberirdisches jetzt aus seiner Verzweiflung ihn gerettet hätte, er hätte an Ueberirdisches glauben und das Leben mit einem neuen Gedankeninhalt aufs Neue beginnen können. Er hörte nochmals Aufseufzen; er wandte sich um und erblickte hinter dem nächsten Grabeshügel eine helle Gestalt sich erheben; es sprach dieselbe Stimme wieder: Weh mir! Wo bin ich denn?

Aber seine Schwester konnte doch nicht aus dem Grabe steigen? Wie war sie denn da hinabgekommen? Er hatte Martha erkannt; er eilte zu ihr, umfaßte sie mit seinen Armen, in die sie fast ohnmächtig zurücksank; er scheute sich vor ihr, er wußte noch nicht, was er von dem Allem denken sollte, ob er nicht eine Auferstandene in seinen Armen hielt!

Als sie ihren Bruder erkannte, erholte sie sich. Er wußte nicht von ihr, sie wußte nicht von ihnen beiden, wie sie hierher gekommen. Endlich als er ihr erzählte, daß er aus dem Gefängniß entlassen sei, da schien ihr Gedächtniß wieder zu erwachen. Ach, wie wohl war mir eben, sagte sie; ich wußte nicht, wer ich bin, und nicht, was mit mir geschehen ist!

Was ist denn mit dir geschehen, mein fein Schwesterlein? frug Johannes in seiner gewohnten bittern Art. Bist eingeschlafen, beim Stelldichein, weil er nicht gekommen ist? Ja, mußt' wohl ein feiner Schatz sein! Möcht' auch solchen Schatz haben, aber ich – und Liebe! Haha, wer setzt noch ein ehrlich Gefühl auf mein Herz?

Johannes! – So wollte sie vorwurfsvoll ihn anreden; aber sich sammelnd, wurde sie mild und sprach: Ach ja, du weißt ja Nichts von Allem.

Jetzt wurde er ernst und begierig zu hören. Er dachte: Ist die Mutter etwa todt? Aber es war ein alt überwachsener Hügel, auf dem er sie gefunden hatte. Er drang in sie, zu sagen, was sie meine. Sie ließ das Haupt sinken und in thränenloser Traurigkeit an ihn sich lehnend, war sie keines Wortes mächtig. Endlich in Pausen, in denen sie ihre Erinnerung zu sammeln schien, entdeckte sie ihm: Wie war es doch? Ja – er liebte mich; du wußtest es ja. Er hatte mir seine ewige Liebe versprochen, der Vater wollte es nicht dulden; da ging er fort. Ich dachte, wir wollten uns treu sein bis in den Tod; da hörte ich, er wolle sich vermählen, und ich konnte es nicht glauben, und ich ging – ging hin zu ihm, und sah seine Braut; sie war so schön, so wunderschön, wie seine Braut wohl sein muß! Aber dann – ach, ich weiß ja nur, daß ich fortging. Wie ich hierher kam, ich kann mich nicht mehr besinnen; aber ich will wieder zu meinem Vater, er wird es gut mit mir meinen. Hilf du mir, hilf mir, Hans, zu meinem Vater – –

Die Stimme erstickte ihr. Auch ihm schnürte der Schmerz, der Zorn die Kehle zu. Er hatte Gefühl genug, aus diesen wenigen Worten das ganze Schicksal eines Mädchenherzens zu verstehen; aber er fand kein Wort, mit dem er diesem Schmerz entgegentreten konnte. Lautlos, bewegungslos hielt er sie in seinem Arm, mit Empfindungen, als wäre es eine Geliebte. Sie glaubte, er verurtheile sie, und bat ihn um Milde. O lieber Bruder, sagte sie, wenn du nur wüßtest – ich bin nicht schlecht. Wenn du nur immer in mein Herz hättest sehen können, ich war dir oft so gut, so gut – ich weinte um dich, wenn der Vater schalt; und als ich so unglücklich wurde und als er mich auch schalt, ach, da habe ich erst gewußt, warum er dich schalt. Schilt mich nicht auch, sei mein lieber, lieber Bruder – –

