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Hausfriede.

Mochte der Pfarrer ein solches Familien-Schicksal aus seinen mystisch-orthodoxen Anschauungen heraus als eine Folge der Erbsünde oder als die Rache des zürnenden Gottes erklären, oder durch eine rationelle Auffassung auf die rein natürliche, physische und psychische Fortpflanzung des Temperamentes und des Naturell begründen – die Erblichkeit jenes schrankenlosen, revolutionären Dranges und das drohende Schicksal eines unnatürlichen Endes war ihm für sich und seine Kinder eine Thatsache, an der er nicht zweifeln, gegen die er nur ankämpfen könne. In der christlichen Demuth und der stoischen Apathie glaubte er für sich die Errettung gewonnen zu haben. Seinen Kindern, denen durch die neuen, jede Autorität untergrabenden, das schrankenlose Recht der Individualität predigenden Emamipationsideen der Zeit eine ganz besonders gefährliche Verführung drohte, diese Erlösung gleichfalls zu bewahren, war das Ziel seines Lebens, und alle seine Erziehung hatte zur Absicht, alles Suchen und Streben, alles Geltendmachen des Ich in ihnen zu ertödten, zu einem Leben, so arm an Leben als möglich, sie zu gewöhnen. Und gerade hier war es, wo er seinen Grundsätzen, seinem Ideal der Lebensweisheit untreu wurde. Die Sorge um das böse Blut störte seine philosophische Gemüthsruhe; Jähzorn durchbrach aus Angst vor dem drohenden Fatum seinen erkünstelten Gleichmuth.

So wie sein Sohn aus der vorgeschriebenen Bahn zu weichen begann, setzte er schroffen, unbedingten Zwang ihm entgegen; aber je gewaltsamer er wurde, um so rücksichtsloser setzte der Sohn ihm die Grundsätze geistiger Unabhängigkeit entgegen, und sie standen endlich einander gegenüber, wie zwei Kämpfer um Tod und Leben, die ringend sich in einander festgekrallt haben. Als Johannes in ein Unglück gestürzt war, das, durch des Vaters Strenge veranlaßt, das gefürchtete Schicksal an ihm eben zu erfüllen schien, da wollte Wendelin in das Bewußtsein seiner Pflichtschuldigkeit unerschüttert sich zurückziehen, aber er konnte doch einem bänglichen Gefühle, einer unheimlichen Gewissensunruhe nicht entgehen. Er mußte immer und immer wieder an den König der griechischen Tragödie denken, der das Schicksal auf sein Haupt beschwört, gerade dadurch, daß er durch einen Frevel es vermeiden will.

Als er nun auch Martha, bei der er stets weniger Gefahr besorgt hatte, verirrt und ihrem Verderben zuschreitend entdeckte, da sank er in Wehmuth zusammen. Hier glaubte er keinen Theil der Schuld fühlen zu müssen. Er war ja, wenn auch kalt, doch nie hart gegen sie gewesen; aber der Schmerz, daß es ja sein eigen Blut sei, was in ihr fehlen wolle, daß sie ja von dem Schicksal verführt sei, das er selbst auf sie vererbt und von ihrem Haupte abzuwenden habe, rief Alles, was er von Weichheit des Gemüthes und väterlicher Zärtlichkeit absichtlich in sich erstickt hatte, jetzt zu geängstigter Liebe wach. Er hoffte: Noch wird es gut, noch wird sie abzulenken sein vom Wege zum Untergange, noch wird er in Frieden seines Hauses sie gewöhnen, dem Glück der Ueberschwänglichkeit zu entsagen.

Die Bezeigungen seiner Zärtlichkeit waren keine lauten, keine übertriebenen; sie bestanden oft nur dann, daß er nicht zürnte. Aber gerade bei ihm, was sagte da ein freundlicher Blick, das Uebersehen eines Fehlers, die geringste Hülfeleistung bei einem häuslichen Geschäfte! Und Martha verstand es so gut, diese Symbole seiner geheimen Gesinnung auszulegen. Sie dankte ihm so recht von Herzen dafür, nicht mit Worten, sie lächelte nur; zwar lächelte sie schmerzvoll, aber stets so innig, so liebreich, daß mit jedem Blicke sein Herz von der Furcht vor dem drohenden Schicksal, das schon so nahe über ihm zu schweben schien, erleichtert aufathmete.

