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Zweiter Teil

 

I

Wir kamen in den ersten Julitagen auf der Morinière an, nachdem wir uns in Paris nur die für unsere Verproviantierung und für einige wenige Besuche streng notwendige Zeit aufgehalten hatten.

Die Morinière liegt, wie ich schon sagte, zwischen Lisieux und Pont-L'Evêque, im schattigsten, wasserreichsten Lande, das ich kenne. Vielfache Täler, eng und weich gekrümmt, münden nicht fern in das breite Tal von Auge, das sich in einem Zuge bis zum Meere abflacht. Kein Horizont; Genaue voller Geheimnisse; ein paar Felder, aber vor allem Wiesen, weich hängende Weiden, deren dichtes Gras zweimal im Jahre gemäht wird, wo zahlreiche Apfelbäume, wenn die Sonne niedrig steht, ihre Schatten vereinen, wo freie Herden weiden; in jeder Senkung Wasser: Teich, Pfuhl oder Bach; man hört beständiges Rieseln.

Ah! wie gut ich das Haus wiederkannte! seine blauen Dächer, seine Backstein- und Sandsteinmauern, seine Gräben, die Reflexe der schlafenden Wasser … Es war ein altes Haus, in dem man mehr als zwölf hätte unterbringen können; Marzeline, drei Dienstboten und ich, der bisweilen mithalf, hatten reichlich zu tun, um einen Teil von ihm zu beleben. Unser alter Verwalter, der Bocage hieß, hatte schon nach bestem Können einige Zimmer herrichten lassen; aus ihrem zwanzigjährigen Schlummer erwachten die alten Möbel; alles war geblieben, wie meine Erinnerung es sah, das Getäfel nicht zu sehr ruiniert, die Zimmer behaglich bewohnbar. Um uns noch besser zu empfangen, hatte Bocage alle Vasen, die er finden konnte, mit Blumen gefüllt. Er hatte den großen Hof und vom Park die nächsten Alleen ausjäten und ausschaufeln lassen. Das Haus empfing, als wir ankamen, den letzten Strahl der Sonne, und aus dem Tale vor ihm war ein regloser Dunst emporgestiegen, der den Fluß verschleierte und offenbarte. Schon ehe wir ankamen, erkannte ich plötzlich den Duft des Grases; und als ich von neuem den scharfen Schrei der Schwalben ums Haus kreisen hörte, erhob sich plötzlich die ganze Vergangenheit, als erwarte sie mich und wolle sich, da sie mich erkannte, hinter meinem Nahen wieder schließen.

Nach ein paar Tagen wurde das Haus beinahe behaglich; ich hätte mich an die Arbeit begeben können; ich zögerte, da ich noch immer meine Vergangenheit bis ins kleinste vor mir aufsteigen sah und bald von einer zu neuen Erregung in Anspruch genommen wurde: Marzeline vertraute mir eine Woche nach unserer Ankunft an, sie sei schwanger.

Von da an schien mir, ich schulde ihr neue Pflege, sie habe ein Recht mehr an Zärtlichkeit; wenigstens in den ersten Zeiten, die ihrer Mitteilung folgten, verbrachte ich also alle Momente des Tages bei ihr. Wir gingen und setzten uns nahe beim Holze auf die Bank, wo ich mich ehemals mit meiner Mutter zu setzen pflegte; dort verfloß, je wollüstiger sich uns jeder Moment darbot, um so unmerklicher die Stunde. Wenn sich aus dieser Epoche meines Lebens keine deutliche Erinnerung loslöst, so kommt es nicht, weil ich ihr eine weniger lebhafte Dankbarkeit bewahre – sondern vielmehr, weil sich alles zu einem gleichförmigen Wohlsein mischte und verschmolz, einem Wohlsein, in dem sich der Abend dem Morgen ohne Ruck verband, in dem sich die Tage ohne Überraschungen an die Tage knüpften.

Ich nahm langsam, mit ruhigem, hurtigem, seiner Kraft gewissem Geist, meine Arbeit wieder auf, blickte mit Vertrauen und ohne Fieber in die Zukunft; mein Wille war wie besänftigt und lauschte gleichsam auf den Rat dieser gemäßigten Erde.

Kein Zweifel, dachte ich, daß das Beispiel dieser Erde, wo alles sich zur Frucht, zur nützlichen Ernte rüstet, auf mich den vortrefflichsten Einfluß haben muß. Ich bewunderte die ruhige Zukunft, die diese starken Ochsen, diese vollen Kühe auf diesen fetten Weiden versprachen. Die Apfelbäume in Reihen auf den günstigen Hängen der Hügel verkündeten diesen Sommer prachtvolle Ernten; ich träumte, unter welcher reichen Fruchtlast sich bald ihre Zweige beugen würden. Aus dieser geordneten Fülle, dieser freudigen Dienstbarkeit, diesen lächelnden Kulturen erstand eine Harmonie, die nicht mehr zufällig war, sondern diktiert, ein Rhythmus, eine zugleich menschliche und natürliche Schönheit, bei der man nicht mehr wußte, was man bewunderte, so sehr waren der fruchtbare Ausbruch der freien Natur und die kunstvolle Bemühung des Menschen, sie zu regeln, zu einem ganz vollkommenen Ausgleich verschmolzen. Was wäre diese Bemühung, dachte ich, ohne die mächtige Wildheit, die sie beherrscht? Was wäre der wilde Ansturm dieser überströmenden Säfte ohne die intelligente Bemühung, die sie eindämmt und lachend zur Üppigkeit führt? – Und ich gab mich Träumen hin, von Erden, wo alle Kräfte so gut geregelt wären, alle Ausgaben so ausgeglichen, aller Tausch so streng, daß der geringste Verlust fühlbar würde; und dann wandte ich meinen Traum aufs Leben an und baute mir eine Ethik auf, die zu einer Wissenschaft von der vollkommenen Nutzbarmachung des Ichs durch eine intelligente Beschränkung wurde.

Wo versank, wo verbarg sich da mein Ungestüm von gestern? Es schien, so ruhig war ich, es sei nie gewesen. Die Flut meiner Liebe hatte es ganz [bedeckt] …

Unterdes entfaltete der alte Bocage rings um uns Eifer; er leitete, überwachte, riet; man fühlte bis zum Überdruß sein Bedürfnis, unentbehrlich zu erscheinen. Um ihn nicht zu verletzen, mußte man seine Rechnungen prüfen, seine endlosen Auseinandersetzungen ausführlich anhören. Selbst das genügte ihm nicht; ich mußte ihn auf die Felder begleiten. Seine sententiöse Biederkeit, seine ewigen Reden, die offenbare Zufriedenheit mit sich selber, der Prunk, den er mit seiner Ehrlichkeit trieb, brachten mich nach kurzer Zeit zur Verzweiflung; er wurde immer dringlicher, und alle Mittel wären mir recht erschienen, um mein Wohlbehagen zurückzuerobern – als ein unerwartetes Ereignis meinen Beziehungen zu ihm einen andern Charakter geben sollte: Bocage teilte mir an einem bestimmten Abend mit, er erwarte für den folgenden Tag seinen Sohn Karl.

Ich sagte fast gleichgültig: »Ah!« da ich mich bislang nicht viel um die Kinder gekümmert hatte, die Bocage etwa haben mochte; dann sah ich, daß meine Gleichgültigkeit ihn verletzte, daß er ein Zeichen des Interesses und der Überraschung von mir erwartete, und ich fragte:

»Wo war er denn bisher?«

»Auf einem Musterhof bei Alençon,« antwortete Bocage.

»Er muß jetzt wohl so ziemlich …« fuhr ich fort und berechnete das Alter dieses Sohnes, von dessen Existenz ich bis dahin noch nichts gewußt hatte; ich sprach langsam genug, um ihm Zeit zu lassen, daß er mich unterbrach …

»Siebzehn Jahre,« erwiderte Bocage. »Er war nicht viel über vier Jahre, als Ihre Frau Mutter starb. Ah! jetzt ist er ein großer Bursche; bald weiß er mehr als sein Vater …« Und wenn Bocage einmal im Gange war, konnte ihn nichts mehr aufhalten, so sichtlich ich auch meine Müdigkeit zeigte.

Am folgenden Tage dachte ich nicht mehr daran, als Karl gegen Schluß des Tages, frisch angelangt, kam, um Marzeline und mir seine Aufwartung zu machen. Er war ein schöner Bursch, so reich an Gesundheit, so elastisch, so gut gebaut, daß es den furchtbaren Stadtkleidern, die er uns zu Ehren angelegt hatte, nicht gelang, ihn allzu lächerlich zu machen, kaum daß seine Schüchternheit die schöne natürliche Röte noch steigerte. Er schien erst fünfzehn Jahre alt zu sein, so kindlich war die Färbung seines Blickes geblieben; er drückte sich klar genug aus, ohne falsche Scham, und im Gegensatz zu seinem Vater redete er nicht, um nichts zu sagen. Ich weiß nicht mehr, welche Worte wir an diesem ersten Abend tauschten; damit beschäftigt, ihn anzusehen, fand ich ihm nichts zu sagen und ließ Marzeline mit ihm reden. Aber am folgenden Tage wartete ich zum erstenmal nicht, bis der alte Bocage mich abholte, um auf den Pachthof zu steigen, wo, wie ich wußte, Arbeiten begonnen hatten.

Es handelte sich darum, einen Pfuhl auszubessern. Dieser teichgroße Pfuhl entwich; man kannte den Ort des Abflusses und sollte ihn verzementieren. Dazu mußte man den Pfuhl zunächst entleeren, was man seit fünfzehn Jahren nicht mehr getan hatte. Es waren viele Karpfen und Schleie darin, ein paar sehr große, die den Boden nicht mehr verließen. Ich wünschte sehr, in den Wassern der Gräben davon zu akklimatisieren und den Arbeitern welche zu geben, so daß dieses Mal das Vergnügen eines Fischfangs zu der Arbeit trat, wie es auch die ungewöhnliche Belebung des Hofes andeutete: aus der Umgegend waren einige Kinder gekommen und hatten sich unter die Arbeiter gemischt. Selbst Marzeline sollte ein wenig später zu uns stoßen.

Das Wasser sank bereits seit langem, als ich kam. Bisweilen furchte plötzlich ein großes Schwirren seine Oberfläche, und die braunen Rücken der unruhigen Fische schienen durch. In den Lachen am Rande fingen die patschenden Kinder einen glänzenden Fisch, den sie in die Eimer voll klaren Wassers warfen. Das Wasser des Pfuhls, das die Aufregung der Fische vollends trübte, war erdfarben und wurde von Moment zu Moment undurchsichtiger. Die Fische waren über alle Hoffnung reichlich; vier Knechte holten sie heraus, indem sie die Hand aufs Geratewohl eintauchten. Ich bedauerte, daß Marzeline auf sich warten ließ, und ich entschloß mich, hinzulaufen und sie zu holen, als ein paar Rufe die ersten Aale meldeten. Es gelang nicht, sie zu fangen; sie glitten zwischen den Fingern fort. Karl, der bis dahin bei seinem Vater am Ufer gestanden hatte, hielt es nicht mehr aus; er zog sich plötzlich die Schuhe ab, die Socken, warf Jacke und Weste zu Boden, zog sich die Hose und die Hemdärmel hoch hinauf und sprang entschlossen in den Schlamm. Gleich darauf ahmte ich ihm nach.

»Nun! Karl!« rief ich, »haben Sie gut daran getan, gestern nach Hause zu kommen?«

Er antwortete nichts, aber er sah mich helllachend an, schon ganz mit seinem Fang beschäftigt. Ich rief ihn bald herbei, daß er mir half, einen dicken Aal einzuschließen; wir vereinigten unsere Hände, um ihn zu packen … Dann, nach diesem, kam ein anderer; der Schlamm spritzte uns ins Gesicht; bisweilen sank man plötzlich ein, und das Wasser stieg uns bis an die Schenkel; wir waren bald ganz durchnäßt. Kaum daß wir im Eifer des Spiels ein paar Rufe tauschten, ein paar Phrasen; aber am Schluß des Tages merkte ich, daß ich Karl duzte, ohne recht zu wissen, wann ich begonnen hatte. Diese gemeinsame Tätigkeit hatte uns mehr übereinander gesagt, als eine lange Unterhaltung es hätte tun können. Marzeline war noch nicht gekommen und kam nicht, aber schon bedauerte ich ihre Abwesenheit nicht mehr; mir schien, sie hätte unsere Freude ein wenig gestört.

Gleich am Tage darauf ging ich aus, um Karl auf dem Pachthof aufzusuchen. Wir schlugen beide den Weg zum Holz ein.

Ich, der ich meine Felder nur schlecht kannte und mich wenig darum kümmerte, daß ich sie nicht kannte, sah mit Staunen, daß Karl sie sehr gut kannte, ebenso wie auch die Verteilung der Pachtgelder; er sagte mir, was ich kaum ahnte, ich habe sechs Pächter, ich hätte sechzehn- bis achtzehntausend Franken Pachtgeld haben können, und wenn ich nur eben die Hälfte davon habe, so komme das daher, weil fast alles in Reparaturen aller Art und in Bezahlung von Mittelsleuten daraufgehe. Ein bestimmtes Lächeln, das er zeigte, wenn er die Kulturen prüfte, machte mich bald zweifelhaft, ob die Ausbeutung meiner Güter so vortrefflich sei, wie ich es erst hatte glauben können und wie Bocage es mir zu verstehen gab; ich drängte Karl auf dieses Thema, und jene rein praktische Intelligenz, die mich an Bocage aufbrachte, verstand es bei diesem Kinde, mich zu amüsieren. Wir nahmen unsere Spaziergänge Tag für Tag wieder auf; der Besitz war ausgedehnt, und als wir alle Winkel tüchtig durchstöbert hatten, begannen wir mit mehr Methode von neuem. Karl verbarg mir den Ärger nicht, den der Anblick gewisser schlecht bestellter Felder, von Ginster, Disteln, Unkraut bedeckter Flächen in ihm weckte; er wußte in mir Teilnahme an diesem Hasse gegen die Brache und Träume von besser geordneten Kulturen zu erregen.

»Aber,« sagte ich erst zu ihm, »wer leidet unter dieser mittelmäßigen Bestellung? Allein der Pächter, nicht wahr? Wenn auch der Ertrag seines Hofes sich ändert, so ändert das nichts am Preise der Pacht.«

Und Karl regte sich ein wenig auf: – »Sie verstehen nichts davon,« erlaubte er sich zu antworten – und ich lächelte alsbald. – »Sie beachten nur das Einkommen und wollen nicht sehen, daß das Kapital sich verschlechtert. Wenn Ihre Länder unvollkommen bearbeitet werden, verlieren sie langsam ihren Wert.«

»Wenn sie, besser bearbeitet, mehr einbringen könnten, so zweifle ich, daß der Pächter sich nicht daranhalten sollte; ich kenne ihn als zu interessiert, um nicht so viel zu ernten, wie er kann.«

»Sie rechnen«, fuhr Karl fort, »ohne die Vermehrung der Arbeit. Diese Felder sind mitunter weit vom Hofe entfernt. Wenn sie bestellt würden, brächten sie nichts oder fast nichts ein, aber wenigstens gingen sie nicht zu Grunde …«

Und die Unterhaltung ging fort. Bisweilen schienen wir eine Stunde lang, während wir die Felder durchmaßen, dieselben Dinge durchzuhecheln; aber ich hörte zu und unterrichtete mich ganz allmählich.

»Schließlich geht all das deinen Vater an,« sagte ich eines Tages ungeduldig. Karl errötete ein wenig.

