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Der Immoralist


(Herrn D. R., Kabinettsrat.)

 

Sidi b. M., 30. Juli 189.

Ja, du hattest recht: Michel hat mit uns gesprochen, mein lieber Bruder. Was er uns erzählt hat, schicke ich dir hier. Du hast darum gebeten; ich habe es dir versprochen; aber im Moment, da ich es abschicken soll, zögere ich noch, und je länger ich es durchlese, um so schrecklicher erscheint es mir. Ah! was wirst du von unserem Freunde denken? Übrigens, was denke ich selber von ihm? … Sollen wir ihn einfach verdammen, indem wir leugnen, daß man Eigenschaften, die sich grausam zeigen, zum Guten wenden könne? – Aber ich fürchte, es sind ihrer heute mehr als einer, die sich in dieser Erzählung wiederzuerkennen wagen würden. Soll man lernen, so vieler Intelligenz und Kraft ein Amt zu finden – oder all dem das Bürgerrecht zu verweigern?

Womit kann Michel dem Staate dienen? Ich gestehe, ich weiß es nicht … Er braucht eine Beschäftigung. Die hohe Stellung, die dir deine großen Verdienste eingetragen haben, die Macht, die du in Händen hast, wird dir das erlauben, sie zu finden? – Eile dich. Michel kann sich hingeben: er kann es noch; bald wird er sich nur noch sich hingeben können.

Ich schreibe dir unter fleckenlosem Azur; seit den zwölf Tagen, die Dionys, Daniel und ich hier sind – keine Wolke, keine Verminderung des Sonnenscheins. Michel sagt, der Himmel ist seit zwei Monaten rein.

Ich bin weder traurig noch fröhlich; die Luft hier füllt einen mit einer sehr unklaren Begeisterung und lehrt einen einen Zustand kennen, der von der Fröhlichkeit so weit entfernt ist wie vom Schmerz; vielleicht ist er das Glück.

Wir bleiben bei Michel; wir wollen ihn nicht verlassen; du wirst verstehen, warum, wenn du diese Seiten lesen willst; hier also, in seiner Wohnung, warten wir deine Antwort ab; zögere nicht.

Du weißt, welche Schulfreundschaft, eine Freundschaft, stark von Anfang an, aber mit jedem Jahre wachsend, Michel mit Dionys, mit Daniel, mit mir verband. Unter uns vieren wurde eine Art Pakt geschlossen; auf den geringsten Ruf des einen sollten die drei anderen antworten. Als ich also von Michel jenen geheimnisvollen Alarmschrei erhielt, benachrichtigte ich alsbald Daniel und Dionys, wir verließen alles und brachen alle drei auf.

Wir hatten Michel seit drei Jahren nicht mehr gesehen. Er hatte sich verheiratet, hatte seine Frau auf Reisen geführt, und zur Zeit seines letzten Aufenthaltes in Paris war Dionys in Griechenland, Daniel in Rußland und ich, wie du weißt, bei unserm kranken Vater festgehalten. Wir waren freilich nicht ohne Nachrichten geblieben; aber was Silas und Will uns, als sie ihn wiedergesehen hatten, berichteten, hatte uns nur erstaunen können. Es vollzog sich in ihm ein Wandel, den wir uns noch nicht erklären konnten. Er war nicht mehr der sehr gelehrte Puritaner von ebennoch, dessen Gesten vor lauter Überzeugung ungeschickt, dessen Augen so klar waren, daß vor ihnen oft unsere zu freien Reden innehielten. Er war … aber wozu dir schon andeuten, was seine Erzählung dir sagen wird.

Ich schicke dir also diese Erzählung, wie Dionys, Daniel und ich sie gehört haben. Michel gab sie auf seiner Terrasse, wo wir dicht neben ihm im Schatten und im Sternenschein ausgebreitet lagen. Am Schluß der Erzählung sahen wir, wie sich der Tag über der Ebene erhob. Michels Haus beherrscht sie wie auch das Dorf, von dem es nur wenig entfernt ist. Durch die Hitze, und weil alle Ernten gemäht sind, gleicht diese Ebene der Wüste.

Michels Haus ist trotz seiner Armut und Bizarrerie entzückend. Im Winter würde man unter der Kälte leiden, denn in den Fenstern sind keine Scheiben; oder vielmehr, es sind gar keine Fenster vorhanden, sondern nur weite Löcher in den Wänden. Es ist so schön, daß wir draußen auf Matten schlafen.

Laß mich noch sagen, daß wir eine gute Reise gehabt haben. Wir sind hier, von der Hitze erschöpft, vom Neuen trunken, abends angekommen, nachdem wir in Algier und dann in Konstantine kaum Aufenthalt gemacht hatten. Von Konstantine brachte uns ein neuer Zug nach Sidi b. M., wo ein Wagen wartete. Die Straße hört weit vor dem Dorfe auf. Dieses nistet wie gewisse Ortschaften in Umbrien hoch auf einem Felsen. Wir stiegen zu Fuß hinauf: zwei Maultiere waren mit unseren Koffern beladen. Wenn man auf diesem Wege kommt, ist Michels Haus das erste im Dorf. Ein Garten, umschlossen von niederen Mauern – oder vielmehr ein Zaun umgibt ihn – wo drei krumme Granatbäume wachsen und ein prachtvoller Oleander. Da sahen wir ein kabylisches Kind, das bei unserem Nahen entfloh, indem es ohne Umstände die Mauer erkletterte.

Michel empfing uns, ohne Freude zu bezeugen; sehr einfach, schien er jede Zärtlichkeitskundgebung zu fürchten; aber gleich auf der Schwelle schloß er jeden von uns dreien ernst in die Arme.

Bis zum Einbruch der Nacht tauschten wir keine zehn Worte. In einem Salon, dessen luxuriöse Dekorationen uns erstaunten, die dir jedoch Michels Erzählung erklären wird, war ein fast frugales Mahl bereit. Dann servierte er uns den Kaffee, den er sich selber zu bereiten angelegen sein ließ. Wir stiegen dann auf die Terrasse, von der aus sich der Blick ins Unendliche dehnte, und wir drei warteten gleich den drei Freunden Hiobs, indem wir auf der flammenden Ebene das schroffe Sinken des Tages bewunderten.

Als die Nacht gekommen war, sagte Michel:


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