Ihre angeglühten Wangen, ihre leuchtenden Augen, ihre hastigen Bewegungen, das schienen ihm die Zeichen, daß der Pfeil der Leidenschaft nicht zu tief in ihr Herz gedrungen, daß ihre Natur noch stark und kräftig genug sei, der fremden Macht in ihr selbst siegreich sich entgegenzustemmen. Da mußte ein erschütternder Auftritt seine Besorgniß neuerdings aufs Furchtbarste in ihm rege machen.

Als Dorette ihr den Brief des unbekannten Freiherrn eingehändigt hatte, wird sie zur Mutter gerufen, ihr einen Himbeertrunk zu bereiten. Die Mutter sieht, wie ihr die Hand dabei zittert; sie hält es für Erregtheit des Mitleids und sagt ihr liebreiche, kaum verdiente Worte über ihre Pflege, ihre Theilnahme. Sie sagt: Du wirst mir treu bleiben, du bist mir noch der letzte Trost, den ich habe; Du wirst mir Frieden geben, wenn ich von hinnen scheide, du wirst wohl allein an meinem Sarge weinen – da wird Martha blaß, sie schreit auf, das Glas entfällt ihr, sie faßt nach dem Herzen und schlägt rücklings wie todt zur Erde nieder.

Der Vater, die Magd eilen auf den Ruf der Mutter zur Hülfe herbei; sie helfen ihr auf, sie erholt sich und lächelt beschämt, sie versichert, es sei nichts, sie sei recht thöricht, von einem augenblicklichen Schmerz sich so bewältigen zu lassen. Aber der Pfarrer sah ihr seitdem an, daß der Schimmer ihrer Wangen und ihrer Augen nur fliegende Hitze war; ein tiefes Leiden mußte an dem Kern ihres Wesens nagen.

Er versuchte jetzt, sie aufzurichten, zu erheitern und zu stärken, das Haus und das Leben mit ihm ihr lieb zu machen. Er fing jetzt selbst zu schwätzen an; aber so oft er es versuchte, selten kam ein Gespräch zu Stande. Er sprach über die Wirthschaft, über die Nachbaren, aber er sprach immer nur in dem alten hämischen Tone, und ihm zu widersprechen, hatte niemand den Muth. Er sprach auch über die Försterfamilie; er geißelte ihre Heiterkeit als sündige Weltlust, ihr gastliches Leben als unverantwortlichen Leichtsinn. Erst als er in den härtesten Ausdrücken das gesagt hatte und Martha schwieg, fühlte er, wie sie verletzt dadurch war.

Er ging mit ihr spazieren, führte sie zu schönen Aussichten, pries die herrliche Gottesschöpfung – sie hatte sie ja mit ganz andern Augen angesehen; jetzt war ihr Alles verödet. Vom Anblick des Stromes mußte sie still leidend sich abwenden; sie konnte es nicht ertragen, mit ihm all ihre Wünsche und Hoffnungen, ihre ganze Seele dahingleiten zu sehen.

Der Geburtstag der Mutter fiel in diese Zeit. Sonst hatte ihn der Pfarrer mit nichts Anderem als einem »guten Morgen« gefeiert. Diesmal stand eine Torte, mit Blumen bekränzt, auf dem Tische. Die Pfarrerin weinte aus Rührung darüber den ganzen Tag. Martha stahl sich aus ihrer Nähe hinweg, weil sie sich zu schwach fühlte, diese Empfindsamkeit zu ertragen.

