Otto Gildemeister
Essays - Zweiter Band
Otto Gildemeister

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Napoleon und Taine.

(1891.)

Taines großes Werk »les Origines de la France Contemporaine« ist jetzt bis zu seinem vorletzten Bande vorgerückt. Auf die beiden ersten Abtheilungen, die das Ancien Régime und die Revolution behandeln, folgt die erste Hälfte der Schlußabtheilung, die neue Zeit, das Régime Moderne, oder, wie der Titel auch hätte lauten können, Napoleon. Der Eigenname des einen Menschen reicht aus, um dem Titel »la Révolution« das Gegengewicht zu halten. Taine hat es verschmäht, seinem neuen Bande die sonore Bezeichnung mit auf den Weg zu geben, aber der Inhalt des Buches ist nichts anderes als die Darstellung der gigantischen Persönlichkeit, die, indem sie sich selbst auslebte, das moderne Frankreich schuf. Es ist das eigentliche Thema des Buches, aufzuzeigen, wie die Institutionen, die politischen Richtungen, die gesellschaftlichen Zustände des Landes von der Eigenart des großen Despoten und gerade dieses Despoten bestimmt worden sind, von der besonderen Art seines Charakters, seiner Herschbegier, seines Wollens, seiner Phantasie und seiner Intelligenz. Im letzten Bande will Taine Kirche, Schule, Familie, »das moderne Milieu« beschreiben und erwägen, mit welchen günstigen und ungünstigen Faktoren die heutige Gesellschaft, die Erbin der Napoleonischen Aera, sich abzufinden hat, oder, mit seinen eigenen Worten, wie »das vollbrachte Werk sich fortsetzt in dem Werke, das vor unseren Augen sich entwickelt.« Im Sinne Taines heißt dies: wir werden sehen, wohin es führt, wenn ein Gemeinwesen seine mächtigsten Impulse und seine entscheidenden Lebensformen vom Despotismus empfängt. Nicht als ob er seiner Nation alle selbständigen Kräfte und Triebe absprechen wollte; aber der Despot hat diese Triebe und Kräfte, weil es so seinem Interesse entsprach, mit überlegener Klugheit, mit Benutzung aller Schwächen des Volkes und eine Zeit lang – mit so glänzendem Erfolge von oben herab reglementirt, kontrollirt und dirigirt, daß noch jetzt, nach achtzig Jahren, trotz Revolutionen, Preßfreiheit und suffrage universel, die bürgerliche Gesellschaft sich in die Bewegungen der vom Kaiser und vom ersten Consul aufgerichteten Maschinerie widerstandslos fügt.

Das Wesen dieses verhängnißvollen Despotismus anschaulich zu machen, hat Taine alle seine seltenen Gaben in Thätigkeit gesetzt, seinen mikroskopischen Feinblick und seine Kunst, das Detail zu großen, allgemeinen Resultaten zusammenzufassen, seine eindringliche Beredsamkeit und seinen umsichtigen Bienenfleiß, der aus zahllosen Aktenstücken, aus einer kaum übersehbaren Masse von Thatsachen die charakteristischen Züge herbei- und säuberlich in die sorgfältig eingetheilten Blätter einträgt. Das Wesen des Despotismus ist vielleicht überall und immer dasselbe, aber niemals im ganzen Umfange der Geschichte hat es sich so vollkommen in einem Menschen verkörpert wie in Napoleon, oder wenigstens wissen wir von keinem anderen Despoten auch nur annähernd so viel wie von diesem. Die Schwierigkeit des Urtheils liegt hier nicht in der Dürftigkeit, sondern in der Fülle des Materials.

In diesem Falle haben wir Einblick in das Gewebe unzähliger Fäden, natürlicher Anlagen, persönlicher Schicksale, localer und Familieneinflüsse, politischer Ereignisse, zufälliger Constellationen, berechneter Wirkungen, die alle zusammentreffen und genau so zusammentreffen mußten, um das erstaunliche Bild des schrankenlos waltenden Machthabers zu Stande zu bringen. Sein Werden und Wachsen, die allmähliche Entfaltung seiner angeborenen Eigenschaften, die Gunst der Umstände und den Antheil der eigenen Thätigkeiten, den im Rausche des Erfolgs immer riesiger anschwellenden Unternehmungsgeist, das Innere und das Aeußere dieser schwindelerregenden Laufbahn können wir an der Hand des sachkundigen Führers, der die tausend Zeugen in geordneter Reihe vorüberziehen läßt, überschauen und verfolgen.

Der Ausgangspunkt ist der Charakter des Mannes, sein Charakter und seine Begabung. Wir wissen nicht, wie viele ähnliche Menschen die Natur geschaffen hat, die, ohne eine Spur ihres Daseins zu hinterlassen, ins Grab gesunken sind, weil Zeit und Umstände ihnen den Gebrauch ihrer Stärke und die Befriedigung ihrer Begierde nicht gestatteten. Napoleon wurde gerade zur rechten Stunde geboren, um eine unerhört günstige Conjunctur ausbeuten und die kühnsten Träume eines hochfliegenden Ehrgeizes verwirklichen zu können. Neben ihm gab es Hunderte und Tausende anderer ehrgeiziger Männer, reichbegabter, voll Muth und Unternehmungslust, aber keinem von ihnen trauen wir zu, daß er, wenn er das Feld für sich allein gehabt hätte, den zehnten Theil dessen vollbracht haben würde, was der junge corsische Offizier gegen die entfesselten Parteien Frankreichs und die Koalitionen der europäischen Großmächte durchgesetzt hat. Der unerhörten Conjunctur, die man am kürzesten mit dem Namen »Chaos« bezeichnet, mußte die beispiellose Natur des Individuums entsprechen, unter dessen Händen das Chaos sich zu einer imposanten und glänzenden neuen Ordnung der Dinge gestalten sollte. Das Individuum zu schildern, hat Taine sich in den beiden ersten Kapiteln zur Aufgabe gemacht; nachdem er den Menschen in seiner Blöße vorgeführt hat, erörtert er die Methoden, die Maßregeln, die Kunstgriffe, mittels deren es dem Ungeheuren gelang, das Ungeheure zu vollbringen, auf den Trümmern der alten Monarchie einen Despotismus ohne Gleichen aufzurichten, Europa zu unterjochen und im Schiffbruche noch dem Welttheil das Vorbild einer Regierungs- und Verwaltungskunst zu hinterlassen, das noch heutzutage allen Staaten des Festlandes, modificirt allerdings nach den veränderten Bedürfnissen, aber doch in den Hauptlinien unangetastet als Muster, wenigstens als Grundriß für Neubauten gilt.