Martha! Martha! brach sein übervolles Herz in heftigem Ausruf los. Er drückte sie, wie eine Geliebte innig an sein Herz und sagte ihr: O, du, meine Schwester, ja, ich bin, ich bin dein Bruder! Du liebtest mich – und ich – ich weiß nicht, ob ich es that, aber ich will es thun, von nun an will ich gut machen, was ich versäumte. – Wie die Menschen nur so hinleben! So lange haben wir fremd neben einander gestanden, täglich begegneten wir uns gleichgültig und nun finden wir, daß wir dasselbe fühlten, dasselbe litten – war es denn nöthig, daß unser ganzes Dasein aus den Fugen gerissen wurde, damit wir uns kennen lernten?

Im zärtlichsten Einverständniß lehnten die Beiden aneinander. Johannes glaubte jetzt Derjenige zu sein, der sich entschuldigen müsse. Er erinnerte sich so mancher Unachtsamkeit, so mancher Härte gegen sie und sagte: Ja, ich weiß es, die Leute sagen, ich sei ein böser Mensch; aber glaube mir, und du sollst es noch erfahren, ich habe ein Herz, das lieben möchte, aber das steinhart geworden ist, weil es nirgends lieben konnte. Aber hier von den Thränen, die ich um dich vergieße, thaut es wieder auf, denn ich vergieße sie auch um mich; ich lerne in dir mich selber achten, denn ich lerne von dir, daß auch ein reines Herz brechen mußte unter den Banden, die uns knechten wollten, daß auch ein reines Herz zu der Verzweiflung kommen mußte, die mich an den Rand des Seins getrieben hat. Armes, armes Mädchen! So war auch dein ganzes Leben ein Schmerz, eine ringende Krankheit, auch deine Seele angehaucht von dem süßen Gifte der Freiheit! O nein und nein trotz alle dem und alle dem kein Gift – der Same des Ewigen, der Stempel der göttlichen Herkunft ist diese heilige Sehnsucht nach freiem Glücke, nach glücklicher Freiheit! Ja, Schwester, reines, herrliches, starkes Mädchen, du bringst mich wieder zu mir selbst; dein Schicksal ist der Spiegel, in dem ich mich schaue, meinen bessern Theil erkenne. Es war nicht blos wüstes Treiben, es war eine Idee, dieselbe Idee, die dich beseelte, die Idee: Mensch, ganz edler, freier Mensch zu sein, der ich zum Opfer gefallen bin – und noch nicht gefallen, nur zu fallen in Gefahr war. Noch bin ja ich selbst, noch habe ich ja Kraft, es zu sein, und noch den Wunsch es zu bleiben. Ja, Schwester, erst jetzt will ich leben, erst jetzt zu leben anfangen durch dich und für dich. Bisher war mein Dasein ein gleichgültiges Rechenexempel auf einer Schiefertafel geschrieben. Ich konnte die Lösung nicht finden und unwillig wollte ich dieses ganze Kinderspiel wegwaschen – jetzt erst in diesem Augenblick fühle ich, wie mein Leben einwurzelt in dem Boden dieser Welt. Ich habe ein Herz, an dem ich mich anklammern, eine Seele, für die ich leben, wirken, arbeiten kann. O, ich bin der glückseligste Mensch auf Erden, denn ich kann wieder leben, leben; denn ich habe ein Wesen, das ich liebe! Und ich war nur so unglücklich, weil Niemand auf Erden mich liebte, für den ich leben konnte.