Was Wendelin auch beginnen mochte, überall mußte er erfahren, daß sie alle nun einmal kein gemeinsames Leben hatten und daß alle seine Versuche, ein solches jetzt zu schaffen, nur das Bewußtsein seines Mangels und seiner Unausfüllbarkeit hervorrufen konnten. Die Armuth des Daseins, die er selbst erzielt hatte, fühlte er jetzt in tragischem Verhängniß. Wie er auch suchen mochte, sie gab ihm keine Nahrung für sein krankes Kind; er sah ihre Seele in Durst dahin schmachten, aber der Inhalt seines Familienlebens war einmal das Nichts, aus dem sich nichts erzeugen ließ.

Wie eine Topfblume war dieses Pfarr-Röschen unter seinen Händen aufgewachsen und hatte nun, mächtig aufgeschossen, das enge, künstlich abgeschlossene Gefäß, das seine Wurzeln einzwang, durch die Macht seines Wachsthums gesprengt. Jetzt fühlte er, er mußte es verpflanzen in den Boden des allgemeinen Lebens, aber – die Blumen, die man in der Blüthe verpflanzt, wie leicht gehen sie ein! Auch sein Röschen wollte nicht mehr grünen, es schwand mehr und mehr dahin, und wenn er sie nicht bald konnte aufleben sehen, mußte er fürchten, ehe sie Wurzeln gefaßt, war sie umgekommen.

In der Angst seines Herzens wurde er sich selbst untreu; er suchte jovial und humoristisch zu sein. Aber es ist dem Menschen nur das Dasein von Natur gegeben, alles Andere muß er aus dem Leben lernen, auch den Scherz. Wendelin verstand es so ganz und gar nicht, liebenswürdig zu sein. Obgleich er studirt hatte, fielen seine Scherze viel weniger zart aus, als die des bildungslosen alten Försters, und unterschieden sich alle von diesen dadurch, daß sie erzwungen erschienen und niemand darüber lachen konnte. Anfangs verstanden ihn weder Tochter noch Mutter, denn sie hatten keine Ahnung, daß er scherzen wollte. Als sie endlich darüber nicht mehr in Zweifel sein und doch nicht lachen konnten, da geriethen sie in peinliche Verlegenheit, da sie seinen Mienen ansahen, daß sie lachen sollten. Als endlich ihm zu Liebe das Kind sich zur Heiterkeit zwang, machte er den größten Fehlgriff, er scherzte über das Heirathen, über ihren Bräutigam Andreas. Da war sie plötzlich ernst, zupfte an ihrem Kragenbande und wechselte die Farbe. Als der Alte, noch immer jovial, fortfuhr: Ist dir's nicht recht, daß ich damit spaße, nun gut, so wollen wir im Ernste davon sprechen – da legte sie die Hand auf das Herz und sagte: Vater, verlange von mir, was du willst; entsagen will ich Allem – nur nicht das! Die Thränen standen ihr in den Augen; die Anstrengung ihres Seelenkampfes malte sich in Mienen, Haltung, Ton. Der Vater mußte schweigen.

Der Pfarrer wurde selbst zärtlich. Sonntags Morgens vor der Kirche ging er in den Garten; er kam mit einem Blumensträuschen wieder. Er selbst, der die Blumen nicht leiden wollte und ihr den Schmuck damit verboten, reichte ihr den Strauß. Es sind die letzten Rosen aus unserem Garten, sagte er dazu. Es waren weitentfaltete, dem Entblättern nahe Blüthen, mit den Thauperlen des Morgens geschmückt. Als Martha sie sah, vergoß sie Thränen; sie mochte daran denken, daß sie dieses Jahr keine einzige Rose gepflückt hatte. Als sie noch Blumen liebte, um Nachts für den Theuren sich zu schmücken, da trugen die Rosen erst Knospen, und nun hieß es: die letzten! Sie steckte den Strauß nicht an und brachte statt der Blumen nur Thränen zur Kirche.

Die Zeichen ihrer Unruhe wurden häufiger und drohender. Die letzten Rosen verblühten auch auf ihren Wangen; sie war der vorübergehenden Erregung nicht mehr fähig; dumpf lebte sie vor sich hin. Die Erregungslosigkeit, die Abwesenheit jeder Empfindung, wie sie der Vater als das Ziel der Sittlichkeit und Glückseligkeit aufgestellt hatte, die hatte sie in erschreckender Weise jetzt erreicht.