Die beiden ersten Kapitel des Taineschen Buches sind bereits vor einigen Jahren in der »Revue des deux mondes« abgedruckt worden und haben damals bei Bonapartisten und hochpatriotischen Franzosen ebenso heftigen Widerspruch erregt, wie vorher die drei Bände der »Revolution« mit ihrer erbarmungslosen Kritik der Jacobiner und vieler anderen Revolutionshelden die Wuth der Radikalen entflammt hatten. Die Bonapartisten und die Radikalen sprechen seitdem verächtlich von den »laborieux pamphlets de M. Taine.« Ich für meinen Theil bekenne, daß ich vor drei Jahren und jetzt wieder die Studie über Napoleon mit großer Bewunderung gelesen habe, daß ich sie im großen und ganzen für richtig halte, und daß ich zwar das Epitheton laborieux nicht anfechten will (eine mühsame Arbeit steckt in den Kapiteln, und sie verräth sich etwas störend in den zahlreichen Noten); aber ein »Pamphlet« ist diese Studie ganz gewiß nicht. Allerdings merkt man der Darstellung an, daß der Verfasser das Genie, das er zergliedert, für einen verderblichen Geist hält und für um so verderblicher, je genialer, aber zugleich hat man doch den Eindruck, daß diese Meinung auf einer sehr strengen und ernstlich wissenschaftlichen Forschung, auf der wohlerwogenen Abschätzung aller Gründe für und wider und schließlich auf einer Weltanschauung beruht, der die Schule der Freiheit für Völker wie für einzelne werthvoller dünkt als selbst die wohlgemeinteste Dressur. Ueber die Dressur in dem Napoleonischen System läßt sich meines Erachtens nicht streiten; einen schärferen und intelligenteren Drillmeister hat die Welt nie gesehen. Ueber die Wohlgemeintheit gönne ich jedem seine Ansicht, glaube aber meinerseits, daß Taine Recht hat, wenn er die unleugbaren großen Wohlthaten, die Frankreich dem Despoten verdankt, nicht auf Menschenliebe, sondern auf einen klarsichtigen und richtig rechnenden Egoismus zurückführt. In seinem Testamente spricht Napoleon von »la France que j'ai tant aimé.« Ja, sagt Taine, er liebte Frankreich, wie der Reiter ein werthvolles Pferd liebt, das ihn über Hindernisse stark und sicher dahin trägt, das ihm aber nichts mehr ist, wenn es mit gebrochenen Gliedern unter ihm fällt.

Ein kolossaler Egoismus, der mit dem zunehmenden Erfolge sich immer rücksichtsloser, immer furchtbarer entfaltet, bis er schließlich alle Dinge dieser Welt nur noch auf das eigene Ich bezieht, sie alle nur noch nach dem Werthe, den sie als Mittel und Werkzeuge für den eigenen Willen haben, beurtheilt und sie unbedenklich zu vernichten sucht, sobald sie ihm auch nur mittelbar, auch nur möglicher Weise, auch nur in der Phantasie Schwierigkeiten machen könnten; ein Egoismus heroischer Färbung, der nicht in den kleinen Freuden der vulgären Naturen seine Befriedigung findet (wennschon er auch diese nicht verschmäht), sondern dessen Wollust der Alleinbesitz der Macht ist, die Unterjochung des Willens aller anderen, das souveräne Schalten über Leben, Streben und Schicksal der Nationen und der Millionen Individuen, mindestens in Europa – dieser so geartete, so kolossale Egoismus ist bei Taine der Boden, auf welchem das »moderne Regime« erwachsen ist und dessen Säfte er in dem Stamme, den Aesten und Zweigen des Gewächses chemisch nachzuweisen unternimmt.

Mit der bloßen Größe des Egoismus ist es freilich nicht gethan; sie ist wohl häufiger als man sich denkt. Wahrscheinlich giebt es und gab es von je eine große Menge von Menschen, die ebenso wie Napoleon ihrer herschenden Leidenschaft alle Rücksichten geopfert haben würden, wenn sie es gekonnt hätten. Aber im gewöhnlichen Laufe der Dinge fehlen die Voraussetzungen, unter denen allein solche Selbstbefriedigung möglich ist. Die erforderliche Stärke oder Klugheit ist nicht vorhanden, die Werkzeuge bieten sich nicht dar, die Verhältnisse richten unüberwindliche Schranken auf, Furcht vor der Strafe erstickt den frevelhaften Entschluß, oder die leise Macht ererbter Ehrfurcht vor überlieferten Heiligthümern lähmt den Arm. Bei Napoleon treffen alle Voraussetzungen zu. Die Natur hat ihn mit einer unvergleichlichen körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit ausgestattet; eine Revolution hat das Feld vor ihm geebnet und die geschichtlichen Mächte, die dem Emporstrebenden Halt gebieten könnten, zerstört; eine kriegerische und talentvolle Nation bietet ihm eine Fülle junger Männer dar, die ihm zu dienen sich herbeidrängen; Vorurtheile und Traditionen hemmen ihn nicht, weder moralische und kirchliche, noch politische, noch nationale. Er fühlt sich erhaben über die Vorschriften der Moral, die für gewöhnliche Sterbliche bindend sind; er weiß nichts von dem Kultus des Königthums, der beim Ausbruch der Revolution seine Genossen, die jungen Offiziere und Edelleute hinderte, sich in die neue Zeit zu schicken; er bleibt innerlich unberührt von dem Enthusiasmus der Neuerer; er ist frei von dem Widerwillen, der vornehme Naturen abhält, mit wüsten Demagogen Fühlung zu gewinnen und, um sie zu benutzen, ihre Sprache zu reden. Er ist nicht Franzose von Geburt und Abstammung; er hat mit der französischen Kulturwelt, mit ihren Tendenzen, ihren Ideen, ihren Phrasen und Selbsttäuschungen keine innerliche Verwandtschaft; er beobachtet diese Welt, er durchschaut sie, er ergründet ihre reichen Hülfsquellen, aber er lebt und webt nicht in ihr; er bleibt außerhalb stehen, auf dem archimedischen Punkte, von dem aus der Hebel die Welt bewegt. Daß die Ideen des achtzehnten Jahrhunderts, die moderne Civilisation, die Empfindungsweise seiner Zeitgenossen über Napoleon keine Macht zu gewinnen vermochten, obwohl er alle diese Dinge sehr wohl kannte und sie nach Umständen zu politischen oder auch nur decorativen Zwecken gebrauchte – diese durchaus unfranzösische Erscheinung des einsamen, ungeselligen, für den Einfluß der Umgebungen unempfindlichen Gemüths hat Taine auf physiologischem Wege zu erklären oder wenigstens unserem Verständniß näher zu bringen versucht. Rasse und Geblüt und Vererbung gelten, wie man weiß, diesem Schriftsteller als wichtigste Faktoren alles menschlichen Geschehens; es kann nicht überraschen, daß er auch dem Napoleonischen Phänomen gegenüber zu seiner Lieblingsmethode greift, den verborgenen Naturkräften, die ein so wunderbares Gewächs erzeugt und genährt haben, nachzuspüren. Augenscheinlich, sagt er, war er weder Franzose noch ein Mensch des achtzehnten Jahrhunderts; er gehörte einer anderen Rasse und einem anderen Zeitalter an. Seine Familie stammt aus Toscana; sie hat vom zwölften Jahrhundert an bis zum ersten Drittel des sechzehnten in Italien gelebt, in allem Sturm und Drange mittelalterlicher Fehden und Parteiungen, in einer Schule, die nichts eindringlicher lehrte als die Kunst, mit List und Gewalt den eigenen Willen gegen den fremden zu behaupten und durchzusetzen. Und gerade um die Zeit, wo in Italien die Energie, der Ehrgeiz, der starke und freie Saft des Mittelalters schwindet, wo die spanische Herrschaft und die Verweichlichung Italien in den Staub ziehen, im Jahre 1529, siedelt die Familie Bonaparte nach Corsica über, einer zwar italienischen, aber beinahe noch barbarischen Insel, wo, fern von allen Einwirkungen europäischen Lebens, die Sitten und Leidenschaften des ersten Mittelalters sich frisch und lebendig erhalten hatten und der eingewanderten Familie die herbe Kraft des fünfzehnten Jahrhunderts, die sie vom Festlande mitbrachte, ungeschwächt bis ins siebente und achte Glied bewahrten. So erscheint der Sohn des Karl Bonaparte und der Lätitia Ramolino dem Auge Taines als Landsmann und Zeitgenosse der großen Italiener des Quattrocento, der gewaltigen Condottieri, kriegerischen Usurpatoren und klugen Tyrannen, die es verstanden, Staaten zu gründen, wenn auch nur zu persönlichem Gebrauch und auf Lebenszeit. Von ihrem Blut und ihrer »inneren Structur,« moralischer und intellectueller, hat er geerbt; das festländische Reis aber, das, als es nach Corsica kam, immerhin schon durch eine gewisse Kultur veredelt war, ist dort, durch wiederholte Heirathen mit Töchtern der Insel, auf Wildlinge gepfropft worden.