Dich hatte niemand geliebt? sagte Martha; o, du wolltest es nur nicht merken! Wohl wurdest du geliebt. Wer sagte es mir doch? – Ich weiß nicht mehr – ach, mein Kopf ist so matt, ich kann es nicht mehr denken, aber ich weiß es – Lenette liebt dich und sie ist sehr unglücklich darüber. Ach, was das ist ein unglückliches Mädchenherz!

Sie hätte mich geliebt? – O, hätte ich das geahnt, ich hätte mich achten können, aber nun – er dachte an die Fesseln, die ihn an Doretten knüpften; denn er wußte nicht, daß diese inzwischen als Wirthschafterin eines alten Pachters ihr Ziel, die Versorgung, erreicht hatte. Nun ist es zu spät, sagte er weiter, ich bin verloren für diese Welt, nur in einer neuen Welt kann ich mir und dir ein Dasein schaffen. Des Vaters Fluch hat uns das Herz gebrochen; in der Liebe zu einander finden wir ein neues Leben – komme mit mir in die neue Welt, nach Amerika laß uns fliehen, in die Urwälder retten wir unsere Träume der Freiheit, unsern Glauben an die Menschen! Dort will ich dir eine Hütte bauen, für dich arbeiten Tag und Nacht und ein neues Leben führen, denn ich habe eine Schwester, für die ich sorgen kann. Ja, Kind, verzweifle nicht, es ist noch Rettung für uns da, noch wird die Welt ein Plätzchen für uns haben – ich bin nicht so arm, wie du glaubst, nur einen Brief erwarte ich noch, der mir die Mittel geben soll, dich in eine neue Heimath zu führen.

Ein Brief ist für dich da, sagte Martha schüchtern, aber still, Bruder, still; wir wollen nicht fort von hier, nein, wir wollen bleiben, den Vater wollen wir nun aufsuchen, um Liebe bitten – so wie wir uns jetzt gefunden, so wirst du auch ihn kennen lernen. Er ist ein guter Vater, er liebt mich, er liebt auch dich – du mußt bleiben, Johannes, ich werde für dich beim Vater bitten, er wird vergeben dir und mir – wir werden alle beisammen bleiben – wir werden jetzt erst glücklich werden.

Laß mich, laß – kein Wort der Liebe mehr mit ihm – keine Versöhnung, kein Friede – ich lebe hier nicht mehr; wenn ich leben will, muß ich fort von diesem Boden, fort, fort von Vater und Mutter – hier ist mir nur der Tod, weil ich hassen mußte, wo ich lieben mochte mit dem ganzen Drange der Natur. Fort, fort in die wilden Wälder – ein Brief, sagst du, wo ist der Brief – –

Beim Vater im Zimmer. Komm mit hinein zum Vater. Ach, der arme Vater! Was habe ich ihm gethan! Schnell komm hinein zum Vater, daß ich ihn von seiner Angst befreie, ihm sage, daß ich leben will; nur soll er mich lieben, nur ein klein wenig lieben, wenn ich's auch nicht verdiene.