Als sie eines Morgens später als gewohnt von der Kammer kam, stand in ihren Zügen, statt des rührend schmerzlichen Lächelns, fahle, finstere Verzweiflung. Wendelin redete sie an; sie fuhr zusammen. Er frug, wie sie geschlafen; sie antwortete, das Wetter würde wohl nicht besser werden. Als sie sich unbeobachtet glaubte, stützte sie sich ermattet auf einen Stuhl und preßte die Hände gegen die Stirn. Der Vater rief sie ermahnend mit sanftem Vorwurf: Martha, Martha! – Gott im Himmel, schrie sie auf, mit heftigem Schreck erwachend, Verzeihung, Verzeihung! – O Gott, sammelte sie sich, wo bin ich? Was ist mir?

Keinen sorglosen Blick konnte nun der Vater auf seine Tochter werfen; war sie einen Augenblick heiterer, so war es die Erinnerung ihres Glückes, sah sie traurig, so war es der Gedanke seines Verlustes, was ihre Seele bewegte. Rathlos sann er hin und her, was er an ihr thun solle; keinen Ausweg sah er offen. Mürrisch trat er ihr dann wieder entgegen und mehrte ihren Kummer. Auch mit der Strenge versuchte er es noch einmal. Ohne ihr zu helfen, las er verschlossenen Trotz dann neben der Verzweiflung in ihren Mienen. Wie sollte er dieses Leben behandeln, wie dieses Herz heilen? Wissenschaft und Kunst reichen so oft nicht aus, das Leben des Körpers zu leiten, den Stoff und die Form zu beherrschen, die vor dem sinnlichen Auge daliegen und ewig gleichen von der Natur vorgeschriebenen Gesetzen gehorchen. Wo erst soll man Verständniß und Rath holen für ein Seelenleben, das keinem Auge erschlossen und in jedem Augenblicke ein anderes ist, das keiner Nothwendigkeit der Natur folgt, denn der freie Wille kann jeder Zeit ihrer Herr werden, und das doch nicht im freien Willen immer frei ist, denn wie oft triumphirt die Sinnlichkeit über seine Herrschaft! Wenn der Geist wach ist, vermag er den Trieb zu bezwingen; aber wenn er, von dem Siege ermattet, in Nutze versunken, dann zuckt der Muskel, den wir Herz nennen, und weiß den schlafenden Gegner zu überlisten. Ist es Freiheit oder Zwang, Liebe oder Strenge, Beförderung oder Beschränkung, was die dämonische Gewalt der Leidenschaft da vertreiben kann, wo sie ihre verheerende Wirkung eingenistet?

Unablässig spürte Wendelin ihr Gebahren und Befinden zu erforschen. Des Nachts schlich er an ihr Lager, des Tags belauschte er sie im Spiegel oder durch Thüren und Fenster. Er hatte ihr Freiheit in ihrer Lebensweise gestattet und da sie nicht mehr in seine Gesellschaft gezwungen war, so mußte er wahrnehmen, wie sehr sie dieselbe floh. Aber auch sie konnte keines Augenblickes der Ruhe und des Alleinseins sich freuen, denn stets mußte sie fürchten, vom Vater überrascht zu werden.

Eines Morgens in der Dämmerung schlich er zu ihrer Kammer hinauf. Er fand sie vor dem Fenster knien, unentkleidet, vertrocknete Blumen, einen Myrthenkranz vor sich ausgebreitet, das Gesicht in ein weißes Tuch gehüllt, das nicht zu den Stücken seiner Wirthschaft gehörte.