Ich lasse es dahingestellt sein, wie viel oder wie wenig auf diese Descendenztheorie zu geben sei; sehr einleuchtend erscheint mir jedenfalls, daß die wilde einsame Insel ein außerordentlich günstiger Ort war, um den Geist des Knaben von allen mildernden und von allen abschleifenden und entnervenden Einflüssen der Bildung des achtzehnten Jahrhunderts, der humanitären Ideen und der schulmäßigen Abstraktionen fernzuhalten, ihm die unabhängige Originalität zu bewahren, mit der hernach der junge Mann alle Dinge dieser Welt auf ihren substantiellen Gehalt, ohne Haß und ohne Liebe, lediglich nach dem Vortheil oder dem Schaden, den sie ihm bringen könnten, zu beurtheilen pflegte. Aber die Originalität selbst, die es zu bewahren galt, ist doch nicht ein corsicanisches Product, sondern etwas höchst Persönliches und, bei Lichte besehen, nichts anderes als was man sonst Genie nennt, was doch auch nur ein Name und keine Erklärung ist. Die Stelle, wo Taine die Eigenart der Napoleonischen Geistesthätigkeit schildert, ist im Grunde, mit wenigen Modificationen, anwendbar auf die geniale Intuition überhaupt. Wenn er Napoleon mit den hervorragenden Männern der italienischen Renaissance, mit Dante und Michelangelo, mit Julius II., mit Cäsar Borgia und Machiavel in eine Linie stellt (was übrigens schon Frau von Staël und Stendhal gethan haben), weil bei ihm, wie bei jenen »das geistige Werkzeug völlig unverkümmert war« (l'intégrité de son instrument mental), so trifft der Vergleich doch weniger die Beschaffenheit des Werkzeugs, wie die Natur es geliefert hat, als vielmehr den Vorzug, den Napoleon mit den Söhnen einer primitiven Culturperiode gemein hatte, keinen Theil seiner Kraft verbrauchen zu müssen mit der Aneignung und dem Wiederabschütteln eines todten Bildungsballastes, den drei Jahrhunderte um den modernen Menschen aufgestapelt haben. Das geistige Werkzeug dieses letzteren hat an Schneide und Biegsamkeit verloren durch die lange Abnutzung, durch die Spezialisirung der Thätigkeiten, durch die Vervielfältigung der fertiggeprägten Ideen und der angelernten Methoden, durch die übertriebene Anstrengung des Gehirns, durch die Verweichlichung eines friedlichen häuslichen Lebens. Von allen solchen Einflüssen war der junge Corse unberührt geblieben, als er die Weltbühne betrat. Der volle Contrast zwischen seiner und der gewöhnlichen Art entfaltete sich sofort, ohne Selbstüberwindung, ohne peinlichen Kampf mit schulmäßigen Gewöhnungen und Dressuren. Sehr des Nachdenkens werth sind die Worte, in denen Taine das zusammenfaßt; sie berühren eine der großen Gefahren der Massencivilisation, denen wir ausgesetzt sind. Er sagt: »Seit drei Jahrhunderten verlieren wir mehr und mehr die volle, unmittelbare Anschauung der Dinge; unter dem Zwange einer mannichfaltigen und langwierigen Stubenerziehung studiren wir statt der Gegenstände ihre Zeichen, statt des Terrains die Karte, statt der ums Dasein kämpfenden Thiere Nomenklaturen, Klassifikationen und bestenfalls todte Exemplare im Museum, statt fühlender und handelnder Menschen Statistiken, Gesetzbücher, Geschichte, Litteratur, Philosophie, kurz, gedruckte Worte, und, was noch schlimmer ist, abstrakte Worte, die von Jahrhundert zu Jahrhundert immer abstrakter werden, folglich immer weiter entfernt von der Erfahrung, schwieriger zu verstehen und zu handhaben, leichter irreleitend, zumal in menschlichen und sozialen Materien. Die Ausdehnung der Staaten, die Vervielfältigung der Dienstzweige, die Durchkreuzung der Interessen kömmt noch hinzu; der Gegenstand vergrößert und komplizirt sich unendlich und entschlüpft unseren Händen; unsere verschwommene, unvollständige, ungenaue Vorstellung entspricht ihm nur schlecht oder gar nicht; in neun Köpfen unter zehn, vielleicht in neunundneunzig unter hundert, ist sie nicht viel mehr als ein Wort, und die anderen brauchen, wenn sie sich die lebendige Gesellschaft vorstellen wollen, nach dem Unterricht der Bücher zehn Jahre, fünfzehn Jahre der Beobachtung und des Nachdenkens, um die Phrasen, mit denen sie ihr Gedächtniß bevölkert haben, umzudenken, zu übersetzen, ihren Sinn zu präzisiren und zu verifiziren, in das mehr oder minder unbestimmte und hohle Wort die Fülle und Schärfe eines persönlichen Eindrucks zu legen. Gesellschaft, Staat, Regierung, Souveränität, Recht, Freiheit – man weiß, wie diese Ideen, die wichtigsten von allen, um das Ende des achtzehnten Jahrhunderts falsch zugestutzt waren, wie das bloße verbale Raisonnement sie für die meisten Köpfe in Axiomen und Dogmen zusammenkuppelte, welche Nachkommenschaft diese metaphysischen Simulacra erzeugt haben, wie viele lebensunfähige, groteske Mißgeburten, wie viele ungeheuerliche, verderbliche Chimären. Für keine einzige dieser Chimären ist in Bonapartes Geiste Raum; da können sie weder entstehen noch eindringen; seine Abneigung gegen die substanzlosen Phantome abstrakter Politik geht über Verachtung hinaus, bis zum Ekel: was man in jener Zeit Ideologie nannte, ist recht eigentlich seine bête noir; sie widert ihn an, nicht bloß in Folge eigennütziger Berechnung, sondern auch und noch mehr in Folge seines Wahrheitsbedürfnisses und Instinktes; als Praktiker, als Staatsoberhaupt erinnert er sich stets, wie die große Katharina, daß ›er nicht auf Papier arbeitet, sondern auf Menschenhaut, die äußerst kitzlich ist.‹ Alle Vorstellungen, die er von Menschenhaß hat, entspringen aus Beobachtungen, die er selbst angestellt hat, und werden kontrollirt durch Beobachtungen, die er selbst anstellt.«