Sie gingen zusammen dem Hause zu. Er nach dem Briefe, sie zum Vater. Er mußte sie führen, so schwach war sie; und als sie dem Hause nahe war, bat sie ihn, stehen zu bleiben; sie sei müde und müsse einen Augenblick ruhen. Sie lehnte sich an ihn, hielt die Hand aufs Herz und klagte: hier sei ihr so weh – sie habe schlecht am Vater gehandelt. Dann wollte sie rasch fort ins Haus hinein; aber nach wenigen Schritten mußte sie vor Herzklopfen wieder ruhen. Endlich waren sie der Thüre nahe und sahen, daß sie offen stand. Sie gingen hinein. Sie fanden die Thür zum Wohnzimmer geöffnet, niemand war darin. Auch der Eltern Schlafkabinet war nicht verschlossen; auch dort war Niemand zu sehen. Das dunkle einsame Haus war ihnen unheimlich, wie ausgestorben. Johannes fand seinen Brief auf des Vaters Secretär. Mit dem Streichhölzchen steckte er, zitternd vor hastiger Erwartung, den Wachsstock an, der ordnungsmäßig auf seinem Platze unter dem Spiegel stand. Die Lebensernte eines Gelehrten, die Rettung zweier Menschen hatte von einem Briefporto abgehangen und um ein Briefporto gingen beide verloren. Der Brief war derselbe, den Johannes abgesendet hatte. Als unfrankirt nicht angenommen, an den Absender zurückgesandt, war vom Postbureau darauf bemerkt. Johannes war um die Arbeit eines halben Lebens, um die Hoffnung auf ein neues gekommen. Vor einer halben Stunde hätte in seiner philosophischen Apathie ihn das nicht getroffen; jetzt, wo ein Wunsch im Herzen Widerstand gegen das Schicksal leistete, jetzt fühlte er, daß etwas in ihm zusammenbrach. Kaum hatte er sich der todten Unfähigkeit zu leben entrungen, so sank er in qualvolle Verzweiflung zurück; die Hände vor das Gesicht schlagend, fiel er sprachlos in den großen Lehnstuhl nieder.

Martha, die sich mit gefaltenen Händen an die Thüre gelehnt hatte, das Haupt büßend niedergebeugt wie eine geknickte Lilie, war hinausgegangen, um auf ein Pochen, das sie vernahm, die nach der Straße führende Hausthüre zu öffnen. Der Vater kam nicht, sondern Andreas.

Er war jovial und vertraulich wie immer. Ist der Vater da? frug er; als Martha es verneinte, war's ihm recht, und er sagte pfiffig und ohne Groll gegen seine untreue Braut zu verrathen: Ich weiß Alles! Schöne Geschichten das! Aber schadet nichts. Laßt mich nur machen. Es wird noch Alles gut. Ich weiß, wie die Sache anzufangen war, und habe es durchgesetzt. Nur ruhig, liebes Cousinchen; nichts für ungut! Mit mir läßt sich sprechen. Nur praktisch, ohne Leidenschaft! Das ist Luxus!

Er kam darauf hinaus, er sei auf dem Schlosse gewesen und habe mit dem alten Freiherrn gesprochen; der wolle für die verlassene Braut des leichtsinnigen Neffen eine schöne Aussteuer geben und er, Andreas, wolle sie dafür heirathen. Aber dabei faßte er die Sache zu praktisch und verdächtigte Martha eines Fehltrittes, dessen sie nicht fähig gewesen war. Ich weiß Alles, sagte er, was passirt ist; aber wie gesagt, mit mir läßt sich sprechen. Darum keine Feindschaft. Ich drücke gern ein Auge zu, die ganze verfluchte Geschichte ist überstanden und wir sind ein glückliches-Paar. Der Alte merkt von Allem nichts; ich nehme es auf meine Rechnung.

Ich danke, gab Martha zur Antwort. Er verlangte ein deutliches: Ja, aber sie antwortete nur, kaum der Stimme mächtig: Ich danke. Und wie lange und heftig er auch in sie drang, er brachte nichts aus ihr, als dieses: Ich danke. Als er sie endlich verstanden hatte, aber ohne sie begreifen zu können, verabschiedete er sich, indem er ihr schwur, er werde warten, bis sie zu ihm käme und vor ihm auf den Knien läge, ihn um ihre Ehre zu bitten, oder er werde es dem Vater hinterbringen, wie verworfen sie sei; er verachte sie und sie solle seine Verachtung und seine Rache fühlen.

Sie ging ins Zimmer und antwortete auf Johannes Frage, wer dort gewesen sei: Andreas; er wollte mich heirathen, auch jetzt noch. O, was denken nur die Leute von mir! Aber ich danke ihm. Nun weiß ich, daß ich nicht ohne Grund so stolz, daß ich mit Recht zu gut für ihn war. Wenn jetzt der Vater nur verzeiht, dann wird sich ja Alles noch machen lassen. Du wirst nicht heftig gegen ihn sein, nicht wahr, Hans? So bat sie den Bruder; aber ehe er geantwortet hatte, war der Vater durch die Hausthüre, die sie offen gelassen hatte, eingetreten.