Wendelin mußte um jeden Preis wissen, was im Busen seiner Tochter vorging. Er selbst vermochte nicht, offen zu sein, aus dem Herzen jemandem in das Herz zu reden. Er that etwas Unerhörtes; er ging mit Martha in die Försterfamilie. Sie sollte unter Leuten sich erheitern, aber sie wandte dort kein Auge von ihm; sie war still, fremd, ängstlich. Es mußte sie drücken, den Vater gleichsam als Krankenpfleger bei sich zu haben, von Allen als Patientin angesehen zu werden.

Wendelins Besuch im Försterhause hatte die Absicht, Lenetten über seine Tochter zu erforschen. Er nahm Gelegenheit, sie allein in der Küche zu sprechen, und bat sie, Martha ins Herz zu reden, daß sie über ihren Kummer beichte, und ihr Muth zuzusprechen, ihrem Vater sich anzuvertrauen.

Lenette zog Martha in den Garten, mit ihr von den Himbeersträuchern zu naschen. Ohne Umschweife bat sie die Freundin, ihr zu gestehen, was sie leide, was sie so kümmere. Ich liebe ihn, sagte Martha, in Thränen ausbrechend; und wenn ich es auch nicht will, ich muß ihn lieben. Mein Vater verlangt, ich soll das Denken an ihn ertödten, aber wenn ich am Tage stark genug war, im Traume – o kann ich denn dafür – fällt meine Seele willenlos der unglückseligen Neigung anheim. – O Gott, auch der Schlaf hat für mich keine Ruhe mehr. Des Nachts kann ich nicht ruhen, des Tags kaum wachen, mein ganzes Leben ist ein Traum – und was für ein Traum! Lenette, die Bibel sagt, daß die Seele frei ist; aber es ist nicht ganz wahr, im Traume ist sie nicht frei. Gott im Himmel, nimm sie von mir, diese Träume voll Jammer und Elend! Es ist mir, als hätten sie sich so eingenistet in meiner Seele, daß sie nur enden könnten – mit meinem Leben!

Schüchtern lehnte sie sich, die Verzweiflung in den Zügen, an den Busen der blühenden Freundin. Wie um einen Geliebten schlang Lenette ihren Arm um sie und sagte, Besorgniß in den Mienen, Vorwurf im Tone: Martha, wie sprichst du, Kind, um des Himmels willen, du denkst doch nicht –

Ich denke nicht an ein böses Ende. Nein, ich darf ja noch nicht sterben; so sprach sie gefaßter. Das ist ja mein größter Kummer, daß ich nicht weiß, ob ich nicht schuld bin, ob ich ihn nicht unglücklicher gemacht habe, als ich selbst bin. O, warum mußte ich auch so schwach sein – o, warum ging er aber auch so fort! Nur ein einziges Wort! – damit brach sie in heiße Thränen aus, denn sie dachte, daß ein einziges Wort hingereicht hätte, um die Verständigung mit dem Geliebten, um sein um ihr Glück herzustellen.

Lenette küßte sie lebhaft zärtlich auf die feuchten Augen und sprach voll ängstlicher Theilnahme: Ach, du armes, armes Kind! So mußt du leiden! O, fasse dich doch, du mußt es ja können! Es ist recht, daß du keinen Anderen lieben willst dein Leben lang. Aber es ist nicht recht, daß du so dem Schmerze dich hingiebst. Sieh, wir Alle haben unsere Herzenslast zu tragen. Wenn du nur Jedem in die Seele schauen könntest! Auch ich habe meinen Gram, auch ich bin unglücklich, aber ich bleibe meiner ersten Liebe treu – und ohne alle, alle Hoffnung. Ich kann nicht glauben, daß er schlecht ist, und – nicht wahr, ich habe recht daran?

Auch ihr traten ein paar Thränen in die Augen; aber Martha hörte nicht auf sie, ihr eigener Schmerz nahm sie so ganz ein, daß sie keinen Raum für fremden hatte. Lenette machte diesem kranken Herzen keinen Vorwurf darüber. Um dem Schmerze sie zu entreißen, führte sie die Freundin in die Familie zurück. Dem Pfarrer aber entdeckte sie nichts von den mädchenhaften Geheimnissen; sie sagte nur: Martha wird und kann ihr Herz nicht losreißen von dem Geliebten. Dagegen bat sie ihren Vater, nach dem jungen Freiherrn nachzuforschen und ihm Martha's Leid zu melden. Mit zweifelndem Kopfschütteln versprach er's ihr.