»Mein Vater ist alt,« sagte er; »er hat schon viel zu tun, um über der Erfüllung der Pachten, der Unterhaltung der Gebäude, dem guten Eingang der Pachtgelder zu wachen. Seine Mission hier ist nicht zu reformieren.«

»Welche Reformen würdest denn du vorschlagen?« fuhr ich fort. Aber da zog er sich zurück, gab vor, er verstehe sich nicht darauf; nur durch beharrliches Drängen zwang ich ihn, sich zu erklären:

»Den Pächtern alle Felder nehmen, die sie unbebaut lassen,« riet er schließlich. »Wenn die Pächter einen Teil ihrer Felder brach lassen, so ist das ein Beweis, daß sie mehr haben, als sie bezahlen; oder, wenn sie alles behalten wollen, den Preis ihrer Pacht erhöhen. – Sie sind alle faul in dieser Gegend,« fügte er hinzu.

Von den sechs Pachthöfen, die, wie ich fand, mir gehörten, lag der, wohin ich mich am liebsten begab, auf dem Hügel, der die Morinière beherrschte; man nannte ihn La Valterie. Der Pächter, der ihn innehatte, war nicht unangenehm; ich plauderte gern mit ihm. Näher bei der Morinière lag ein Pachthof, den man den »Schloßhof« nannte, zur Hälfte vermietet durch ein System der Pachtmeierei, das Bocage in Ermangelung des abwesenden Gutsherrn zum Besitzer eines Teiles des Viehs gemacht hatte. Jetzt, wo das Mißtrauen einmal geboren war, begann ich, den ehrlichen Bocage selber in Verdacht zu haben, wenn nicht, daß er mich betrog, so doch, daß er mich von mehreren betrügen ließ. Freilich behielt man mir einen Pferde- und einen Kuhstall vor, aber bald schien mir, sie seien nur erfunden, um dem Pächter zu erlauben, daß er seine Kühe und seine Pferde mit meinem Heu und Hafer fütterte. Ich hatte bis dahin die unwahrscheinlichsten Berichte wohlwollend angehört, die mir Bocage von Zeit zu Zeit darüber gab: Sterblichkeit, Mißbildungen und Krankheiten, ich hatte alles hingenommen. Daß es genügte, wenn eine der Kühe des Pächters krank wurde, damit sie zu einer von meinen Kühen wurde, daß das möglich sei, daran hatte ich noch nicht gedacht; noch auch, daß es genügte, wenn eine von meinen Kühen gut gab, damit sie zur Kuh des Pächters wurde; doch ein paar unvorsichtige Bemerkungen Karls, ein paar persönliche Beobachtungen begannen mich aufzuklären; dann, als mein Geist einmal gewarnt war, schritt er schnell.

Marzeline, die ich warnte, kontrollierte peinlichst alle Rechnungen, konnte aber keinen Irrtum darin rügen; dahinein floh Bocages Rechtschaffenheit. – Was tun? – Geschehen lassen. – Aber wenigstens überwachte ich jetzt, dunkel gereizt, das Vieh, doch ohne es zu sehr sehen zu lassen.

Ich hatte vier Pferde und zehn Kühe; das war genug, um mich weidlich zu quälen. Unter meinen vier Pferden war eins, das man immer noch »das Füllen« nannte, obgleich es bereits über drei Jahre alt war; man befaßte sich jetzt damit, es anzulernen; ich begann, mich dafür zu interessieren, als man eines schönen Tages kam und mir erklärte, es sei vollkommen unlenksam, man werde nie etwas daraus machen können, und das beste sei, mich seiner zu entledigen. Wie als hätte ich daran zweifeln wollen, hatte man es getrieben, daß es den Vorderteil eines kleinen Karrens zerschlug und sich dabei die Kniefesseln blutig stieß.

Es kostete mich an diesem Tage Mühe, meine Ruhe zu bewahren, und nur Bocages Verlegenheit hielt mich zurück. Schließlich war es bei ihm mehr Schwäche als Böswilligkeit, dachte ich; die Schuld liegt bei den Knechten; aber sie fühlen sich nicht geleitet.

Ich ging auf den Hof hinaus, mir das Füllen anzusehen. Sowie er mich kommen hörte, streichelte ein Diener es, der es geschlagen hatte; ich tat, als habe ich nichts gesehen. Ich verstand nicht viel von Pferden, aber dies Füllen schien mir schön; es war ein heller Halbblut-Brauner von merkwürdig schlanken Formen; er hatte ein sehr lebhaftes Auge und eine fast blonde Mähne und ebensolchen Schweif. Ich überzeugte mich, daß er nicht verletzt war, verlangte, daß man ihm die Abschürfungen verband, und ging davon, ohne ein Wort hinzuzufügen.

Abends, als ich Karl wiedersah, versuchte ich zu erfahren, was er von dem Füllen hielt.

»Ich halte es für sehr sanft,« sagte er; »aber sie verstehen es nicht anzufassen; sie werden es Ihnen störrisch machen.«

»Wie würdest denn du es anfangen?«

»Wollen der Herr es mir auf acht Tage anvertrauen? Ich garantiere dafür.«

»Und was willst du mit ihm machen?«

»Sie werden sehen …«

Am Tage darauf brachte Karl das Füllen auf einen Wiesenwinkel, den ein prachtvoller Nußbaum beschattete und den der Fluß umzog; ich ging in Marzelinens Begleitung hin. Es ist eine meiner lebhaftesten Erinnerungen. Karl hatte das Füllen mit einer Leine von mehreren Metern an einen fest in den Boden gerammten Pfahl gebunden. Das zu feurige Füllen hatte sich offenbar einige Zeit wütend gewehrt; jetzt lief es, klug geworden, ermüdet, ruhiger im Kreise; sein Trab war von überraschender Elastizität, hübsch anzuschauen und verlockend wie ein Tanz. Karl stand im Mittelpunkte des Kreises, mied die Leine bei jeder Drehung mit einem plötzlichen Sprung und reizte es an oder beruhigte es mit der Stimme; in der Hand hielt er eine große Peitsche, aber ich sah nicht, daß er sich ihrer bediente. Alles gab in seiner Miene und in seinen Gesten durch seine Jugend und durch seine Freude dieser Arbeit den schönen, feurigen Ausdruck des Vergnügens. Plötzlich, und ich weiß nicht wie, saß er auf dem Tier; es hatte den Gang verlangsamt und war dann stehen geblieben; er hatte es ein wenig gestreichelt, und dann sah ich ihn plötzlich zu Pferde, seiner sicher, sich kaum an der Mähne haltend, lachend, nach vorn geneigt und sein Streicheln fortsetzend. Kaum, daß das Füllen einen Moment ausgeschlagen hatte; jetzt nahm es seinen gleichmäßigen Trab wieder auf, so schön, so elastisch, daß ich Karl beneidete und es ihm sagte.

»Noch ein paar Tage Dressur, und der Sattel wird ihn nicht mehr kitzeln; in zwei Wochen kann die gnädige Frau selber wagen, ihn zu besteigen: er wird sanft wie ein Lamm.«

Er hatte recht; ein paar Tage darauf ließ das Pferd sich ohne Mißtrauen streicheln, aufschirren, führen; und selbst Marzeline hätte es geritten, wenn ihr Zustand ihr diese Übung gestattet hätte.

»Der Herr sollte ihn versuchen,« sagte Karl zu mir.

Das hätte ich nie allein getan; aber Karl schlug vor, für sich ein anderes Pferd des Hofes zu satteln; das Vergnügen, ihn zu begleiten, riß mich fort.

Wie dankbar war ich meiner Mutter, daß sie mich während meiner ersten Jugend in die Reitbahn gebracht hatte! Die ferne Erinnerung jener ersten Lektionen half mir. Ich fühlte mich nicht zu erstaunt, zu Pferde zu sitzen; nach ein paar Minuten war ich ohne jede Angst und unbefangen. Das Pferd, das Karl ritt, war schwerer, ohne Rasse, aber nicht unangenehm anzusehen; vor allem ritt Karl es gut. Wir gewöhnten uns an, jeden Tag ein wenig auszureiten; am liebsten ritten wir am frühen Morgen in das taublanke Gras; wir ritten an den Rand der Wälder: tropfende Haselsträucher, die wir im Ritte streiften, benetzten uns; der Horizont öffnete sich plötzlich; es war das weite Tal von Auge; fern ahnte man das Meer. Wir hielten einen Augenblick an, ohne abzusteigen; die aufgehende Sonne färbte, teilte, zerstreute die Nebel; dann ritten wir in scharfem Trab zurück; wir hielten uns auf dem Pachthof auf; die Arbeit fing erst gerade an; wir kosteten jene stolze Freude, den Arbeitern voraus zu sein und sie zu beherrschen; dann verließen wir sie plötzlich; ich kehrte auf die Morinière zurück, wenn Marzeline aufstand.

Ich kam nach Hause, trunken von Luft, betäubt von der Geschwindigkeit, die Glieder ein wenig starr von wollüstiger Schlaffheit, den Geist voll von Gesundheit, Appetit und Frische. Marzeline billigte, ermutigte meine Liebhaberei. Wenn ich, noch in Gamaschen, eintrat, trug ich an das Bett, wo sie auf mich wartete, einen Duft nasser Blätter, der ihr gefiel, sagte sie mir. Und sie hörte mir zu, wenn ich von unserm Ritt erzählte, vom Erwachen der Felder, vom Wiederbeginn der Arbeit … Sie, schien es, fand ebensoviel Freude daran, mich! leben zu fühlen wie zu leben. – Bald mißbrauchte ich auch diese Freude; unsere Ritte dehnten sich aus, und bisweilen kam ich dann erst, gegen Mittag zurück.

Unterdessen reservierte ich, so gut ich konnte, den Schluß des Tages und den Abend für die Vorbereitung auf meine Vorlesungen. Meine Arbeit rückte vorwärts; ich war mit ihr zufrieden und hielt es nicht für unmöglich, daß es später die Mühe lohnen würde, meine Vorlesungen in einen Band zu vereinigen. Durch eine Art natürlicher Reaktion verliebte ich mich, während mein Leben sich ordnete, sich regelte, und während ich mir darin gefiel, alle Dinge um mich zu regeln und zu ordnen, immer mehr in die altertümliche Ethik der Goten, und während ich mich im Verlauf meines Kollegs mit einer Kühnheit, die man mir in der Folge genügend vorwarf, bemühte, die Unkultur zu erheben und ihre Apologie aufzustellen, zerbrach ich mir mühsam den Kopf damit, alles, was um mich oder in mir an sie erinnern konnte, zu beherrschen, wenn nicht zu unterdrücken. Diese Weisheit oder aber diese Torheit trieb ich – bis wohinein nicht?

Zwei meiner Pächter, deren Pacht zu Weihnachten ablief, und die sie zu erneuern wünschten, suchten mich auf; es handelte sich darum, dem Gebrauch entsprechend ein Blatt zu unterschreiben, das man das »Pachtversprechen« nennt. Gestützt auf Karls Versicherungen, aufgeregt durch seine täglichen Gespräche, erwartete ich die Pächter entschlossen. Sie – gestützt darauf, daß ein Pächter schwer zu ersetzen ist, verlangten zunächst eine Pachtverminderung. Um so größer war ihre Verblüffung, als ich ihnen die »Pachtversprechen« vorlas, die ich selber aufgesetzt hatte, und worin ich mich nicht nur weigerte, den Preis der Pacht zu ermäßigen, sondern ihnen noch gewisse Landstrecken entzog, von denen sie, behauptete ich, keinen Gebrauch machten. Sie taten erst, als nähmen sie es lachend auf: Ich scherzte. Was wollte ich mit diesen Feldern anfangen? Sie waren nichts wert; und wenn sie nichts daraus machten, so geschah es, weil sich nichts daraus machen ließ … Dann, als sie meinen Ernst sahen, versteiften sie sich; ich versteifte mich gleichfalls. Sie glaubten mich einschüchtern zu können, indem sie mit dem Abzug drohten. Ich hatte nur auf dieses Wort gewartet und sagte zu ihnen:

»Gut! so gehen Sie, wenn Sie wollen! Ich halte Sie nicht.« Ich nahm die Pachtversprechen und zerriß sie vor ihren Augen.

So hatte ich also mehr als hundert Hektar auf den Armen. Schon seit einiger Zeit hatte ich den Plan, Bocage die Oberleitung anzuvertrauen, da ich dachte, ich gäbe sie mittelbar Karl; ich gedachte mich auch selber viel damit zu befassen; übrigens überlegte ich kaum: gerade das Risiko des Unternehmens reizte mich. Die Pächter zogen erst Weihnachten ab; bis dahin konnten wir uns schon zu helfen wissen. Ich sagte es Karl; seine Freude mißfiel mir gleich; er konnte sie nicht verbergen; sie gab mir seine viel zu große Jugend noch mehr zu fühlen. Die Zeit drängte schon; wir standen in jener Jahreszeit, wo die ersten Ernten die Felder für das erste Pflügen freigeben. Nach bestehendem Brauch gehen die Arbeiten des abziehenden Pächters und des neuen nebeneinander her; jener gibt sein Gut Stück für Stück ab, sobald die Ernte eingebracht ist. Ich fürchtete wie eine Art Rache die Feindseligkeit der beiden verabschiedeten Pächter; es beliebte ihnen im Gegenteil, gegen mich eine vollendete Gefälligkeit zu heucheln (den Vorteil, den sie dabei fanden, erfuhr ich erst später). Ich benutzte das, um morgens und abends auf ihren Feldern umherzulaufen, die also bald an mich zurückfallen sollten. Der Herbst begann; man mußte mehr Leute dingen, um das Pflügen und die Saat zu beeilen; wir hatten Eggen, Walzen, Pflüge gekauft; ich ritt umher, überwachte, leitete die Arbeiten und fand ein Vergnügen daran, selber zu befehlen, zu herrschen.

Unterdessen ernteten die Pächter auf den benachbarten Wiesen die Äpfel; sie fielen und rollten im dichten Grase, reichlich wie in keinem anderen Jahr; die Arbeiter konnten dem nicht genügen; es kamen ihrer aus den benachbarten Dörfern; man dingte sie auf acht Tage; Karl und ich amüsierten uns bisweilen damit, ihnen zu helfen. Die einen schlugen die Zweige, um die verspäteten Früchte zum Fall zu bringen; die Früchte, die, zu reif, oft angestoßen, im hohen Gras zerquetscht, von selbst gefallen waren, erntete man getrennt; man konnte nicht gehen, ohne auf sie zu treten. Der Duft, der von der Wiese aufstieg, war scharf und süßlich und mischte sich unter den des Saatackers.

