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Das war nun ein Leben, von keinem Sterblichen geahnt, von keinem gestört, vollauf schwelgend in Dem, was das gemeine Leben nicht bedarf, im Mondeslicht sich badend, mit den Nebeln sich verkleidend, Versteck spielend hinter dem Waldesschatten, im Blumenduft sich berauschend, kosend über Gräbern – ein wirkliches Elfenleben, aufjubelnd mit der Nachtigall, scheidend mit der Lerche, keine Spur hinterlassend als gebeugte Grashalme, die der Morgen wieder aufrichtet, zerpflückte Blumen, die ihren Duft erschöpft, und gewundene Kränze, die einen Leichenstein zieren, die Trauernden des andern Tags zu überraschen!
Martha war die Blumenfee, die ihren ersten Frühling erlebt, die noch nie etwas vom Keimen und Duften und Träumen des Blüthenlebens gewußt hat und nun, da der Lenz mit dieser Offenbarung ihrer selbst sie erröthend überrascht hat, ihr ganzes, ganzes Leben ihm entgegenpulset, als wolle sie in diesem einen Frühling es erschöpfen, als habe sie keinen zweiten zu erwarten! –
Werner aber war nicht der Schmetterling, der, selbst erst vom Lenz erweckt, leichtsinnig über die schwesterlichen Blumen dahinflattert; auch nicht der Knabe, der im Uebermuthe die Blumen als ein Spielwerk pflückt und zerpflückt – er war der gereifte, verständig Liebende, in seiner Entzückung der aufmerksamste Bewunderer, der mit bewußtem Selbstvergessen in dem Duft sich berauschte, jede Knospe mit seinem Athem zur Blüthe pflegte, jedes Blüthchen, jedes Blättchen wie Gold und Perlen schätzte und tief im Herzen bewahrte.
Als habe sie bisher nur aus dem Traume gesprochen, durch unwillkürliche Laute, ein Lachen, einen Seufzer sich vernehmlich machend, und als wäre sie jetzt erst zum vollen Bewußtsein erwacht – Martha fing jetzt an zu reden, keine ausgesponnene Reden, kaum vollendete Sätze, oft nur Worte, doch aber welche Worte! Jedes Wort eine Perle, aus dem tiefen Meere ihres Empfindens heimlich und eigens für ihn hervorgeholt, eine Blüthe, aus ihrer geheimsten Herzenstiefe für ihn emporgeschossen, für ihn eigens entfaltet. Er sah nur diese Blüthen, aber er ahnte, wie tief sie in ihrem Wesen wurzelten, erstaunte, wie wundersam reich dieser blüthenschaffende Drang der Liebe war. An der Kirchhofspforte empfing sie ihn meist mit Scherzen. Wenn sie diese Neckereien auch begann, weil sie wußte, daß er sie so am reizendsten fand, und weil sie darin zeigte, was sie ihm war und was sie über ihn vermochte, so war doch auch wieder ihre Flucht, ihr, Sträuben bei jedem neuen Wiedersehen nicht bloße Koketterie, sondern immer noch das mädchenhafte Bangen, das während der Trennung im Laufe des Tages sich von neuem einstellte, stets von neuem bemächtigt sein wollte. Denn nach den ersten Küssen sagte sie wohl: Haben wir uns denn nie früher gesehn? – Daß ich nicht wüßte, wenn du mich für Den nimmst, der ich bin, sagte er scherzend. – Vielleicht in dieser Welt nicht, antwortete sie und sah ihn mit ihren großen Augen, die seit dem Umgang mit ihm stets geisterhafter wurden, so an, daß er, so fern ihm solche Gedanken auch waren, mit ihr in das Sinnen einer andern Welt sich verlieren konnte. Besonders dann, wenn sie ihm von ihren Ahnungen, ihren Träumen, all ihrem Aberglauben erzählte, der sich an einen dem Nachtwandeln ähnlichen Zustand knüpfte, in dem sie bis vor wenig Jahren schlafend oft von ihrem Lager durch das Haus getrieben wurde, angstvoll Etwas suchend, von dem sie erweckt nicht mehr wußte, was es war. Diese Nacht, erzählte sie einmal, sei sie auch wieder erwacht, im Bette sitzend, die Arme von sich streckend, aber – mit diesem Worte brach sie ab; sie wollte ihm nicht sagen, daß sie diesmal nicht die Angst empfunden, wie sonst, denn sie habe gewußt, wonach sie lange.
Es war das jene große, heilige, weihevolle Schwärmerei der Liebe, der diese Gegenwart, welche alle Vergangenheit und Zukunft aufwiegt, in der das ganze Leben zu einem einigen großen Glücke zusammenströmt, zu reich, zu vollwichtig, zu schrankenlos für dieses Dasein, in dem Alles Bruchstück ist, erscheint, sodaß sie in der Verknüpfung mit einer andern Welt die Erklärung und auch den Stützpunkt dafür sucht.
Jetzt fange ich erst an zu leben! sagte Martha einmal. Oder sie frug ihn: Als du damals zum Strom hinabgingst und mich zum ersten Male sahst, ahntest du nicht, daß du mich treffen würdest? Wieder einmal, seinen Hals umschlingend, flüsterte sie ihm zu: Glaub' mir, ich wäre gestorben, wenn du nicht gekommen wärest.