Wer hat die Thür geöffnet? Mit dieser Frage kam er in das Zimmer, das nur durch den Wachsstock schwach erleuchtet war. Da sah er Johannes – Martha, unfähig ihm entgegenzutreten, saß unbemerkt in der Sophaecke. Die athemlose Angst, mit der er hereintrat, wollte in den alten Jähzorn ausbrechen; aber als sei seine Natur gebrochen und habe er nicht mehr die Kraft in sich, sich selbst getreu zu sein, so sammelte er sich mit einer abweisenden Handbewegung und sagte, weniger als Vorwurf gegen den Sohn, denn als Ausdruck seines Grams die Worte: Da ist der Bube ja wieder! Hat sich glücklich herausgelogen? O du gerechtfertigte Unschuld!

Kein Wort habe ich gelogen, antwortete Johannes, ohne sich zu rühren, den Rücken ihm zuwendend, mit einem Trotze, der durch seine Ruhe nur noch mehr beleidigend war. Ich habe weder gesagt, daß ich das Buch drucken ließ, noch daß ich es nicht drucken ließ. Es war die Sache der wohlweisen Herren Richter, sich darüber klar zu machen und mir zu beweisen, daß ich es that. Das konnten sie nicht und so mußten sie mich dem Glücke des väterlichen Hauses wieder zurückstellen.

Ist das jetzt so Mode? erwiderte der Alte. Sonst war's unter Leuten, die ehrliche Leute heißen wollten, Sitte, daß man Das, was man that, auch frei bekannte. Wer aber nicht bekennen wollte, den klemmte man in die Folter –! Er wollte eben wieder aufbrausen, aber nochmals mit der abweisenden Handbewegung fuhr er gelassener fort: Aber was red' ich auch! Er verklagt mich am Ende noch wegen Verleumdung, wenn ich an seiner Unschuld zweifle. Ich will ihn auch nur lassen! Was soll ich mich an ihm noch versuchen? Du, mein Vater im Himmel, bist Zeuge, daß ich Alles that, das böse Gelüst des Blutes in ihm zu ersticken. Alles habe ich angewandt, vom falschen Wege ihn abzuhalten, Lehre und Ermahnung, Drohung und Strafe. Ich dachte, er müßte werden, was er werden sollte – ich kann nicht dafür, daß es so gekommen ist!

Und doch kannst du dafür! So antwortete Johannes, die Arme in einanderschlagend, sicherer in den Stuhl sich zurücklehnend, und fuhr fort in förmlichem Kathedertone mit einer Ruhe, als handle es sich um irgend was in der Welt, nur nicht um ihn, wie einer solchen über sich selbst in dieser Unerschütterlichkeit wohl nur ein Anhänger des Spinoza fähig sein möchte: Und doch kannst nur du dafür! Man kann einen Wanderer von einem falschen Wege abhalten und doch der Verirrung auf allen anderen preisgeben, weil man ihm den rechten nicht zeigte. Man kann an eine Seele alle diese Mittel der Erziehung vergeblich verschwenden, Lehre, Strafe, Zwang, weil man das eine einfachste vergaß: die Liebe! So hast du mich stets nur zurückgehalten, zu Nichts geleitet; du, der du an Allem mich gehindert, hast nicht durch einen halben Gulden mich befördert, ein Briefporto zu bezahlen. Anstatt meine Glieder zu üben, hast du sie geschwächt; anstatt mich sehen, unterscheiden, urtheilen zu lehren, hast du die Augen meines Geistes verbunden, und als ich von deinem Gängelbande entlassen in die Welt taumelte, mußte ich die Binde abreißen, mit tödtlichem Schmerze traf mich der Strahl der ewigen Sonne, geblendet stürzte ich weiter und immer weiter in schrankenlose Oede hinein, bis ich verirrt und abgehetzt am Nichts angelangt bin, Nichts in mir kennend und Nichts außer mir, keine Freude, keine Liebe, nur Haß, Haß gegen die Lehren, die mich zum Zweifel trieben, Haß gegen die Kirche, die meine Zweifel verdammte, Haß gegen alle Menschen, die glücklicher sind als ich und den Zweifel nicht kennen, Haß gegen mich selbst, der ich Nichts kann als – hassen. Me voilà! Das bin ich, das, ohne Renommisterei das! Und man wird daraus, daß ich mich selbst so konterfeien kann, sehen können, daß ich kein blinder Leichtsinniger, kein toller Wüstling bin, sondern ein strebender Mensch, der wußte, was er wollte, und versuchte, was er konnte, der aber, was er ist, werden mußte unter dem Drucke der Bornirtheit und des Wahnes: ein sentimentaler Schurke, ein blöder Wüstling, das ist dein Meisterwerk, frommer Theologe – ein Wesen, dem nichts bleibt, als gewesen zu sein.