Der Herbst rückte vor. Die Morgen der letzten schönen Tage sind die frischesten, die klarsten. Bisweilen machte die feuchte Atmosphäre die Fernen blau, rückte sie noch weiter fort, machte aus einem Spazierritt eine Reise; das Land schien größer geworden; bisweilen dagegen rückte die anormale Durchsichtigkeit der Luft die Horizonte ganz nah herbei; man hätte sie mit einem Flügelschlag erreichen müssen; und ich weiß nicht, welches von beidem mehr mit Sehnsucht füllte. Meine Arbeit war fast vollendet; wenigstens sagte ich es, um mir mehr Mut zu machen, mich von ihr abzulenken. Die Zeit, die ich nicht auf dem Pachthof verbrachte, verbrachte ich um Marzeline. Zusammen gingen wir in den Garten hinaus; wir gingen langsam, sie matt und schwer auf meinen Arm gestützt; wir setzten uns auf eine Bank, von der aus man das Tal beherrschte, das der Abend mit Licht ausfüllte. Sie hatte eine zärtliche Art, sich auf meine Schulter zu lehnen; und so blieben wir bis zum Abend sitzen und fühlten den Tag in uns ohne Gesten, ohne Worte versinken … Mit wieviel Schweigen wußte sich unsere Liebe schon zu umhüllen! Das kam, weil Marzelinens Liebe schon stärker war als die Worte, mit denen sie sie ausdrücken konnte, und weil ich bisweilen von dieser Liebe fast gepeinigt war. Wie manchmal ein Hauch ein sehr ruhiges Wasser furcht, so ließ sich auf ihrer Stirn die leichteste Bewegung lesen; in sich hörte sie geheimnisvoll ein neues Leben zittern; ich neigte mich wie über ein tiefes, klares Wasser über sie, wo man, so weit man sah, nichts sah als Liebe. Ah! wenn es noch das Glück war, so weiß ich, daß ich es von nun an habe halten wollen, wie man in den zusammengewölbten Händen vergebens ein verrinnendes Wasser halten will; aber schon fühlte ich neben dem Glück etwas anderes als das Glück, was wohl meine Liebe färbte, doch wie der Herbst färbt.

Der Herbst rückte vor. Das Gras war mit jedem Morgen nasser und trocknete nicht mehr im Schattenrand des Waldes; in der Morgenröte war es weiß. Die Enten auf dem Wasser der Gräben schlugen mit dem Flügel; sie regten sich wild; man sah sie sich bisweilen erheben, mit lautem Geschrei in taumelndem Flug ganz um die Morinière her fliegen. Eines Morgens sahen wir sie nicht mehr; Bocage hatte sie eingeschlossen. Karl sagte mir, so schließt man sie jeden Herbst zur Zeit der Wanderung ein. Und wenige Tage darauf schlug das Wetter um. Es gab eines Abends ganz plötzlich einen großen Hauch, einen starken, ungeteilten Meeresatem, der den Nord und den Regen brachte und die Wandervögel mitnahm. Schon hätten uns Marzelinens Zustand, die Besorgungen einer neuen Einrichtung, die ersten Pflichten meines Kollegs in die Stadt zurückgerufen. Die schlimme Jahreszeit, die früh begann, verjagte uns.

Die Arbeiten des Pachthofes sollten mich freilich im November zurückbringen. Ich war sehr ärgerlich gewesen, als ich Bocages Anordnungen für den Winter erfuhr; er erklärte mir seinen Wunsch, Karl wieder auf die Musterwirtschaft zu schicken, wo er, wie er behauptete, noch erklecklich zu lernen habe; ich redete lange, wandte alle Argumente auf, die ich fand, konnte ihn aber nicht zum Nachgeben bringen; höchstens ging er darauf ein, diese Studien ein wenig zu kürzen, damit Karl etwas früher wiederkommen könne. Bocage verhehlte mir nicht, daß die Ausbeutung der beiden Pachthöfe nicht ohne große Mühe von statten gehen würde; aber teilte er mir mit, er hatte zwei sehr zuverlässige Bauern im Auge, die er unter seine Leitung zu nehmen gedachte; das würden fast Pächter sein, fast Meier, fast Diener; die Sache war für die Gegend zu neu, als daß er sich hätte Gutes davon versprechen können; aber, sagte er, ich hätte es ja gewollt. – Diese Unterhaltung fand gegen Ende Oktober statt. In den ersten Tagen des November ließen wir uns in Paris nieder.

 

II

Wir richteten uns in der Rue S*** ein, nahe bei Passy. Die Wohnung, die uns einer von Marzelinens Brüdern angegeben hatte und die wir hatten bei unserem letzten Aufenthalt in Paris besuchen können, war viel größer als die, die mir mein Vater hinterlassen hatte, und Marzeline konnte sich ein wenig Unruhe machen, nicht nur über die höhere Miete, sondern auch über all die Ausgaben, zu denen wir uns verleiten lassen mußten. Allen ihren Befürchtungen setzte ich ein gespieltes Grauen vor dem Provisorischen entgegen; ich zwang mich sogar selber daran zu glauben und übertrieb es absichtlich. Sicherlich würden die verschiedenen Einrichtungsausgaben dieses Jahr unser Einkommen überschreiten, aber unser schon schönes Vermögen mußte sich noch Verbessern; dabei rechnete ich auf mein Kolleg, auf die Veröffentlichung meines Buches und sogar – welche Torheit! – auf den neuen Ertrag meiner Pachthöfe. Ich machte also vor keiner Ausgabe Halt und sagte mir bei jeder, ich binde mich um so mehr, und gedachte zugleich jede schweifende Laune zu unterdrücken, die ich in mir fühlen oder in mir zu fühlen fürchten konnte.

In den ersten Tagen verging unsere Zeit vom Morgen bis zum Abend mit Ausgängen; und obgleich Marzelinens Bruder sich später sehr liebenswürdig erbot, uns mehrere zu ersparen, so fühlte Marzeline sich doch bald sehr abgespannt. Dann mußte sie, statt der Ruhe, die ihr so nötig gewesen wäre, sobald wir eingerichtet waren, Besuche über Besuche empfangen; die Entfernung, in der wir bis dahin gelebt hatten, trieb sie jetzt in Strömen herbei, und Marzeline, der Welt entwöhnt, verstand sie weder abzukürzen, noch wagte sie ihre Tür zu verschließen; ich fand sie abends erschöpft vor; – und wenn ich mich über eine Ermattung, deren natürliche Ursache ich wußte, nicht beunruhigte, so gab ich mir wenigstens Mühe, sie zu vermindern, indem ich oft an ihrer Stelle empfing, was mir kaum Spaß machte, und bisweilen die Besuche erwiderte, was mir noch weniger Spaß machte.

Ich bin nie ein glänzender Plauderer gewesen; die Frivolität der Salons, ihr Esprit ist etwas, worin ich mir nicht gefallen konnte; ich hatte wohl ehedem in einigen verkehrt – aber wie fern doch diese Zeit lag! Was war seitdem geschehen? Ich fühlte mich in Gesellschaft der anderen trüb, traurig, verdrießlich, zugleich lästig und belästigt … Durch ein sonderbares Mißgeschick wäret ihr, die ich bereits als meine einzigen wahren Freunde ansah, nicht in Paris und solltet lange Zeit nicht dahin zurückkehren. Hätte ich mit euch besser sprechen können? Hättet ihr mich vielleicht besser verstanden, als ich mich selber verstand? Aber was wußte ich von allem, was in mir wuchs und was ich euch heute sage? Die Zukunft erschien mir ganz sicher, und nie hatte ich mich ihrer mehr Herr geglaubt.

Und selbst, wenn ich scharfsichtiger gewesen wäre, welchen Rückhalt gegen mich selber konnte ich an Hubert, Desiderius, Moritz und so vielen anderen finden, die ihr kennt und wie ich beurteilt? Ich erkannte, ah! gar bald die Unmöglichkeit, mich ihnen verständlich zu machen. Schon in den ersten Unterhaltungen, die wir führten, sah ich mich gleichsam durch sie gezwungen, eine falsche Persönlichkeit zu spielen, dem zu gleichen, der ich, wie sie glaubten, gewesen war, wenn es nicht scheinen sollte, als spiele ich; und um es bequemer zu haben, tat ich also, als habe ich die Gedanken und Neigungen, die man mir lieh. Man kann nicht zugleich aufrichtig sein und es scheinen.

Ein wenig lieber sah ich die Leute meines Standes wieder, Archäologen und Philologen, aber mit ihnen zu plaudern machte mir kaum mehr Vergnügen, gab mir nicht mehr Anregung, als wenn ich in guten historischen Handbüchern blätterte. Ganz im Anfang konnte ich hoffen, bei ein paar Romanciers und Dichtern ein etwas direkteres Erfassen des Lebens zu finden; aber wenn sie dieses Erfassen hatten, so, muß man gestehen, zeigten sie es kaum; mir schien, die meisten lebten nicht, begnügten sich mit dem Schein des Lebens und hätten das Leben um ein geringes als ein ärgerliches Hindernis des Schreibens angesehen. Und ich konnte sie nicht darum tadeln; und ich behaupte nicht, daß der Irrtum nicht aus mir kam … Was übrigens verstand ich unter: leben? – Gerade das hätte ich gewollt, daß man es mir sagte. – Die einen und die anderen plauderten gewandt von den verschiedenen Ereignissen des Lebens, doch nie von dem, was sie herbeiführt.

Was die wenigen Philosophen angeht, deren Rolle es gewesen wäre, mich zu belehren, so wußte ich seit langem, was man von ihnen zu erwarten hatte; Mathematiker oder Neokritizisten, hielten sie sich von der beunruhigenden Wirklichkeit so fern wie möglich und befaßten sich nicht mehr mit ihr als der Algebraiker sich um die Existenz der Größen kümmert, die er mißt.

Wieder bei Marzeline, verbarg ich ihr die Langeweile nicht, die dieser Verkehr mir einflößte.

»Sie gleichen sich alle,« sagte ich zu ihr. »Jeder ist eine unnütze Wiederholung. Wenn ich mit einem von ihnen rede, scheint es mir, ich rede mit mehreren.«

»Aber, mein Freund,« antwortete Marzeline, »du kannst nicht von jedem verlangen, daß er anders ist als alle anderen.«

»Je mehr sie sich unter sich gleichen, um so anders sind sie als ich.«

Und dann begann ich trauriger von neuem:

»Keiner hat krank zu sein verstanden. Sie leben, sehen aus, als lebten sie und wüßten nicht, daß sie leben. Übrigens lebe auch ich, seit ich in ihrer Nähe bin, nicht mehr. Was habe ich heute zum Beispiel getan? Ich habe dich um neun Uhr verlassen müssen; kaum habe ich, ehe ich fortging, Zeit gehabt, ein Wenig zu lesen; das ist der einzige gute Moment des Tages. Dein Bruder erwartete mich beim Notar, und nach dem Notar hat er mich nicht mehr losgelassen; ich habe mit ihm zum Tapezierer müssen; er hat mich beim Tischler gestört, und ich habe ihn erst bei Gaston gelassen; ich habe mit Philipp im Quartier gefrühstückt, dann habe ich Ludwig wieder aufgesucht, der mich im Café erwartete; mit ihm Theodors absurdes Kolleg gehört, dem ich beim Fortgehen Komplimente gemacht habe; um seine Einladung auf Sonntag ablehnen zu können, habe ich ihn zu Arthur begleiten müssen; mit Arthur eine Aquarellausstellung besucht; bei Albertine und bei Julie Karten abwerfen gewesen … Erschöpft gehe ich nach Hause und finde dich ebenso erschöpft, wie ich bin, da du Adeline, Martha, Johanna, Sophie gesehen hast; und wenn ich am Abend, jetzt, all diese Beschäftigungen des Tages durchgehe, empfinde ich meinen Tag als so eitel und er scheint mir so leer, daß ich ihn im Fluge wiederfangen möchte, ihn Stunde um Stunde neu beginnen, und daß ich zum Weinen traurig bin.«

Und doch hätte ich nicht sagen können, weder was ich unter leben verstand, noch ob nicht der Geschmack, den ich an einem geräumigeren und luftigeren Leben fand, einem weniger gezwungenen und um die anderen weniger bekümmerten Leben, das ganze, sehr einfache Geheimnis meiner Qual war; dies Geheimnis erschien mir viel geheimnisvoller: das Geheimnis eines Auferstandenen, dachte ich, denn ich blieb unter den anderen ein Fremder, wie jemand, der von den Toten zurückkommt. Und anfangs empfand ich nur eine ziemlich schmerzliche Verwirrung, aber bald brach sich eine sehr neue Empfindung Bahn. Ich versichere euch, ich hatte zurzeit der Veröffentlichung der Arbeiten, die mir so viel Lob eintrugen, keinerlei Stolz empfunden. War es jetzt Stolz? Vielleicht; aber wenigstens mischte sich keine Schattierung von Eitelkeit hinein. Es war zum erstenmal das Bewußtsein von meinem Eigenwert: was mich von den anderen trennte, unterschied, darauf kam es an; was niemand anders als ich sagte und sagen konnte, gerade das hatte ich zu sagen.

Mein Kolleg begann bald darauf; da der Gegenstand mich trieb, schwellte ich meine erste Vorlesung mit meiner ganzen neuen Leidenschaft. Bei Gelegenheit des Endes der römischen Zivilisation schilderte ich die künstlerische Kultur, die an die Oberfläche des Volkes stieg, nach Art eine Sekretion, die erst Reichtum, Überfülle an Gesundheit andeutet, dann gerinnt, hart wird, sich jeder vollkommenen Berührung des Geistes mit der Natur widersetzt, unter dem beharrlichen Schein des Lebens die Verminderung des Lebens verbirgt und eine Hülle bildet, in der der eingeengte Geist erschlafft und bald verkümmert und schließlich stirbt. Und dann führte ich meinen Gedanken bis ins letzte durch und sagte, die Kultur, die aus dem Leben geboren sei, töte das Leben.

Die Historiker tadelten eine Neigung, wie sie sagten, zu allzu raschen Verallgemeinerungen. Andere tadelten meine Methode; und die mir Komplimente machten, das waren die, die mich am wenigstens verstanden hatten.

Als ich nach meinem Kolleg den Saal verließ, sah ich zum erstenmal Menalkas wieder. Ich hatte nie viel mit ihm verkehrt, und kurz vor meiner Heirat war er wieder auf eine seiner fernen Forschungsreisen ausgezogen, die ihn uns bisweilen mehr als ein Jahr lang raubten. Früher gefiel er mir kaum, er schien stolz und interessierte sich nicht für mein Leben. Ich war also erstaunt, ihn in meiner ersten Vorlesung zu sehen. Selbst sein Übermut, der mich anfangs von ihm ferngehalten hatte, gefiel mir, und das Lächeln, das er mir zuwarf, schien mir um so reizender, als ich wußte, wie selten es war. Kürzlich hatte ein absurder, ein schmählicher Skandalprozeß den Zeitungen eine bequeme Gelegenheit gegeben, ihn mit Schmutz zu bewerfen; diejenigen, die seine Geringschätzung und seine Überlegenheit verletzte, ergriffen diesen Vorwand für ihre Rache; und was sie am meisten reizte, war, daß ihn das nicht zu kümmern schien.

»Man muß«, antwortete er auf die Beschimpfungen, »die anderen recht haben lassen, denn das tröstet sie darüber, daß sie sonst nichts haben.«

Aber »die gute Gesellschaft« entrüstete sich, und wer, wie man sagt, »sich achtet«, glaubte, sich von ihm abwenden und ihm seine Verachtung so heimzahlen zu müssen. Das war für mich ein Grund mehr: durch einen geheimen Einfluß zu ihm hingezogen, trat ich auf ihn zu und umarmte ihn vor allen freundschaftlich.

Als man sah, mit wem ich plauderte, zogen sich die letzten Lästigen zurück; ich blieb mit Menalkas allein.

Nach den ärgerlichen Kritiken und den albernen Komplimenten erfrischten mich seine wenigen Worte über mein Kolleg.

»Sie verbrennen, was Sie angebetet haben,« sagte er. »Das ist gut. Sie machen sich spät daran; aber die Flamme wird um so besser genährt. Ich weiß noch nicht, ob ich Sie recht verstehe; Sie machen mich neugierig. Ich plaudere nicht gern, möchte aber mit Ihnen plaudern. Essen Sie doch heute abend bei mir.«

»Lieber Menalkas,« antwortete ich ihm, »Sie scheinen zu vergessen, daß ich verheiratet bin.«

»Ja, freilich,« erwiderte er; »nach der herzlichen Offenheit, mit der Sie mich anzusprechen wagten, hatte ich Sie für freier halten können.«

Ich fürchtete, ihn verletzt zu haben; mehr noch, schwach zu erscheinen, und ich sagte ihm, ich werde nach Tisch zu ihm kommen.