Als sie eines Abends sich wiedertrafen, sagte sie traurig: Wie sich die Menschen doch quälen; wenn sie nur wüßten, wie schön es ist, glücklich zu sein! Die Welt, antwortete er, ist der Spiegel des Menschen. Wie wir sind, so erscheint uns das Leben; es gehört nur unser eigner Wille dazu, glücklich zu sein. Und wir wollen es sein, jauchzte sie auf; wir wollen nun in Ewigkeit so fortleben! Nach einer Pause sinnenden Nachdenkens erwiderte er: Es giebt nur keine Ewigkeit im Leben, es giebt nur Stunden; stundenweise müssen wir das Glück uns erwerben. Wir haben glückliche Stunden gehabt, und daß wir sie noch ferner und noch oft haben werden, dafür zu sorgen, ist meine Pflicht; sie zu genießen, wie verdienst du es! Ach, ich bin schon so vollkommen glücklich, dich zu lieben, flüsterte sie. Und doch giebt es noch ein großer Glück, rief er aus, als so zu lieben – so geliebt zu werden!
Niemals verloren sie sich dabei in weichliche Empfindsamkeit. Werner konnte Martha nur lieben, weil er sie bei aller Zartheit nie weinerlich gefunden hatte. Nichts hielt er seinem Geiste aus Grundsatz mit grausamerer Rücksichtslosigkeit fern, als Jammer und Misere. Auch in der Zärtlichkeit war er so echt männlich. Wo die Geliebte überschwänglich wurde, da widersprach er nicht, denn er hatte seine Freude an dem Schwunge ihrer Phantasie; aber er wußte diese Stimmung zu begränzen, ihr einen Hintergrund zu geben und sie in seine Jovialität hinüberzuleiten. Er sagte ihr Schmeicheleien; er verglich sie zu ihrem Vortheil mit den Damen der großen Welt; er wurde bitter über die unausgesetzte Diplomatie und Perfidie, die das Leben der höheren Stände und aller Kreise des öffentlichen Lebens untergrabe; harte Worte sprach er über die allgemeine Lüge, die auch die Liebe verfälsche, und dann verfiel er in kurzes trübes Sinnen. Martha wollte wissen, was ihm fehle; er traure gewiß über eine treulose Geliebte. Nein, nein, rief er dann aus, ich habe nie geliebt; du bist meine erste, meine einzige Liebe. Die Einzige, die mich wahrhaft liebt, die ich wahrhaft liebe, das bist du, meine Loreley, meine süße Rheinnixe, holdester Kobold, du neckische Blumenfee!
Martha wollte in Schelmerei nicht glauben, was er sagte; sie sah mit schalkhaftem Mistrauen ihm ins Gesicht und, ohne ein Wort zu sagen, schüttelte sie mit dem Kopfe. Er wollte sie für ihren Mangel an Zutrauen mit einem Kusse strafen; da sprang sie auf und, mit jubelnder Schadenfreude ihn lockend, eilte sie davon, er ihr nach und so flohen sie über die Gräber hinweg, aus dem Kirchhofe hinaus, und dann, wenn er sie gefangen hatte, wandelten sie unten am Strome entlang, oder Martha begleitete ihn in den Wald nach dem Forsthause zu, und er sie wieder zurück, und so wandelten sie, Abschied nehmend, Stunden lang hin und her, bis mit dem Morgenroth Lerchensang und Hahnenschrei sie aus gemeinsamer Lust zu einsamer Ruhe rief.
Dann nahmen sie nochmals an der Kirchhofpforte Abschied. Werner brach von dem blühenden Fliederstrauche daneben noch einen Zweig ab; Martha kühlte ihr glühendes Antlitz in den bethauten Blüthen und sprach mit seelenvollem, verständig gemeintem Tone: Noch nie war doch der Frühling so schön wie jetzt! Werner raubte ihr dann den Strauß, wühlte wollüstig sein Antlitz hinein, küßte den Thau hinweg und barg den Zweig an seinem Busen. Martha schmiegte sich an ihn und an die Blumen, küßte die Blumen und küßte ihn und rief voll Entzücken aus: O, wie die Blumen blühen! – Und wir sind so glücklich! – Gott, Gott, du großer, lieber, guter Gott!
Er legte die Hand auf ihr Haupt; sie betete still an seiner Brust. Er fühlte, wie ihr Busen hoch und höher ging. Sanft machte sie sich los von ihm; wie beängstigt suchte sie mit der Hand die Aufwallung niederzudrücken und dann flüsterte sie seufzend: Weißt du, früher war ich nicht glücklich, aber auch nicht unglücklich; du hast mir das Glück gebracht, jetzt konnte ich erst unglücklich werden.
