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Erster Teil

 

I

Meine treuen Freunde, ich wußte, daß ihr treu waret. Ihr seid auf meinen Ruf herbeigeeilt, ganz wie ich es auf euren getan hätte. Und doch habt ihr mich drei Jahre lang nicht gesehen. Möge eure Freundschaft, die der Trennung so gut widersteht, der Erzählung, die ich euch geben will, ebensogut widerstehn. Denn wenn ich euch plötzlich rief und euch bis zu meiner fernen Wohnung reisen ließ, so geschah es einzig, um euch zu sehen, und damit ihr mich anhören könnt. Ich will keine andere Hilfe als diese: zu euch reden. – Denn ich stehe an einem Punkt meines Lebens, über den ich nicht mehr hinausschreiten kann. Doch das ist keine Müdigkeit. Aber ich verstehe nicht mehr. Ich muß … Ich muß reden, sage ich euch. Sich zu befreien wissen, ist nichts; das schwere ist, daß man frei zu sein weiß. – Ertragt es, daß ich von mir rede; ich will euch mein Leben erzählen, ganz einfach, ohne Bescheidenheit und ohne Stolz, einfacher, als wenn ich zu mir selber spräche. Hört mich an:

Das letzte Mal, daß wir uns sahen, das war, wie ich mich entsinne, in der Umgegend von Angers, in der kleinen Landkirche, wo meine Hochzeit gefeiert wurde. Das Publikum war wenig zahlreich, und die Vollkommenheit der Freunde machte aus dieser banalen Zeremonie eine rührende Zeremonie. Mir schien, man war bewegt, und das bewegte mich selber. Im Hause derer, die meine Frau wurde, vereinigte euch nach dem Kirchgang ein kurzes Mahl ohne Lachen und ohne Geschrei mit uns; dann führte uns nach dem Gebrauch, der in unserm Geist mit der Idee einer Hochzeit die Vision eines Abreiseperrons verbindet, der bestellte Wagen davon.

Ich kannte meine Frau sehr wenig und dachte, ohne allzusehr darunter zu leiden, sie kenne mich ebensowenig. Ich hatte sie ohne Liebe geheiratet, großenteils, um meinem Vater zu Gefallen zu sein, den es auf dem Sterbebette beunruhigte, mich allein zu lassen. Ich liebte meinen Vater zärtlich; von seinem Todeskampf in Anspruch genommen, dachte ich in jenen traurigen Momenten nur daran, ihm das Ende leichter zu machen; und so band ich mein Leben, ohne zu wissen, was das Leben sein konnte. Unsere Verlobung zu Häupten seines Bettes blieb ohne Lachen, doch nicht ohne ernste Freude, so groß war der Friede, den sie meinem Vater brachte. Wenn ich meine Braut, sagte ich, nicht liebte, so hatte ich wenigstens niemals eine andere Frau geliebt. Das genügte in meinen Augen, um unser Glück zu sichern; und da ich mich selber noch nicht kannte, so glaubte ich mich ihr ganz zu geben. Auch sie war Waise und lebte bei ihren zwei Brüdern. Sie hieß Marzeline; sie war kaum zwanzig Jahre alt; ich war vier Jahre älter.

Ich habe gesagt, ich liebte sie nicht – wenigstens empfand ich für sie nichts von dem, was man Liebe nennt; aber ich liebte sie, wenn man Zärtlichkeit, eine Art Mitleid und schließlich eine ziemlich hohe Achtung darunter verstehen will. Sie war katholisch, und ich bin Protestant … aber ich glaubte es so wenig zu sein! der Priester nahm mich hin; ich nahm den Priester hin: so ging die Rechnung auf.

Mein Vater war, wie man sich ausdrückt, »Atheist« – wenigstens nehme ich es an, da ich aus einer Art unüberwindlichen Schamgefühls, das er, wie ich wohl glaube, teilte, mit ihm nie habe über seinen Glauben reden können. Die ernste hugenottische Lehre meiner Mutter war mit ihrem schönen Bild in meinem Herzen langsam erloschen; ihr wißt, ich habe sie jung verloren. Ich ahnte damals nicht, wie sehr uns diese erste Kindermoral beherrscht, noch welche Falten sie im Geist zurücklägt. Jene Art der Strenge, für die meine Mutter mir den Geschmack hinterlassen hatte, indem sie mir ihre Prinzipien aufprägte, sie brachte ich ganz meinem Studium entgegen. Ich war fünfzehn Jahre alt, als ich meine Mutter verlor; mein Vater beschäftigte sich mit mir, umgab mich und legte seine Leidenschaft darein, mich zu unterrichten. Das Lateinische und Griechische kannte ich schon gut; bei ihm lernte ich schnell Hebräisch, Sanskrit und schließlich Persisch und Arabisch. Mit etwa zwanzig Jahren war ich so geheizt, daß er es wagte, mich zu seinen Arbeiten hinzuzuziehen. Es amüsierte ihn, zu behaupten, ich sei ihm gewachsen, und er wollte mir den Beweis dafür liefern. Der Essay über die phrygischen Kulte, der unter seinem Namen erschien, war mein Werk; kaum daß er es durchgesehen hatte; nichts hat ihm je so viel Lob eingetragen. Er war entzückt. Ich meinesteils war verwirrt, als ich diesen Betrug gelingen sah. Aber von nun an war ich eingeführt. Die gründlichsten Gelehrten behandelten mich als ihren Kollegen. Ich lächle jetzt über all die Ehren, die man mir erwies … So erreichte ich mein fünfundzwanzigstes Jahr, ohne etwas anderes betrachtet zu haben als Ruinen oder Bücher, und ohne etwas vom Leben zu wissen; ich verbrauchte eine eigentümliche Glut in meiner Arbeit. Ich liebte ein paar Freunde (ihr wart unter ihnen), aber mehr die Freundschaft als sie selber; meine Liebe zu ihnen war groß, aber sie war Bedürfnis nach Adel; ich hielt jedes schöne Gefühl in mir lieb. Im übrigen kannte ich meine Freunde so wenig, wie ich mich selber kannte. – Keinen Augenblick kam mir der Gedanke, ich hätte ein anderes Dasein führen können, noch der, daß man anders leben könne.

Meinem Vater und mir genügten einfache Dinge; wir gaben alle beide so wenig aus, daß ich meine fünfundzwanzig Jahre erreichte, ohne zu wissen, daß wir reich waren. Ich stellte mir, ohne oft daran zu denken, vor, wir hätten nur gerade zum Leben genug, und ich hatte bei meinem Vater derartig sparsame Gewohnheiten angenommen, daß ich mich fast verlegen fühlte, als ich erfuhr, daß wir weit mehr besaßen. Ich war von solchen Dingen bis zu dem Grade abgelenkt, daß ich mich noch nicht einmal nach dem Hintritt meines Vaters, dessen einziger Erbe ich war, genauer mit meinem Vermögen befaßte, sondern erst bei Gelegenheit meines Ehekontrakts, und zwar, um zugleich zu sehen, daß Marzeline mir fast nichts zubrachte.

Noch etwas, was ich nicht wußte, etwas vielleicht noch Wichtigeres, war, daß ich eine sehr zarte Gesundheit hatte. Wie hätte ich es wissen sollen, da ich sie niemals auf die Probe gestellt hatte? Ich hatte von Zeit zu Zeit Erkältungen und pflegte sie nachlässig. Das zu ruhige Leben, das ich führte, schwächte und schützte mich zugleich. Marzeline dagegen schien robust – und daß sie robuster war als ich, sollten wir bald erfahren.

Noch am Abend unserer Hochzeit schliefen wir in meiner Wohnung in Paris, wo man uns zwei Zimmer bereitet hatte. Wir blieben nur die für unumgängliche Einkäufe nötige Zeit in Paris, dann fuhren wir nach Marseille, von wo wir uns alsbald nach Tunis einschifften.

Die dringenden Besorgungen, der Taumel der letzten, zu raschen Ereignisse, die unvermeidliche Aufregung der Hochzeit, die der wirklicheren meiner Trauer so schnell folgte, all das hatte mich erschöpft. Erst auf dem Dampfboot konnte ich meine Ermattung fühlen. Bis dahin zog mich jede Beschäftigung von ihr ab, während sie sie steigerte. Die gezwungene Muße an Bord ließ mich endlich zur Überlegung kommen. Es war, schien mir, das erste Mal.

Zum erstenmal auch willigte ich ein, mich auf lange von meiner Arbeit zu trennen. Bisher hatte ich mir nur kurze Ferien gegönnt. Eine Reise nach Spanien mit meinem Vater, kurze Zeit nach dem Tode meiner Mutter, hatte freilich mehr als einen Monat gedauert, eine andere nach Deutschland sechs Wochen; und noch andere – aber das waren Studienreisen gewesen; mein Vater ließ sich durchaus nicht von seinen sehr genau umschriebenen Forschungen abziehen; und ich – sobald ich ihm darin nicht folgte, las ich. Und doch hatten wir kaum Marseille verlassen, so kamen mir verschiedene Erinnerungen an Granada und an Sevilla zurück, an einen reineren Himmel, an freiere Schatten, an Feste, an Lachen und Singen. Das wollen wir wiederfinden, dachte ich. Ich stieg auf das Deck des Schiffes und blickte auf Marseille zurück, das immer mehr entschwand.

Da kam mir unvermittelt der Gedanke, daß ich Marzeline ein wenig vernachlässigte.

Sie saß vorn; ich näherte mich und sah sie mir wirklich zum erstenmal an.

Marzeline war sehr hübsch. Ihr wißt es; ihr habt sie gesehen. Ich machte mir Vorwürfe, daß ich das nicht von vornherein bemerkt hatte. Ich kannte sie zu gut, um sie mit dem Reiz des Neuen zu sehen; unsere Familien waren von je verbunden gewesen; ich hatte sie groß werden sehen; ich war an ihre Anmut gewöhnt. Zum erstenmal erstaunte ich; so groß erschien mir diese Anmut.

Auf einem einfachen, schwarzen Strohhut ließ sie einen großen Schleier flattern; sie war blond, erschien aber nicht zart. Ihr Rock und ihre Taille waren gleich und aus einem schottischen Tuch gemacht, das wir gemeinsam ausgewählt hatten. Ich hatte nicht gewollt, daß sie sich um meiner Trauer willen verdüstere.

Sie fühlte, daß ich sie ansah, und wandte sich zu mir herum … bis dahin hatte ich bei ihr nur gezwungene Diensteifrigkeit gezeigt; ich ersetzte, so gut es ging, die Liebe durch eine Art kalter Galanterie, die ihr, wie ich wohl sah, ein wenig lästig fiel; fühlte Marzeline in diesem Augenblick, daß ich sie zum erstenmal auf andere Art ansah? Auch ihrerseits sah sie mich fest an; dann lächelte sie mir sehr zärtlich zu. Ohne zu sprechen, setzte ich mich neben sie. Ich hatte bis dahin für mich, oder wenigstens wie es mir paßte, gelebt; ich hatte mich verheiratet, ohne mir in meiner Frau etwas anderes als einen Kameraden vorzustellen, ohne allzugenau daran zu denken, daß durch unsere Verbindung mein Leben verändert werden könnte. Jetzt endlich hatte ich begriffen, daß hier der Monolog zu Ende war.