Wendelin versuchte es auch mit der Religion. Er gab ihr kirchliche Lieder und das Neue Testament zu lesen, aber er mußte erschrecken, mit welchem Eifer sie beides verschlang. Ueber der Passionsgeschichte fand er sie in Thränen gebadet und doch las sie diese Kapitel immer und immer wieder, bis eine himmlische Ruhe über sie zu kommen schien, in der der Pfarrer ihre endliche Heilung erblickte.

Aber eines Nachts, als der Kummer ihn auf seinem Lager nicht schlafen ließ, hörte er über. sich in Martha's Kammer ein Geräusch – er horchte, es schlich sich etwas die Treppe herunter. Er stand auf, trat in das Wohnzimmer und gleich darauf öffnete sich die andere Thüre und seine Tochter in ihrer Nachtkleidung trat herein, einen verwelkten Myrthenkranz auf dem Haupte. Er verhielt sich still, um sich zu überzeugen, wessen sie sich wieder schuldig mache. Langsam, vorsichtig tappte sie durch das Zimmer – er trat ihr entgegen und sah, daß ihre Augen geschlossen waren. Sie war unzurechnungsfähig, denn sie war von jenem Zustande wieder befallen, der sie in den Jahren ihrer späten Kindheit oft behaftete, der mehr war, als Traum und doch nicht die mysteriösen Symptome des Somnambulismus in sich hatte; es war nur jene Lebhaftigkeit des Traumes, die einen Jeden bisweilen reden und die Arme bewegen läßt, so weit gesteigert, daß sie dabei das Lager verließ und durch das Haus tastend sich den Weg suchte.

Der Pfarrer wußte, wie schädlich es war, sie plötzlich mit einem Schreck aus diesem Zustande zu wecken. Er ging an sie heran und umfaßte sie vorsichtig mit seinem Arme, indem er ihr leise zusprach: Martha, Martha!

Ha, du, Hugo? So lallte sie im Traume mit den Anzeichen der Angst. Nein, noch nicht! Laß mich, laß mich – ich will noch leben!

Das Schicksal ihres Vatersbruders mußte diesen Schreckenstraum vor ihre Seele gerufen haben. Ruhig, ruhig, mein Kind, ich bin es ja, besänftigte der Vater sie.

Ach – du? sagte sie, mit süßem Lächeln, du? Endlich, endlich! und, mit einem tiefen Seufzer sanft sich an ihn lehnend, sank sie in tiefen Schlaf. Ohne sie zu wecken, brachte er sie in ihr Zimmer zurück. Halb trug er sie, halb führte er sie, die dann und wann ein unverständliches, zärtliches Wort lallte. Auf der Treppe verlor sie ihr Busentuch – der Pfarrer ließ es liegen – mit einem Seufzer sank sie auf ihr Bett zurück und war entschlafen. Am anderen Morgen in aller Frühe stürzte sie mit aufgelösten Haaren die Treppe hinab in das Zimmer, den Myrthenkranz und das Busentuch in der Hand. Mit Geberden des Entsetzens und der Verzweiflung frug sie den Vater: War das Haus verschlossen die Nacht? Als er frug, was sie so bestürzt deshalb machte, wurde sie blutroth im Angesichte, verlegen zupfte sie an ihrem Kleide und entschuldigte sich: Ich habe von Dieben geträumt und ich dachte, es wäre Alles wahr. Gott sei Dank, es war nur Traum.