In Paris wohnte Menalkas, stets unterwegs, im Hotel; er hatte sich für diesen Aufenthalt mehrere Zimmer nach Art einer Wohnung herrichten lassen; er hatte seine Diener da, aß für sich, lebte für sich, hatte über die Wände, über die Möbel, deren banale Häßlichkeit ihn ärgerte, einige sehr wertvolle Stoffe gebreitet, die er aus Nepal mitgebracht hatte und, wie er sagte, erst vollends schmutzig gebrauchte, ehe er sie einem Museum schenkte. Meine Eile, zu ihm zu kommen, war so groß gewesen, daß ich ihn noch bei Tisch überraschte, als ich eintrat; und als ich mich entschuldigte, daß ich ihn störte, sagte er:

»Aber ich habe nicht die Absicht, sie zu unterbrechen, und ich denke doch, Sie werden sie mich beenden lassen. Wenn Sie zum Essen gekommen wären, hätte ich Ihnen Chiraz eingeschenkt, jenen Wein, den Hafiz besang, aber jetzt ist es zu spät; man muß nüchtern sein, um ihn zu trinken; werden Sie wenigstens Likör nehmen?«

Ich nahm an, da ich dachte, er werde auch davon trinken; und als ich sah, daß man nur ein Glas brachte, war ich erstaunt:

»Entschuldigen Sie mich,« sagte er, »aber ich trinke fast nie.«

»Sollten Sie fürchten, betrunken zu werden?«

»O!« antwortete er, »im Gegenteil! Aber ich halte die Nüchternheit für einen mächtigeren Rausch; ich bewahre meine Klarheit dabei.«

»Und Sie geben den anderen zu trinken …«

Er lächelte.

»Ich kann nicht«, sagte er, »von jedem meine Tugenden fordern. Es ist schon schön, wenn ich in ihnen meine Laster wiederfinde …«

»Wenigstens rauchen Sie?«

»Ebensowenig. Das ist ein impersoneller, negativer Rausch, der zu leicht zu erobern ist; ich suche im Rausch eine Erhöhung und nicht eine Verminderung des Lebens. – Lassen wir das. Wissen Sie, woher ich komme? – Aus Biskra. – Ich wußte, daß Sie dort gewesen waren, und habe dort nach Spuren von Ihnen suchen wollen. Wozu war er nur nach Biskra gegangen, dieser blinde Gelehrte, dieser Leser? – Ich bin gewohnt, nur in Bezug auf das, was man mir selbst anvertraut, diskret zu sein; in dem, was ich aus mir selbst erfahre, gestehe ich, ist meine Neugier ohne Grenzen. Ich habe also überall, wo ich konnte, gesucht, gestöbert, gefragt. Meine Indiskretion hat mir gedient, da sie mir den Wunsch eingegeben hat, Sie wiederzusehen; da ich statt des gelehrten Gewohnheitsmenschen, den ich noch jüngst in Ihnen sah, weiß, daß ich jetzt … was, das kommt Ihnen zu, mir zu erklären … sehen soll.«

Ich fühlte, daß ich errötete.

»Was haben Sie denn über mich erfahren, Menalkas?«

»Sie wollen es wissen? Aber haben Sie keine Angst! Sie kennen Ihre Freunde und meine genügend, um zu wissen, daß ich mit niemanden von Ihnen reden kann. Sie haben gesehen, ob Ihr Kolleg verstanden wurde?«

»Aber«, sagte ich mit leichter Ungeduld, »nichts zeigt mir noch, daß ich mit Ihnen mehr reden kann als mit den anderen. Bitte! was haben Sie über mich erfahren?«

»Zunächst, daß Sie krank gewesen waren.«

»Aber das hat nichts …«

»O! das ist schon sehr wichtig. Dann hat man mir gesagt, Sie seien gern allein ausgegangen, ohne Buch (und da habe ich zu bewundern begonnen) oder, wenn Sie nicht allein waren, weniger gern von Ihrer Frau begleitet als von Kindern … Aber erröten Sie nicht, sonst sage ich Ihnen das Folgende nicht.«

»Erzählen Sie, ohne mich anzusehen.«

»Einer der Knaben – er hieß Moktir, wenn ich mich recht besinne – schön wie wenige, Dieb und Betrüger wie kein anderer, schien es, hatte mir viel zu sagen; ich gewann mir, erkaufte mir sein Vertrauen, was, wie Sie wissen, nicht leicht ist, denn ich glaube, er log noch, wenn er sagte, er lüge nicht mehr … Was er mir von Ihnen erzählt hat, sagen Sie mir doch, ob das wahr ist.«

Menalkas war inzwischen aufgestanden und hatte eine kleine Schachtel aus einem Schubfach genommen, die er aufmachte.

»Hat diese Schere Ihnen gehört?« sagte er, indem er mir etwas Formloses, Verrostetes, Stumpfgemachtes, Verbogenes hinhielt; aber ich hatte keine Mühe, die kleine Schere wiederzuerkennen, die Moktir hatte verschwinden lassen.

»Ja, das ist sie; sie hat meiner Frau gehört.«

»Er behauptet, er habe sie Ihnen gestohlen, als Sie eines Tages mit ihm allein im Zimmer waren und ihm den Rücken zudrehten; aber das ist nicht das Interessanteste; er behauptet, in dem Moment, wo er sie im Burnus verbarg, habe er begriffen, daß Sie ihn in einem Spiegel beobachteten, und er habe den Reflex Ihres Blickes ertappt, als er nach ihm ausspähte. Sie hatten den Diebstahl gesehen und haben nichts gesagt! Moktir zeigte sich über dieses Schweigen sehr erstaunt … ich gleichfalls.«

»Ich bin es nicht minder über das, was Sie mir sagen: wie! er wußte also, daß ich ihn ertappt hatte!«

»Das ist nicht das Wichtige; Sie wollten ganz fein spielen; bei diesem Spiel prellen uns solche Kinder immer. Sie meinten, Sie hätten ihn, und er hatte Sie … Das ist nicht das Wichtige. Erklären Sie mir Ihr Schweigen.«

»Ich wollte, man erklärte es mir.«

Wir blieben eine Weile still und sagten nichts. Menalkas, der im Zimmer auf und ab ging, zündete sich zerstreut eine Zigarette an und warf sie gleich wieder fort.

»Da«, sagte er, »scheint Ihnen ›ein Sinn‹, wie die anderen sagen, ›ein Sinn‹ zu fehlen, lieber Michel.«

»Vielleicht der ›moralische Sinn‹,« sagte ich, indem ich mich zu lächeln zwang.

»O! einfach der des Eigentums.«

»Mir scheint nicht, daß Sie selber den sehr stark haben.«

»Ich habe ihn so wenig, daß hier, sehen Sie, nichts mir gehört; nicht einmal, oder vor allem nicht, das Bett, in dem ich schlafe. Mir graut vor der Ruhe; der Besitz ermutigt zu ihr, und in der Sicherheit schläft man ein; ich lebe gern genug, um wach leben zu wollen, und halte also im Schoß meines Reichtums selber dieses Gefühl des ungewissen Zustands aufrecht, durch das ich mein Leben aufrege oder mindestens erhöhe. Ich kann nicht sagen, daß ich die Gefahr liebe, aber ich liebe das gewagte Leben und will, daß es mir in jedem Augenblick meinen ganzen Mut, mein ganzes Glück und meine ganze Gesundheit fordere …«

»Was werfen Sie mir dann vor?« unterbrach ich.

»O! wie schlecht Sie mich verstehen, lieber Michel; um ein Haar begehe ich die Dummheit, daß ich versuche, meinen Glauben zu bekennen! … Wenn ich mich wenig um den Beifall oder die Mißbilligung der Menschen kümmere, Michel, so geschieht es nicht, um nun selber zu billigen oder zu mißbilligen; diese Worte haben für mich nicht viel Sinn. Ich habe eben zu viel von mir selber geredet; daß ich mich verstanden glaubte, riß mich fort … Ich wollte Ihnen nur sagen, daß Sie für einen Menschen, der den Eigentumssinn nicht hat, viel zu besitzen scheinen; das ist ernst.«

»Was besitze ich groß?«

»Nichts, wenn Sie es so nehmen … Aber eröffnen Sie nicht Ihr Kolleg? Sind Sie nicht Gutsbesitzer in der Normandie? Haben Sie sich nicht in Passy eingerichtet, und zwar luxuriös? Sie sind verheiratet. Erwarten Sie nicht ein Kind?«

»Nun gut!« sagte ich ungeduldig, »das beweist einfach, daß ich mir habe ein ›gefährlicheres‹ Leben (wie Sie es nennen) zu schaffen verstanden, als Ihres ist.«

»Ja, einfach,« wiederholte Menalkas ironisch; dann drehte er sich plötzlich herum und hielt mir die Hand hin:

»Also adieu; das genügt für heute abend, und wir würden nichts Besseres sagen. Aber auf bald.«

Ich sah ihn eine Zeitlang nicht wieder.

 

Neue Besorgungen, neue Sorgen nahmen mich in Anspruch; ein italienischer Gelehrter teilte mir neue Dokumente mit, die er herausgab, und die ich für mein Kolleg ausführlich studierte. Daß ich meine erste Vorlesung als schlecht verstanden empfand, hatte mein Verlangen angespornt, die folgenden anders und kräftiger zu beleuchten; dadurch wurde ich dazu gedrängt, als Doktrin aufzustellen, was ich zunächst nur als geistreiche Hypothese gewagt hatte. Wieviele Behaupter verdanken ihre Kraft diesem Zufall, daß sie mit einem halben Wort nicht verstanden wurden! Ich wenigstens gestehe, ich kann den Teil Eigensinn nicht herauslösen, der sich vielleicht in das Bedürfnis natürlicher Behauptung einschlich. Was ich Neues zu sagen hatte, erschien mir um so dringender, je mehr Mühe es mich kostete, es zu sagen, und vor allem, es verständlich zu machen.

Aber wie verblaßten die Worte neben den Taten! War nicht das Leben, war nicht Menalkas' geringste Geste tausendmal beredter als meine Vorlesung? Ah! wie gut begriff ich von nun an, daß der fast ganz moralische Unterricht der großen antiken Philosophie ein Unterricht ebensosehr, ja, mehr des Beispiels gewesen war, als der Worte!

 

Ich sah Menalkas in meiner Wohnung wieder, etwa drei Wochen nach unserer ersten Begegnung. Es war fast am Schluß einer zu zahlreichen Gesellschaft. Um eine tägliche Störung zu vermeiden, zogen Marzeline und ich es vor, unsere Türen am Donnerstag Abend weit offen zu lassen; so konnten wir sie die anderen Tage leichter schließen. Jeden Donnerstag also kamen die, die sich unsere Freunde nannten; die schönen Dimensionen unserer Salons erlaubten uns, sie in großer Zahl zu empfangen, und die Gesellschaft zog sich weit in die Nacht hinein. Ich glaube, sie zog vor allem Marzelinens wundervolle Anmut herbei und das Vergnügen, sich unter sich zu unterhalten, denn was mich anging, so fand ich schon am zweiten dieser Abende nichts mehr anzuhören und nichts zu sagen, und ich verhehlte meine Langeweile nur schlecht. Ich irrte vom Rauchzimmer in den Salon, vom Vorzimmer in die Bibliothek, angeklammert bisweilen an ein Wort, ohne viel zu beobachten, aber mit einem Blick wie aufs Geratewohl.

Antonius, Stephan und Gottfried besprachen, auf den empfindlichen Sesseln meiner Frau hingerekelt, die letzte Abstimmung der Kammer. Hubert und Ludwig nahmen wundervolle Radierungen aus der Sammlung meines Vaters ohne Vorsicht in die Hand und zerknitterten sie. Im Rauchzimmer hatte Mathias, um Leonhard besser zuhören zu können, die brennende Zigarre auf einen Tisch aus Rosenholz gelegt. Auf den Teppich hatte sich ein Glas Curaçao ergossen. Albert hatte sich unverschämt auf einen Divan gelegt, und seine schmutzigen Füße verdarben einen Stoff. Und der Staub, den man einatmete, entstand aus der scheußlichen Abnutzung der Dinge … Mich faßte eine wütende Lust, all meine Gäste an der Schulter hinauszustoßen. Möbel, Stoffe, Stiche verloren für mich beim ersten Fleck ihren ganzen Wert: befleckte Dinge, von Krankheit befallene und gleichsam dem Tode bestimmte Dinge. Ich hätte alles schützen, alles für mich allein unter Schloß legen mögen. Wie glücklich ist der Menalkas, dachte ich, der nichts hat! Ich leide, weil ich bewahren will. Was liegt mir im Grunde an all dem? … – In einem weniger hell beleuchteten kleinen Salon, der durch eine geschliffene Glasscheibe abgetrennt war, empfing Marzeline nur wenige Intimen; sie lag halb auf Kissen hingestreckt; sie war furchtbar blaß und schien mir so ermüdet, daß ich plötzlich erschrak und mir versprach, dieser Empfang sollte der letzte sein. Es war schon spät. Ich wollte auf meine Uhr sehen, als ich in meiner Westentasche Moktirs kleine Schere fühlte.

– Und warum hatte er sie gestohlen, wenn er sie alsbald zu Grunde richten, zerstören wollte? – In diesem Moment schlug mich jemand auf die Schulter, ich drehte mich jäh um: es war Menalkas.

Er war, fast als einziger, im Frack. Er kam gerade. Er bat mich, ihn meiner Frau vorzustellen; ich hätte es sicher nicht von selbst getan. Menalkas war elegant, fast schön; ein ungeheurer, herabhängender, schon grauer Schnurrbart durchschnitt sein Piratengesicht; die kalte Flamme seines Blickes deutete mehr Mut und Entschiedenheit an als Güte. Er stand kaum vor Marzeline, so begriff ich, daß er ihr nicht gefiel. Nachdem er einige banale Höflichkeitsphrasen mit ihr ausgetauscht hatte, zog ich ihn ins Rauchzimmer hinüber.

Ich hatte gerade am Morgen von der neuen Mission erfahren, mit der ihn das Kolonialministerium beauftragte; mehrere Blätter erinnerten bei diesem Thema an seine abenteuerliche Karriere, sie schienen ihre niedrigen Beschimpfungen vom Tage zuvor zu vergessen und konnten keine genügend lebhaften Ausdrücke finden, um ihn zu loben. Sie übertrieben die Dienste um die Wette, die dem Lande, der ganzen Menschheit durch die merkwürdigen Entdeckungen seiner letzten Forschungsreisen geleistet waren, gerade als unternähme er alles nur mit einem humanitären Ziel: und man rühmte an ihm Züge der Selbstentsagung, der Hingabe, der Kühnheit, gerade als müsse er in diesem Lob einen Lohn suchen.

Ich begann ihn zu beglückwünschen; er unterbrach mich schon bei den ersten Worten:

»Ah, wie! Sie auch, lieber Michel; und Sie hatten mich doch nicht erst beschimpft,« sagte er. »Lassen Sie diese Albernheiten den Zeitungen. Sie scheinen sich heute zu wundern, daß ein Mann von verrufenen Sitten trotzdem noch einige Tugenden haben kann. Ich weiß in mir nicht die Unterschiede und die Vorbehalte zu machen, die sie aufstellen wollen, und ich existiere nur als Totalität. Ich mache nur aufs Natürliche Anspruch, und bei jeder Handlung ist mir das Vergnügen, das ich an ihr finde, das Zeichen, daß ich sie tun mußte.«

»Das kann weit führen,« sagte ich.