Wir beide waren allein auf dem Deck. Sie hielt mir ihre Stirn hin; ich drückte sie sanft an mich; sie hob die Augen; ich küßte sie auf die Lider und fühlte plötzlich, vermittelt durch meinen Kuß, eine Art neuen Mitleids; es füllte mich mit solcher Gewalt, daß ich die Tränen nicht zurückhalten konnte.

»Was hast du denn?« sagte Marzeline.

Wir begannen zu reden. Ihr reizendes Geplauder entzückte mich. Ich hatte mir, so gut ich es vermochte, einige Ideen über die Dummheit der Frauen gemacht. Neben ihr erschien an diesem Abend ich mir linkisch und dumm.

So hatte also die, an die ich mein Leben band, ihr eigenes und wirkliches Leben! Die Bedeutung dieses Gedankens weckte mich in der Nacht mehrere Male; mehrere Male richtete ich mich in meiner Koje auf, um in der andern, tieferen Koje Marzeline, meine Frau, schlafen zu sehen.

Am folgenden Tage war der Himmel prachtvoll, das Meer fast ruhig. Einige ungezwungene Unterhaltungen verminderten unsere Befangenheit noch. Die Ehe begann in Wahrheit. Am Morgen des letzten Oktobertages schifften wir uns in Tunis aus. –

Meine Absicht war, nur wenige Tage dortzubleiben. Ich werde euch meine Dummheit gestehen: nichts zog mich in diesem neuen Lande an als Karthago und einige römische Ruinen: Timgat, von dem Octavius mir gesprochen hatte, die Mosaiken von Susa, und vor allem das Amphitheater von El-Djem, wohin ich mir ohne Verzug zu eilen vornahm. Es galt zunächst nach Susa zu fahren, und dann von Susa aus den Postwagen zu nehmen; dazwischen, wollte ich, sollte mich nichts zu fesseln vermögen.

Doch Tunis überraschte mich sehr. Bei der Berührung mit neuen Empfindungen regten sich gewisse Teile in mir, schlummernde Fähigkeiten, die noch nicht gedient und so ihre ganze geheimnisvolle Jugend bewahrt hatten. Ich war mehr erstaunt, bestürzt, als amüsiert, und was mir vor allem gefiel, das war Marzelinens Freude.

Indessen wurde meine Mattigkeit von Tag zu Tag größer; aber ich hätte mich geschämt, ihr nachzugeben. Ich hustete und fühlte oben in der Brust eine seltsame Störung. Wir gehen nach dem Süden, dachte ich; die Wärme wird mich wiederherstellen.

Die Post nach Sfax verläßt Susa abends acht Uhr; sie kommt ein Uhr morgens durch El-Djem. Wir hatten die Coupéplätze belegt. Ich machte mich darauf gefaßt, eine unbequeme Karre zu finden; wir waren dagegen ziemlich behaglich untergebracht. Aber die Kälte! … Aus welchem kindischen Vertrauen auf die Milde der südlichen Luft heraus hatten wir, alle beide leicht gekleidet, nur einen Schal mitgenommen? Kaum aus Susa und dem Schutz seiner Hügel heraus, so begann der Wind zu blasen. Er machte große Sprünge auf der Ebene, heulte, pfiff, drang durch jeden Spalt des Kutschenschlages ein; nichts konnte vor ihm schützen. Wir kamen ganz erstarrt an, ich obendrein von den Stößen des Wagens und von einem furchtbaren Husten erschöpft, der mich noch mehr schüttelte. Was für eine Nacht! – In El-Djem angekommen – kein Gasthof, ihn vertrat ein fürchterliches Bordj: was tun? Die Post fuhr weiter. Das Dorf schlief; in der Nacht, die unermeßlich schien, sah man unbestimmt düstere Ruinenmassen; Hunde heulten. Wir gingen in den schmutzigen Saal zurück, wo zwei elende Betten errichtet waren. Marzeline zitterte vor Kälte, aber da erreichte uns wenigstens der Wind nicht mehr.

Der folgende Tag war trübe. Wir sahen, als wir hinaustraten, mit Staunen einen gleichförmig grauen Himmel. Der Wind blies immer noch, aber weniger ungestüm als in der Nacht vorher. Die Post sollte erst am Abend wieder durchkommen … Ich sage euch, es war ein kläglicher Tag. Das Amphitheater, das ich in wenigen Augenblicken durchlief, enttäuschte mich; ja, es schien mir unter diesem trüben Himmel häßlich. Vielleicht unterstützte meine Ermattung, mehrte sie meinen Verdruß. Um die Mitte des Tages ging ich aus Untätigkeit noch einmal hin und suchte vergeblich eine Inschrift auf den Steinen. Marzeline las unter Windschutz ein englisches Buch, das sie zum Glück mitgenommen hatte. Ich kam wieder zu ihr und setzte mich neben sie.

»Was für ein trauriger Tag! Du langweilst dich nicht zu sehr?« sagte ich zu ihr.

»Nein; du siehst: ich lese.«

»Wozu sind wir nur hergekommen? Dich friert wenigstens nicht?«

»Nicht zu sehr. Und dich? Es ist wahr! du bist ganz blaß.«

»Nein …«

Nachts begann der Wind mit neuer Kraft … Schließlich kam die Post. Wir fuhren wieder fort.

Gleich nach den ersten Stößen fühlte ich mich zerbrochen. Marzeline war sehr müde und schlief bald auf meiner Schulter ein. Aber mein Husten wird sie wecken, dachte ich, und leise, leise machte ich mich frei und lehnte sie gegen die Wagenwand. Inzwischen hustete ich nicht mehr, nein: ich spuckte; das war neu; ich führte es ohne Anstrengung herbei; es kam in kleinen Stößen, in regelmäßigen Intervallen; es war eine so wunderliche Empfindung, daß ich mich erst beinahe darüber amüsierte, aber bald widerte mich der unbekannte Geschmack an, der mir im Munde zurückblieb. Mein Taschentuch war schnell unbrauchbar. Schon hatte ich die Finger voll davon. Soll ich Marzeline wecken? … Zum Glück fiel mir ein großes Seidentuch ein, das sie sich um den Gürtel zu binden pflegte. Ich bemächtigte mich seiner vorsichtig. Der Auswurf, den ich nicht länger zurückhielt, kam reichlicher. Ich fühlte außerordentliche Erleichterung. Das ist der Schluß der Erkältung, dachte ich. Plötzlich fühlte ich mich sehr schwach, alles begann sich zu drehen, und ich glaubte, ich würde ohnmächtig werden. Soll ich sie wecken? … ah! pfui! … (ich habe, glaube ich, aus meiner puritanischen Kindheit her den Haß gegen jedes Nachgeben aus Schwäche bewahrt, ich nenne es sofort Feigheit). Ich nahm mich zusammen, ich klammerte mich an, ich wurde schließlich meines Schwindels Herr … Ich glaubte mich von neuem auf dem Meer, und das Geräusch der Räder wurde zum Geräusch der Wogen … Aber ich spuckte nicht mehr.

Dann schwamm ich in einer Art Schlummer.

Als ich erwachte, war der Himmel schon von der Morgenröte erfüllt; Marzeline schlief immer noch. Wir waren fast da. Das Seidentuch, das ich in der Hand hielt, war dunkel, so daß zunächst nichts davon zu sehen war, aber als ich mein Taschentuch zog, sah ich mit Bestürzung, daß es voll Blut war.

Mein erster Gedanke war, Marzeline dies Blut zu verbergen. Aber wie? – Ich war ganz damit befleckt; jetzt sah ich es überall, vor allem meine Finger … – Ich habe aus der Nase geblutet … Das geht; wenn sie fragt, werde ich ihr sagen, ich habe aus der Nase geblutet.

Marzeline schlief immer noch. Man kam an. Sie mußte zuerst aussteigen und sah nichts. Man hatte uns zwei Zimmer freigehalten. Ich konnte mich in meines stürzen, mich waschen und das Blut beseitigen. Marzeline hatte nichts gesehen.

Doch ich fühlte mich sehr schwach und ließ uns beiden Tee heraufbringen. Und während sie ihn bereitete, sehr ruhig, selber ein wenig bleich, lächelnd, kam mich eine Art Gereiztheit an, daß sie nichts zu sehen verstanden hatte. Ich empfand mich freilich als ungerecht, sagte mir: wenn sie nichts gesehen hat, so kommt das, weil ich gut verbarg; einerlei; nichts half; das wuchs in mir wie ein Instinkt, durchdrang mich … schließlich war es zu stark; ich hielt nicht mehr an mich! Wie zerstreut sagte ich zu ihr:

»Ich habe heute nacht Blut gespuckt.«

Sie stieß keinen Schrei aus; sie wurde nur noch viel blasser, schwankte, wollte sich halten und fiel schwer auf den Boden.

Ich stürzte in einer Art Wut auf sie zu: »Marzeline! Marzeline! – Aber höre! was habe ich getan! War es nicht genug, daß ich krank bin?« – Aber wie gesagt, ich war sehr schwach; es fehlte wenig, so wäre ich gleichfalls ohnmächtig geworden. Ich öffnete die Tür; ich rief; man eilte herbei.

In meinem Koffer hatte ich, wie mir einfiel, einen Empfehlungsbrief an einen Offizier der Stadt; ich hielt mich durch dieses Wort für berechtigt, den Stabsarzt rufen zu lassen.

Marzeline hatte sich inzwischen erholt; jetzt stand sie am Kopf meines Bettes, in dem ich vor Fieber zitterte. Der Stabsarzt kam und untersuchte uns beide: Marzeline fehle nichts, versicherte er, und sie leide nicht mehr von ihrem Sturz; ich dagegen sei ernstlich krank; er wollte sich sogar nicht einmal aussprechen und versprach, noch vor dem Abend wiederzukommen.

Er kam wieder, lächelte mir zu, sprach mit mir und gab mir verschiedene Mittel. Ich begriff, daß er mich aufgab. – Soll ich es euch gestehen? Ich erschrak nicht. Ich war müde. Ich ließ mich einfach gehen. –›Schließlich, was bot mir das Leben? Ich hatte ja bis zum Schluß gearbeitet, entschlossen und leidenschaftlich meine Pflicht getan. Der Rest … ah! was liegt mir daran?‹ dachte ich, und fand meinen Stoizismus ziemlich schön. Aber unter einem litt ich, unter der Häßlichkeit des Ortes. »Dieses Hotelzimmer ist furchtbar« und ich blickte es an. Plötzlich dachte ich daran, daß daneben, in einem gleichen Zimmer, meine Frau war, Marzeline; und ich hörte sie sprechen. Der Doktor war nicht fortgegangen; er unterhielt sich mit ihr; er bemühte sich leise zu sprechen. – Es verstrich einige Zeit: ich muß geschlafen haben.

Als ich erwachte, war Marzeline da. Ich merkte, daß sie geweint hatte. Ich liebte das Leben nicht genügend, um mit mir selber Mitleid zu haben, aber die Häßlichkeit dieses Ortes war mir unangenehm; fast mit Wollust ruhten meine Augen auf ihr.