Aber sie glaubte das selbst nicht. Fröhlich schritt sie zwischen den Grabesbeeten in das Haus zurück. Als Kind hatte sie die Melancholie dieses Ortes tief eingeathmet. Eine Sehnsucht nach den Wurzeln dieser Blumen hatte sich in ihr Herz eingenistet und einst, als sie lange auf dem Kirchhofe gesessen, stürzte sie weinend in das Haus, suchte angstvoll die Mutter und, erst als sie an deren Halse hing, erholte sie sich; sie hatte in ihren einsam trüben Phantasien sich so weit verirrt, daß sie glaubte, sie hätte auf dem Grabe der Mutter geweint. Jetzt aber, wie wohlgemuth athmete sie den Duft der Grabesblumen ein, wie wurde sie von hochgeschwellter Brust getragen, als berühre sie den Boden nicht! In der That war auch ihre Liebe, eben durch die romantische Heimlichkeit und Abgeschiedenheit dieser Zusammenkünfte, so weit über alle Berührung mit der Alltäglichkeit, über jedes Verhältniß zu dem wirklichen Leben und den irdischen Bedürfnissen hinausgehoben, daß sie hoch über alle dem zu schweben glauben mußte. Sie hatte einmal ein Luftschiff aufsteigen sehen; sie glaubte jetzt die Wonne einer solchen Wolkenfahrt zu empfinden – aber auch ihres Schwindels konnte sie oft sich nicht erwehren.
Wenn sie des Morgens erwachte vom Rufe des Vaters, der so herb durch ihre Träume hindurchtönte, dann, die helle Sonne beleuchtete so scharf diese kahlen Wände, hielt sie sich wohl einmal um das andere die Hand vor die Augen, um die dämmernden Träume zurückzurufen, aber sie konnte nicht nur in sich leben, sie mußte auf den wiederholten Ruf hören. Wie sehr sie sich auch einzureden suchte, der helle Tag sei nur Traum, das Kosen mit dem Geliebten, das Elfenleben über den Gräbern, das sei die Wirklichkeit – sie mußte die schmale, steile Treppe in das Wohnzimmer, um das Frühstück zu besorgen, hinabsteigen und sich zusammennehmen, um dem Vater durch ihr nachdenkliches oder trauriges Wesen nichts von ihrem Traumleben zu verrathen.
Wenn sie nun wieder in ihrer Familie lebte und die Geschäfte des Hauses, die sie sonst mit sorgloser Sicherheit geordnet hatte, verrichtete, da war es ihr, als sei sie plötzlich unter ganz fremde Menschen gekommen. Alles war ihr jetzt neu, denn sie sah es mit andern Blicken an. Die Augen gingen ihr auf; ihr Selbstbewußtsein war erwacht; sie begann zu beobachten, zu beurtheilen; was sie zu lieben geglaubt, das wurde ihr unerträglich – was sie mit Andern scheel betrachtet, das mußte sie jetzt lieben.
Es war nicht der Vergleich mit jenem Wonneleben, der ihr diese Existenz verleidete – sie wollte gern arbeiten; hätte sie als Lohn jenes Glück erwerben können, sie hätte in der Arbeit selbst schon alle Wonne gefunden. Sie verglich, da sie einmal den Geschmack vom Glück und den Durst darnach kennen gelernt – sie verglich ihr Leben mit dem Leben im Försterhause. Früher hatte sie geglaubt, es müsse Alles so sein, wie es im elterlichen Hause herging, entweder, weil es Gott so eingerichtet, oder weil es so vollkommen war; aber jetzt empfand sie den Mangel, wenn die Arbeit so ohne Frohsinn, die Ruhe so ohne Liebesbezeigung war. Ihr schauderte vor dieser Ehrwürdigkeit, die jede andere Lebensregung erstickte. Sie fühlte bis in jeden kleinsten Zug hinab die Kälte und Leere dieser Gewöhnung. Wie beneidete sie ihre Freundin Lenette um ihre Heiterkeit bei der Arbeit; stets gab es mit der Magd und dem Forstknecht Scherz und Kurzweil; mit ihrer mürrischen Käthe konnte sie kein Wort den ganzen Tag sprechen – oder hatte sie gar nicht einmal die Gabe, ihr Worte zu entlocken? Wenn die Suppe auch kräftiger und die Schüsseln gewählter waren, als im dürftigen Försterleben, sie mundeten ihr hier nicht ohne ein Wort der Freundschaft und Heiterkeit, ohne jegliche Unterhaltung, bei dem ewig starren und erstarrenden Ernste. Auch die Mutter, die nach dem erschütternden Vorfall mit dem ungerathenen Sohne mehr schwach als krank im Sorgenstuhle lag, auch deren Liebe konnte ihr nicht Trost noch Freude gewähren. Die Mutter konnte sich jetzt in Klagen um den Sohn nicht erschöpfen. So lange er im Hause war, hatte sie ihm nicht mehr Zärtlichkeit erwiesen, als sie alle sich erwiesen; außer ihrer mütterlichen Sorgfalt für den nothwendigsten Lebensbedarf war er ihr so gut wie gleichgültig gewesen. Jetzt nannte sie ihn ihr liebstes Kind, den einzigen Menschen, der ihr so recht gut gewesen wäre; nun sie ihn nicht mehr habe, würde es mit ihrem Leben wohl zu Ende gehen. Ein unbezwingliches Gefühl des Jammers ergriff Martha bei dem Anblick dieser Liebe, die so ganz Liebe ist, daß sie in