»Ich zähle darauf,« erwiderte Menalkas. »Ah! wenn alle, die uns umgeben, sich davon überzeugen könnten. Aber die meisten unter ihnen glauben von sich nur durch Zwang Gutes erlangen zu können; sie gefallen sich nur, wenn sie sich fälschen. Sich selber strebt jeder am wenigsten zu gleichen. Jeder nimmt sich einen Schirmherrn und ahmt ihn dann nach; ja, er wählt sich den Schirmherrn, den er nachahmt, nicht einmal; er nimmt seinen schon gewählten Schirmherrn hin. Und doch gibt es, glaube ich, im Menschen noch andere Dinge zu lesen. Man wagt es nicht. Man wagt das Blatt nicht zu wenden. – Die Gesetze der Nachahmung: ich nenne sie Gesetze der Furcht. Man hat Angst davor, sich allein zu sehen; und man sieht sich überhaupt nicht. Diese moralische Agoraphobie ist mir verhaßt; sie ist die schlimmste Feigheit. Und doch erfindet man stets nur allein. Aber wer sucht hier zu erfinden? Was man in sich anders fühlt, gerade das ist, was man an Seltenem besitzt, was jedem seinen Wert gibt – und das ist, was man sich zu unterdrücken müht. Man ahmt nach. Und man behauptet das Leben zu lieben.«

Ich ließ Menalkas reden; was er sagte, war genau, was ich vor einem Monat selber zu Marzeline gesagt hatte; und ich hätte es also billigen sollen. Warum, aus welcher Feigheit heraus unterbrach ich ihn und sagte ihm, indem ich Marzeline nachahmte, Wort für Wort die Phrase, mit der sie vorher mich unterbrochen hatte: – »Lieber Menalkas, Sie können nicht von jedem verlangen, daß er anders sei als die anderen …«

Menalkas verstummte plötzlich, sah mich auf wunderliche Art an, und da Eusebius gerade herzutrat, um sich von mir zu verabschieden, so drehte er mir ohne Umstände den Rücken zu und ging und unterhielt sich mit Hektor von gleichgültigen Dingen.

Kaum ausgesprochen, war meine Phrase mir blöde erschienen; und ich war vor allem trostlos, weil sie Menalkas glauben machen konnte, ich fühle mich von seinen Worten angegriffen. – Es war spät; meine Gäste brachen auf. Als der Salon fast leer war, kam Menalkas zu mir zurück:

»Ich kann Sie nicht so verlassen,« sagte er. »Ohne Zweifel habe ich Ihre Worte falsch verstanden. Lassen Sie es mich wenigstens hoffen …«

»Nein,« antwortete ich, »Sie haben sie nicht falsch verstanden … aber sie hatten keinen Sinn; ich hatte sie kaum gesagt, so litt ich unter ihrer Dummheit – und vor allem darunter, daß ich fühlte, sie mußten mich in Ihren Augen eben unter die reihen, denen Sie gerade den Prozeß machten, und die, ich versichere es Ihnen, mir so verhaßt sind wie Ihnen. Ich hasse alle Prinzipienmenschen.«

»Sie sind«, erwiderte Menalkas lachend, »das abscheulichste, was es in dieser Welt gibt. Man könnte von ihnen keinerlei Aufrichtigkeit erwarten; denn sie tun niemals etwas anderes, als was ihre Prinzipien dekretiert haben, daß sie es tun sollen, oder wenn nicht, so sehen sie, was sie tun, als schlecht getan an. Beim bloßen Verdacht, Sie könnten einer der ihren sein, fühlte ich, wie mir das Wort auf den Lippen erstarrte. Der Schmerz, der mich alsbald ergriff, hat mir offenbart, wie lebhaft meine Zuneigung zu Ihnen ist; ich wünschte, mich geirrt zu haben – nicht in meiner Zuneigung, sondern in dem Urteil, das ich fällte.«

»Freilich war Ihr Urteil falsch.«

»Ah! nicht wahr,« sagte er, indem er plötzlich meine Hand ergriff. »Hören Sie; ich breche bald auf, aber ich möchte Sie noch einmal sehen. Meine Reise wird diesmal noch länger und gewagter werden als alle anderen; ich weiß nicht, wann ich wiederkommen werde. Ich muß in vierzehn Tagen abreisen; hier weiß niemand, daß mein Aufbruch so nahe bevorsteht; ich sage es Ihnen als Geheimnis. Ich breche mit der Morgenröte auf. Die Nacht, die einem Aufbruch vorangeht, ist für mich jedesmal eine Nacht furchtbarer Ängste. Beweisen Sie mir, daß Sie kein Prinzipienmensch sind; kann ich darauf rechnen, daß Sie diese letzte Nacht bei mir verbringen wollen?«

»Aber wir werden uns noch vorher wiedersehen,« sagte ich ein wenig überrascht.

»Nein. Während dieser vierzehn Tage werde ich für niemanden zu Haus sein; ich werde nicht einmal in Paris sein. Morgen fahre ich nach Budapest; in sechs Tagen muß ich in Rom sein. Hier wie dort sind Freunde, die ich umarmen will, ehe ich Europa verlasse. Ein dritter erwartet mich in Madrid …«

»Abgemacht, ich werde diese Nacht der Wache bei Ihnen verbringen.«

»Und wir wollen Chirazwein trinken,« sagte Menalkas.

 

Ein paar Tage nach diesem Abend begann Marzeline, sich weniger gut zu befinden. Ich habe schon gesagt, daß sie oft ermattet war; aber sie mied es zu klagen, und da ich diese Mattigkeit ihrem Zustand zuschrieb, hielt ich sie für sehr natürlich und mied es, mich aufzuregen. Ein alter, ziemlich dummer oder ungenügend unterrichteter Arzt hatte uns gleich anfangs übermäßig beruhigt. Neue Störungen jedoch, die von Fieber begleitet waren, bestimmten mich, den Doktor Tr. zu rufen, der damals als der klügste Spezialist galt. Er wunderte sich, daß ich ihn nicht längst gerufen hatte, und verordnete ein strenges Regime, dem sie schon seit einiger Zeit hätte folgen müssen. Aus einem sehr unvorsichtigen Mut hatte Marzeline sich bis zu diesem Tage überanstrengt; bis zur Entbindung, die man gegen Ende Januar erwartete, sollte sie die Chaiselongue hüten. Ohne Zweifel ein wenig unruhig, und leidender als sie zugeben wollte, beugte Marzeline sich sehr geduldig den störendsten Vorschriften. Eine kurze Empörung jedoch regte sie auf, als Tr. ihr Chinin verordnete, und zwar in Dosen, unter denen, wie sie wußte, ihr Kind leiden konnte. Drei Tage hindurch weigerte sie sich hartnäckig, davon zu nehmen; dann wurde das Fieber stärker, und sie mußte sich auch dem fügen; aber diesmal geschah es mit einer großen Trauer und wie mit einem schmerzlichen Verzicht auf die Zukunft; eine Art religiöser Resignation brach den Willen, der sie bis dahin aufrechthielt, so daß ihr Zustand sich während der paar Tage, die noch folgten, jäh verschlimmerte.

Ich umgab sie mit noch mehr Sorgfalt und beruhigte sie nach Kräften, indem ich mich eben der Worte Trs. bediente, der in ihrem Zustand nichts Allzuernstes sah; aber die Gewalt ihrer Befürchtungen ängstigte schließlich auch wieder mich. Ah! wie gefährlich ruhte unser Glück schon auf der Hoffnung! und auf was für einer ungewissen Zukunft? Mich, der anfangs nur am Vergangenen Geschmack gefunden hatte, mich, dachte ich, hat der plötzliche Geschmack des Augenblicks eines Tages berauschen können, aber die Zukunft entzaubert die gegenwärtige Stunde, mehr noch als die Gegenwart die Vergangenheit entzaubert; und seit unserer Nacht in Sorrent wirft sich schon meine ganze Liebe, mein ganzes Leben auf die Zukunft.

 

Inzwischen kam der Abend, den ich Menalkas versprochen hatte; und trotz meines Ärgers, Marzeline eine ganze Winternacht hindurch allein lassen zu müssen, machte ich ihr, so gut ich konnte, das Feierliche des Rendez-vous, den Ernst meines Versprechens klar. Marzeline ging es an diesem Abend besser, und trotzdem war ich unruhig; eine Wärterin ersetzte mich bei ihr. Aber sowie ich auf der Straße war, gewann meine Unruhe neue Kraft; ich drängte sie zurück, kämpfte gegen sie, ärgerte mich über mich selbst, daß ich mich nicht besser von ihr befreien konnte. So kam ich langsam in einen Zustand von Überspannung, von sonderbarer Aufregung hinein, der von der schmerzlichen Unruhe, aus der er entstand, sehr verschieden und doch ihr sehr nahe war, aber näher noch dem Glück. Es war spät; ich ging mit großen Schritten; der Schnee begann reichlich zu fallen; ich war glücklich, endlich eine lebhaftere Luft zu atmen, gegen die Kälte zu kämpfen, glücklich gegen Wind und Nacht und Schnee; ich genoß meine Energie.

Menalkas, der mich kommen hörte, erschien auf dem Treppenabsatz. Er erwartete mich ungeduldig. Er war bleich und schien ein wenig aufgeregt. Er nahm mir den Mantel ab und zwang mich, meine nassen Stiefel mit weichen, persischen Pantoffeln zu vertauschen. Auf einem kleinen Tischchen beim Feuer waren Leckereien aufgestellt. Zwei Lampen erhellten den Raum weniger als das Kaminfeuer. Menalkas erkundigte sich gleich nach Marzelinens Ergehen; der Einfachheit halber antwortete ich, es gehe ihr sehr gut.

»Ihr Kind erwarten Sie bald?« erwiderte er.

»In einem Monat.«

Menalkas neigte sich gegen das Feuer, als wolle er sein Gesicht verbergen. Er schwieg. Er schwieg so lange, daß ich schließlich ganz verlegen wurde und auch nicht mehr wußte, was ich ihm sagen sollte. Ich stand auf, tat einige Schritte, trat dann an ihn heran und legte ihm die Hand auf die Schulter. Da murmelte er, als setze er seinen Gedanken fort:

»Man muß wählen. Worauf es ankommt, ist, daß man weiß, was man will …«

»Eh! wollen Sie nicht fort?« fragte ich, des Sinnes nicht gewiß, den ich seinen Worten geben sollte.

»Es sieht so aus.«

»Sollten Sie also zögern?«

»Wozu? – Sie haben Frau und Kind, bleiben Sie … Von den tausend Formen des Lebens kann jeder nur eine kennen. Andere um ihr Glück beneiden, ist Torheit; man könnte es nicht gebrauchen. Das Glück kann man nicht fertig kaufen, es muß nach Maß gemacht werden. – Ich gehe morgen fort; ich weiß: ich habe versucht, dies Glück nach meinem Maß zu schneiden … behalten Sie das ruhige Glück des Herdes …«

»Auch ich hatte mir das Glück nach meinem Maß geschnitten,« rief ich aus, »aber ich bin gewachsen; jetzt ist mir mein Glück zu eng; bisweilen erdrosselt es mich fast! …«

»Bah! Sie werden sich darein finden!« sagte Menalkas; dann stellte er sich vor mich hin, tauchte seinen Blick in meinen, und da ich nichts zu sagen fand, lächelte er ein wenig traurig: – »Man glaubt, man besitzt, und man wird besessen,« erwiderte er. – »Schenken Sie sich Chiraz ein, lieber Michel; Sie werden ihn nicht oft kosten; und essen Sie diese rosigen Pasten, die die Perser dazunehmen. Heute abend will ich mit Ihnen trinken, will vergessen, daß ich morgen fortgehe, und plaudern, als wäre diese Nacht noch lang … Wissen Sie, was heute aus der Poesie, und vor allem aus der Philosophie tote Buchstaben macht? Daß sie sich vom Leben abgetrennt haben. Griechenland idealisierte das Leben selber; so daß das Leben des Künstlers schon an sich eine poetische Verwirklichung war; das Leben des Philosophen eine Umsetzung seiner Philosophie in die Tat; so daß auch unters Leben gemischt, statt sich nicht zu kennen, die Philosophie die Dichtung nährte, und die Dichtung die Philosophie ausdrückte, und alles von wundervoller Überzeugungskraft war. Heute handelt die Schönheit nicht mehr; das Handeln sorgt sich nicht mehr, schön zu sein; und die Weisheit wirkt abseits.«

»Warum schreiben nicht Sie,« sagte ich, »der Sie Ihre Weisheit leben, Ihre Memoiren? – oder einfach«, fuhr ich fort, da ich ihn lächeln sah, »die Erinnerungen Ihrer Reisen?«

»Weil ich mich nicht erinnern will,« antwortete er. »Täte ich es, ich würde glauben, ich hindere die Zukunft, heraufzukommen, und ich lasse die Vergangenheit eingreifen. Aus dem vollkommenen Vergessen des Gestern schaffe ich die Neuheit jeder Stunde. Niemals genügt es mir, daß ich glücklich gewesen bin. Ich glaube nicht an die toten Dinge und verwechsele ›nicht mehr sein‹ mit ›nie gewesen sein‹.«

Ich ärgerte mich schließlich über seine Worte, die meinen Gedanken zu sehr vorauseilten; ich hätte zurückhalten mögen, ihn aufhalten, aber ich suchte vergebens zu widersprechen; und übrigens ärgerte ich mich mehr noch über mich als über Menalkas. Ich blieb also stumm. Er lief bald nach Art eines wilden Tieres im Käfig hin und her, bald neigte er sich zum Feuer, bald schwieg er lange, bald sagte er dann unvermittelt:

»Wenn unsere mittelmäßigen Gehirne die Erinnerungen noch so gut einzubalsamieren verständen! Aber sie konservieren sich schlecht; die zartesten reiben sich ab, die wollüstigsten verwesen, die köstlichsten sind in der Folge die gefährlichsten. Was man bereut, war anfangs köstlich.«

Wieder langes Schweigen; und dann fuhr er fort:

»Bedauern, Gewissensbisse, Reue – das sind Freuden von ehedem, von hinten gesehen. Ich blicke nicht gern rückwärts, und ich lasse meine Vergangenheit in der Ferne, wie der Vogel, um zu fliegen, seinen Schatten verläßt. Ah! Michel, jede Freude erwartet uns immer, aber stets will sie das Lager leer finden, die einzige sein, und man soll wie ein Witwer zu ihr kommen. – Ah! Michel, jede Freude gleicht jenem Manna der Wüste, das von Tag zu Tag verdirbt; sie gleicht dem Wasser der Quelle Ameles, das sich, wie Plato erzählt, in keinem Gefäß bewahren ließ … Jeder Moment muß mit sich nehmen, was er gebracht hat.«

Menalkas sprach noch lange; ich kann hier nicht all seine Sätze anführen; aber viele gruben sich in mir ein, um so stärker, je schneller ich sie hätte vergessen mögen; nicht, daß sie mir irgend etwas sehr Neues gesagt hätten – aber sie entblößten plötzlich meinen Gedanken; einen Gedanken, den ich mit so vielen Schleiern bedeckte, daß ich fast hatte hoffen können, er sei erstickt. So verstrich die Nachtwache.