Jetzt schrieb sie neben mir. Sie schien mir hübsch. Ich sah sie mehrere Briefe schließen. Dann stand sie auf, trat an mein Bett und ergriff zärtlich meine Hand:

»Wie fühlst du dich jetzt?« fragte sie. Ich lächelte und sagte traurig:

»Werde ich wieder gesund werden?« Aber sofort antwortete sie: – »Du wirst gesund werden!« – und zwar mit einer so leidenschaftlichen Überzeugung, daß ich, fast selber überzeugt, gleichsam eine wirre Empfindung von allem hatte, was das Leben sein konnte, von ihrer Liebe, der unbestimmten Vision so pathetischer Schönheiten – daß mir die Tränen aus den Augen drangen, und daß ich lange weinte, ohne mich dagegen wehren zu können noch zu wollen.

Mit welcher Gewalt der Liebe konnte sie mich treiben, Susa zu verlassen; umgeben von welchen reizenden Sorgen, geschützt, gestützt, überwacht … von Susa bis Tunis, dann von Tunis bis Konstantine war Marzeline bewunderungswürdig. Zu Biskra sollte ich genesen. Ihre Zuversicht war wundervoll; ihr Eifer sank keinen Augenblick. Sie sorgte für alles, leitete die Abfahrten und vergewisserte sich der Unterkunft. Sie konnte, leider! diese Reise nicht weniger furchtbar machen. Ich glaubte mehrmals anhalten und enden zu müssen. Ich schwitzte wie ein Sterbender; ich erstickte, ich verlor zeitweilig das Bewußtsein. – Am Schluß des dritten Tages kam ich wie tot in Biskra an.

 

II

Wozu von den ersten Tagen reden? Was bleibt von ihnen? Die furchtbare Erinnerung an sie ist ohne Stimme. Ich wußte nicht mehr, wer ich war, noch wo ich war. Ich sehe nur noch, wie sich über das Bett meiner Qual Marzeline, meine Frau, mein Leben, neigte. Ich weiß, daß ihre leidenschaftliche Pflege, ihre Liebe allein mich gerettet hat. Eines Tages endlich fühlte ich wie ein verlorener Seemann, der Land erblickt, daß ein Lebenslicht wieder erwachte; ich konnte Marzeline zulächeln. – Wozu all das erzählen? Das Wichtige war, daß der Tod mich, wie man sagt, mit seinem Flügel gestreift hatte. Das Wichtige ist, daß es mir sehr erstaunlich wurde, daß ich lebte, daß der Tag für mich ein unerhofftes Licht erhielt. Vorher, so dachte ich, hatte ich nicht begriffen, daß ich lebte. Ich sollte des Lebens zitternde Entdeckung machen.

Es kam der Tag, wo ich aufstehen konnte. Von unserem home war ich vollständig bezaubert. Es war fast nur eine Terrasse. Was für eine Terrasse! Mein Zimmer und das Marzelinens führten hinaus; sie verlängerte sich über Dächer hin. Wenn man die höchste Stelle erreicht hatte, sah man über den Häusern Palmen; über den Palmen die Wüste. Die andere Seite der Terrasse stieß an die Stadtgärten; die Zweige der letzten Mimosen beschatteten sie; schließlich lief sie am Hof hin, einem kleinen, regelmäßigen Hof, der mit sechs regelmäßigen Palmen bepflanzt war, und endete an der Treppe, die sie mit dem Hof verband. Mein Zimmer war weit, luftig; weißgetünchte Wände; nichts an den Wänden; eine kleine Tür führte in Marzelinens Zimmer; eine große Glastür ging auf die Terrasse.

Dort verflossen Tage ohne Stunden. Wie oft habe ich in meiner Einsamkeit diese langsamen Tage wiedergesehen! … Marzeline ist um mich. Sie liest, sie näht, sie schreibt. Ich tue nichts. Ich sehe sie an. O Marzeline! Marzeline! … Ich schaue. Ich sehe die Sonne; ich sehe den Schatten; ich sehe die Schattenlinie rücken; ich habe so wenig zu denken, daß ich sie beobachte. Ich bin noch sehr schwach; ich atme sehr mühsam; alles macht mich matt, selbst das Lesen; was auch lesen? Zu sein beschäftigt mich genug.

Eines Morgens kommt Marzeline lachend herein:

»Ich bringe dir einen Freund,« sagte sie; und ich sehe hinter ihr einen kleinen Araber mit braunem Teint eintreten. Er heißt Baschir, hat große, stille Augen, die mich ansehen. Ich bin fast ein wenig verlegen, und schon diese Verlegenheit ermattet mich; ich sage nichts, erscheine verdrießlich. Das Kind verliert vor der Kälte meines Empfanges die Fassung, dreht sich zu Marzeline zurück und schmiegt sich mit einer Bewegung von tierischer und schmeichlerischer Anmut gegen sie, faßt sie an der Hand und umarmt sie mit einer Geste, die seine nackten Arme zeigt. Ich merke, daß er unter seiner dünnen weißen Gandurah und unter seinem gestückten Burnus ganz nackt ist.

»Komm! setz dich da hin,« sagt Marzeline, die meine Qual sieht. »Amüsier dich still.«

Der Kleine setzt sich auf den Boden, zieht ein Messer aus der Kapuze seines Burnus hervor, ein Stück Djerid und beginnt, es zu bearbeiten. Ich glaube, er will eine Flöte machen.

Nach kurzer Zeit stört seine Gegenwart mich nicht mehr. Ich sehe ihn an; er scheint vergessen zu haben, daß er da ist. Seine Füße sind nackt, seine Knöchel sind reizend, und ebenso die Fesseln seiner Handgelenke. Er handhabt sein schlechtes Messer mit amüsanter Gewandtheit … Wahrhaftig, soll ich mich dafür interessieren? … Sein Haar ist auf arabische Art geschoren; er trägt eine armselige Scheschia, die an Stelle der Troddel nur ein Loch hat. Die Gandurah ist ein wenig herabgerutscht und entblößt seine zierliche Schulter. Ich fühle das Bedürfnis, sie zu berühren. Ich neige mich; er dreht sich um und lächelt mir zu. Ich mache ihm ein Zeichen, mir seine Flöte zu reichen, nehme sie und tue, als bewundere ich sie sehr. – Jetzt will er fort. Marzeline gibt ihm einen Kuchen, ich zwei Sous.

Am andern Tage langweile ich mich zum erstenmal; ich warte; worauf warte ich? Ich fühle mich untätig, unruhig. Endlich halte ich es nicht mehr aus.

»Kommt denn Baschir heute nicht, Marzeline?«

»Wenn du willst, hole ich ihn.«

Sie verläßt mich, steigt hinunter; nach einem Augenblick kommt sie allein zurück. Was hat die Krankheit aus mir gemacht? Ich bin zum Weinen traurig, daß ich sie ohne Baschir zurückkommen sehe.

»Es war zu spät,« sagt sie; »die Kinder sind schon aus der Schule fort und haben sich überall zerstreut. Es sind entzückende darunter, weißt du. Ich glaube, mich kennen jetzt alle.«

»Wenigstens sieh zu, daß er morgen da ist.«

Am folgenden Tage kam Baschir wieder. Er setzte sich wie zwei Tage zuvor, zog sein Messer und wollte ein zu hartes Holz schneiden; plötzlich bohrte er sich die Klinge in den Daumen. Mich überlief ein Schauder des Grauens; er lachte darüber, zeigte den glänzenden Schnitt, und es machte ihm Spaß, sein Blut fließen zu sehen. Wenn er lachte, zeigte er sehr weiße Zähne; er leckte seine Wunde lustig; seine Zunge war rosig wie die einer Katze. Ah! wie wohl ihm war! Das war es, worein ich mich an ihm verliebte: die Gesundheit. Die Gesundheit dieses kleinen Körpers war schön.

Am nächsten Tage brachte er Steinkügelchen mit. Er wollte, ich sollte spielen. Marzeline war nicht da; sie hätte mich zurückgehalten. Ich zögerte, blickte Baschir an; der Kleine faßte mich am Arm, legte mir die Kugeln in die Hand, zwang mich. Ich kam ganz außer Atem, wenn ich mich bückte, aber ich versuchte trotzdem zu spielen. Baschirs Vergnügen entzückte mich. Schließlich konnte ich nicht mehr. Ich war in Schweiß gebadet. Ich warf die Kugeln hin und ließ mich in einen Sessel fallen. Baschir sah mich ein wenig unruhig an.

»Krank?« sagte er reizend; der Ton seiner Stimme war wundervoll. Marzeline kam nach Hause.

»Nimm ihn fort,« sagte ich, »ich bin müde heute morgen.«

Ein paar Stunden darauf hatte ich ein Blutspeien. Es war, als ich mühsam auf der Terrasse hin und her ging; Marzeline war in ihrem Zimmer beschäftigt; zum Glück konnte sie nichts davon sehen. Ich hatte den Mund voll davon … Aber es war nicht mehr klares Blut wie zur Zeit der ersten Auswürfe; es war ein dicker, scheußlicher Blutkuchen, den ich voll Ekel zu Boden spie.

Ich tat ein paar Schritte und schwankte. Ich war furchtbar erregt. Ich zitterte. Ich hatte Angst; ich war in Zorn. – Denn bis dahin hatte ich geglaubt, Schritt für Schritt werde die Heilung kommen, und ich brauche nur auf sie zu warten. Dieser brutale Zwischenfall hatte mich wieder zurückgeworfen. Seltsam, die ersten Auswürfe hatten mir nicht solchen Eindruck gemacht; ich erinnere mich nun, daß sie mich fast ruhig gelassen hatten. Woher kam also jetzt meine Angst, mein Grauen? Ah! das kam, weil ich das Leben zu lieben begann.

Ich kehrte um, bückte mich, suchte mir den Auswurf wieder, nahm einen Strohhalm, hob den Blutkuchen auf und legte ihn auf mein Taschentuch. Ich sah ihn mir an. Es war ein scheußliches, fast schwarzes Blut, etwas Klebriges, Entsetzliches … Ich dachte an Baschirs schönes, rotschimmerndes Blut … Und plötzlich faßte mich ein Verlangen, eine Lust, etwas Wütenderes, Gebieterischeres als alles, was ich bis dahin empfunden hatte: leben! ich will leben. Ich will leben. Ich preßte die Zähne zusammen, die Fäuste, konzentrierte mich ganz und gar, verloren, trostlos, in diesem Ringen nach dem Dasein.

Ich hatte am Tage zuvor, als Antwort auf besorgte Fragen Marzelinens, einen Brief von T*** erhalten; er war voller medizinischer Ratschläge; T*** hatte seinem Brief sogar einige populärmedizinische Broschüren und ein spezielleres Buch beigelegt, das mir darum nicht ernster erschien. Den Brief hatte ich nur nachlässig gelesen, die Bücher gar nicht; zunächst weil mich die Ähnlichkeit dieser Broschüren mit den kleinen Moraltraktaten, durch die man mir die Kindheit verbittert hatte, nicht zu ihren Gunsten einnahm; dann, weil mir alle Ratschläge lästig waren; und schließlich glaubte ich nicht, daß sich diese »Ratschläge für Schwindsüchtige«, »Praktische Heilung der Schwindsucht« auf meinen Fall anwenden ließen. Ich hielt mich nicht für schwindsüchtig. Gern schrieb ich mein erstes Blutspucken einer andern Ursache zu; oder vielmehr: eigentlich schrieb ich sie nichts zu, mied es, daran zu denken, dachte kaum daran und hielt mich, wenn noch nicht für geheilt, so doch fast für geheilt … Ich las den Brief; ich verschlang das Buch, die Abhandlungen. Plötzlich wurde mir mit erschreckender Deutlichkeit klar, daß ich mich nicht gepflegt hatte, wie es nötig gewesen wäre. Bis dahin hatte ich mich leben lassen, hatte mich der unklarsten Hoffnung anvertraut; – plötzlich schien mir mein Leben angegriffen, wild in seinem Zentrum angegriffen. Ein zahlreicher, tätiger Feind lebte in mir. Ich lauschte auf ihn; ich belauerte ihn; ich fühlte ihn. Ich würde ihn nicht ohne Kampf besiegen … und ich fügte mit halber Stimme hinzu, wie um mich selber besser zu überzeugen: das ist eine Sache des Willens.