Bube, Bube! knirschte der Pfarrer, aber er brach in Seufzen zusammen. Vater, Vater! Ist das der Lohn für meine Mühsal, für meine Sorgen, die keinen freien Herzschlag mir gegönnt? Was bleibt mir noch zu thun? Gott im Himmel, erleuchte mich! Es kann ja nicht dein Wille sein, daß das Fürchterlichste unabwendbar ist! Und an dir, was kann ich an dir noch thun? Nichts habe ich als meinen Fluch – kann denn mein Fluch dir helfen?

Vater, Vater, um Himmels willen, halte ein! So schrie Martha bei diesen Worten auf, und der Vater antwortete ihr in einem halb verwirrten Lachen: Auch du hier? Bin ich auch an deiner Schande schuld, gesunkenes Mädchen? O, daß sich Gott erbarme!

Ja, ja, auch sie trägst du auf dem Herzen! fuhr Johannes jetzt fort, die Hände vor das Gesicht bergend und bei dem Gedanken an die Schwester und an die Verzweiflung, ihr nun nicht helfen zu können, jetzt in Leidenschaft auffahrend: Kein gesunkenes Mädchen, sondern meine Schwester, meine Schicksalsschwester, und die Tochter eines wahnsinnigen Vaters. O, daß du mich zu Grunde gerichtet hast, das verzeihe ich dir! Ich bin wohl von Natur ein wüster Gesell, ein finsteres, trotziges Herz; aber daß du diese Blume, diese Wunderblume geknickt, das soll auf dein Herz fallen! Anstatt mit Sonnenschein und Liebe sie zu pflegen, hast du ihrem Herzen die Nahrung entzogen, in kalter Finsterniß sie verschlossen, und als der erste Strahl des Himmelslichtes der Liebe sie trifft – mußte sie da nicht in Entzückung sich verzehren? Wer wird nun sie retten? Martha, Martha, wer wird nun dich retten?

Still, still, Bruder, so rief Martha flehend; der Vater meint es nicht so bös, er ist ja nicht so schlimm!

Nicht so schlimm? Nicht so schlimm? Das mein ganzer Lohn? Auch von dir? – Kinder, Kinder! – Nein, nein! Ich will euch nicht fluchen! Ich will mich fassen. Gott, Gott, wo ist denn noch die Rettung?