sich keine Lebenskraft noch Lust trägt, für einen Geliebten etwas zu thun und nur in sich zusammenbrechen kann, wo sie ein Herz verliert, dessen Besitz sie nicht zu schätzen wüßte. Und eins nur, nur ein Herz? mußte Martha fragen; sie müßte sich antworten, daß ja auch sie ein Herz sei, das der Mutter entrissen werden solle. Aber sie wollte um keinen Preis in dieselbe jammernde Lebensunfähigkeit zurücksinken, die ihr drohte, wenn sie an die Schmerzen dachte, die sie ihr machen würde. Und so konnte sie kaum der Mutter ins Angesicht sehen, so sehr sie in Liebe ihr gehörte, sie mußte sie fliehen. Als sie der Mutter einen kühlen Trank mischte, reichte ihr diese die Hand und sagte aus ihrem Gram und ihrer Mattigkeit heraus: Du wirst mein Trost bleiben, du gutes, liebes Kind! – da kniete sie nicht zu ihr nieder, küßte ihr nicht die Hand, sondern setzte den Trank hin und ging unter dem Vorwand einer nöthigen Verrichtung aus dem Zimmer und überließ der Magd, die Mutter zu pflegen. Im Geheimen aber schaffte sie in der Wirthschaft, was zu schaffen war; sie wollte vorher dadurch Abbitte thun für den Ungehorsam und Schmerz der Trennung, den sie den Ihrigen noch anthun sollte.
Wenn der Anblick der Mutter ihr Unruhe einflößte vor dem Bruche, der des Vaters stellte ihr seine Unvermeidlichkeit wieder vor die Augen. Durch ihr überwachtes Aussehen, die blassere Gesichtsfarbe und die feuchtglänzenden Augen hatte sie seine Aufmerksamkeit erregt und so hing stets sein strenger, sorgenvoller Blick an ihr. Aber das ganze Leben, das aus diesem sprach, diese Ehrwürdigkeit und Aengstlichkeit, die ihr bisheriges Dasein beherrscht hatten, empfand sie als den feindseligen Gegensatz ihres jetzigen Glückes, als den Druck, von dem sie sich losmachen mußte, um diesem ganz zu gehören. Sie hatte sonst geglaubt, sie liebe ihren Vater; jetzt fühlte sie nur Abneigung, nur Flucht vor ihm im Herzen.
Sie begriff jetzt ihren Bruder; den sie früher verachtet, verwünscht hatte als den Störer des Hausfriedens, zu dem fühlte sie sich hingezogen; sie fühlte, daß sie, wie er, die Härte des Vaters verdiene, sie wollte, seine Mitschuldige, mit ihm verstoßen sein. Selbst in der Kirche hörte sie den Vater ganz anders an; seine Predigt gab ihr keine Erbauung; sie kannte ja eine ganz andere heilige Begeisterung; und wenn er das Wort. Liebe sprach, wie fehlte demselben der gewaltige Inhalt, den sie kannte! Sie hätte auf die Kanzel treten mögen und ihr übervolles Herz ausschütten auf die Gemeinde, aber nicht in Wort, nur in unendlichen, unaussprechlichen Gefühlen, die sie wie Flammen hätte ergießen mögen.
Das war am Sonntage über acht Tage nach der Katastrophe mit ihrem Bruder. Noch acht Tage in jenem Liebesleben verbracht und wie ganz anders ging sie wieder in die Kirche! Sie hatte sich doch getäuscht, wenn sie glaubte, das Luftschiff, das ihre Seele trage, sei so ganz frei, so ganz losgelöst von den Banden der Erde. Die Güte der Mutter, die Würde des Vaters, das waren doch noch Bande, die unsichtbar, aber darum erschreckend fest, sie mit diesem Dasein verknüpften und manchmal gewaltig rüttelten an dem leichten, stolzen Himmelssegler. Ihr schwindelte dann bis zur Wuth und Bewußtlosigkeit; tödtlicher Schauder ergriff sie, wenn sie dachte, sie müsse niedersinken – sie konnte nur zerschmetternd niedersinken.
Dieses Angstgefühl hatte sie ergriffen, als sie am nächsten Sonnabend gute Nacht sagte. Sie hatte in den letzten Tagen ihm den gewohnten Kuß nicht gegeben; aus Neigung konnte sie nicht, aus Heuchelei wollte sie es nicht; sie hatte durch Wirthschaftsgeschäfte sich vorgeblicher Weise hindern lassen, Abschied zu nehmen; heute verlangte ihn der Vater von ihr. Er streckte ihr die Hand entgegen, frug, warum sie ihm nicht mehr gute Nacht sage – sie hatte gar nicht geglaubt, daß er auf dieses Liebeszeichen etwas gebe – und nannte sie dann: Mein gutes Kind! – streichelte ihren Scheitel und – ein weicher, inniger Seufzer quoll über seine Lippen. Diese Erfahrung, geliebt zu werden, war für sie ein Pfeil ins Herz. In schwindelndem Weh stürzte sie nach dieser Scene an die Brust des Geliebten. Das eigene schwellende Gefühl nur war es, was sie so hoch emporgetragen, und wenn das nachließ, dann stürzte sie zur Erde nieder. Vor Angst und Erschütterung weinte sie heftig an Werners Brust. Er wollte sie trösten, sie weinte heftiger. Endlich wurde er ungeduldig. Weine nicht, Kind, um Himmels willen, weine nicht, drang er in sie; ein Weib, das weint, ist mir fürchterlich, wie ein Weib, das nicht frisirt ist.