Ich setzte mich in Kriegszustand.

Der Abend senkte sich; ich organisierte meine Strategie. Auf eine Zeitlang sollte einzig meine Heilung mein Studium werden; meine Pflicht war meine Gesundheit; für gut galt es zu halten, das Gute zu nennen alles, was mir heilsam war; zu vergessen, abzuweisen galt es alles, was nicht heilte. – Bis zum Nachtmahl hatte ich für die Atmung, die Bewegung, die Ernährung meine Entschlüsse gefaßt.

Wir nahmen unsere Mahlzeiten in einer Art kleinen Kiosks ein, den die Terrasse auf allen Seiten umgab. Allein, ruhig, allem fern, war die Intimität unserer Mahlzeiten entzückend. Aus einem benachbarten Hotel brachte uns ein alter Neger ein erträgliches Essen. Marzeline überwachte die Menüs, bestellte die eine Schüssel, wies eine andere ab … Da ich meist keinen großen Hunger hatte, litt ich nicht sehr unter den versäumten Schüsseln und den ungenügenden Menüs. Marzeline, selber nicht gewöhnt, viel zu essen, wußte nicht, machte sich nicht klar, daß ich nicht genug aß. Viel zu essen, das war von all meinen Vorsätzen der erste. Ich wollte ihn schon am Abend in Wirklichkeit umsetzen. – Ich konnte nicht. Wir hatten ich weiß nicht was für ein ungenießbares Ragout und dann einen lächerlich überrösteten Braten.

Mein Ärger war so lebhaft, daß ich ihn auf Marzeline übertrug und mich vor ihr in maßlosen Worten erging. Ich beschuldigte sie; wenn man mich anhörte, mußte es scheinen, als hätte sie sich für die schlechte Qualität dieser Gerichte verantwortlich fühlen müssen. Diese kleine Verzögerung des Regimes, das ich zu befolgen beschlossen hatte, wurde von der ernstesten Bedeutung; ich vergaß die vorhergehenden Tage; diese verfehlte Mahlzeit verdarb alles. Ich verbiß mich. Marzeline mußte in die Stadt hinuntersteigen, um eine Konserve oder eine Pastete irgendwelcher Art zu holen.

Sie kam bald mit einer kleinen Terrine zurück, und ich verschlang sie fast ganz, wie um uns beiden zu beweisen, wie sehr ich nötig hatte, mehr zu essen.

Noch am selben Abend legten wir folgendes fest: Die Mahlzeiten sollten viel besser sein, auch viel zahlreicher, alle drei Stunden eine; die erste schon um halb sieben. Ein reichlicher Vorrat von Konserven aller Art sollte die mittelmäßigen Schüsseln des Hotels ergänzen …

Ich konnte diese Nacht nicht schlafen, so berauschte mich das Vorgefühl meiner neuen Tugenden. Ich hatte, glaube ich, ein wenig Fieber; eine Flasche Mineralwasser war da; ich trank ein Glas davon, ein zweites; beim dritten Mal trank ich aus der Flasche und trank sie mit einem Zuge aus. – Ich ging meinen Vorsatz wieder durch, wie man eine Lektion durchgeht; ich umschrieb meine Feindseligkeit, richtete sie gegen alle Dinge, ich mußte gegen alles kämpfen: mein Heil hing von mir allein ab.

Schließlich sah ich die Nacht erblassen; der Tag erschien.

Das war meine Waffenwacht gewesen.

Am Tage darauf war Sonntag. Bis dahin hatte ich mich, soll ich es gestehen, noch nicht um Marzelinens Glauben gekümmert; aus Gleichgültigkeit oder Schamgefühl schien mir, das gehe mich nichts an; und dann legte ich ihm keine Bedeutung bei. – Heute ging Marzeline in die Messe. Bei ihrer Rückkehr hörte ich, sie habe für mich gebetet. Ich sah sie fest an, dann, so sanft ich konnte:

»Du mußt nicht für mich beten, Marzeline.«

»Weshalb?« sagte sie, ein wenig verlegen.

»Ich liebe den Beistand nicht.«

»Du weist Gottes Hilfe zurück?«

»Nachher hätte er ein Recht an meine Dankbarkeit. Das schafft Verpflichtungen; die will ich nicht.«

Es sah aus, als scherzten wir, aber wir täuschten uns keineswegs über die Bedeutung unserer Worte.

»Du wirst nicht ganz von selbst gesund werden, armer Freund,« seufzte sie.

»Dann um so schlimmer …« Aber als ich ihre Trauer sah, fügte ich weniger brutal hinzu: »Du wirst mir helfen.«

 

III

Ich will ausführlich von meinem Körper reden. Ich will so viel von ihm reden, daß es euch zunächst scheinen wird, ich vergesse die Rolle des Geistes. Meine Vernachlässigung in dieser Erzählung ist willkürlich; da unten war sie wirklich. Ich hatte nicht Kraft genug, um ein Doppelleben zu unterhalten; der Geist und all das, dachte ich, dafür werde ich später sorgen, wenn es mir besser geht.

Ich war noch weit davon entfernt, daß es mir gut ging. Um ein Nichts war ich in Schweiß, und um ein Nichts erkältete ich mich; ich hatte kurzen Atem, bisweilen ein wenig Fieber; oft schon vom Morgen an ein Gefühl furchtbarer Ermattung, und ich blieb dann, in einem Sessel hingestreckt, liegen, gleichgültig gegen alles, egoistisch, und ich beschäftigte mich ganz einzig mit dem Versuch, gut zu atmen. Ich atmete mühsam, methodisch, sorgfältig; mein Ausatmen vollzog sich in zwei Rucken, die mein überangespannter Wille nicht völlig unterdrücken konnte; noch lange Zeit nachher mied ich sie nur durch beständiges Aufmerken.

Aber worunter ich am meisten zu leiden hatte, das war meine krankhafte Empfindlichkeit gegen jeden Temperaturwechsel. Ich glaube, wenn ich heute darüber nachdenke, es war eine allgemeine Nervenstörung zu der Krankheit hinzugetreten; ich kann mir eine Reihe von Phänomenen, die sich, scheint mir, nicht auf den einfachen Zustand der Schwindsucht zurückführen lassen, nicht anders erklären. Mir war stets entweder zu warm oder zu kalt; ich deckte mich mit lächerlicher Übertreibung zu, hörte nur zu frösteln auf, um zu schwitzen; deckte mich ein wenig auf und fröstelte, sobald ich nicht mehr schwitzte. Teile meines Körpers wurden zu Eis, waren trotz ihres Schweißes für die Berührung kalt wie Marmor; nichts konnte sie erwärmen. Ich war bis zu einem Grade empfindlich gegen die Kälte, daß ich mir von ein wenig Wasser, das mir beim Waschen auf den Fuß fiel, eine Erkältung holte; und ebenso empfindlich gegen Heißes … Ich behielt diese Empfindlichkeit, ich habe sie noch, aber heute gibt sie mir wollüstige Genüsse. Jede sehr lebhafte Empfindlichkeit kann, je nachdem der Organismus kräftig oder schwach ist, glaube ich, Anlaß zur Entzückung oder Qual werden. Alles was mich noch jüngst quälte, ist mir zum Entzücken geworden.

Ich weiß nicht, wie ich es bis dahin fertig gebracht hatte, bei geschlossenen Fenstern zu schlafen; auf T***s Rat also versuchte ich sie nachts zu öffnen; erst ein wenig; bald stieß ich sie weit auf; bald war es zur Gewohnheit, zu einem solchen Bedürfnis geworden, daß ich erstickte, sobald das Fenster geschlossen war. Mit welchen Entzückungen werde ich später den Wind der Nächte, den Mondschein zu mir hereindringen fühlen …

Ich sehne mich danach, endlich mit diesem ersten Stammeln der Gesundheit abzuschließen. Denn dank der beständigen Pflege, der reinen Luft, der kräftigeren Nahrung ging es mir bald besser. Bisher hatte ich die Atemerschöpfung der Treppe gefürchtet und die Terrasse nicht zu verlassen gewagt; in den letzten Tagen des Januar endlich stieg ich hinunter, wagte ich mich in den Garten.

Marzeline begleitete mich mit einem Schal. Es war drei Uhr nachmittags. Der Wind, der in diesem Lande oft heftig ist und der mich seit drei Tagen sehr gequält hatte, hatte sich gelegt. Die Milde der Luft war wundervoll.

Der öffentliche Garten … Eine sehr breite Allee durchschnitt ihn, beschattet von zwei Reihen jener sehr hohen Mimosenart, die man da unten Kassien nennt. Im Schatten dieser Bäume Bänke. Ein kanalisierter Bach – ich meine, er war mehr tief als breit – fließt fast gerade an der Allee entlang; dann teilen weitere Kanäle das Wasser des Baches, führen es quer durch den Garten zu den Pflanzen hin; das schwere Wasser ist erdfarben, von der Farbe rosigen oder grauen Tons. Fast keine Fremde, ein paar Araber; sie gehen umher, und sobald sie die Sonne verlassen haben, nimmt ihr weißer Mantel die Farbe des Schattens an.

Mich faßte ein eigenartiger Schauer, als ich in diesen seltsamen Schatten trat; ich hüllte mich in meinen Schal; doch keinerlei Unbehagen; im Gegenteil … Wir setzten uns auf eine Bank. Marzeline schwieg. Araber gingen vorüber; dann kam ein Trupp von Kindern. Marzeline kannte mehrere von ihnen und winkte; sie kamen herbei. Sie nannte mir Namen; es gab Fragen, Antworten, Lächeln, Schmollen, kleine Spiele. All das reizte mich ein wenig, und von neuem kam mein Unbehagen; ich fühlte mich müde und schwitzte. Aber, soll ich es gestehen, nicht die Kinder störten mich, sondern sie. Ja, so wenig es auch war, ihre Gegenwart störte mich. Wäre ich aufgestanden, so wäre sie mir gefolgt; hätte ich meinen Schal abgelegt, sie hätte ihn tragen wollen; hätte ich ihn nachher wieder umgelegt, sie hätte gesagt: »Dich friert doch nicht?« Und dann, mit den Kindern zu sprechen, wagte ich vor ihr nicht; ich sah, daß sie ihre Günstlinge hatte; unwillkürlich, aber aus Voreingenommenheit, interessierte ich mich für die anderen. – »Laß uns nach Hause gehen,« sagte ich zu ihr; und ich beschloß für mich, allein in den Garten zurückzukehren.