Mit dem genialen Blicke, der die Dinge und ihre Zusammenhänge nackt und unmittelbar, ohne die Einkleidung in Formeln und Systeme, vor sich liegen sieht, verknüpft sich eine Arbeitskraft, eine Fähigkeit, sich zu concentriren, und ein Gedächtniß, die über menschliche Grenzen hinauszugehen scheinen. Ohne sie hätte sein Genie nicht ausgereicht, in zwei Jahrzehnten die unübersehbare Menge von Geschäften, deren Seele er war, zu bewältigen. Jedesmal, wenn Taine dem Bilde dieser ungeheuren Leistungsfähigkeit einen neuen Zug hinzufügt, denkt man, dabei ist doch wohl etwas rhetorische Uebertreibung im Spiel: so außerordentlich erscheinen die berichteten Thatsachen. Aber die erstaunlichsten sind doch von unverwerflichen Zeugen beglaubigt. Drei große Atlasse, sagt Taine, trug Napoleon in seinem Kopfe, jeder von ihnen zwanzig starke Bände umfassend, jeder von Tag zu Tag ergänzt, berichtigt und auf dem Laufenden erhalten. Der eine Atlas bestand aus einer enormen Sammlung topographischer Karten und militärischer Etats; der zweite enthielt das Detail aller bürgerlichen Verwaltungszweige mit Einschluß sämmtlicher Einnahme- und Ausgabeposten des Reichsbudgets; der dritte war ein riesiges Personalregister, in welches alle irgendwie bedeutsamen Menschen des In- und Auslandes mit den für sie charakteristischen Notizen eingetragen waren. So märchenhaft das klingt, im wesentlichen ist es gewiß richtig. Man muß in Betracht ziehen, daß auch Durchschnittsmenschen alles, wovon sie eine deutliche Vorstellung haben und was ihnen wichtig ist, dem Gedächtniß ausnehmend fest einprägen. Napoleon aber hatte eben alle jene zahllosen Notizen über die ihm wichtigen Sachen und Menschen in der Form klarer, festumrissener Anschauungen in sich aufgenommen. Er kannte alle Details, weil die Details zu dem Gesammtbilde gehörten, das in seinen Kopf und in sein Gedächniß eingegangen war. Er hatte sie nicht eins nach dem anderen auswendig gelernt, sondern als Theile des Ganzen im Zusammenhange erfaßt, wie der musikalische Virtuose die tausend Noten einer Composition in der Erinnerung sicher mit sich trägt. Er selbst sagte von sich, daß es im Kriegswesen nichts gebe, was er nicht ohne weiteres machen könnte. »Wäre niemand da, der Pulver zu fabriciren verstände, ich verstehe es, oder Lafetten, ich kann sie construiren; sind Kanonen zu gießen, ich werde sie gießen lassen; sind die Truppen in den Details des Manövers zu unterrichten, ich werde sie unterrichten.« Weil er alles durchschaute, konnte niemand ihm ein X für ein U vormachen, weder die Generale, noch die Minister, noch die Finanzleute, noch die Juristen im Staatsrath, noch der Stallmeister und der Intendant der kaiserlichen Küche. Er zahlte für seinen Hofstaat den zehnten Theil dessen, was Ludwig XVI. gezahlt hatte, und er wurde für die geringere Summe besser bedient. Sein Regiment war wörtlich und im vollen Wortsinne ein persönliches Regiment, im guten und im schlimmen; ohne den Besitz eines solchen geistigen Werkzeugs, wie er es besaß, war der Napoleonische Despotismus vielleicht en gros, nicht aber en détail (und im Detail war er am größten und furchtbarsten), durchführbar.

Was mir mehr imponirt als die unermüdliche Arbeitskraft und das phänomenale Gedächtniß, das ist die Fähigkeit, die Gedanken jeden Augenblick ganz und gar auf den einen Gegenstand, der eine Entscheidung fordert, zu concentriren. Darin liegt mehr als Talent, nämlich Größe des Geistes, der alle Regungen der Seele souverän beherscht. »Niemals,« schreibt Roederer, »habe ich ihn zerstreut gesehen, niemals von dem eben discutirten Gegenstande abgezogen durch Gedanken an ein anderes Geschäft, das seiner Entscheidung harrte. Die guten oder schlimmen Nachrichten aus Aegypten haben ihn nie vom Code civil, der Code civil hat ihn nie von den Kombinationen abgelenkt, die das Heil Aegyptens erheischte. Nie war ein Mensch so ganz bei der Sache, unbeugsamer, jede Denkarbeit, die nicht zur gesetzten Stunde sich anmeldete, abzuweisen, eifriger sie aufzunehmen und abzuthun, sobald der rechte Augenblick gekommen war.« – Er selbst sagte auf St. Helena: »Die verschiedenen Gegenstände und Geschäfte lagen in meinem Kopfe wie in Schubfächern eines Schrankes. Wenn ich ein Geschäft unterbrechen will, schließe ich sein Fach und öffne ein anderes. Sie vermengen sich nicht, und nie stören oder ermüden sie mich. Wenn ich schlafen will, schließe ich alle Fächer und schlafe.« Solange er sich mit einem Gegenstande beschäftigt, existirt die übrige Welt nicht für ihn, mag dieser Gegenstand nun ein einzelner Mensch oder eine feindliche Armee sein. Wenn sein Kriegsminister ihm die Monatsrapporte seiner Heere einsendet, liest er sie die Nacht durch, mit demselben Vergnügen wie ein junges Mädchen einen spannenden Roman, und am Morgen schickt er dem Minister Bogen voll Correcturen und Rügen.

So groß diese Kräfte seines Geistes sind, sie werden noch übertroffen von einer anderen, von derjenigen, die alle übrigen in eine bestimmte Bewegung versetzt und in feste Bahnen leitet: von seiner Phantasie, »l'imagination constructive.« Aus dieser Quelle steigen unablässig die Bilder zukünftiger Schöpfungen, noch zu vollbringender Thaten auf, nicht in traumhaften Umrissen, sondern ausgestattet mit allem concreten Detail der Wirklichkeit. So erstaunlich ist, was er gethan hat, so ist das, was er unternommen hat, doch noch weit mehr, und so viel er auch unternommen hat, so hat er doch noch weit darüber hinaus phantasirt. Diese poetische Gabe ist bei ihm die stärkste, sie ist zu stark für einen Staatsmann; in ihr steigert sich Größe zur Enormität, und die Enormität entartet in Wahnsinn. Was Talleyrand bei seiner ersten Begegnung mit dem jungen General auffiel, das war, wie wir in den endlich entsiegelten Memoiren lesen: »la fougue de son imagination« Die Expedition nach Aegypten befand sich im Stadium des Projects, und Talleyrand hörte mit Staunen zu, wie Bonaparte sich die Möglichkeit des Unternehmens ausmalte, Regeneration Syriens, Marsch nach Konstantinopel, Gründung eines großen Reichs im Orient, Vernichtung des Hauses Oesterreich, triumphirende Rückkehr nach Paris! Aus noch früherer Zeit stammt eine Aeußerung, die Bourienne von Bonaparte berichtet: »Europa ist ein Maulwurfshaufen; große Reiche und große Umwälzungen hat es immer nur im Orient gegeben, wo sechshundert Millionen Menschen leben.« Hernach, als sich die Aussicht eröffnete, »das Reich Karls des Großen herzustellen,« fand der Maulwurfshaufe Europa Gnade vor seinen Augen; Madame de Rémusat hat ihn darüber plaudern hören. »Das französische Reich muß das Mutterland aller anderen Souveränitäten werden. Ich werde jeden europäischen König anhalten, in Paris einen großen Palast zu seinem Gebrauch zu bauen; zur Kaiserkrönung werden alle Könige nach Paris kommen und diese große Ceremonie durch ihre Huldigungen verherrlichen.« Auch der Papst soll in Paris wohnen; Paris selbst soll sich bis Saint-Cloud ausdehnen und vier Millionen Einwohner umfassen; es soll »etwas Fabelhaftes, Kolossales, Niegesehenes« werden, mit öffentlichen Anstalten, die der Einwohnerzahl entsprechen. Im Jahre 1811 sagt der Kaiser zu de Pradt: »In fünf Jahren werde ich Herr der Welt sein; nur Rußland bleibt noch übrig, aber ich werde es zermalmen.« Man darf es als sicher annehmen, daß, wenn die Zermalmung Rußlands gelungen wäre, diese nie rastende Phantasie ihren Blick nach Indien und China gerichtet hätte. Europa wäre wieder ein Maulwurfshaufe geworden.