Sie verstand eine solche Härte nicht. Aber sie meinte, er habe recht. Sie trocknete ihre Thränen und stürzte sich in die Betäubung ihres Empfindens. Sie schöpfte mit aller Macht den Athem der Liebe, sog ihn ganz in sich hinein, den Aether des Glückes; sie wollte und wollte nur im Rausche, nur in schwindelnder Höhe leben. Noch nie hatte sie mit solcher hingebenden Gluth, solcher entflammenden Innigkeit ihn geliebkoset – bisher war sie nur die schüchterne Jungfrau, die seine Zärtlichkeiten gestattet; heute schien sie das liebevolle Weib, das sie herausforderte. So verstand sie Werner und der reine, edle Ton ihres Liebesumganges wurde zum ersten Mal von ihm durch eine Kühnheit gestört. Er bedeckte ihr Antlitz, ihren Hals, ihren Busen mit glühenden Küssen; er sank vor ihr auf die Erde, umschlang ihre Knie und bat: Deinen Fuß laß mich küssen, Martha, deinen Fuß, der mich zuerst an dir entzückte! Bleich, zitternd, ihrer selbst ohnmächtig, sank sie in seine Arme; er küßte sie glühender, aber ihr Bewußtsein erwachte – mit einem nur halb herausgestoßenen Angstgeschrei machte sie sich los. Nur wenige Schritte noch trugen sie ihre Kräfte, sie wankte und fiel mit dem heißen Antlitz auf den kühlen Rasen eines Leichenhügels.– Werner kniete vor ihr nieder, als sie sich aufrichtete, und küßte, Verzeihung flehend, den Saum ihrer Tändelschürze. Noch zitternd vor Schreck, suchte sie Ruhe auf ihrem Lager; zum Tode ermattet schlief sie ein und erwachte in qualvoller Angst – denn sie hatte einen Traum gehabt, der sie erröthen machte.
Sie hatte mögen ihr Gesicht verhüllen und in Einsamkeit beten; aber sie mußte ihr buntes Sonntagskleid anziehen, die Haare ordnen, den Strohhut mit dem Röschen daran aufsetzen und mit glattem, möglichst nichtssagendem Gesicht in die Kirche gehen.
Beim Abschiede sagte ihr die Mutter, die den Gang zum Gottesdienste noch nicht wagte: Bete auch für deinen Bruder, daß er sich bessere! Sie wollte für ihn beten, aber anders, als die Mutter es meinte, für ihn und für sich zugleich.
Ali das Orgelspiel begann und die vollen Toneswellen in sie einbrausten, da hob sich gewaltig ihr Herz, ihre Augen quollen über. Aber sie hielt sich zurück. Sie dachte, was Dorchen, was die Nachbarinnen, was das ganze Dorf sprechen würde, wenn man sie weinen gesehen – eine unglückliche Liebe, ja wohl gar ein Mädchenunglück würde man ihr andichten. Heute durfte sie als junges Mädchen nicht weinen, nur zur Einsegnung war es schicklich und zu den ersten Feiertagen und am Neujahrstage. Sie weinte nicht; sie verschloß sich finster in sich selbst. In einer katholischen Kirche hatte sie einmal anders beten gesehen; dort hatte sie in dunkler Kapelle einsam auf dem Betpult knien wollen, um ihren Schmerz vor Gott auszuschütten. Als der Vater von der Sünde predigte, von der Erbsünde, von der Verderbtheit des menschlichen Herzens, in dem jede Regung der Freude und der Freiheit unterdrückt werden müsse, weil sie zum Verderben ausarte, da verschloß sie trotzig ihr Inneres diesen Worten. Sein Herz wußte ja nichts von der Sünde, die sie kannte; was halfen ihr dagegen diese Worte!
Ihr Geliebter hatte dann und wann über Religion und Kirche gespottet; sie hatte ihn damals nicht begriffen. Als sie jetzt diese Predigt hörte, die ihr so kalt, so arm erschien, so gar nicht das Wesen des Menschen durchdringend – und als sie die alten Frauen, die das Vorrecht hatten, sonntäglich dem Herrn, unter dem Kreischen des Liedes, ihre Thränen darzubringen, von diesen Worten so zerknirscht sah, da verstand sie Werners Hochmuth. Verächtlich wandte sie sich von dieser Andacht ab; sie brauchte für sich für ihr eigenes Schicksal eine ganz andere, eine eigene Religion. Martha war in Wahrheit von ihrem schwellenden Herzen in andere Regionen getragen. Stolz sah sie auf die ganze Welt hinab – stolz, aber auch einsam; hangend und bangend, in schwindelnder Höhe hatte sie nichts als ihren Geliebten – und sie wollte ihn halten, da Alles sie von sich abstieß, ewig festhalten an ihrem Herzen. Und sie fühlte den freudigen Muth, alle die Bande zu zerreißen, die sie von ihm trennten; zu brechen mit Vater und Mutter und dem Gott, zu dem sie bisher gebetet hatte.