Die Sorge des Pfarrers war aufs Höchste gestiegen und neben ihr der zärtlichste Schmerz um dieses hinwelkende Mädchen aufgewachsen. Die reiche Phantasie, die Fähigkeit innersten Entzückens, die er durch die Askese seiner Lebensart hatte unterdrücken wollen, war, bei dem Anblick dieses süßesten Jugendreizes in helle Flammen wieder aufgeschlagen. Alle Empfindung, deren er für Schönheit fähig war, ging jetzt in der väterlichen Liebe auf. Er war verwirrt, gerührt, bis zur Verzweiflung beängstigt; er hätte sein Leben geben mögen für dieses Kind. Er war am Ende mit seiner Kunst und Wissenschaft, er war verzweifelt am Systeme seiner Erziehung; er wollte seine Grundsätze aufgeben, Alles zugestehen, Alles versuchen, wenn nur sein Kind auch gerettet würde!

Nichts konnte ihm bei dieser Stimmung peinlicher sein, als der Besuch des Andreas. Es war schlechtes Wetter, man saß in der Dämmerung zusammen; die Mutter schlief im Sorgenstuhl; Wendelin wollte eben mit seiner Tochter über ihr Verhältniß zu Werner reden, was er noch nicht gethan – als der Vetter eintrat.

Ich lad' mich zu Gaste ein, für heut und morgen, sagte er beim Gruße. Drüben auf dem Amt giebt es Ferien, große Feierlichkeit, glückliche Tage. Weiß ich doch nicht, was ich denken soll, als mit einem Mal eine Kutsche plaine Carrière, Viere lang gespannt, in den Hof hineinfährt. Die Herrschaft ist's, das gnädige Fräulein, und wie sie immer so ihre rapiden Einfälle hat, wenn sie ankommt, so heißt's heute: Hochzeit, schon morgen Hochzeit!

Alles war erstaunt. Wen heirathet sie? hieß es. Den Freiherrn von Bernthal, antwortete Andreas unbefangen. Bernthal? ruft Martha, die bisher theilnahmlos zugehört.

Ich habe ihn nicht gesehen – es soll eine alte Flamme von ihr sein, hört' ich – ob er selbst alt ist oder ihre Flamme, das weiß ich nicht. Wird gewiß wieder eine sonderbare Idee von ihr sein. – Ja, ja, die Ideen, die Ideen! Es ist auch gleichgültig; lange wird's doch nicht dabei bleiben!

Andreas sprach weiter. Martha war still. Bald entfernte sie sich. Sie kam nicht wieder. Das Gastbett für Andreas stand bereits man legte sich zur Ruhe, ohne sie gesehen zu haben. Wendelin ging zu seiner Tochter in die Kammer. Er fand sie vor ihrem Bette kniend, in Thränen gebadet. Er wollte mit ihr beruhigend reden, sie bat ihn: Laß mich, lieber Vater, nur heute laß mich noch. Es wird gut werden – so oder so. Nur laß mich, du lieber, guter, guter Vater!

Er ging. Des Nachts wachte er wieder über einem Geräusche auf. Im Wohnzimmer fand er das Fenster offen. In ihrer Kammer war sie auch nicht. War Martha entflohen zum Kreuze am Strom? Hätte das Verhängniß sich erfüllt? Er machte Lärm; rief die Magd, den Todtengräber, seinen Knecht; Alles mußte nach ihr suchen, im Garten, im Kirchhofe, am Strome – man fand sie nicht – zu eigener Beruhigung aber fand man die Hinterpforte des Kirchhofes geöffnet – sie war entflohen, wenigstens nicht in die Arme des Todes – vielleicht in die der Schande?

In Martha's Zimmer fand man einen Zettel. Er lautete:

Meine einzig theuren Eltern,

ich kränke euch bis auf den Tod; ich weiß es und doch kann ich nicht anders. Auch wenn ich bleibe, machte ich bald euch einen Schmerz bis zum Tode. Hier bin ich meinem Schicksal verfallen, dem Schicksal, das den Bruder meines Vaters traf. Schon ist er mir erschienen – er winkte mir – ich fliehe ihn. Ich will, ich muß noch leben können. Vielleicht ist auch noch Rettung da – die einzige, die es geben kann, für euch und für mich will ich sie suchen. Noch immer und auch für ewig

eure Martha.

*

 


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