Als die beiden ersten Kapitel des Taineschen Werkes, die den Menschen Napoleon darstellen, in der »Revue des deux mondes« erschienen, erregten sie viel Unzufriedenheit auch in Kreisen, die nicht bonapartistisch gesinnt waren. Jules Lemaitre, der die Kapitel sehr bewunderte, war erstaunt über das Urtheil seiner Zeitgenossen. »Man hat das Porträt falsch, übertrieben und unzeitgemäß gefunden; es fehlt wenig, daß man Herrn Taine Mangel an Patriotismus vorwürfe. Der Napoleon Bérangers zählt immer noch mehr Gläubige als ich mir gedacht hätte.« Was hat Taine am Ende denn so Neues und Unerhörtes gesagt: »Die erste Hälfte zeigt uns, daß Napoleon ein Mensch von erstaunlichem Genie gewesen ist, die zweite, daß dies Genie egoistisch und, wenn man das Facit der Rechnung zieht, unheilvoll war. Kein anderer hat das so eindringlich und so methodisch nachgewiesen, aber viele andere haben es vor ihm gesagt, und ich für meinen Theil habe es immer geglaubt. Woher kömmt denn nun diese Auflehnung gegen den neuen Historiker Napoleon Bonapartes?«

Der französische Kritiker deutet den Grund nur indirekt an. Die Vergötterung des Kaisers ist längst einer kühleren Betrachtung gewichen; Lanfrey, Oberst Charras und Frau von Rémusat haben nicht umsonst geschrieben. Aber trotz alledem ist der Zauber des Namens Napoleon nicht völlig gewichen. Napoleon hat der Nation eine Fülle kriegerischen Ruhmes gegeben wie kein anderer, und wenn er Frankreich kleiner hinterließ als er es vorgefunden hatte, so hinterließ er es zugleich auch größer, als es je gewesen war, größer durch hundert Siegeserinnerungen. Zwanzig Jahre lang hat er Krieg geführt, hat er die Seele des französischen Volks zu ihrer vollen Höhe emporgehoben, seinen Muth, seinen Stolz, seine Opferfähigkeit gesteigert. Das gedenkt man ihm, das wünscht man nicht durch die Darstellung seiner wahren Natur und seiner schädlichen despotischen Politik verdunkelt zu sehen, denn im stillen (so schreibt Jules Lemaitre, der es besser wissen muß als wir), im stillen seufzt man: »Käme doch ein Ungeheuer wie dieser, uns zu schütteln und uns zu rächen!«

Ideen dieser Gattung haben über den Philosophen keine Gewalt; sie sind seiner Darstellung völlig fremd geblieben; die militärische Größe ist natürlich auch ihm ein wichtigster Faktor des napoleonischen Erfolgs, aber sie hat nicht seine Sympathie, – im Gegentheil. – Denn die militärische Größe ist ja eben das Fundament gewesen, auf dem der napoleonische Despotismus sich aufbaute, alle Möglichkeiten gesunder Freiheit, bürgerlicher Selbständigkeit, natürlicher Gruppenbildung auf Generationen hinaus vernichtend. Diese verderbliche Wirkung des Genies und der Feldherrngröße nachzuweisen, ist gerade das Thema des Buchs, wie sollte es denen gefallen, die, wenn Lemaitre Recht hat, noch heute bereit sind, sich einem Despoten zu Füßen zu werfen, wenn er ihnen nur Waffenruhm und Rache verschafft? Ja, dieses Mißfallen der lebenden Generation wird zu einem Zeugnisse für den Schriftsteller, der uns deutlich zu machen sucht, wie vor neunzig Jahren der Despot dem damaligen Geschlechte als ein Erlöser, als ein Halbgott erschien und das Ruere in servitium der Menge dem Ehrgeize des einen auf mehr als halbem Wege entgegen kam.

Den deutschen Leser werden die abfälligen Urtheile des französischen Chauvinismus nicht sonderlich stören. Mehr Beachtung verdienen die Einwendungen, die ein Beurtheiler wie Lemaitre, der im allgemeinen das von Taine aufgerichtete kolossale Bild zutreffend findet, gegen einzelnes erhebt. Er vermißt die Entwicklung; es zeigt sich nirgend ein Unterschied zwischen Anfang, Mitte und Ende; der Artillerielieutnant und der Kaiser sind dieselbe Figur, »ein unbeweglicher Riese.« Sollten in diesem Leben moralische Krisen gänzlich ausgeblieben sein? ist nicht solch eine Krisis eingetreten, als er den Herzog von Enghien erschießen ließ, und war er nach diesem Morde nicht ein anderer als vorher?

Hierauf antworte ich, daß der Kritiker, weil er nur zwei Kapitel kannte, von einer irrigen Voraussetzung ausgegangen ist. Hätte er die folgenden acht Kapitel vor Augen gehabt, so würde er erkannt haben, daß es verfehlt war, Taine den Historiker Napoleons zu nennen, daß Taine nicht die Absicht hatte, den Charakter Napoleons in einem Lebensbilde zu schildern, sondern daß er ihn zergliedern, seine wichtigsten Bestandtheile bloßlegen und auch dies nur deshalb unternehmen wollte, weil mit diesen Charaktereigenschaften die Organisation des modernen Frankreich auf das innigste, nicht bloß historisch, sondern causaliter zusammenhängt. Die Entwicklung des Charakters würde sich nur in epischer Form veranschaulichen lassen, und für die vorliegende Aufgabe kam sie nicht sehr in Betracht. Als Bonaparte zu herschen begann, waren wohl die Hauptlinien des Bildes fertig und unverrückbar. Ohne Frage haben hernach Erfahrung, Selbstvertrauen, Uebermuth noch Fortschritte gemacht; aber das sind keine moralischen Krisen, sondern nur die unausbleiblichen Wirkungen eines so thätigen und so unerhört erfolgreichen Lebens, bei den einmal vorhandenen Geistesgaben und moralischen (oder unmoralischen) Anlagen. Was speziell die Ermordung des Herzogs von Enghien betrifft, so glaube ich nicht im mindesten an die moralische Krisis, die mit dieser Frevelthat verknüpft gewesen sein soll. Schon die äußere Geschichte des Verbrechens, die uns genau bekannt ist, deutet auf alles andere eher als auf Seelenkämpfe und innere Erschütterungen dessen, der die That beschloß und ausführen ließ. Der kaltblütigste Jäger, der ein Wild einfängt und tödtet, kann nicht prompter und sachgemäßer zu Werke gehen. Wir besitzen aber auch eine höchst glaubwürdige und höchst anschauliche Darstellung des persönlichen Eindrucks, den während der Ausführung des Verbrechens Bonaparte auf seine Umgebungen machte. Ich bedaure, daß ich nicht das ganze fünfte Kapitel der Memoiren der Frau von Rémusat hersetzen kann; wer es liest, wird überzeugt sein, daß der erste Consul, als er den unglücklichen Prinzen opferte, nicht in sich selber etwas zu überwinden hatte, sondern lediglich das Urtheil der Welt als eine Schwierigkeit, mit der er zu rechnen habe, betrachtete.