Die Wogen des Orgelbrausens trugen sie empor mit diesen Empfindungen, sie betete zu ihrem Gott der Liebe; sie war unendlich glückselig in der Begeisterung ihrer Religion, unendlich stark in dem Bewußtsein ihrer Entschließungen.
O glückliche Zeit der Empfängnis, eines großen Gedankens! O glücklichste Zeit der Entschließung, wo das von Begeisterung geschwellte Herz sich so unerschöpflich voll dünkt, daß es alle Hindernisse überströmen wird mit seiner Kraft; wo es sich fähig sieht der Hingabe seines ganzen Lebens an eine einzige That, ohne die es in Nichts zu verschwinden glaubt, mit der es die Eroberung einer neuen Welt zu vollbringen dünkt – an eine That, der gegenüber es kein Unrecht giebt, so nothwendig muß sie geschehen, in der alle Pflichten eines Menschendaseins sich erschöpfen, so unerschöpflich ist ihr Werth! Glückliche Zeit, die solcher Begeisterung und solchen Wahnes, solcher Kraft und solchen Frevels fähig ist!
Die Brust voll Orgelbrausen und Liebesmuth überschritt Martha die Schwelle zum alltäglichen Leben und wie bald mußte sie erschreckend fühlen, daß es so leicht ist, den Muth zu einer mächtigen Leidenschaft in sich zu sammeln, aber so entmuthigend schwer und mühsam, das Recht dafür Schritt für Schritt der Wirklichkeit abzutrotzen – daß das starke Herz, das einen großen Schlag ertrug, durch unzählige kleine gebrochen werden kann!
Aus der Kirche kam Vetter Andreas mit ins Pfarrhaus und blieb zu Tische. Er war seit dem Himmelfahrtstage, dem gestörten Verlobungsfeste, nicht auf der Pfarre gewesen. Der Pfarrer stellte ihn deshalb zur Rede. Andreas entschuldigte sich aufs Unbefangenste mit vielen Geschäften, Rechnungsablegungen, Abschriften, Dokumenten. Mit unserem gnädigen Fräulein, sagte er, muß etwas vorgehen – vielleicht, daß sie heirathet und, wenn sie heirathet, das wissen Sie, Herr Onkel, dann muß der alte Oberamtmann die Pacht aufgeben und ich avancire dann zum lebenslänglichen selbständigen Fabrikinspector; doch aber was mich betrifft, weshalb ich nicht so oft wie sonst hier war, ich war unwohl, verstimmt und dann – ehrlich gesagt, wie wir's sein müssen – habe ich auch nicht gewußt, ob ich auf der Pfarre nicht störe, ob ich überhaupt noch so gern gesehen bin, wie sonst – ich meine, seit der fremde Herr Ihr Gast war.
So drehte er sich mit der Sprache im Kreise herum und kam doch der Sache immer näher. Auf die Frage des Pfarrers, warum der Fremde ihn gestört habe, antwortete er zögernd: Weil – weil, nun sehen Sie, Herr Onkel, unsereins unterhält sich mit solch noblen spitzfindigen Herren zu schlecht, weil er sich – so sagte er lachend, als mache er einen harmlosen Witz – weil er sich mit den jungen Damen zu gut unterhält. Ja, ja, so ein Herr versteht's!
Unwillig frug der Alte, ob er damit etwas sagen wolle; aber auf das Gutmüthigste antwortete der schlaue Vetter: Gott behüte, wie werde ich auch damit etwas sagen wollen! Wie könnte ich auch damit etwas sagen wollen! Am wenigsten werde ich doch so schlecht sein, das damit sagen zu wollen, was die schlechten Leute sagen.
Das packte bei dem Alten. Er fuhr auf und wollte wissen, was die Leute sagen. Andreas suchte ihn nunmehr zu beruhigen und fuhr dennoch im vorigen Tone ungestört fort: Herr Onkel, die schlechten Leute sind schlecht. Es kümmert uns, Herr Pfarrer, zwar gar nichts, was die schlechten Leute sagen, aber, du mein lieber Himmel, es fällt wahrscheinlich auf, daß der fremde Ich-weiß-nicht-wer in der Försterei, wo er meine liebe Muhme kennen gelernt hat, sich ordentlich einmiethet, ihr auf allen Wegen und Stegen nachläuft, endlich gar als ein Kranker, dem man keine Krankheit angesehen, sich hier ins Haus eindrängt und, nachdem er von hier fort ist, auch wieder in der Försterei sich versteckt und dann und wann das Pfarrhaus umlauernd zum Vorschein kommt.