Als ich am Morgen Menalkas an den Zug gebracht hatte, der ihn entführte, und mich allein auf den Weg machte, um zu Marzeline zurückzukehren, fühlte ich mich erfüllt von erbärmlicher Trauer, von Haß gegen Menalkas' cynische Freude; ich wollte, sie sollte unecht sein; ich zwang mich, sie zu leugnen. Ich ärgerte mich, daß ich ihm nichts zu antworten gewußt hatte; ich ärgerte mich, daß ich ein paar Worte gesagt hatte, nach denen er an meinem Glück, an meiner Liebe zweifeln mußte. Und ich klammerte mich an mein zweifelhaftes Glück, an mein »ruhiges Glück«, wie Menalkas gesagt hatte; ich konnte die Unruhe nicht von ihm lösen, aber ich behauptete, diese Unruhe diene der Liebe als Nahrung. Ich neigte mich gegen die Zukunft hin, wo ich schon mein kleines Kind mir zulächeln sah; für dies Kind reformierte sich, kräftigte sich meine Moral … Entschieden ging ich mit festem Schritt.

Aber ach! als ich an diesem Morgen ins Haus trat, fiel mir gleich im ersten Zimmer eine ungewohnte Verwirrung auf. Die Wärterin kam mir entgegen und teilte mir in gemäßigten Worten mit, während der Nacht hätten meine Frau furchtbare Ängste ergriffen, und dann Schmerzen, obgleich sie noch nicht am Ziel ihrer Schwangerschaft zu sein glaubte; da sie sich sehr schlecht fühlte, so habe sie zum Doktor geschickt; der sei in aller Eile während der Nacht gekommen und habe die Kranke trotzdem noch nicht verlassen; dann, glaube ich, sah sie meine Blässe und wollte mich beruhigen, indem sie mir sagte, alles gehe schon viel besser, es … Ich stürzte zu Marzelinens Zimmer.

Das Zimmer war schwach erleuchtet, und zunächst unterschied ich nur den Doktor, der mir mit der Hand Schweigen auferlegte; dann im Schatten eine Gestalt, die ich nicht kannte. Ängstlich und geräuschlos näherte ich mich dem Bett. Marzeline hatte die Augen geschlossen; sie war so schrecklich bleich, daß ich sie erst für tot hielt; aber ohne die Augen aufzuschlagen, wandte sie mir den Kopf zu. In einem dunklen Winkel des Zimmers ordnete, verbarg die unbekannte Figur verschiedene Dinge, ich sah glänzende Instrumente, Watte; ich sah, ich glaubte ein blutbeflecktes Laken zu sehen … Ich fühlte, daß ich schwankte. Ich fiel fast auf den Doktor; er stützte mich. Ich begriff; ich fürchtete zu begreifen …

»Das Kleine?« fragte ich ängstlich.

Er zuckte traurig mit den Schultern. – Ohne noch zu wissen, was ich tat, warf ich mich schluchzend gegen das Bett. Ah! die plötzliche Zukunft! Der Boden wich mir jäh unter den Füßen; vor mir war nur noch ein leeres Loch, in das ich ganz hinabfiel.

 

Hier verwirrt sich alles in finsterer Erinnerung. Doch schien Marzeline sich zunächst ziemlich schnell zu erholen. Die Ferien des Jahresanfangs ließen mir ein wenig Muße, und ich konnte fast alle Stunden des Tages bei ihr verbringen. Ich las und schrieb neben ihr oder ich las ihr leise vor. Ich ging nie aus, ohne ihr ein paar Blumen mitzubringen. Ich entsann mich der zärtlichen Sorge, mit der sie mich umgeben hatte, als ich krank war, und ich umgab sie mit so viel Liebe, daß sie bisweilen wie glücklich darüber lächelte. Kein Wort wurde über den Gegenstand des traurigen Ereignisses getauscht, das unsere Hoffnungen zerschlug …

Dann stellte sich eine Aderentzündung ein; und als sie nachzulassen begann, warf eine Arterienverstopfung Marzeline plötzlich zwischen Leben und Tod. Es war nachts; ich sehe mich noch über sie geneigt, wie ich mit ihrem mein Herz stillestehen oder Wiederaufleben fühlte. Wie viele Nächte habe ich so bei ihr gewacht! den Blick hartnäckig auf sie geheftet, in der Hoffnung, kraft der Liebe ein wenig von meinem Leben in ihres einzuschleichen. Und wenn ich nicht mehr viel ans Glück dachte, so war meine einzige, traurige Freude, Marzeline bisweilen lächeln zu sehen.

Mein Kolleg hatte wieder begonnen. Wo fand ich die Kraft, meine Vorlesungen vorzubereiten, sie zu halten? … Meine Erinnerung verliert sich, und ich weiß nicht mehr, wie sich die Wochen folgten. – Doch eine Kleinigkeit will ich euch noch erzählen:

Es ist eines Morgens, kurze Zeit nach der Arterienverstopfung; ich bin bei Marzeline; es scheint ihr ein wenig besser zu gehen, aber noch ist ihr die größte Regungslosigkeit vorgeschrieben; sie darf nicht einmal die Arme rühren. Ich neige mich, um ihr zu trinken zu geben, und als sie getrunken hat und ich noch über sie geneigt bin, bittet sie mich mit einer Stimme, die ihre Verlegenheit noch schwächer macht, ein Kästchen zu öffnen, das ihr Blick bezeichnet; es steht da, auf dem Tisch; ich öffne es; es ist voll Bänder, Putz, kleinen, wertlosen Schmucks; was will sie? Ich bringe den Kasten nah ans Bett; ich hebe nacheinander alles einzeln heraus. Ist es dies? das? … nein; noch nicht; und ich fühle, wie sie ein wenig unruhig wird. – »Ah! Marzeline! diesen kleinen Rosenkranz willst du!« – Sie müht sich zu lächeln.

»Du fürchtest also, ich pflege dich nicht genug?«

»O! mein Freund!« murmelte sie. – Und ich erinnerte mich unseres Gesprächs in Biskra, ihres schüchternen Vorwurfs, als sie mich abweisen hört, was sie »Gottes Hilfe« nennt. Ich erwidere ein wenig hart:

»Ich bin ganz gut allein gesund geworden.«

»Ich habe so viel für dich gebetet,« antwortet sie. – Sie sagt das zärtlich, traurig; ich fühle in ihrem Blick eine flehende Angst … Ich nehme den Rosenkranz und lasse ihn ihr in die geschwächte Hand gleiten, die auf der Decke neben ihr ruht. Ein Blick voll Tränen und Liebe belohnt mich – aber ich kann nicht auf ihn antworten; noch einen Moment zögere ich, weiß nicht, was tun, bin verlegen; schließlich halte ich es nicht mehr aus:

»Adieu,« sage ich – und ich verlasse das Zimmer, feindselig und als hätte man mich daraus verjagt.

 

Doch die Arterienverstopfung hatte ziemlich ernste Störungen herbeigeführt; der scheußliche Blutkuchen, den das Herz ausgestoßen hatte, ermüdete und bedrängte die Lungen, sperrte die Atmung, machte sie schwierig und pfeifend. Ich glaubte, ich würde sie nie wieder gesund werden sehen. Die Krankheit war in Marzeline getreten, bewohnte sie hinfort, zeichnete sie, befleckte sie. Sie war verdorben.

 

III

Die Jahreszeit wurde milde. Sobald mein Kolleg zu Ende war, brachte ich Marzeline auf die Morinière, da der Doktor behauptete, jede dringende Gefahr sei vorüber, und um sie vollends wiederherzustellen, sei nichts so nötig wie eine bessere Luft. Ich selber hatte auch Ruhe sehr nötig. Diese Nachtwachen, die ich fast alle selber zu halten gedrungen hatte, diese lang hingezogene Angst, und vor allem diese physische Sympathie, unter der ich zur Zeit von Marzelinens Arterienverstopfung in mir die furchtbaren Sprünge ihres Herzens nachgefühlt hatte – all das hatte mich matt gemacht, als wäre ich selber krank gewesen.

Ich hätte Marzeline lieber ins Gebirge gebracht; aber sie zeigte mir den lebhaftesten Wunsch, in die Normandie zurückzukehren, behauptete, kein Klima würde ihr besser tun, und erinnerte mich daran, daß ich die beiden Pachthöfe wiedersehen müsse, mit denen ich mich ein wenig verwegen beladen hatte. Sie überredete mich, ich habe mich dafür verantwortlich gemacht und sei es mir schuldig, daß ich Erfolg damit hätte. Wir waren kaum angekommen, so drängte sie mich also, auf die Felder zu laufen … Ich weiß nicht, ob sich nicht in ihr freundschaftliches Drängen eine Menge Selbstentsagung mischte; die Furcht, daß ich sonst meine Freiheit als nicht groß genug empfinden möge, im Glauben, die Pflege, die man ihr noch angedeihen lassen mußte, halte mich bei ihr zurück … Aber es ging Marzeline besser; ihre Wangen färbte wieder Blut; und nichts erfrischte mich so sehr, wie daß ich ihr Lächeln als weniger traurig empfand; ich konnte sie ohne Furcht verlassen.

Ich ging also wieder auf die Pachthöfe. Man machte das erste Heu. Die von Blütenstaub und Düften schwere Luft betäubte mich anfangs wie ein berauschendes Getränk. Mir schien, ich hatte seit dem vergangenen Jahr nicht mehr geatmet oder nur Staub geatmet: so süß durchdrang mich die Atmosphäre. Von der Böschung aus, wo Ich mich wie berauscht hingesetzt hatte, beherrschte ich die Morinière; ich sah ihre blauen Dächer, die schlafenden Wasser ihrer Gräben; darum gemähte Felder, andere voll Gras; weiterhin die Krümmung des Bachs; noch weiter das Holz, wo ich im letzten Herbst mit Karl spazieren geritten war. Ein Singen, das ich schon seit ein paar Augenblicken gehört hatte, kam näher; es waren die Heuwender, die mit der Gabel oder mit dem Rechen auf der Schulter nach Hause zogen. Diese Arbeiter, die ich fast alle wiedererkannte, erinnerten mich ärgerlich daran, daß ich nicht als entzückter Wanderer da war, sondern als Herr. Ich näherte mich, lächelte ihnen zu, sprach mit ihnen, erkundigte mich ausführlich nach jedem. Schon hatte mir morgens Bocage über den Stand der Kulturen Bericht erstatten können; übrigens hatte er mich durch eine regelmäßige Korrespondenz ständig über die geringsten Zwischenfälle mit den Pachthöfen auf dem Laufenden gehalten. Die Wirtschaft ging nicht schlecht, viel besser, als Bocage mich anfangs hatte hoffen lassen. Doch erwartete man mich für ein paar wichtige Entscheidungen, und einige Tage lang leitete ich alles nach besten Kräften, ohne Lust, aber indem ich mein vernichtetes Leben an diesen Schein der Arbeit hing.

Sobald Marzeline wohl genug war, um zu empfangen, kamen ein paar Freunde zu uns auf Besuch. Ihre liebevolle und geräuschlose Gesellschaft konnte Marzeline gefallen, bewirkte aber, daß ich das Haus nur um so lieber verließ. Ich zog die Gesellschaft der Leute vom Pachthof vor; mir schien, ich würde bei ihnen mehr zu lernen finden – nicht, daß ich ihnen viele Fragen stellte – nein, und ich weiß auch die Art Freude, die ich in ihrer Nähe empfand, kaum auszudrücken: mir schien, ich fühlte durch sie hindurch – und während mir die Unterhaltung unserer Freunde, noch ehe sie zu reden anfingen, schon ganz bekannt war, verursachte mir der bloße Anblick dieser Kerle eine beständige Verwunderung.

Wenn man anfangs hätte meinen können, sie legten in ihre Antwort die ganze Herablassung, die ich in meine Fragen zu legen mied, so ertrugen sie meine Gegenwart bald besser. Ich trat immer mehr mit ihnen in Kontakt. Nicht damit zufrieden, ihnen bei der Arbeit zu folgen, wollte ich sie bei ihren Spielen sehen; ihre stumpfen Gedanken interessierten mich kaum, aber ihren Mahlzeiten wohnte ich bei, ich lauschte ihren Scherzen, beobachtete ihre Vergnügungen mit Liebe. Es geschah in einer Art Sympathie, ähnlich der, unter der mein Herz bei den Sprüngen von Marzelinens mitsprang, es war ein unmittelbares Echo jeder fremden Empfindung – nicht unbestimmt, sondern genau, scharf. Ich fühlte den Gliederschmerz des Mähers in meinen Armen; ich war müde von seiner Müdigkeit; der Schluck Zider, den er trank, stillte mich; ich fühlte ihn in seine Kehle gleiten; eines Tages schnitt sich einer, als er seine Sense schärfte, tief in den Daumen: ich fühlte seinen Schmerz bis auf den Knochen.

So schien mir, nicht mehr mein Blick allein zeigte mir die Landschaft, sondern ich fühlte sie noch durch eine Art Betasten, das diese wunderliche Sympathie grenzenlos machte.

Bocages Gegenwart störte mich; ich mußte, wenn er kam, den Herrn spielen, und daran fand ich keinen Geschmack mehr. Ich befahl noch, es war nötig, und ich leitete die Arbeiter auf meine Art; aber ich ritt nicht mehr, aus Furcht, sie zu sehr zu überragen. – Aber trotz der Vorsicht, die ich aufwandte, damit sie nicht mehr unter meiner Gegenwart leiden sollten, und damit sie sich vor mir keinen Zwang mehr antäten, behielt ich vor ihnen doch wie zuvor meine ganze schlimme Neugier. Die Existenz eines jeden von ihnen blieb mir geheimnisvoll. Mir schien immer, ein Teil ihres Lebens verbarg sich. Was taten sie, wenn ich nicht mehr da war? Ich gab mir nicht zu, daß sie sich nicht besser amüsierten. – Und ich lieh einem jeden von ihnen ein Geheimnis, das ich eigensinnig kennen zu lernen wünschte. Ich schweifte umher, ich folgte, ich spionierte. Ich hing mich an die unklarsten Naturen, als erwartete ich aus ihrer Finsternis zu meiner Aufklärung ein Licht.

Einer vor allem zog mich an: er war ziemlich schön, groß, nicht stumpfsinnig, aber einzig vom Instinkt geführt; er tat nie etwas außer plötzlich und gab jedem flüchtigen Antriebe nach. Er war nicht aus jener Gegend; man hatte ihn zufällig gedungen. Zwei Tage lang ein vortrefflicher Arbeiter, trank er sich am dritten sterbensvoll. Eines Nachts ging ich heimlich, ihn mir in der Scheune anzusehen; er lag im Heu hingestreckt; er schlief den festen Schlaf des Betrunkenen. Wie lange ich ihn anblickte! … Eines schönen Tages ging er fort, wie er gekommen war. Ich hätte wissen mögen, auf welchen Wegen … Noch am Abend erfuhr ich, daß Bocage ihn fortgeschickt hatte.

Ich war wütend auf Bocage, ließ ihn kommen.