Josephine, angestachelt von Frau von Rémusat, hatte ihren Gemahl angefleht, das Leben des Gefangenen zu schonen. Er wies sie heftig zurück. Frauen sollten sich nicht in solche Sachen mischen; die Politik fordere diesen Schlag, der den Verschwörungen ein Ende machen und ihn der Nothwendigkeit steter Verfolgungen überheben werde. Der Tod des Herzogs werde den Verdacht, als ob Bonaparte jemals mit den Bourbonen sich verständigen könnte, auf immer ersticken. Der Herzog bedrohe die innere Ruhe Frankreichs; sein militärischer Ruf könnte in Zukunft die Armee erregen; wäre er einmal todt, so hätten die Soldaten nichts mehr von der alten Dynastie zu hoffen. Josephine stellte ihm vor, daß er das Gehässige der Handlung noch erhöhte, indem er Coulaincort, dessen Eltern dem Hause Condé nahe gestanden hätten, als Werkzeug benutzte. Bonaparte erwiderte: »Das hab' ich nicht gewußt, aber was liegt daran? Wird Coulaincourt kompromittirt, so schadet's nicht viel: um so treuer wird er mir dienen. Die Jakobiner werden fortan es ihm verzeihen, daß er Edelmann ist.« Am Tage vor der Hinrichtung war Bonaparte bei Tafel sehr liebenswürdig und gesprächig; er plauderte über gleichgültige Dinge, trieb allerlei Spaß mit seinem kleinen Neffen, machte seiner Frau den Hof, »mit mehr Freiheit als Decenz,« neckte Frau von Rémusat, weil sie kein Rouge aufgelegt habe, »Schminke und Thränen stehen den Frauen so gut!« – und nöthigte sie, mit ihm Schach zu spielen. Er hatte an dem Spiel Geschmack gewonnen, aber, sagt die Verfasserin der Memoiren, spielte es nicht besonders gut, »weil er sich den Regeln für die Bewegungen der Figuren nicht unterwerfen wollte« – ein ausnehmend charakteristischer Zug, den zu meiner Verwunderung Taine sich hat entgehen lassen. Während der Schachpartie summte Bonaparte allerlei Melodien; ab und an citirte er abgerissene Verse aus Tragödien, »Soyons amis, Cinna« und anderes, was auf Gnadenabsichten sich deuten ließ. Plötzlich rollte ein Wagen, General Hullin wurde gemeldet – er war der Vorsitzer des sogenannten Kriegsgerichts, das die Erschießung des Prinzen in der nächsten Nacht verfügen sollte – der erste Konsul erhob sich rasch und zog sich zurück mit Hullin, Murat und Savary. Es mahnt wie an eine Scene in »Macbeth,« wenn die Mörder auftreten; nur daß hier Macbeth keine Spur von Gewissensbedenken zeigt.

Am Tage nach der Hinrichtung herscht eine düstere Stimmung im Palaste; sogar Savary ist erschüttert; die Damen haben verweinte Augen. »Das ist ganz einfach,« sagt Bonaparte zu Josephinen, »Weinen ist euer Metier. Ihr anderen versteht nichts von meinen Geschäften; aber alles wird sich beruhigen, und man wird sehen, daß ich keineswegs was dummes (une gaucherie) gethan habe.« Bei Tafel – General Hullin speist mit – ist es sehr still: Bonaparte schien in Gedanken versunken, die anderen hatten keine Neigung sich zu unterhalten. Plötzlich, beim Aufbruch, spricht Bonaparte über den Tisch hin: »Sie werden wenigstens sehen, wessen wir fähig sind, und uns von jetzt an hoffentlich in Ruhe lassen.« Man begiebt sich in den Salon, der von Besuchern erfüllt ist; Bonaparte ergeht sich in belebtem Gespräche über litterarische, historische, militärische Themata; er nennt Friedrich den Großen. »Das ist ein Mann, über den ich ein gutes Buch lesen möchte, einer von denen, glaub' ich, die ihr Handwerk in allen Zweigen am besten verstanden haben. Diese Damen werden das nicht finden; er ist ihnen zu kalt und zu persönlich; aber ist ein Staatsmann denn dazu da, sich gefühlvoll zu zeigen? Steht er nicht völlig excentrisch da, er allein für sich, die Welt ihm gegenüber? ... Er hat sehr ungleiche Pferde vor seinem Wagen; da hat er nicht Zeit, alle die konventionellen Gefühle zu schonen, die für den gewöhnlichen Menschenschlag so wichtig sind. Kann er Bande des Bluts, Herzensneigungen, kindische Rücksichten der Gesellschaft in Betracht ziehen? Wie viele Handlungen kommen da vor, die man, vom ganzen getrennt, tadelt, obgleich sie mitwirken bei dem großen Werke, das die Menschen nicht wahrnehmen! Eines Tages aber vollenden diese Handlungen die Schöpfung des Kolosses, die von der Nachwelt bewundert werden wird. Bedauernswerthe, die ihr seid! Ihr haltet euer Lob zurück, weil ihr fürchtet, die Bewegungen der großen Maschine möchten euch zermalmen, wie Gulliver, wenn er ein Bein vorsetzte, die Lilliputaner. Blickt in die Ferne, vergrößert eure Phantasie, und ihr werdet sehen, daß die großen Männer, die ihr gewaltthätig, grausam, ich weiß nicht was nennt, einfach Politiker sind. Sie kennen sich, beurtheilen sich besser als ihr, und wenn sie geschickt sind, machen sie sich zu Meistern ihrer Leidenschaften; denn sie bringen es dahin, die Wirkungen ihrer eigenen Leidenschaft zu berechnen.« Die Wirkung, nicht die That, beschäftigt seine Gedanken; wie wird Paris, Frankreich, Europa afficirt werden? dies noch Ungewisse ist ihm das allein Wichtige. Dem Urtheil der Menschen eine seinem Interesse entsprechende Richtung zu geben, darauf ist er eifrig bedacht. Er läßt Bruchstücke aus den Akten des Prozesses gegen die letzte royalistische Verschwörung im Salon vorlesen; dann bricht er los:

»Diese Beweise sind unwiderleglich. Man wollte Frankreich in Verwirrung stürzen und in mir die Revolution tödten. Ich mußte sie schützen und rächen. Ich habe gezeigt, wessen sie fähig ist. Der Herzog von Enghien konspirirte wie die andern; ich mußte ihn behandeln wie die andern. ... Ich habe Blut vergossen, ich mußte, ich werde vielleicht noch mehr vergießen, aber ohne Zorn, lediglich weil der Aderlaß zu den Kombinationen der politischen Medizin gehört. Ich bin der Mann des Staats, ich bin, das wiederhol' ich, die französische Revolution, und ich werde sie aufrecht halten.«

Für mich fällt der Eindruck dieser Erzählung und dieser Selbstbekenntnisse ziemlich genau zusammen mit dem Eindruck, den Taines Theorie auf mich macht, – ein schrankenloser Egoismus, der ohne weiteres, gewissermaßen instinktmäßig, die eigene Person, das eigene Interesse, die eigene Politik gleich setzt mit der Welt, dem Weltinteresse und dem Weltgesetz. Zwar ist er nicht so blind, um nicht zu erkennen, daß die moralischen Regungen der Menschen, dasjenige Was er »certaines convenances de sentiment« nennt, eine Thatsache und eine Macht sind und daß er sie in seine Rechnung aufnehmen muß, aber Schwierigkeit machen ihm diese Regungen nur, weil sie für die anderen Bedeutung haben. Auch so imponiren sie ihm nicht; er ist überzeugt, mit ihnen fertig zu werden; er rechnet auf den Eigennutz, die Gemeinheit, die Furcht, den Zauber des Sieges, und er behält Recht. Die Ermordung des Herzogs von Enghien hindert die französische Nation nicht, ihm die Kaiserkrone anzubieten, hindert den französischen Adel nicht, sich zum Hofdienste in den Tuilerien zu drängen, und den Papst nicht, in Notredame den Mörder zu segnen. Im ersten Schrecken glaubten die Leute, ein neues Blutregiment werde beginnen; sie kannten Bonaparte noch nicht. Er war nicht grausam, es machte ihm keine Freude, andere Menschen zu quälen. Man athmete froh auf, als man sah, daß er nur aus Politik tödte, und man rechnete es ihm als Verdienst an, daß er kein Wütherich sei.