Das war es, was er dem Pfarrer löffelweise eingeben wollte, ohne den Schein der Verdächtigung auf sich zu nehmen. Wendelin versicherte, der Sache ein Ende machen zu wollen, und Andreas meinte, das sei um Martha's willen gut, denn hinter dem Fremden stecke irgend etwas Anderes, als man glaube; er trage ein adliges Wappen in seine Tücher gestickt und die Leute glaubten gar, er sei ein Prinz und nannten Martha schon die Frau Prinzessin. Indem trat Martha herein, er küßte ihr mit schadenfroher Vertraulichkeit die Hand und nannte sie seine liebe Braut.
Der Pfarrer reichte ihm zum Abschiede die Rechte und entließ ihn mit den Worten: Nichts für ungut. Es bleibt beim Alten. Wir sind dieselben Freunde. Laß dich öfter sehen.
Augenblicklich setzte der Pfarrer sich an sein Pult und schrieb Werner, den er noch keiner Antwort gewürdigt hatte, einen Brief, in dem er ihn einen Landstreicher, einen Gecken nannte und ihm gebieten zu dürfen glaubte, sich aus der Gegend zu entfernen.
An dem Blick des Vaters sah Martha, daß mit Andreas etwas vorgefallen sei und ein Gewitter gegen sie heraufziehe.
Die Aussagen des Vetters hatten in der That allen seit der letzten Zeit gesammelten Verdacht des Pfarrers zu einer schweren Sorge zusammengefaßt. Außer ihrem blassen Aussehen, ihrem kälteren, ausweichenden Benehmen, war es ihr langes Schlafen, ihre häufige Zerstreuung, ihr oft plötzlicher Uebergang von Freude zur Traurigkeit, was ihn nachdenklich gemacht hatte. Er rief Martha, die von seinem Gespräche mit Andreas nichts gehört hatte, zu sich. Eine unendliche Angst befiel sie: wenn unsere Liebe entdeckt wäre! Sie war erleichtert, als der Vater sie fragte: Weißt du, daß unser Fremder, der Monsieur Werner, in der Försterei sich aufhält? Sie erröthete, aber sie sammelte sich und sagte mit Festigkeit: Nein!
Er sah ihr so starr ins Angesicht, daß sie die Augen niederschlagen mußte. Er frug nochmal dringender: Sieh mich an, sieh' mir fest ins Auge; sag' mir, hast du kein Wort mit ihm gesprochen, während er hier wohnte? Hast du nichts von ihm gehört, gesehen, seit er fort ist?
Nein! sagte sie. Ohne zu zucken, sah sie ihn an, aber sie fühlte, wie das Blut aus ihren Wangen schwand.
Wendelin faßte die Hand seiner Tochter, beobachtete sie scharf, als suche er in ihr innerstes Herz zu dringen, und sagte mit einem milden, bittenden Tone, den sie an ihm nicht kannte: Tochter, meine Tochter, sage mir Alles, vertraue mir Alles, ich bin dein Vater, dein liebender Vater.
Der Ton schnitt ihr tief ins Herz. Ihr war so bang. Sie hätte aufschreien, ihm zu Füßen stürzen, ihm Alles gestehen und ihn für Alles um Verzeihung bitten mögen – aber da sah sie in seine strengen, finstern Augen, und obgleich ihr eigner Blick, der dem Vater voll so unerhörter Lüge ins Auge sah, ihr vorkam, wie ein giftiger Schlangenstich, den sie in sein Herz hineindrängte – sie schlug die Augen nicht nieder, sie log aufs Neue: Nein, nein, nein – ich weiß nichts von ihm!
Aber jetzt in dem Augenblick, wo sie diese Worte gesagt hatte, kam sie sich so klein, so niedrig, so frevelhaft vor, daß sie widerrufen wollte.
Da brauste der Vater auf: Mädchen, Mädchen, wenn es die Schlange wäre, die aus dir spräche! – Und sie war wieder sie selbst, ohne Liebe, ohne Offenheit.
Mach, daß du gesund wirst, Mutter! sagte der Alte, in vier Wochen ist Hochzeit bei uns im Hause; in vier Wochen, meine Tochter, wird dein Bräutigam dich heimführen.
Und noch Eins! befahl er Martha. Der Commers mit dem Forsthause hört von jetzt ganz auf. Ich gestatte keine Gemeinschaft mehr mit diesen ordinären Menschen. Essen und trinken in den Tag hinein – so hatte der Pfarrer immer über sie gesprochen – das ist ihr ganzes Leben. Du sollst deine Grundsätze dort nicht verderben lassen!
Martha raffte ihren ganzen Trotz wieder auf; dieser väterlichen Liebe gegenüber kannte sie keine Pflicht, dieser Vater war nicht mehr ihr Vater.
Aufmerksamer als je, lauschte sie heute Abend auf ihrer Kammer, bis Alles zur Ruhe war. Sie hörte, wie die Magd das frische Trinkwasser zu Nacht brachte; dann schloß der Vater die Hausthür zu; dann machte er, seine niedergetretenen Pantoffeln hinter sich schlarrend, den Gang durchs Haus, dann hörte sie ihn hinabgehen, die Thür zum Wohnzimmer, zur Schlafkammer zuschlagen; sie sah aus den Fenstern an dem verschwindenden Scheine der entgegenstehenden Gartenmauer, daß das Licht verlöschte; sie hörte ihn husten, was er jedesmal that, wenn er sich niederlegte, dann war Alles still – er war entschlafen.