Am folgenden Tage mußte sie gegen zehn Uhr ausgehn; das benutzte ich. Der kleine Baschir, der selten versäumte, morgens zu kommen, nahm meinen Schal; ich fühlte mich munter, leichten Herzens. Wir waren fast allein in der Allee; ich ging langsam, setzte mich einen Moment und ging weiter. Baschir folgte geschwätzig; treu und behende wie ein Hund. Ich kam bis zu der Stelle des Kanals, wohin die Wäscherinnen waschen kommen. Mitten in den Strom ist ein platter Stein gelegt; darauf lag ein kleines Mädchen und warf, das Gesicht aufs Wasser geneigt, die Hand im Strom, Reiser hinein oder fing sie wieder. Ihre nackten Füße waren ins Wasser getaucht; von diesem Bade bewahrten sie noch die feuchte Spur, und dort erschien ihre Haut dunkler. Baschir näherte sich ihr und sprach mit ihr; sie drehte sich um, lächelte mich an und antwortete Baschir auf Arabisch. – »Das ist meine Schwester,« sagte er zu mir, dann erklärte er mir, seine Mutter komme, um Wäsche zu waschen, und seine kleine Schwester erwarte sie. Sie heiße Rhadra, was auf Arabisch ›die Grüne‹ bedeutet. Er sagte all das mit entzückender, klarer Stimme, die ebenso kindlich war wie die Rührung, die ich darüber empfand.

»Sie will, du sollst ihr zwei Sous geben,« fügte er hinzu.

Ich gab ihr zehn und machte mich zur Umkehr bereit, als die Mutter kam, die Wäscherin. Es war eine wundervolle Frau, schwer, mit großer, blautätowierter Stirn; sie trug, ähnlich den antiken Kanephoren, und wie sie nur mit einem breiten blauen Stoff verschleiert, der im Gürtel aufgenommen ist und ohne Unterbrechung bis auf die Füße fällt, einen Wäschekorb auf dem Kopfe. – Sowie sie Baschir sah, fuhr sie ihn hart an. Er antwortete heftig; das kleine Mädchen mischte sich hinein; zwischen den dreien entspann sich eine lebhafte Erörterung. Schließlich gab mir Baschir wie besiegt zu verstehen, seine Mutter habe ihn heut' morgen nötig; er reichte mir traurig meinen Schal, und ich mußte ganz allein den Rückweg antreten.

Ich hatte noch keine zwanzig Schritt getan, so schien mir mein Schal von unerträglichem Gewicht; ganz in Schweiß setzte ich mich auf die erste Bank, die ich fand. Ich hoffte, es werde ein Kind vorbeikommen, das mich von dieser Last befreien würde. Es kam auch bald eins; es war ein großer Bursch von vierzehn Jahren, schwarz wie ein Sudanese und gar nicht furchtsam; er bot sich selber an. Er hieß Ashur. Er wäre mir schön erschienen, wenn er nicht einäugig gewesen wäre. Er plauderte gern, sagte mir, woher der Bach komme und daß er hinter dem Stadtgarten in die Oase fließe und sie ganz durchquere. Ich hörte ihm zu und vergaß meine Mattigkeit. So wundervoll mir Baschir erschien, ich kannte ihn mittlerweile zu sehr, und ich freute mich eines Wechsels. Ja, ich versprach mir, eines andern Tages ganz allein in den Garten hinabzusteigen und, auf einer Bank sitzend, den Zufall einer glücklichen Begegnung abzuwarten …

Nachdem ich noch mehrere Minuten stillgestanden hatte, kamen wir, Ashur und ich, vor meine Tür. Ich hätte ihn gern aufgefordert, mit hinaufzukommen, aber ich wagte es nicht, da ich nicht wußte, was Marzeline dazu sagen würde.

Ich fand sie im Speisesaal, beschäftigt um ein sehr junges Kind, das so kränklich und jämmerlich aussah, daß ich anfangs mehr Abscheu als Mitleid empfand. Ein wenig zaghaft sagte Marzeline:

»Der arme Kleine ist krank.«

»Es ist doch wenigstens nicht ansteckend? Was hat er?«

»Ich weiß es noch nicht allzugenau. Er klagt ein wenig über alles. Er spricht ziemlich schlecht französisch; wenn Baschir morgen kommt, soll er ihm als Dolmetscher dienen … Ich gebe ihm ein wenig Tee zu trinken.«

Und dann, wie um sich zu entschuldigen, und da ich so dastehen blieb, ohne etwas zu sagen, fügte sie hinzu:

»Ich kenne ihn schon lange; ich hatte noch nicht gewagt, ihn kommen zu lassen; ich fürchtete, dich zu ermüden oder daß er dir vielleicht nicht recht wäre.«

»Warum nur!« rief ich aus, »bringe alle Kinder mit, die du willst, wenn dir das Spaß macht!« Und ich dachte, ein wenig ärgerlich, weil ich es nicht getan hatte, ich hätte Ashur ganz gut können heraufkommen lassen.

Unterdes sah ich meine Frau an; sie war mütterlich und liebkosend. Ihre Zärtlichkeit war so rührend, daß der Kleine bald ganz neu belebt davonging. – Ich sprach von meinem Spaziergange und gab Marzeline ohne Härte zu verstehen, weshalb ich lieber allein ausging.

Meine Nächte waren meist noch von plötzlichen Schrecken durchschnitten, die mich vor Kälte starr oder in Schweiß gebadet weckten. Diese Nacht verlief sehr gut und fast ohne Erwachen. Am andern Morgen war ich schon um neun Uhr bereit, auszugehen. Es war schön; ich fühlte mich gut ausgeruht, nicht schwach, heiter, oder vielmehr amüsiert. Die Luft war ruhig und lau, aber ich nahm doch meinen Schal mit als Vorwand, mit dem Bekanntschaft zu schließen, der ihn mir tragen würde. Ich sagte schon, der Garten stieß an unsere Terrasse; ich war also gleich da. Ich trat voll Entzücken in seinen Schatten. Die Luft war voll Licht. Die Kassien, deren Blüten sehr früh kommen, vor den Blättern, dufteten – wenn nicht etwa jene Art leichten, unbekannten Duftes, der durch mehrere Sinne in mich einzudringen schien und mich erhob, von überallher kam; doch bei der ersten Bank setzte ich mich, aber mehr berauscht, mehr betäubt als müde. Ich blickte umher. Der Schatten war beweglich und leicht, er fiel nicht auf den Boden und schien kaum aufzuruhen. O! Licht! – Ich lauschte. Was hörte ich? Nichts; alles; ich freute mich jeden Geräusches. – Ich entsinne mich eines Strauches, dessen Rinde mir von fern von so phantastischer Konsistenz erschien, daß ich aufstehen mußte, um sie zu betasten. Ich berührte sie, wie man streichelt; ich fand ein Entzücken darin. Ich entsinne mich … Sollte ich endlich an diesem Morgen geboren werden?

Ich hatte vergessen, daß ich allein war, ich erwartete nichts, vergaß die Stunde. Mir schien, bis zu diesem Tage hatte ich so wenig empfunden, um so viel zu denken, daß ich mich schließlich über dieses wunderte: meine Empfindung wurde so stark wie ein Gedanke.

Ich sage: mir schien – denn aus dem Grunde der Vergangenheit meiner ersten Kinderjahre erwachten endlich tausend Lichter tausend verirrter Empfindungen. Das Bewußtsein meiner Sinne, das mir von neuem kam, erlaubte mir diese unruhige Erkenntnis. Ja, meine Sinne, erwacht fortan, fanden sich eine ganze Geschichte wieder, setzten sich eine Vergangenheit zusammen. Sie lebten! sie lebten! hatten zu leben nie aufgehört, entdeckten selbst durch meine Studienjahre hindurch ein verborgenes und listiges Leben.

Ich hatte an diesem Tage keine Begegnung, und ich war froh darüber; ich zog einen kleinen Homer aus der Tasche, den ich seit meiner Abfahrt aus Marseille nicht mehr aufgeschlagen hatte, las drei Verse aus der Odyssee, lernte sie auswendig, und da ich in ihrem Rhythmus genügende Nahrung fand und mich seiner in Muße freuen konnte, schloß ich das Buch und blieb sitzen, zitternd, lebendiger, als ich geglaubt hatte, daß man sein könnte, und im Geist betäubt vom Glück …

 

IV

Unterdes begann mir Marzeline, die meine Gesundheit mit Freuden endlich zurückkehren sah, seit ein paar Tagen, von den wunderbaren Obstgärten der Oase zu erzählen. Sie liebte die freie Luft und das Gehen. Die Freiheit, die mein Kranksein ihr eintrug, erlaubte ihr lange Gänge, von denen sie geblendet zurückkam. Bisher hatte sie kaum davon gesprochen, da sie mich nicht anzureizen wagte, daß ich ihr dorthin folgte, und da sie fürchtete, mich traurig werden zu sehen, wenn sie mir von Vergnügungen erzählte, die ich noch nicht hätte genießen können. Aber jetzt, wo es mir besser ging, rechnete sie auf ihren Reiz, um mich vollends wieder herzustellen. Der Geschmack, den ich am Gehen und am Schauen fand, trieb mich dazu. Und schon am Tage darauf gingen wir zusammen aus.

Sie ging mir auf einem phantastischen Weg voran, dessengleichen ich noch in keinem Lande gesehen habe. Zwischen zwei ziemlich hohen Lehmmauern läuft er wie lässig umher; die Formen der Gärten, die diese hohen Mauern begrenzen, biegen ihn nach Muße; er krümmt sich oder knickt seine Linie, gleich am Eingang macht einen eine Windung irre; man weiß nicht mehr, woher man kommt, noch wohin man geht. Das treue Wasser des Baches folgt dem Pfade, läuft an einer der Mauern hin; die Mauern sind aus eben dem Lehm des Weges, dem der ganzen Oase hergestellt, einem rosigen oder zartgrauen Ton, den das Wasser ein wenig tiefer macht, dem die glühende Sonne eine rissige Oberfläche gibt, und der in der Hitze hart, aber beim ersten Regenguß wieder weich wird und dann einen plastischen Boden bildet, der die Eindrücke der nackten Füße bewahrt. – Über den Mauern Palmen. Bei unserem Nahen flogen Tauben hinein. – Marzeline sah mich an.

Ich vergaß meine Müdigkeit und meinen Zwang. Ich marschierte in einer Art Ekstase, schweigender Fröhlichkeit, einer Art Begeisterung der Sinne und des Fleisches. In dem Moment erhoben sich leichte Hauche; alle Palmen bewegten sich, und wir sahen die höchsten sich neigen; – dann wurde die ganze Luft wieder ruhig, und ich hörte hinter der Mauer deutlich ein Flötenspiel. – Eine Bresche in der Mauer; wir traten ein.

Es war ein Ort voller Schatten und voller Licht; ruhig und, wie es schien, gleichsam vor dem Wetter geschützt; voll Schweigen und Rauschen, dem leichten Geräusch des Wassers, das verrinnt, die Palmen netzt und von Baum zu Baum flieht, dem leisen Ruf der Tauben, dem Flötenspiel eines Kindes. Es hütete eine Ziegenherde; es saß, fast nackt, auf dem Stamm einer gefällten Palme; es kümmerte sich nicht um unser Nahen, entfloh nicht, hörte kaum einen Augenblick mit seinem Spiel auf.