Aber eins, sagt man, erklärt uns Taine nicht. Dies Ungeheuer hat seine Generation fascinirt, Millionen und Millionen haben ihn geliebt. Wer ihm nahe kam, wurde bezwungen von seiner Ueberlegenheit und gehörte ihm an. Seine Soldaten, wenn sie auf dem Rückzuge von Moskau ermattet in den Schnee gesunken waren und der Ruf »die Kosaken!« erscholl, rührten sich nicht; wenn aber einer rief »der Kaiser kömmt!« erhoben sich alle wie ein Mann. Das fehlt, die Silhouette des kleinen Korporals fehlt in der Studie Taines. Er hat den Napoleon der Legende vergessen, und diese Legende ist doch auch eine geschichtliche Thatsache. Wie konnte sie sich bilden, wenn ihr Held so beschaffen war, wie die Studie ihn uns zeigt?

Wenn man so fragt, beweist man noch nicht, daß die Legende sich nicht bilden konnte, obgleich ihr Held so war, wie Taine ihn darstellt. Vielleicht läßt sich der Widerspruch zwischen Volkssage und geschichtlicher Wahrheit lösen, ohne daß man an dem Taineschen Werke einen Strich zu ändern braucht. Die Legende spiegelt nicht allein die richtigen Eindrücke, sondern auch die Täuschungen wieder, und die Täuschungen waren in vorliegendem Falle erklärlich genug. »Das Volk,« sagt Lemaitre, »ist ein großer Bewunderer der Stärke und der materiellen Größe.« Das ist eins, aber es ist nicht alles. Die Millionen, die den ersten Consul liebten und den Kaiser vergötterten, bis das Glück ihn verließ, verdankten ihm die größesten Wohlthaten. Man muß sich vergegenwärtigen, aus welcher Tiefe der Zerrüttung, welchem materiellen Elend, welcher Verwahrlosung, welchen auswärtigen Gefahren Bonaparte, als er von Aegypten zurückkam, Frankreich erlöste und wie er mit einem Zauberschlage alles das nicht allein beseitigte, sondern in das glänzendste Gegentheil verwandelte, die Zerrüttung in die vollkommenste Ordnung, die je in diesem Lande geherscht hatte, den Staatsbankerott in blühende Finanzen, die Verwahrlosung in sorgsame und großartige Pflege, die Trümmer in imposante Bauwerke, die Furcht vor der Invasion in Siegesjubel und Eroberung. Gerade diesen Umschwung hat Taine mit den lebhaftesten Farben geschildert; niemand, der das mit einiger reproduzirender Phantasie liest, wird die Erklärung vermissen, wie die unermeßliche Popularität des Helden und wie aus dieser die Legende entstand. Die große Menge des Volks empfand zehn Jahre lang nur die guten und glänzenden Seiten des neuen Regiments; es wäre seltsam gewesen, wenn sie mit kritischem Blicke die versteckten Fehler erkannt hätte, die achtzig Jahre später der scharfsinnige Forscher bloßgelegt hat. Für die feineren und höheren Interessen der Staatsentwicklung, der geistigen Freiheit, der menschlichen Bildung hatte Bauer und Bürgersmann wenig Empfänglichkeit; ihm lag nichts daran, wenn der Despot alle Domänen des höheren Lebens confiscirte, so lange er Säen und Ernten auf den Privatäckern gegen alle Störungen, Plünderungen und Brandschatzungen sicher stellte. Unter den Launen, Ansprüchen und Härten des Herschers hatte der gemeine Mann nicht zu leiden, so wenig wie der gemeine Soldat etwas von den Rücksichtslosigkeiten und Ungerechtigkeiten merkte, die der Feldherr an Marschällen und Generalen übte. Dem Soldaten war er der Führer zum Siege, der ihm Beute, gute Verpflegung, Beförderung verschaffte, der ihm »den Marschallstab in die Patronentasche« legte, der den militärischen Stand über alle anderen erhob, und vor dessen Augen kein Vorrang der Geburt, kein Unterschied der Klassen galt, sondern nur die persönliche Leistung, der Werth des Mannes. Dem Soldaten, mit einem Worte, war er »der Kaiser« und »der kleine Korporal« in einer Person. Die Höhergebildeten, die Urtheilsfähigeren, die in seine Nähe kamen und »bezwungen« wurden, standen zunächst doch auch unter dem Einflusse, der den gemeinen Mann und den gemeinen Soldaten gefangen nahm. Auch sie waren geblendet von so ungeheuren Erfolgen und, als Franzosen, erkenntlich für die Wohlthaten, die das Land in die Höhe richteten. Auch ihnen wäre es schwer gefallen, eine nüchterne Kritik zu üben, die selbst den Nachgeborenen noch einige Anstrengung kostet. Und vor allem standen sie, was den Jetztlebenden erspart ist, in dem Bannkreise des lebendigen Genies, das unmittelbar seine Ueberlegenheit auf sie wirken ließ, ihre Bewunderung entflammte, ihren Widerstand entwaffnete, ihnen das Gefühl einflößte, einem höheren Wesen zu dienen, dem Manne des Schicksals, dem unwiderstehlichen, indem sie ihm dienten. Solche wunderbare Wirkungen des Genies sind auch sonst vorgekommen; sie sind keineswegs auf diejenigen Fälle beschränkt, wo mit dem großen Geiste große Güte vereint war. Lamartine, den es peinigte, Napoleon verehren zu müssen, obwohl er keine Güte in ihm entdecken konnte, wußte sich nicht anders zu helfen als durch die Annahme, daß das Genie selbst eine Art Tugend sei:

Et toi, fléau de Dieu, qui sait si le génie
en toi n'était une vertu?

Vielleicht kann man darin einen Mangel der Taineschen Studie erblicken, daß er das mystische Element, das in diesem wie in allen großen Schicksalsmännern vorhanden war, vernachlässigt hat. Allerdings ist auf diesem Gebiete der wissenschaftliche Forscher im Nachtheil gegen den Dichter. Die innersten Vorgänge des Seelenlebens gelangen selten in die Akten; poetisches Ahnungsvermögen aber vermag aus leisen und vereinzelten Strichen das Bild zu ergänzen, das, weil es von der Phantasie eingegeben zu sein scheint, darum nicht minder wahr sein kann. Ohne das Mystische, ohne den festen, wenn auch trügerischen Glauben an ein Höheres ist das Auftreten solcher Männer nie recht verständlich. Glaube an den besonderen Schutz der Götter oder Gottes, Glaube an die Sterne, Glaube an sich selbst als an etwas Uebermenschliches – in einer oder der anderen Form erscheint dieser mystische Fatalismus, der im Grunde höchstes Selbstgefühl, genährt vom Erfolge, ist, im Leben der berühmtesten Erderschütterer, als Quelle bald unbegreiflichen Wagemuths, bald ebenso unbegreiflicher Verblendung. Alexander, Cäsar, Mahomed, Cromwell, Wallenstein gehören in diese Reihe, und mit Napoleon ist sie nicht abgeschlossen. »Wenn man keine irdische Stirn über sich erblickt, fühlt man das Unbekannte.« Es ist das Gefühl, das dem Cäsar Shaksperes die letzten Worte vor der Katastrophe eingiebt:

»Doch ich bin standhaft wie des Nordens Stern,
Des unverrückbar ewig stäte Art
Nicht ihres Gleichen hat am Firmament.
Der Himmel prangt mit Funken ohne Zahl,
Und Feuer sind sie all' und jeder leuchtet.
Doch einer nur behauptet seinen Stand,
Vom Andrang unbewegt; daß ich der bin, u. s. w.

und dasselbe Gefühl hat Schiller in dem Helden seines größten Dramas mit psychologischem Tiefsinn verkörpert, der vielleicht nicht so lebendig zum Ausdrucke gelangt wäre, wenn nicht die Gestalt Napoleons ihren Schatten, eben damals als der Wallenstein gedichtet wurde, über Europa geworfen hätte. Ohne Zweifel ist dieser mystische Glaube, wie ein Kind, so auch ein Vater großer Erfolge; nicht allein, daß er seinem Träger die sichere Ruhe, die über Abgründe hingeleitet, einflößt; er reißt auch die Umgebungen mit sich fort; auch sie theilen den Glauben ihres Führers und stellen ihm Kräfte und Hingebungen zur Verfügung, die ihm immer Größeres zu wagen gestatten. Wenn man erklären will, wie es zuging, daß die Gottesgeißel die Menschen fascinirte, darf man dies Element nicht vergessen. Auf die Poeten hat es mächtig gewirkt; Byron, Heine, Hugo, Lamartine, Manzoni und wie viele andere sind Zeugen des geheimnißvollen Zaubers, den die »Schicksalsidee,« die in Napoleon dunkel waltete, auf die Gemüther ausübte.

Taine hat die sogenannten menschlichen Züge Napoleons (als ob Egoismus und Despotismus nicht menschlich wären), seine Liebenswürdigkeiten bei einzelnen Gelegenheiten, seine Vertraulichkeiten im Umgange mit Soldaten und Bauern, sein Spielen mit Kindern, sein musterhaftes Benehmen der Erzherzogin gegenüber, seine Zärtlichkeiten für Josephine, die ihn übrigens nicht abhielten, ihr fortwährend untreu zu sein und schließlich sie zu verstoßen, – diese und ähnliche Züge hat Taine nur ganz flüchtig, wenn überhaupt, skizzirt, und man hat auch darin Parteilichkeit und gewollte Einseitigkeit finden wollen. Mit Unrecht, meine ich. So interessant auch jene Details sein und zu psychologischen Betrachtungen in anderer Richtung anregen mögen, in der Richtung des Taineschen Gedankenganges liegen sie nicht; für das Werk Napoleons haben sie keine Bedeutung. Wer es unternahm, die europäische und französische Schöpfung Napoleons als Produkte seiner Persönlichkeit darzustellen, brauchte sich nicht um solche Charakterzüge zu kümmern, die in den aufgeführten Gebäuden, der halbfertigen Universalmonarchie und der vollendeten Organisation Frankreichs keine Spur hinterlassen haben. Das wissen wir ja ohnehin, daß, wie die Könige nicht mit Krone, Reichsapfel und Scepter spazieren gehen und sich zu Tische setzen, auch die weltgeschichtlichen Menschen nicht jede Stunde ihres Daseins in ihrem historischen Kostüm zubringen.

Der Haupttheil des Taineschen Bandes läßt sich nicht auszugsweise charakterisiren. Wie der Architekt des modernen Despotismus den Bauplatz völlig nivellirt, aber mit Schutt und Unrath bedeckt, vorfindet, wie er ihn säubert, wie er den Bauplan ausarbeitet, mit klarstem Ueberblick über die Bedürfnisse, die Wünsche und die Vortheile der Menschen, die in dem neuen Hause wohnen sollen, mit der höchsten Zweckmäßigkeit in der Wahl der Mittel, der Anordnung der Räume und der Einrichtung der Communicationen, mit der grandiosen Symmetrie, die dem Geschmack und dem Rationalismus der Franzosen entspricht, vor allem mit einem imposanten Centrum, das alle Stockwerke, Säle, Treppen und Gänge überschaut und beherscht, das alles muß man in dem Buche selbst nachlesen, dessen meisterliche Zusammenfassung und Belebung unzähliger Einzelheiten zu einem erstaunlichen Ganzen mir wenigstens als eine neue Art von Kunstwerk erscheint, durch die Macht des einen leitenden Gedankens und des fesselnden Vortrags Massen von interessantem Detail zu einem noch interessanteren, anschaulichen Gesammtbilde verschmelzend, und auch ästhetisch betrachtet, in der Wirkung den spannendsten Werken der Dichtung gleichstehend. Das mag zum Theil am Stoffe liegen, der nicht nur an sich die höchste Anziehungskraft für Geist und Phantasie besitzt, sondern außerdem auch noch für die Gegenwart von unmittelbar empfunderer Bedeutung ist. Aber diesen überquellenden Stoff in die feste Form dieser glänzenden Studie gegossen zu haben, bleibt darum doch eine literarische Leistung ersten Ranges. Leroy Beaulieu, der soeben im »Journal des Débats« eine Serie von Artikeln über Taines Werk eröffnet, steht nicht an, zu erklären, daß er »das Bild ebenso erstaunlich finde wie das Modell.« Und dieser ausnehmend besonnene Schriftsteller findet das Bild ähnlich, unbeirrt durch alle Einwendungen, die Chauvinismus und Romantik erheben möchten. Im Schlußurtheil stimmt er mit Taine überein, vielleicht mit einem etwas starken Accente der Bewunderung für den Bau, den Napoleon hinterlassen hat. Zerstört, meint er, sei eigentlich nur die kaiserliche Fassade; die großen Mauern sind aufrecht geblieben, die Gesetzbücher, die Verwaltung, das Finanzsystem, das Concordat, die Universität (Schulverfassung), und die Nation hat innerhalb dieser Mauern sich völlig eingewohnt. Ja, noch mehr, halb Europa, Spanien, Portugal, Italien, Belgien, hat für seine Staatseinrichtungen die napoleonischen Institutionen zum Muster genommen. Man kann noch weiter gehen und sagen, ganz Europa, der Kontinent, hat sich unter der mächtigen Nachwirkung dieses Vorbildes organisirt. Der politische Kampf unserer Tage beruht zum erheblichen Theile auf dem Bestreben, innerhalb der von dem unerbittlichen Administrator vorgezeichneten Mauern der Freiheit den ihr gebührenden Platz zu sichern oder wieder zu erobern. Für seine eigene Nation scheint Taine dies Bestreben für ziemlich aussichtslos zu halten: er schließt sein erstes Buch mit folgenden düstern Worten:

»So beschaffen ist Napoleons politisches Werk, das Werk des vom Genie bedienten Egoismus. Seinen europäischen Bau wie seinen französischen Bau hat der souveräne Egoismus mit einem Constructionsfehler behaftet. In dem europäischen Gebäude ist der fundamentale Fehler gleich Anfangs zu Tage getreten und hat nach Ablauf von fünfzehn Jahren den jähen Zusammensturz herbeigeführt; in dem französischen Gebäude ist er ebenso schlimm, wennschon minder sichtbar; man erkennt ihn erst nach Ablauf eines halben oder gar eines ganzen Jahrhunderts, aber seine allmählichen, langsamen Wirkungen werden ebenso verderblich sein und sind nicht minder sicher.«

Es ist vorteilhaft den Genius zu bewirthen, aber es ist gefährlich ihn zum alleinigen Herrn im Hause zu machen.


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