Nun band sie die Hausschürze ab, steckte einen Strauß an den Busen, schlich leiser als eine Katze die Treppe hinab und suchte im Flur am bestimmten Nagel den Hausschlüssel; er war heute nicht dort. Der Pfarrer hatte ihn aus Vorsicht mitgenommen. Sie zögerte nicht lange. Sie schlich weiter in das große Wohnzimmer, öffnete das Fenster, stieg hinauf und – sie war im Freien, so leise, daß nichts hörbar an ihr war, als das klopfende Herz. Bebend vor Angst und vor Sehnsucht fand sie Ruhe und Trost am Busen des Geliebten.
Sie standen an dem Abhange. Weiße Nebelgestalten tauchten aus dem Strome auf, neigten sich gegen einander, wallten hin und wieder und stiegen immer höher, so daß sie schon den hohen Rand des Ufers berührten. In dem Anblick dieses Schauspiels verloren sie sich, bis Werner wieder in das finstere Sinnen verfallen war, in dem er öfters momentan sich vergaß. Martha störte ihn nicht und beobachtete ihn; als er sich ihrer Nähe kaum noch zu entsinnen schien und seine Stirn immer finsterer sich umzog, da warf sie sich beunruhigt um seinen Hals und bat ihn, ihr zu gestehen, was ihn so oft und heute mehr als je verdüstere.
Nichts ist es, nichts, nichts! erwiderte er abweisend, aber der Seufzer, der seiner Brust entquoll, widerlegte ihn selbst.
Und doch muß dir etwas sein. Gesteh' es mir, Werner, so flehte sie zu ihm; dann wird dir leichter werden. Es muß dir etwas begegnet sein. So wie heute warst du noch nie. Will man uns trennen? O, wenn du Ursache zum Leiden hast, ich wohl auch. Und nun erzählte sie den heutigen Vorfall mit dem Vater. Und ich klage nicht, so schloß sie ihre Rede, denn ich bin glücklich, so lange du es bist, und du bist glücklich, so lange man uns nicht trennen kann. Aber nun, wo du so betrübt bist, Werner –
Ja, Kind, du hast recht. Ich will nicht betrübt sein. Nein, nein! Nichts soll uns trennen. Will dein Vater dich mir nicht schenken, so werde ich bei dir allein Recht genug finden, dich zu besitzen. Will er dir das Glück deines Lebens nicht bereiten, so sollst du es aus meinen Händen empfangen. Ja, was kann mich denn hindern, glücklich zu sein? Wozu bin ich frei, wenn ich die Freiheit nicht benutze, über mich selbst zu bestimmen? Ich bin ich und mir selbst genug – und um die ganze Welt sich nicht zu kümmern, ist Genie! Hast du Muth, Martha, mir ins Weite zu folgen, Vater und Mutter um meinetwillen zu verlassen? O, ich weiß es, dein Herz ist ein geniales Mädchenherz; ich werde deiner würdig sein. Die Pforte ist ja geöffnet; in jeder neuen Nacht kann ich mit Pferd und Wagen dort dich mir gefangen nehmen und in ein neues Leben fliegen wir dahin!
Innig umschlang sie ihn und ruhte fest an seinem Busen. Die Wolkengestalten waren um sie herumgezogen und verhüllten in ihren langen Schleppen die Erde mit ihren Mauern und ihren Grabeszeichen. Staunend wies Martha ihn darauf hin und sagte: Ach, ach! sieh, so stehen wir über den Wolken!
Martha zitterte vor Frost und vor Entzückung. Werner schlug sein weißes Taschentuch um ihre Schultern und schloß sie eng an seine warme Brust. Hatte früher Martha's Liebe in ihren Traum hineingereicht, jetzt reichte dieser Traum in ihre Liebe hinein. Sie war schweigsam, innigst anschmiegend, und sie konnte sich ihm furchtlos hingeben; wußte sie doch, daß er ihre Jungfräulichkeit achtete und daß eine sichere Erfüllung alles Glückes in naher Zukunft ihnen winkte. Es war eine innige Harmonie der Beiden, heute nicht des scherzenden Jubels und der nicht schwärmenden Ueberschwänglichkeit, sondern der stillen süßen Träumerei der erwartenden bräutlichen Liebe.
Das Morgenroth verscheuchte den Mond und die Wolken und sie selbst aus ihrem Kosen. Hastig eilte Martha nach dem Hause und stieg am Weinspalier die wenigen Sprossen nach dem Fenster hinauf. Als sie hier einen Halt sucht, um geräuschlos in das Zimmer sich hinabzulassen, wird sie von einem starken Arm erfaßt – ein bleiches Antlitz mit unheimlich bekannten Augen sieht ihr prüfend ins Gesicht – der Vater hat seine Tochter erkannt. Nur ein Ausruf entfuhr seinen Lippen: Weh mir! Du also bist das Opfer?
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