Nirgends, nirgends! Jede Versöhnung ist doch nur Schein und Verstellung. Wir sind zum Hassen verdammt! So rief Johannes mit Hohn und Ruhe frevelnden Hochmuths ihm entgegen und rücksichtslos grausam fuhr er fort: Und nun geberde dich, Alter, laß dir's auch einmal zu Herzen gehen! Empfinde auch einmal Schmerz; lerne auch einmal fühlen, daß du nicht unfehlbar bist! Ein Trost ist ja noch da für dich: du wirst es doch nie begreifen, was an einem vollen, freien Menschenherzen zu Grunde geht. Denn wo Gott den Menschen das Herz gegeben, da hat er dir einen Stein hineingelegt. Ja, raufe dir das Haar! Ich freue mich deines Schmerzes. Wenn ich hier mein Herz voll Haß und Jammer ausgeschüttet, dann gehe ich an das Kreuz am Strome und trage mich selbst zu Grabe, denn das Gefühl der Rache gegen meinen eigenen Vater ist mein einziges Lebensgefühl. Das mußte aus mir werden, aber es muß mit solchem Scheusal auch so enden. Und nur noch dieses gottlose Vermächtniß der Wahrheit gebe ich dir für deinen christlichen Segen, der sich an mir erfüllt hat. Der Gott, an den du glaubst, gab dir ein Weib und gab dir Kinder, und du mußt ihm einstehen für ihrer Seelen Heil und Glück. Und können wir dir für eine frohe Stunde, für eine weise Lehre danken? Was ist mit den Herzen geworden, die dir anvertraut sind? Meines ist erstarrt, dieses ist geknickt, und das deines Weibes? Sieh, das ist der Fluch, mit dem ich aus dem Leben scheide: Auch dein Weib soll und wird am gebrochenen Herzen sterben. Du sollst ihren Tod auf dem Gewissen haben. Die Welt wird mit Fingern auf dich weisen: Seht, das ist der Priester, der sich einen Gott dünkte und seine Kinder und sein Weib durch Wehe und Hochmuth in das Grab gebracht – –

Mir das? Wahnsinniger! So sprang der Vater auf mit einem Schrei der Angst und Wuth zugleich, der es zeigte, wie er im innersten Nerv seines Lebens tödtlich getroffen war. Mir das? Deine Mutter – weißt du es nicht? – sie liegt auf dem Todtenbette! Die war es, die ungerathene Tochter, die sie dahin geworfen. Und nun mir das? mir das? O herrliche Frucht meines Lebens, herrliches Paar! Soll ich die Frucht vernichten oder den Stamm für solche Frucht? Mord, Mord zuckt mir in den Fingern, Mord an dir oder an mir. Weh mir! Wie ist mir? Wahnsinn erfaßt mich. Alle Lebensfäden, die die Vernunft geknüpft, reißen in mir. Ich kann nicht mehr leben – fort zu dem Kreuze reißt es mich – ich bin das Opfer – Alle Grundsätze eines Lebens brechen zusammen – Hülfe, Hülfe! Todtengräber, zur Hülfe! Halte mich! Halte mich! Ihr nicht, ungerathene Kinder, ihr habt auch mich auf dem Gewissen – –

Ein schriller Wehschrei brachte ihn wieder zur Besinnung und er erblickte die Tochter mit Blut bedeckt in die Arme des Bruders sinken. All sein menschliches Empfinden, seine väterliche Liebe kehrten zurück. Er eilte hinzu und sah Martha, von einem Blutsturz befallen, der Besinnung beraubt, mit den Händen den Krampf des Herzens niederdrückend.

Man legte sie in den Lehnsessel nieder und nach einer Viertelstunde erwachte sie aus der Betäubung, aber sie war keines Wortes fähig. Johannes hatte, um ihr Erleichterung zu verschaffen, ihr Mieder geöffnet. Ihre erste Bewegung war jetzt, ihr Halstuch fest um den Busen zusammenzuziehen. Die ganze Nacht saß sie da, lautlos, mit geisterhaft weit geöffneten Augen den Vater und den Bruder betrachtend. Beide saßen stumm neben ihr; in der Pflege um das gebrochene Herz hatten die getrennten Gemüther sich vereint.

*

 


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