»Es scheint, Sie haben Peter fortgeschickt,« begann ich. »Wollen Sie mir sagen, weshalb?«

Ein wenig bestürzt über meinen Zorn, den ich doch nach Kräften mäßigte:

»Der Herr wollten doch nicht einen schmutzigen Trunkenbold bei sich behalten, der die besten Arbeiter verdarb …«

»Ich weiß besser als Sie, wen ich zu behalten wünsche.«

»Einen Bummler! Man weiß nicht einmal, woher er kommt. In der Gegend machte das keinen guten Eindruck … Wenn er eines Nachts Feuer an die Scheune gelegt hätte, wären der Herr vielleicht zufrieden gewesen.«

»Aber schließlich ist das meine Sache, und der Pachthof gehört vielleicht mir; – ich gedenke ihn zu leiten, wie es mir gefällt. In Zukunft werden Sie mir freundlichst Ihre Motive mitteilen, ehe Sie jemanden fortschicken.«

Bocage hatte mich, wie ich schon sagte, als kleines Kind gekannt; so verletzend der Ton meiner Worte auch war, er liebte mich zu sehr, um sich darüber zu ärgern. Und er nahm mich sogar nicht einmal genügend ernst. Der normannische Bauer bleibt nur zu oft für das, dessen Triebfeder er nicht durchschaut, das heißt, für das, was nicht das Interesse leitet, ohne Glauben. Bocage sah diesen Streit einfach als eine Grille an.

Doch wollte ich das Gespräch nicht mit einem Tadel abbrechen, und da ich fühlte, daß ich zu lebhaft gewesen war, suchte ich nach etwas, was ich hinzufügen konnte.

»Soll nicht ihr Sohn Karl bald wieder nach Hause kommen?« entschied ich mich nach einem Moment des Schweigens zu fragen.

»Ich dachte, der Herr hätten ihn vergessen, da er sich so wenig um ihn kümmerten,« sagte Bocage, noch verletzt.

»Ich ihn vergessen! Bocage, und wie könnte ich das, nach allem, was wir vergangenes Jahr zusammen getan haben? Ich zähle sogar sehr auf ihn, wegen der Pachthöfe …«

»Der Herr sind sehr gut. Karl soll in acht Tagen zurückkommen.«

»Ah, das freut mich, Bocage« – und ich verabschiedete ihn.

Bocage hatte fast recht: sicherlich hatte ich Karl nicht vergessen, aber ich kümmerte mich nur noch sehr wenig um ihn. Wie erklären, daß ich für ihn nach einer so feurigen Kameradschaft nur noch eine grämliche Gleichgültigkeit empfand? Das kam, weil meine Beschäftigungen und Neigungen nicht mehr die des vergangenen Jahres waren. Meine beiden Pachthöfe, das mußte ich mir gestehen, interessierten mich nicht mehr so sehr wie die Leute, die ich auf ihnen beschäftigte; und für den Verkehr mit ihnen mußte Karls Gegenwart störend sein. Er war viel zu vernünftig und erzwang sich zu viel Achtung. So sah ich trotz der lebhaften Bewegung, die die Erinnerung an ihn in mir erweckte, seine Rückkehr mit Besorgnis nahen.

Er kam zurück. – Ah! wie recht hatte ich, wenn mir bangte, und wie gut Menalkas daran tat, jeder Erinnerung abzuschwören! – – Ich sah statt Karls einen absurden Herrn mit einem lächerlichen runden Hut eintreten. Gott! war er verändert! Verlegen, gezwungen versuchte ich trotzdem, der Freude, die er über das Wiedersehen mit mir bezeugte, nicht mit zuviel Kälte entgegenzutreten; aber selbst diese Freude mißfiel mir; sie war linkisch und schien mir nicht aufrichtig. Ich hatte ihn im Salon empfangen, und da es spät war, erkannte ich sein Gesicht nicht recht; aber als man die Lampe brachte, sah ich mit Abscheu, daß er sich den Bart hatte wachsen lassen.

Die Unterhaltung war an diesem Abend ziemlich düster; und da ich wußte, daß er unaufhörlich auf den Pachthöfen sein würde, so vermied ich dann fast acht Tage lang, hinzugehen, und ich beschränkte mich auf meine Studien und auf die Gesellschaft meiner Gäste. Und als ich dann wieder auszugehen begann, wurde ich von einer sehr neuen Beschäftigung in Anspruch genommen.

Die Holzhauer waren in den Wald gezogen. Jedes Jahr verkaufte man einen Teil daraus; in zwölf gleiche Schläge geteilt, lieferte das Holz jedes Jahr mit ein paar hochgeschossenen Trieben, von denen man kein Wachstum mehr erhoffte, ein zwölfjähriges Buschholz, das man in Bündel legte.

Diese Arbeit geschah im Winter und vor dem Frühjahr mußten die Holzfäller nach den Abmachungen des Verkaufs den Schlag geräumt haben. Aber die Nachlässigkeit Vater Heurtevents, des Holzhändlers, der die Operationen leitete, war so groß, daß bisweilen, wenn der Frühling kam, der Schlag noch vollstand; dann sah man neue gebrechliche Schößlinge durch das tote Astwerk langen, und wenn die Fäller schließlich ausleerten, so geschah es nicht, ohne sehr viel Sprossen zu vernichten.

Dieses Jahr überstieg die Nachlässigkeit des Vaters Heurtevent, des Käufers, all unsere Befürchtungen. Da keinerlei höheres Gebot erfolgt war, hatte ich ihm den Schlag zu sehr niedrigen Preisen lassen müssen; er war also sicher, stets seine Rechnung dabei zu finden, und beeilte sich sehr wenig, ein Holz zu vertreiben, das er so billig bezahlt hatte. Und von Woche zu Woche schob er die Arbeit auf, indem er einmal Mangel an Arbeitern, ein anderes Mal das schlechte Wetter, dann ein krankes Pferd, Arbeitsleistungen, andere Aufträge vorschützte … was weiß ich? So war Mitte des Sommers noch nichts beseitigt.

Was mich das Jahr vorher im höchsten Grade gereizt hätte, ließ mich dieses Jahr ziemlich ruhig; ich verhehlte mir nicht, daß Heurtevent mich schädigte, aber dieses so verödete Holz war schön, und ich ging mit Vergnügen darin spazieren, indem ich das Wild beschlich und beobachtete, die Schlangen überraschte, und mich bisweilen lange auf einen der niedergelegten Stämme setzte, die noch zu leben schienen und ein paar grüne Reiser aus ihren Wunden warfen.

Dann entschloß Heurtevent sich plötzlich gegen Mitte der ersten Augusthälfte, seine Leute zu schicken. Sie kamen zu sechs auf einmal und behaupteten, die ganze Arbeit in zehn Tagen vollenden zu können. Die auszuschlagende Waldpartie stieß fast an die Valterie; ich erlaubte, um den Fällern die Arbeit zu erleichtern, daß man ihnen vom Pachthof zu essen brachte. Mit diesem Amt wurde ein Spaßvogel namens Bute betraut, den uns das Regiment ganz verfault zurückgeschickt hatte – ich meine geistig, denn seinem Körper ging es wundervoll; er gehörte zu denen meiner Leute, mit denen ich gern plauderte. Ich konnte ihn also wiedersehen, ohne dazu den Hof zu betreten. Denn gerade zu dieser Zeit begann ich wieder auszugehen. Und ein paar Tage lang verließ ich die Wälder kaum und ging nur zur Stunde der Mahlzeiten auf die Morinière zurück und ließ oft auf mich warten. Ich tat, als überwache ich die Arbeit, aber in Wahrheit sah ich nur die Arbeiter.

Bisweilen kamen zu dieser Schar von sechs Leuten zwei von Heurtevents Söhnen: der eine zwanzig Jahre alt, der andere fünfzehn; beide schlank, üppig, mit harten Zügen. Sie schienen von fremdem Typus, und ich erfuhr später wirklich, daß ihre Mutter eine Spanierin war. Ich wunderte mich erst, daß sie hatte bis hierhin kommen können, aber Heurtevent, in seiner Jugend ein ausgefeimter Landstreicher, hatte sie, wie sich herausstellte, in Spanien geheiratet. Er war aus diesem Grunde in der Gegend ziemlich schlecht gesehen. Das erste Mal, als ich dem jüngeren der Söhne begegnet war, hatte es, wie ich mich entsinne, geregnet; er war allein und saß auf einem sehr hohen Karren ganz oben auf dem Haufen von Bündeln; und dort, zwischen den Zweigen hingeworfen, sang oder schrie er vielmehr eine Art wunderlichen Liedes, wie ich es noch nie in der Gegend gehört hatte. Die Pferde, die den Karren zogen, kannten den Weg und zogen dahin, ohne daß er sie zu lenken brauchte. Ich kann den Eindruck nicht schildern, den dieses Lied auf mich machte; denn ich hatte ähnliches nur in Afrika gehört … Der Kleine war aufgeregt und schien betrunken; er sah mich nicht einmal an, als ich vorbeikam. Am Tage darauf erfuhr ich, daß es ein Sohn von Heurtevent war. Um ihn wiederzusehen, oder wenigstens, um ihn zu erwarten, hielt ich mich so viel im Holzschlag auf. Man hatte ihn bald leer. Die jungen Heurtevents kamen nur dreimal hin. Sie schienen hochmütig, und ich konnte kein Wort von ihnen erlangen.

Bute dagegen erzählte gern; ich sorgte dafür, daß er bald begriff, was man bei mir sagen konnte; von da an genierte er sich kaum noch und zog das Land aus. Gierig neigte ich mich über sein Geheimnis. Er übertraf zugleich meine Hoffnung und befriedigte mich nicht. War das, was unter dem Schein hingrollte? oder war das vielleicht nur erst noch eine neue Heuchelei? Einerlei! Und ich fragte Bute aus, wie ich es bei den formlosen Chroniken der Goten getan hatte. Aus seinen Erzählungen stieg ein trüber Abgrunddunst auf, der mir schon zu Kopf stieg und den ich unruhig einsog. Von ihm erfuhr ich zuerst, daß Heurtevent seine Tochter benutzte. Ich fürchtete, wenn ich den geringsten Tadel bezeugte, würde ich jedes Vertrauen abschneiden; ich lächelte also; die Neugier trieb mich.

»Und die Mutter? Die sagt nichts?«

»Die Mutter! die ist ja seit vollen zwölf Jahren tot … Er hat sie geprügelt.«

»Wieviel sind sie in der Familie?«

»Fünf Kinder. Sie haben den ältesten von den Söhnen gesehen, und den jüngsten. Er hat noch einen von sechzehn Jahren, der nicht kräftig ist und Pfarrer werden soll. Und dann hat die ältere Tochter schon zwei Kinder vom Vater …«

Und ich erfuhr allmählich noch viele andere Dinge, die aus dem Hause Heurtevent einen brennenden Ort von starkem Geruch machten, um den meine Phantasie, so viel ich auch davon bekam, wie eine Fliege ums Fleisch herumkreiste. – Eines Abends versuchte der ältere Sohn eine junge Magd zu notzüchtigen, und da sie sich wehrte, kam der Vater herzu und half seinem Sohne und hielt sie mit seinen enormen Händen fest; währenddessen setzte der zweite Sohn im Stockwerk darüber zärtlich seine Gebete fort, und der jüngst amüsierte sich als Zuschauer des Dramas. Was die Notzucht angeht, so denke ich mir, sie kann nicht so schwer gewesen sein, denn Bute erzählte noch, einige Zeit darauf habe die Magd, die Geschmack daran gefunden hatte, den kleinen Priester zu verführen gesucht.

»Und der Versuch ist nicht geglückt?« fragte ich.

»Er hält noch, aber nicht mehr sehr fest,« antwortete Bute.

»Sagtest du nicht, es sei noch eine Tochter da?«

»Die nimmt soviel, wie sie abkriegen kann; und noch ohne was dafür zu fordern. Wenn sie das packt, so würde eher sie bezahlen. Dertausend, dürfte es nicht im Hause des Vaters machen; er würde prügeln. Er sagt so: in der Familie hat man das Recht, zu tun, was einem gefällt, aber andere geht das nichts an. Peter, der Bursch vom Hof, den Sie haben wegschicken lassen – er hat sich dessen nicht gerühmt, aber eines Nachts ist er nicht ohne ein Loch im Kopf herausgekommen. Seit der Zeit arbeitet man im Schloßwald.«

Dann fragte ich mit einem ermutigenden Blick:

»Hast du's mal versucht?«

Er senkte der Form halber die Augen und sagte belustigt:

»Mitunter.« Dann hob er die Augen schnell: »Der Kleine vom Vater Bocage auch.«

»Welcher Kleine vom Vater Bocage?«

»Alkides, der, der auf dem Hof schläft. Der Herr kennen ihn also nicht?«

Ich war absolut verblüfft, daß Bocage noch einen Sohn hatte.

»Freilich,« fuhr Bute fort, und letztes Jahr sei er noch bei seinem Onkel gewesen. »Aber es ist sehr erstaunlich, daß der Herr ihm noch nicht im Walde begegnet sind; fast jeden Abend wildert er.«

Bute hatte diese letzten Worte leiser gesagt. Er sah mich an, und ich begriff, daß es hohe Zeit war, zu lächeln. Da fuhr Bute befriedigt fort:

»Der Herr wissen verdammt recht gut, daß man bei ihm wildert. Bah! der Wald ist so groß, daß das nicht viel Schaden anrichtet …«

Ich zeigte mich so wenig mißvergnügt, daß Bute mir sofort, kühner geworden, und, glaube ich heute, froh, Bocage ein wenig schaden zu können, in einem Graben von Alkides aufgestellte Fallen zeigte und mich dann über den und den Ort an der Hecke unterrichtete, wo ich nahezu sicher sein konnte, ihn abzufangen. Es war auf der Höhe einer Böschung an einem schmalen Loch in der Hecke, die den Waldsaum bildete und wo Alkides gegen sechs Uhr durchzukommen pflegte. Dort spannten Bute und ich sehr amüsiert einen Kupferdraht auf, den wir hübsch verdeckten. Dann ließ Bute mich schwören, daß ich ihn nicht verraten würde, und zog ab, da er sich nicht kompromittieren wollte. Ich legte mich hinter die Böschung; ich wartete.

Und drei Abende wartete ich vergebens. Ich begann schon zu glauben, Bute habe mir mitgespielt … Am vierten Abend hörte ich einen sehr leichten Schritt nahen. Mir schlägt das Herz, und plötzlich lerne ich die furchtbare Lust dessen kennen, der wildert … Die Schlinge ist so gut gelegt, daß Alkides geradeswegs hineinläuft. Ich sehe ihn plötzlich lang hinstürzen; der Knöchel war gefaßt. Er will sich retten, stürzt wieder hin, wehrt sich wie ein Wild. Aber schon habe ich ihn gepackt. Es ist ein boshafter Bursch mit grünem Auge, Flachshaar und verschlagenem Ausdruck. Er versetzt mir Fußtritte, dann, eingeklemmt, versucht er zu beißen, und da ihm das nicht gelingen will, beginnt er mir die außerordentlichsten Schimpfworte ins Gesicht zu werfen, die ich je gehört hatte. Schließlich kann ich mich nicht mehr halten; ich breche in Lachen aus. Da hält er plötzlich inne, und mit leiserem Ton:

»Sie brutaler Kerl, Sie haben mich lahm gemacht.«

»Laß sehen.«

Er läßt den Strumpf auf den Schuh hinabgleiten und zeigt seinen Knöchel, wo man kaum eine leichte, eben gerötete Spur unterscheidet. – »Das ist nichts.« Er lächelt ein wenig, dann heimtückisch:

»Ich geh's mein'm Vater sagen, daß Sie's sind, der die Schlingen legt.«

»Weiß Gott! dies ist eine von deinen.«

»Weiß ganz genau, daß Sie die nicht gelegt haben, die da.«

»Warum denn nicht?«

»Sie könnten's nicht so gut. Zeigen Sie mir, wie Sie's anfangen.«

»Lehre es mich …«

Diesen Abend kam ich erst sehr spät zu Tisch nach Hause, und da man nicht wußte, wo ich war, war Marzeline unruhig. Ich erzählte ihr jedoch nicht, daß ich sechs Schlingen gelegt und Alkides, statt ihn zu schelten, zehn Sous gegeben hatte.