Ich merkte während dieser kurzen Stille, daß in der Ferne eine zweite Flöte antwortete. Wir gingen noch ein wenig weiter hinein, dann sagte Marzeline:

»Unnütz, weiterzugehen; diese Obstgärten sind alle gleich; kaum, daß sie am Rand der Oase ein wenig weiter werden …« Sie breitete den Schal am Boden aus:

»Ruh' dich aus.«

Wie lange wir dortblieben? ich weiß es nicht mehr; – was kam auf die Stunde an? Marzeline lag dicht neben mir; ich streckte mich hin, legte ihr den Kopf auf die Knie. Das Flötenspiel rann immer noch, hörte Momente auf, begann von neuem; das Geräusch des Wassers … Hin und wieder blökte eine Ziege. Ich schloß die Augen; ich fühlte, wie sich mir Marzelinens frische Hand auf die Stirne legte; ich fühlte die glühende Sonne sanft durch die Palmen sickern; ich dachte an nichts; was lag am Denken? ich empfand außerordentlich …

Und momentelang ein neues Geräusch; ich schlug die Augen auf; es war der leichte Wind in den Palmen; er kam nicht bis zu uns herab, bewegte nur die hohen Palmen …

Am andern Morgen ging ich wieder mit Marzeline in denselben Garten; abends ging ich allein hin. Der Ziegenhirt, der die Flöte spielte, war da. Ich ging zu ihm heran, sprach mit ihm. Er hieß Lassif, war erst zwölf Jahre alt, war schön. Er nannte mir die Namen seiner Ziegen, sagte mir, daß die Kanäle seghias hießen; nicht alle fließen alle Tage, belehrte er mich; das Wasser wird klug und sparsam verteilt, genügt dem Durst der Pflanzen und wird ihnen alsbald entzogen. Am Fuße jeder der Palmen ist ein schmales Bassin gegraben, das das Wasser aufnimmt, um den Baum zu tränken; ein sinnreiches Schleusensystem, das mir der Knabe auseinandersetzte, indem er es spielen ließ, lenkt das Wasser, leitet es dahin, wo der Durst zu groß ist.

Am folgenden Tage sah ich einen Bruder Lassifs: er war ein wenig älter, weniger schön; er hieß Lachmi. Mit Hilfe der Art Leiter, die die Narbe der alten abgehauenen Palmzweige am Stamm entlang bildet, kletterte er hoch auf eine gekappte Palme; dann kletterte er behend herab und ließ unter seinem flatternden Mantel eine goldene Nacktheit sehen. Er brachte oben vom Baum, dessen Wipfel man abgeschnitten hatte, eine kleine Tonflasche mit; sie war da oben aufgehängt, dicht bei der frischen Wunde, um den Palmensaft aufzufangen, aus dem man einen süßen Wein bereitet, der den Arabern sehr gefällt … Auf Lachmis Aufforderung kostete ich davon, aber der fade, strenge und sirupartige Geschmack war mir unangenehm.

Die folgenden Tage ging ich weiter; ich sah andere Gärten, andere Hirten und andere Ziegen. Wie Marzeline gesagt hatte: diese Gärten waren alle gleich; und doch war jeder anders.

Bisweilen begleitete Marzeline mich noch: aber öfter verließ ich sie am Eingang der Obstgärten, indem ich sie überredete, ich sei müde, ich wollte mich setzen, sie solle nicht auf mich warten, denn sie habe das Bedürfnis, mehr zu marschieren; so machte sie ihren Spaziergang ohne mich. – Ich blieb bei den Kindern. Bald kannte ich ihrer eine große Zahl; ich plauderte lange mit ihnen; ich lernte ihre Spiele, gab ihnen andere an, verlor alle meine Sous beim ›Korkspiel‹. Manche begleiteten mich weit (jeden Tag dehnte ich meine Gänge aus), zeigten mir für den Rückweg einen neuen Pfad, beluden sich mit meinem Mantel und meinem Schal, wenn ich bisweilen beides mitnahm; ehe ich sie verließ, verteilte ich mein Kleingeld unter sie; mitunter folgten sie mir, immer spielend, bis zu meiner Tür; mitunter kamen sie schließlich sogar noch weiter.

Dann brachte auch Marzeline ihrerseits welche mit. Sie brachte die aus der Schule mit, die sie zur Arbeit ermunterte; am Schluß der Stunden kamen die Klugen und Ruhigen herauf; die, die ich mitbrachte, waren anders; aber das Spiel vereinigte sie. Wir sorgten dafür, daß wir stets Fruchtsäfte und Leckereien da hatten. Bald kamen andere von selber, selbst ohne Einladung von uns. Ich entsinne mich jedes von ihnen; ich sehe sie noch …

Gegen Ende Januar wurde das Wetter plötzlich schlecht; ein kalter Wind begann zu wehen, und meine Gesundheit litt sofort darunter. Die große, offene Fläche, die die Oase von der Stadt trennt, wurde wieder unpassierbar für mich, und ich mußte mich von neuem mit dem Stadtgarten begnügen. Dann regnete es; ein eisiger Regen, der im Norden, ganz am Horizont, die Berge mit Schnee bedeckte.

Ich verbrachte diese traurigen Tage am Feuer, indem ich wütend gegen die Krankheit kämpfte, die bei diesem schlechten Wetter triumphierte. Traurige Tage; die geringste Anstrengung führte unbequemen Schweiß herbei; meine Aufmerksamkeit zu fixieren erschöpfte mich; sobald ich nicht mehr darüber wachte, daß ich sorgfältig atmete, erstickte ich.

Die Kinder waren mir während dieser traurigen Tage die einzig mögliche Zerstreuung. Während des Regens kamen nur die sehr Vertrauten; ihre Kleider waren durchnäßt; sie setzten sich im Kreise ums Feuer. Lange Zeiten verflossen, ohne daß etwas gesprochen wurde. Ich war zu müde, zu leidend für etwas anderes als sie anzusehen; aber die Anwesenheit ihrer Gesundheit heilte mich. Die, die Marzeline verhätschelte, waren schwach, verkümmert und zu klug; ich ärgerte mich über sie wie über die Kinder, die ich schließlich zurückstieß. Die Wahrheit zu sagen, sie machten mir bange.

Eines Morgens erhielt ich eine merkwürdige Aufklärung über mich selber: Moktir, der einzige unter den Schützlingen meiner Frau, der mich nicht reizte (vielleicht, weil er schön war), war mit mir in meinem Zimmer allein; bis dahin hatte ich ihn mäßig gern, aber sein glänzender und düsterer Blick machte mich neugierig. Eine Neugier, die ich mir nicht recht erklären konnte, drängte mich, seine Gesten zu überwachen. Ich stand am Feuer, die beiden Ellbogen auf dem Kamin, vor einem Buch, und ich schien ganz in Anspruch genommen, konnte aber die Bewegungen des Kindes, dem ich den Rücken zukehrte, im Spiegel sehen. Moktir wußte sich nicht beobachtet und glaubte mich in die Lektüre versenkt. Ich sah, wie er sich geräuschlos einem Tische näherte, auf den Marzeline dicht neben eine Arbeit eine kleine Schere gelegt hatte, sah ihn sie verstohlen ergreifen und mit einem Schlag in seinem Burnus verstecken. Mir schlug das Herz einen Moment lang heftig, aber die vernünftigsten Überlegungen konnten kein Gefühl der Empörung in mir zur Reife bringen. Mehr noch! es gelang mir nicht, mir zu beweisen, daß die Empfindung, die mich da erfüllte, anderes sei als Freude. – Als ich Moktir vollauf Zeit gelassen hatte, mich tüchtig zu bestehlen, wandte ich mich ihm von neuem zu und sprach mit ihm, als wäre nichts geschehen. – Marzeline liebte diesen Knaben sehr; aber ich glaube nicht, daß es die Furcht war, ihr Schmerz zu machen, was mich, als ich sie wiedersah, trieb, statt Moktir zu denunzieren, ich weiß nicht welche Fabel zu erfinden, um den Verlust der Schere zu erklären. – Von diesem Tage an wurde Moktir mein Vorzug.

 

V

Unser Aufenthalt in Biskra sollte nicht mehr lange dauern. Als die Februarregen vorüber waren, brach die Hitze zu stark aus. Nach mehreren mühsamen Tagen, die wir unter dem Regenguß hatten verleben müssen, erwachte ich eines Morgens plötzlich im Blau. Kaum aufgestanden, lief ich auf die höchste Terrasse. Der Himmel war vom einen Horizont zum andern rein. Unter der schon brennenden Sonne stiegen Dünste auf; die ganze Oase dampfte; fern hörte man den übergetretenen Uëd grollen. Die Luft war so rein und so schön, daß ich mich sofort besser fühlte. Marzeline kam; wir wollten ausgehen, aber der Schmutz hielt uns an diesem Tage zu Hause.

Ein paar Tage darauf gingen wir wieder in Lassifs Obstgarten; die Stämme schienen schwer, weich, geschwellt vom Wasser. Diese afrikanische Erde, deren Erwartung ich nicht kannte, erwachte jetzt nach der Überflutung langer Tage, trunken vom Wasser, berstend von neuen Säften; sie lachte vor einem rasenden Frühling, dessen Widerhall und dessen Doppelgänger gleichsam ich in mir selber fühlte. Ashur und Moktir begleiteten uns erst; ich genoß noch ihre leichte Freundschaft, die nur einen halben Franken am Tage kostete; aber bald war ich ihrer müde, war selber nicht mehr so schwach, daß ich des Beispiels ihrer Gesundheit noch bedurft hätte, und fand in ihren Spielen nicht mehr die Nahrung, die meine Freude brauchte – und da wandte ich die Begeisterung meiner Seele und meiner Sinne Marzeline zu. An der Freude, die ihr das brachte, erkannte ich, daß sie vorher traurig geblieben war. Ich entschuldigte mich wie ein Kind, weil ich sie so oft vernachlässigt hatte, schrieb meine flüchtige und bizarre Stimmung meiner Schwäche zu, versicherte, bisher sei ich zu müde gewesen, um zu lieben, aber hinfort würde ich meine Liebe mit meiner Gesundheit wachsen fühlen. Ich sagte die Wahrheit; aber ohne Zweifel war ich noch immer recht schwach, denn erst mehr als einen Monat später begehrte ich Marzeline.

Inzwischen stieg die Hitze Tag für Tag. Nichts hielt uns in Biskra – außer jenem Reiz, der mich später dahin zurückrufen sollte. Unser Entschluß, fortzugehen, war plötzlich gefaßt. In drei Stunden waren unsere Koffer gepackt. Der Zug fuhr am nächsten Morgen mit der Morgenröte …

 

Ich entsinne mich der letzten Nacht. Der Mond war fast voll; durch mein weit offenes Fenster fiel er voll in mein Zimmer. Marzeline schlief, glaube ich. Ich lag im Bett, konnte aber nicht schlafen. Ich fühlte, ich brannte in einer Art glücklichen Fiebers, das nichts anderes war als das Leben … Ich stand auf, benetzte Hände und Gesicht mit Wasser, stieß die Glastür auf und trat hinaus.

Es war schon spät; kein Geräusch, kein Hauch; die Luft selber schien eingeschlafen. Kaum hörte man in der Ferne die arabischen Hunde, die gleich den Schakalen die ganze Nacht hindurch kläffen. Vor mir der kleine Hof; die Mauer gegenüber schob eine schräge Schattenfläche hinein; die regelmäßigen Palmen schienen, ohne Leben und ohne Farbe, auf ewig regungslos erstarrt … Aber man findet im Schlummer noch ein Pochen des Lebens wieder – hier schien nichts zu schlafen; alles schien tot. Ich erschrak über diese Ruhe; und plötzlich ergriff mich von neuem, wie um zu protestieren, um sich zu behaupten, sich in der Stille zu quälen, die tragische Empfindung meines Lebens so heftig, fast schmerzhaft, und so ungestüm, daß ich geschrien hätte, hätte ich wie die Tiere schreien können. Ich nahm meine Hand, ich entsinne mich deutlich, ich nahm die linke Hand in die rechte; ich wollte sie mir an den Kopf heben und tat es. Warum? Um mir zur bestätigen, daß ich lebte, und um das wunderbar zu finden. Ich berührte mir die Stirn, die Augenlider. Mich faßte ein Schauder. Es wird ein Tag kommen – dachte ich – ein Tag wird kommen, wo ich selbst das Wasser, nach dem ich am meisten dürste, auch nur an die Lippen zu heben die Kraft nicht mehr habe … Ich ging wieder hinein, legte mich aber noch nicht wieder nieder; ich wollte diese Nacht fixieren, mir ihr Gedächtnis in die Gedanken prägen, sie behalten; unentschieden, was ich tun sollte, nahm ich ein Buch von meinem Tische – die Bibel – und ließ sie sich aufs Geratewohl öffnen; in den Mondschein geneigt, konnte ich lesen; ich las die Worte Jesu an Petrus, jene Worte, ach! die ich nie wieder vergessen sollte: Da du jünger warest, gürtetest du dich selber und wandeltest, wohin du wolltest; wenn du aber alt wirst, wirst du die Hände ausstrecken … wirst du die Hände ausstrecken …

Am andern Tage fuhren wir mit der Morgenröte fort.

 

VI

Ich werde nicht von jeder Etappe der Reise reden. Manche haben nur eine wirre Erinnerung hinterlassen; meine Gesundheit war bald besser, bald schlechter, schwankte noch im kalten Wind, wurde beim Schatten einer Wolke unruhig; und mein Nervenzustand brachte häufige Störungen mit sich; aber meine Lungen wenigstens heilten. Jeder Rückfall war weniger lang und ernst; sein Angriff war ebenso lebhaft, aber mein Körper wurde besser gegen ihn gerüstet.

Wir waren von Tunis nach Malta, und dann nach Syrakus gefahren; ich trat wieder auf den klassischen Boden, dessen Sprache und Vergangenheit mir bekannt waren. Seit dem Beginn meines Übels hatte ich ohne Prüfung, ohne Gesetz gelebt, mir einfach angelegen sein lassen zu leben, wie es das Tier oder das Kind tut. Jetzt weniger von dem Leiden in Anspruch genommen, wurde mein Leben wieder sicher und bewußt. Nach dieser langen Todesqual hatte ich geglaubt, als derselbe wiedergeboren zu werden und meine Gegenwart bald von neuem an die Vergangenheit anknüpfen zu können; im völlig Neuen eines unbekannten Landes hatte ich mich so täuschen können; hier nicht mehr; alles lehrte mich hier, was mich noch überraschte: ich war verändert.

Als ich in Syrakus und weiterhin meine Studien wieder aufnehmen wollte, mich wieder wie ehedem in die minutiöse Untersuchung des Vergangenen versenken, da entdeckte ich, daß irgend etwas den Geschmack daran für mich, wenn nicht unterdrückt, so doch modifiziert hatte; das war das Gefühl der Gegenwart. Die Geschichte der Vergangenheit nahm jetzt für meine Augen jene Unbeweglichkeit, jene erschreckende Starrheit der nächtlichen Schatten im kleinen Hofe von Biskra an, die Unbeweglichkeit des Todes. Früher hatte ich mich eben dieser Starrheit, die die Präzision meines Geistes erlaubte, gefreut; alle Tatsachen der Geschichte erschienen mir wie die Stücke eines Museums, oder besser wie die Pflanzen eines Herbariums, deren definitive Trockenheit mir vergessen half, daß sie eines Tages reich an Saft unter der Sonne gelebt hatten. Jetzt – wenn ich mir jetzt noch in der Geschichte gefallen konnte, so geschah es, indem ich sie mir als gegenwärtig vorstellte. Die großen politischen Tatsachen mußten mich also weit weniger bewegen als die in mir sich neu gebärende Bewegung der Dichter oder gewisser Männer der Tat. Zu Syrakus las ich Theokrit, und ich träumte, seine Hirten mit den schönen Namen seien eben die, die ich in Biskra geliebt hatte.

Meine Gelehrsamkeit, die bei jedem Schritt aufwachte, war mir im Wege, hinderte meine Freude. Ich konnte kein griechisches Theater, keinen Tempel sehen, ohne ihn im Geist alsbald zu rekonstruieren. Bei jedem antiken Fest machte mich die Ruine, die an seiner Stelle übrig geblieben war, trostlos, daß es tot war; und mir graute vor dem Tode.

Es kam dahin, daß ich die Ruinen floh; daß ich den schönsten Monumenten der Vergangenheit jene niederen Gärten vorzog, die man Latomien nennt, wo die Zitronen die saure Süße der Orangen haben, und die Ufer der Kyane, die im Papyrus noch so blau fließt, wie am Tag, da es geschah, nur um Proserpina zu weinen.

Es kam dahin, daß ich diese Wissenschaft, die erst meinen Stolz ausgemacht hatte, in mir verachtete; diese Studien, die erst mein ganzes Leben gewesen waren, schienen mir nur noch eine ganz zufällige und konventionelle Beziehung zu mir zu haben. Ich fand mich anders, und ich existierte – o Freude! – außerhalb von ihnen. Als Spezialist schien ich mir stumpfsinnig. Als Mensch – kannte ich mich? Ich wurde kaum erst geboren und konnte noch nicht sagen, als wer ich geboren wurde. Das galt es zu lernen.

Nichts Tragischeres für den, der daran zu sterben glaubte, als eine langsame Genesung. Nachdem der Flügel des Todes einen berührt hat, ist, was beträchtlich schien, nicht mehr beträchtlich; andere Dinge sind es, die nicht wichtig schienen, oder von denen man nicht einmal wußte, daß sie existierten. Die Anhäufung aller erworbenen Kenntnisse auf unserm Geist schuppt ab wie eine Schminke und läßt stellenweise das Fleisch selber nackt sehen, das authentische Wesen, das sich verbarg.

Das wollte ich von da an entdecken: das authentische Wesen, den »alten Menschen«, den, den das Evangelium nicht mehr wollte; den, den alles um mich, Bücher, Lehrer, Eltern, und den ich selber erst zu unterdrücken gesucht hatte. Und schon schien er mir dank der Überladung verwischter und schwieriger zu entdecken, aber auch um so nützlicher zu entdecken, und umso wertvoller. Ich verachtete von nun an dieses sekundäre, erlernte Wesen, das der Unterricht darüber gezeichnet hatte. Es galt diese Überladung abzuschütteln.

Und ich verglich mich mit den Palimpsesten; ich kostete die Freude des Gelehrten, der unter der neueren Schrift auf dem gleichen Papier einen sehr alten, unendlich viel kostbareren Text entdeckt. Welches war er, dieser verborgene Text? Galt es nicht, um ihn zu lesen, erst die jüngeren Texte auszulöschen?

Auch war ich nicht mehr das kränkliche und arbeitsame Wesen, für das meine einstige, ganz starre und einschränkende Moral gepaßt hatte. Hier galt es mehr als eine Genesung; hier galt es eine Vermehrung, einen Wiederaufbruch des Lebens, den Zustrom eines reicheren und wärmeren Blutes, das meine Gedanken berühren, sie einzeln, nacheinander berühren, alles durchdringen, aufregen, die fernsten, zartesten und heimlichsten Fibern meines Wesens färben mußte. Denn, Stärke oder Schwäche, darein fügt man sich; das Wesen formt sich nach den Kräften, die es hat; aber daß sie sich steigern, daß sie zulassen, daß man mehr kann, und … All diese Gedanken hatte ich damals noch nicht, und hier entstellt mich mein Bild. Die Wahrheit zu sagen, ich dachte nicht, ich prüfte mich nicht; eine glückliche Fatalität führte mich. Ich fürchtete, ein zu eiliger Blick könne das Geheimnis meiner langsamen Umbildung stören. Es galt, den verlöschten Lettern die Zeit zum Wiedererscheinen zu lassen, man durfte sie nicht zu bilden suchen. – Ich überließ also mein Gehirn – nicht sich selber, ich ließ es brach liegen, ich gab mich mir selber, den Dingen, dem All, das mir göttlich erschien, wollüstig hin. Wir hatten Syrakus verlassen, und ich lief auf dem schroffen Wege, der Taormina mit Mola verbindet, und schrie, um es in mir zu rufen: Ein neues Wesen! Ein neues Wesen!

Meine einzige Bemühung, eine damals ständige Bemühung, war also, systematisch alles, was ich nur meinem vergangenen Unterricht und meiner ersten Moral zu verdanken glaubte, zu verhöhnen oder zu unterdrücken. Aus entschlossener Verachtung für meine gelehrten Neigungen weigerte ich mich, Agrigent zu sehen, und ein paar Tage darauf machte ich auf dem Wege nach Neapel bei dem schönen Tempel von Paestum, wo Griechenland noch atmet, und wohin ich zwei Jahre später ging, um, ich weiß nicht mehr zu welchem Gotte, zu beten, nicht Halt.

Was rede ich von einziger Bemühung? Konnte ich mich für mich anders als wie für ein zu vervollkommnendes Wesen interessieren? Diese unbekannte Vollkommenheit, die ich mir dunkel vorstellte – nie war mein Wille gesteigerter gewesen als um nach ihr zu trachten; ich wandte diesen ganzen Willen darauf, meinen Körper zu kräftigen, ihn braun zu machen. Nahe bei Salerno hatten wir die Küste verlassen und waren nach Ravello hinaufgegangen. Dort halfen die lebhaftere Luft, der Reiz der Felsen voller Winkel und Überraschungen, die unbekannte Tiefe der Täler meiner Kraft, meiner Freude, und beförderten meinen Aufschwung.

Mehr dem Himmel genähert als vom Ufer entfernt, blickt Ravello, auf einer jähen Höhe, hinüber auf das ferne und flache Gestade von Paestum. Es war unter der Normannenherrschaft eine fast bedeutende Stadt; es ist nur noch ein enges Dorf, wo wir, glaube ich, die einzigen Fremden waren. Ein altes Kloster, das jetzt in ein Hotel umgewandelt ist, beherbergte uns; gelegen auf dem Ende des Felsens, schienen seine Terrassen und sein Garten im Azur überzuhängen. Hinter der von Reben bedeckten Mauer sah man zunächst nichts als das Meer; man mußte nahe an die Mauer treten, um den bebauten Abhang zu sehen, der Ravello mehr in Treppen als in Pfaden mit dem Ufer verband. Über Ravello führte das Gebirge weiter. Oliven, ungeheure Johannisbrotbäume, in ihrem Schatten Cyclamina; weiter oben Kastanien in großer Zahl, eine frische Luft, nordische Pflanzen; weiter unten Zitronen nahe am Meer. Sie sind in kleinen Kulturen angeordnet, die das Gefälle des Bodens bedingt; es sind stufenförmige Gärten, fast alle gleich; eine schmale Gasse führt von einem Ende zum andern hindurch; man tritt ohne Geräusch hinein, wie ein Dieb. Man träumt unter diesem grünen Schatten; das Laub ist dicht, schwer, kein freier Strahl dringt ein; wie Tropfen dicken Wachses hängen die duftenden Zitronen; im Schatten sind sie weiß und grünlich; sie hängen in Armesweite, faßbar für den Durst; sie sind mild, herb; sie erfrischen.