Am folgenden Tage ging ich mit ihm diese Schlingen nachsehen und hatte das Vergnügen, zwei Kaninchen in den Fallen gefangen zu finden; natürlich ließ ich sie ihm. Die Jagd war noch nicht eröffnet. Was wurde also aus diesem Wild, das man nicht zeigen konnte, ohne sich zu kompromittieren? Das weigerte Alkides sich mir zu gestehen. Schließlich erfuhr ich, wieder durch Bute, daß Heurtevent ein Meisterhehler war, und daß der jüngste der Söhne zwischen ihm und Alkides vermittelte. Sollte ich also auf diese Art noch tiefer in diese wilde Familie eindringen? Mit welcher Leidenschaft ich wilderte!

Ich suchte Alkides jeden Abend auf; wir fingen Kaninchen in großer Zahl, und einmal sogar ein Reh; es lebte noch schwach … ich erinnere mich nicht ohne Grauen der Freude, die Alkides daran fand, es zu töten. Wir brachten das Reh an einen sicheren Ort, wo der Sohn Heurtevents es nachts holen konnte.

Von da an ging ich nicht mehr so gern am Tage aus, wo mir der gesäuberte Wald weniger Reize bot. Ich versuchte sogar zu arbeiten, traurige Arbeit ohne Ziel – denn ich hatte schon beim Schluß meines Kollegs abgelehnt, die Stellvertretung fortzusetzen – undankbare Arbeit, von der mich das geringste Singen, das geringste Geräusch auf den Feldern abzog; jeder Schrei wurde mir zum Ruf. Wieviele Male bin ich so von meiner Lektüre ans Fenster gesprungen, um absolut nichts vorbeiziehen zu sehen! Wieviele Male, wenn ich plötzlich hinausging … Die einzige Aufmerksamkeit, deren ich fähig war, war die all meiner Sinne.

Aber wenn die Nacht hereinsank – und jetzt sank die Nacht schon schnell – das war unsere Stunde, deren Schönheit ich bis dahin nie geahnt hatte; und ich ging hinaus, wie sich die Diebe einschleichen. Ich hatte mir Nachtvogelaugen zugelegt. Ich bewunderte das bewegtere und höhere Gras, die dichter gewordenen Bäume. Die Nacht höhlte alles, rückte den Boden fort, machte ihn fern und jede Fläche tief. Der glatteste Pfad schien gefährlich. Man hörte überall erwachen, was ein Dasein der Finsternis lebte.

»Wo glaubt dich dein Vater jetzt?«

»Beim Viehhüten, im Stall.«

Dort schlief Alkides, wie ich wußte, ganz nahe bei den Tauben und Hennen; da man ihn abends dort einschloß, so stieg er durch ein Loch im Dach heraus; er bewahrte in seinen Kleidern den heißen Geruch des Geflügels …

Und sobald das Wild eingesammelt war, versank er plötzlich in der Nacht wie in einer Falltür, ohne eine Abschiedsgeste, ohne mir auch nur »auf morgen« zu sagen. Ich wußte, ehe er auf den Pachthof zurückging, wo die Hunde für ihn schwiegen, suchte er den kleinen Heurtevent auf und händigte ihm seinen Vorrat ein. Aber wo? das zu ertappen, wollte meinem Verlangen nicht gelingen: Drohungen, Listen scheiterten; die Heurtevents ließen sich nicht nahekommen. Und ich weiß nicht, wo meine Torheit am meisten triumphierte: ein mittelmäßiges Geheimnis verfolgen, das immer vor mir zurückwich? vielleicht sogar aus bloßer Neugier das Geheimnis erfinden? – Aber was fing Alkides an, wenn er mich verließ? Schlief er wirklich auf dem Pachthof? oder machte er den Pächter das nur glauben? Ah! ich hatte mich gut kompromittieren, ich kam zu nichts, als daß ich seinen Respekt nur noch verminderte, ohne sein Vertrauen zu vermehren; und das machte mich zugleich wütend und trostlos …

Wenn er verschwunden war, so blieb ich plötzlich furchtbar allein; und ich ging quer über die Felder, durch das tauschwere Gras nach Hause, trunken vor Nacht, vor wildem Leben und Anarchie, durchnäßt, schmutzig, bedeckt mit Blättern. Von fern schien mich in der schlafenden Morinière gleichsam ein friedlicher Leuchtturm zu führen, die Lampe meines Arbeitszimmers, wo Marzeline mich eingeschlossen glaubte, oder die im Zimmer von Marzeline, der ich eingeredet hatte, ohne so nachts auszugehen, hätte ich nicht einschlafen können. Es war auch wahr: mir graute vor meinem Bett, und ich hätte die Scheune vorgezogen.

Das Wild war dieses Jahr in Fülle vorhanden. Kaninchen, Hasen, Fasanen folgten sich. Als er alles nach Wunsch gehen sah, fand Bute nach drei Abenden Geschmack daran, sich uns anzuschließen.

Am sechsten Abend des Wilderns fanden wir von zwölf Schlingen nur noch zwei wieder; während des Tages war eine Aufhebung vorgenommen. Bute bat mich um hundert Sous, um Kupferdraht kaufen zu können, denn der Eisendraht sei nichts wert.

Am Tage darauf hatte ich das Vergnügen, meine zehn Schlingen bei Bocage zu finden, und ich mußte seinen Eifer loben. Das stärkste war, daß ich im vergangenen Jahr für jede aufgehobene Schlinge zehn Sous versprochen hatte; ich mußte Bocage also hundert geben. Unterdessen kauft Bute mit seinen hundert Sous Kupferdraht. Vier Tage darauf, dieselbe Geschichte; zehn neue Schlingen sind aufgehoben. Das sind wieder hundert Sous für Bute; wieder hundert Sous für Bocage. Und als ich ihn beglückwünsche, sagt er:

»Nicht mir muß man Glück wünschen. Alkides.«

»Bah! –« Zu großes Erstaunen kann uns verderben: ich halte mich zurück.

»Ja,« fährt Bocage fort; »was wollen Sie, gnädiger Herr, ich werde alt und bin vom Pachthof zu sehr in Anspruch genommen. Der Kleine läuft die Wälder für mich ab, er kennt sie; er ist schlau, und er weiß besser als ich, wo man die Schlingen suchen muß, um sie zu finden.«

»Das glaube ich ohne Mühe, Bocage.«

»Und da gebe ich ihm von den zehn Sous, die der Herr gibt, pro Schlinge fünf ab.«

»Ohne Zweifel verdient er sie. Bei Gott! Zwanzig Schlingen in fünf Tagen! Er hat tüchtig gearbeitet. Die Wilddiebe können nur aufhören. Sie werden sich ausruhen, wette ich.«

»O, gnädiger Herr, je mehr man ihnen wegnimmt, um so mehr findet man. Das Wild wird teuer bezahlt dies Jahr, und für die paar Sous, die das kostet …«

Mir ist so gut mitgespielt, daß ich Bocage um ein Haar für mitschuldig halten könnte. Und was mich an der Sache aufbringt, das ist nicht das dreifache Geschäft des Alkides, sondern daß ich sehen muß, wie er mich so täuscht. Und dann, was machen sie mit dem Geld, Bute und er? Ich weiß nichts, werde nie etwas von solchen Wesen wissen. Sie werden immer lügen; werden mich betrügen. An diesem Abend gebe ich Bute nicht hundert Sous, sondern zehn Franken: ich sage ihm, es sei das letzte Mal, und wenn die Schlingen wieder aufgehoben würden, um so schlimmer.

Am folgenden Tage sehe ich Bocage kommen; er scheint sehr verlegen; ich werde es alsbald noch mehr als er. Was ist nur geschehen? Und Bocage sagt mir, Bute sei erst in der Morgendämmerung zum Pachthof zurückgekommen; Bute ist betrunken wie ein Pole; nach den ersten Worten, die Bocage ihm gesagt hat, hat Bute ihn in schmutziger Weise beschimpft, hat sich dann auf ihn geworfen, hat ihn geschlagen …

»Kurz,« sagt Bocage, »ich wollte wissen, ob der Herr mich ermächtigen« (er verweilt einen Moment auf dem Wort), »mich ermächtigen, ihn fortzuschicken.«

»Ich werde es mir überlegen, Bocage. Ich bin sehr trostlos, daß er es Ihnen gegenüber hat an Respekt fehlen lassen. Ich sehe … Lassen Sie mich allein, um zu überlegen; und kommen Sie in zwei Stunden wieder hierher.« –

Bocage geht hinaus.

Bute behalten, hieße peinlich an Bocage fehlen; Bute fortjagen, heißt ihn zur Rache treiben … Um so schlimmer; mag kommen, was kommen kann; ohnehin bin ich der einzig Schuldige … Und als Bocage zurückkommt:

»Sie können Bute sagen, daß man ihn hier nicht mehr sehen will.«

Dann warte ich. Was tut Bocage? Was sagt Bute? – Und erst am Abend dringt ein Echo des Skandals zu mir. Bute hat geredet. Ich entnehme das zunächst dem Geschrei, das ich bei Bocage höre; man schlägt den kleinen Alkides. – Bocage wird kommen; er kommt; ich höre seinen alten Schritt nahen, und das Herz pocht mir noch stärker, als es mir um das Wild gepocht hat. Der unerträgliche Moment! Alle großen Gefühle werden statthaft sein; ich werde gezwungen sein, die Sache ernst zu nehmen. Welche Erklärungen erfinden? Wie schlecht ich spielen werde! Ah! ich wollte meine Rolle abgeben … Bocage tritt ein. Ich verstehe streng nichts von allem, was er sagt. Es ist absurd: ich muß ihn noch einmal anfangen lassen. Schließlich wird mir dieses klar; Er glaubt, daß Bute allein schuldig ist; die unglaubliche Wahrheit sieht er nicht; ich soll Bute zehn Franken gegeben haben, und wozu? er ist zu sehr Normanne, um es zuzugeben. Die zehn Franken hat Bute gestohlen, das ist sicher; wenn er behauptet, ich habe sie ihm gegeben, so fügt er zum Diebstahl die Lüge hinzu; eine Geschichte, um seinen Diebstahl zu verdecken; nicht Bocage kann man solche Sachen weismachen! … Von dem Wildern ist keine Rede mehr. Wenn Bocage Alkides schlug, so geschah es, weil der Kleine anderswohin schlafen ging.

Also! ich bin gerettet; vor Bocage wenigstens geht alles gut. Was für ein Dummkopf, dieser Bute!

Aber wahrhaftig, abends hatte ich keine große Lust zu wildern.

Ich glaubte schon, alles sei zu Ende, aber eine Stunde darauf kommt Karl. Er sieht nicht aus, als ob er scherze; schon von fern sieht er noch langweiliger aus als sein Vater. Und zu denken, daß ich vergangenes Jahr …

»Nun! Karl, dich hat man ja lange nicht mehr gesehen.«

»Wenn dem Herrn daran lag, mich zu sehen, brauchte er nur auf den Pachthof kommen. Ich habe es bei Gott weder mit dem Wald noch mit der Nacht zu tun.«

»Ah! dein Vater hat dir erzählt …«

»Mein Vater hat mir nichts erzählt, weil mein Vater nichts weiß. Wozu braucht er in seinem Alter erfahren, daß sein Herr sich über ihn lustig macht?«

»Achtung, Karl! du gehst zu weit …«

»O! bei Gott, Sie sind der Herr! und Sie tun, was Ihnen gefällt.«

»Karl, du weißt recht gut, daß ich mich über niemanden lustig gemacht habe, und wenn ich tue, was mir gefällt, so geschieht es, weil es niemandem schadet als mir.«

Er zuckte leicht mit den Schultern.

»Wie wollen Sie, daß man Ihre Interessen verteidigt, wenn Sie sie selber angreifen? Sie können nicht zugleich den Aufseher und den Wilddieb schützen.«

»Warum nicht?«

»Weil dann … ah! halt, gnädiger Herr, all das ist für mich zu schlau, und es gefällt mir einfach nicht, meinen Herrn sich mit denen verbünden zu sehen, die man verhaftet, und mit ihnen die Arbeit vernichten, die man für ihn getan hat.«

Und Karl sagt das mit immer sichererer Stimme. Er hält sich fast edel. Ich bemerke, daß er sich den Bart hat schneiden lassen. Was er sagt, ist außerdem ziemlich berechtigt. Und da ich schweige (was sollte ich ihm auch sagen?), fährt er fort:

»Daß man Pflichten gegen das hat, was man besitzt, haben der Herr mich letztes Jahr gelehrt, scheinen es aber vergessen zu haben. Diese Pflichten muß man ernst nehmen und darauf verzichten, mit … oder sonst hat man nicht verdient, zu besitzen.«

Ein Schweigen.

»Das ist alles, was du zu sagen hattest?«

»Für heute abend, ja, gnädiger Herr; aber wenn der Herr mich dazu treiben, werde ich eines andern Abends vielleicht dem Herrn sagen kommen, daß mein Vater und ich die Morinière verlassen.«

Und er geht hinaus, indem er mich sehr tief grüßt. Kaum, daß ich mir die Zeit nehme zu überlegen:

»Karl!« – Er hat bei Gott recht … O! O! Aber wenn das ist, was man besitzen nennt! … »Karl!« Und ich laufe ihm nach; ich fasse ihn im Dunkel, und sehr schnell, wie um meine plötzliche Entscheidung zu befestigen:

»Du kannst deinem Vater melden, daß ich die Morinière zum Verkauf ausbiete.«

Karl grüßt ernst und entfernt sich, ohne ein Wort zu sagen.

All das ist absurd! absurd!

 

Marzeline kann an diesem Abend nicht zu Tisch herunterkommen und läßt mir sagen, daß sie leidend ist. Ich steige eilig und voller Besorgnis in ihr Zimmer hinauf. Sie beruhigt mich alsbald. »Es ist nur ein Schnupfen,« hofft sie. Sie hat sich erkältet.

»Hast du dich denn nicht einhüllen können?«

»Aber ich habe beim ersten Schaudern den Schal genommen.«

»Nicht nach dem Schaudern mußtest du ihn nehmen, vorher.«

Sie sieht mich an, versucht zu lächeln … Ah! vielleicht drängt mich ein so schlecht begonnener Tag zur Angst – sie hätte mir mit lauter Stimme sagen können: »Liegt dir denn so viel daran, daß ich lebe?« und ich hätte sie nicht besser verstanden. Offenbar löst sich alles um mich auf; von allem, was meine Hand erfaßt, weiß meine Hand nichts zu halten … Ich stürze zu Marzeline und bedecke ihre blassen Schläfen mit Küssen. Da kann sie sich nicht mehr halten und schluchzt mir auf der Schulter.

»O! Marzeline! Marzeline! Laß uns fort von hier. Anderswo werde ich dich lieben, wie ich dich in Sorrent geliebt habe … Du hast mich für verändert gehalten, nicht wahr? Aber anderswo wirst du bald fühlen, daß unsere Liebe nichts verändert hat …«

Und ich heile ihre Traurigkeit noch nicht, aber wie klammert sie sich schon an die Hoffnung an!

Die Jahreszeit war noch nicht vorgerückt, aber es war feucht und kalt, und schon verfaulten die letzten Knospen der Rosenstöcke, ohne aufblühen zu können. Unsere Gäste hatten uns schon längst verlassen. Marzeline war nicht so leidend, daß sie sich nicht mit dem Schluß des Hauses hätte befassen können, und fünf Tage darauf fuhren wir fort.



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