Der Schatten unter ihnen war so dicht, daß ich nach dem Gehen, bei dem ich noch schwitzte, nicht stillzustehen wagte. Doch die Treppen erschöpften mich nicht; ich übte mich, sie mit geschlossenem Munde zu steigen; ich schob meine Haltepunkte immer mehr auseinander; sagte mir: bis dahin will ich gehen, ohne schwach zu werden; dann, am Ziel angelangt, fand ich in meinem zufriedenen Stolz meinen Lohn, atmete lang, mächtig und so, daß ich die Luft wirksamer meinte in meine Brust eindringen zu fühlen. Ich trug in all diese Sorgen um den Körper meine ganze Emsigkeit von ehedem hinein. Ich machte Fortschritte.

Ich wunderte mich bisweilen, daß meine Gesundheit so schnell zurückkam. Ich kam dahin, daß ich glaubte, ich habe mir anfangs den Ernst meines Zustandes übertrieben; daß ich zweifelte, ob ich sehr krank gewesen sei, daß ich über mein Blutspeien lachte und bedauerte, daß meine Genesung nicht schwieriger gewesen war.

Ich hatte mich erst sehr dumm gepflegt, da ich die Bedürfnisse meines Körpers nicht kannte. Ich studierte sie geduldig und wurde, was die Vorsicht und Pflege angeht, so dauernd erfinderisch, daß ich mich dabei wie bei einem Spiel amüsierte. Worunter ich noch immer am meisten litt, das war meine krankhafte Empfindlichkeit gegen den geringsten Temperaturwechsel. Ich schrieb diese Überempfindlichkeit jetzt, da meine Lungen geheilt waren, meiner Nervenschwäche zu, einem Rückstand der Krankheit. Ich beschloß, das zu besiegen. Der Anblick der schönen, gebräunten und gleichsam von Sonne durchtränkten Haut, wie sie bei der Arbeit auf dem Felde ein paar halbnackte Bauern in offener Jacke zeigte, reizte mich, mich ebenso bräunen zu lassen. Eines Morgens, als ich mich nackt ausgezogen hatte, betrachtete ich mich; der Anblick meiner zu mageren Arme, meiner Schultern, die die größten Anstrengungen nicht genügend nach hinten biegen konnten, aber vor allem die Weiße, oder vielmehr die Farbleere meiner Haut füllten mich mit Tränen und mit Scham. Ich zog mich rasch wieder an, und statt nach Amalfi zu hinabzusteigen, wie ich es mir angewöhnt hatte, schlug ich die Richtung zu den mit flachem Grase und mit Moos bedeckten Felsen ein, fern von den Wohnungen, fern von den Straßen, wo ich wußte, daß ich nicht gesehen werden konnte. Dort angekommen, zog ich mich langsam aus. Die Luft war fast frisch, aber die Sonne brannte. Ich bot ihrer Flamme meinen ganzen Körper dar. Ich setzte mich, ich legte mich hin, ich wendete mich. Ich fühlte unter mir den harten Boden, die Bewegungen der losen Gräser streiften mich. Obgleich ich im Windschutz lag, zitterte und zuckte ich bei jedem Hauch. Bald hüllte mich ein köstliches Brennen ein; mein ganzes Wesen floß in meine Haut.

Wir blieben vierzehn Tage in Ravello; jeden Morgen ging ich wieder zu diesen Felsen und machte meine Kur durch. Bald wurde mir das Übermaß an Kleidung, mit dem ich mich noch bedeckte, lästig und unnötig; meine tonifizierte Epidermis schwitzte nicht mehr unaufhörlich und wußte sich durch ihre eigene Wärme zu schützen.

Am Morgen eines der letzten Tage (wir waren Mitte April) wagte ich mehr. In einer Nische der Felsen, von denen ich rede, floß eine klare Quelle. Sie fiel sogar in einem Wasserfall herab, freilich mit ziemlich wenig Wasser, doch hatte sie unter dem Fall ein tieferes Becken gegraben, wo das sehr klare Wasser stehen blieb. Dreimal war ich dorthin gekommen, hatte mich darüber geneigt, hatte mich auf dem Rande ausgestreckt, voller Durst und voll von Wünschen; lange hatte ich auf den polierten Felsboden hinabgeblickt, wo man keinen Schmutz sah, keinen Halm, wo die Sonne schwingend und farbig werdend hinabdrang. Diesen vierten Tag trat ich, im voraus entschlossen, bis an das Wasser heran, das klarer war als je, und tauchte, ohne weiter zu überlegen, mit einem Satz ganz hinein. Schnell erstarrt verließ ich das Wasser und streckte mich im Grase aus. Da wuchs duftende Pfefferminze; ich pflückte davon, ich zerrieb die Blätter und rieb meinen ganzen feuchten, aber brennenden Körper damit ein. Ich blickte mich lange an, nicht mehr mit Scham, mit Freude. Ich fand mich zwar noch nicht kräftig, aber ich fand, ich könne es werden; ich fand mich harmonisch, sinnlich, beinahe schön.

 

VII

So begnügte ich mich statt alles Handelns, aller Arbeit mit Körperübungen, die sicherlich auf meine veränderte Moral schließen ließen, die aber mir schon nur noch als eine Erziehung, als ein Mittel erschienen und mich nicht mehr an sich befriedigten.

Doch noch einen Akt, der in euren Augen vielleicht lächerlich erscheint, den ich aber anführen will, weil er in seiner Kindlichkeit das Bedürfnis kennzeichnet, das mich quälte, die intime Veränderung meines Seins nach außenhin kundzutun: In Amalfi hatte ich mich rasieren lassen.

Bis zu jenem Tage hatte ich meinen vollen Bart und das Haar ganz kurz getragen. Es war mir nie in den Sinn gekommen, daß ich ebensogut hätte eine andere Frisur tragen können. Und an dem Tage, als ich mich zum erstenmal nackt auf den Felsen gelegt hatte, störte mich dieser Bart plötzlich; er war sorgfältig geschnitten, nicht spitz, sondern in eine viereckige Form gebracht, die mir alsbald häßlich und lächerlich erschien. Als ich ins Hotelzimmer zurückkam, sah ich mich in dem Spiegel und mißfiel mir; ich sah nach dem aus, was ich bis dahin gewesen war: nach einem Paragraphen. Gleich nach dem Frühstück stieg ich, sowie mein Entschluß gefaßt war, nach Amalfi hinunter. Die Stadt ist sehr klein: ich mußte mich mit einem gemeinen Laden am Markt begnügen. Es war Markttag; der Laden war voll; ich mußte endlos lange warten; aber nichts, weder die zweifelhaften Rasiermesser noch der gelbe Pinsel, noch der Geruch, noch das Geschwätz des Barbiers, konnte mich wankend machen. Als ich meinen Bart unter seiner Schere fallen fühlte, war es, als nähme ich eine Maske ab. Einerlei! als ich mich nachher sah, da war die Aufregung, die mich erfüllte, und die ich nach Kräften unterdrückte, nicht Freude, sondern Furcht. Ich diskutiere diese Empfindung nicht; ich konstatiere sie. Ich fand meine Züge ziemlich schön … nein, die Furcht kam daher, weil mir schien, man sähe meine Gedanken nackt, und daher, weil sie mir plötzlich furchtbar erschienen.

Dagegen ließ ich mir das Haar wachsen.

Das ist alles, was mein neues, noch müßiges Wesen zu tun fand. Ich dachte, es würden Handlungen aus ihm geboren werden, die mich selber erstaunen würden; aber später; später, sagte ich mir – wenn das Wesen ausgebildeter sein würde. Da ich inzwischen zu leben gezwungen war, so bewahrte ich mir wie Descartes eine provisorische Handlungsweise. So konnte Marzeline sich darüber täuschen. Freilich hätte sie der Wandel meines Blicks und, besonders an dem Tage, als ich ohne Bart erschien, der neue Ausdruck meiner Züge vielleicht beunruhigt, aber sie liebte mich schon zu sehr, um mich recht zu sehen; und dann beruhigte ich sie nach Kräften. Es kam darauf an, daß sie meine Wiedergeburt nicht störte; um sie ihren Blicken zu entziehen, mußte ich also spielen.

Ohnehin war der, den Marzeline liebte, der, den sie geheiratet hatte, nicht mein »neues Wesen«. Und ich wiederholte mir das, um mich anzureizen, daß ich es verberge. So gab ich ihr von mir nur ein Bild, das eben, weil es beständig und der Vergangenheit treu war, von Tag zu Tag falscher wurde.

Meine Beziehungen zu Marzeline blieben also inzwischen die gleichen – freilich von Tag zu Tag durch eine stets größere Liebe gehoben. Selbst meine Heuchelei (wenn man das Bedürfnis, mein Denken vor ihrem Urteil zu bewahren, so nennen kann) steigerte sie. Ich will sagen, dieses Spiel beschäftigte mich unaufhörlich mit Marzeline. Vielleicht fiel mir dieser Zwang zur Lüge anfangs ein wenig schwer; aber ich kam bald dahin, daß ich begriff, wie die Dinge, die man für die schlimmsten hält (die Lüge, um nur dies eine zu nennen), nur schwierig sind, solange man sie nie getan hat; daß sie aber, jede einzeln, sehr schnell leicht, angenehm, süß zu wiederholen, und bald wie natürlich werden. So also fand ich wie bei allem, wobei ein erster Abscheu überwunden ist, schließlich an dieser Heuchelei selber Vergnügen, daran, mich bei ihr aufzuhalten, wie beim Spiel meiner unbekannten Fähigkeiten. Und jeden Tag machte ich Fortschritte in einem reicheren und volleren Leben, auf ein intensiveres Glück zu.

 

VIII

Die Straße von Ravello nach Sorrent ist so schön, daß ich an jenem Morgen nichts Schöneres auf der Erde zu sehen wünschte. Die heiße Rauheit des Felsens, die Fülle der Luft, die Düfte, die Durchsichtigkeit, alles erfüllte mich mit dem wundervollen Reiz des Lebens und genügte mir bis zu einem Grade, daß nichts als eine leichte Freude in mir zu wohnen schien; Erinnerungen oder Sehnsüchte, Hoffnung oder Verlangen, Zukunft und Vergangenheit schwiegen; ich kannte vom Leben nur noch, was der Moment von ihm brachte, von ihm davontrug. – O körperliche Freude! rief ich aus; sicherer Rhythmus meiner Muskeln! Gesundheit!

Ich war am frühen Morgen aufgebrochen, vor Marzeline, deren zu ruhige Freude meine gemäßigt hätte, wie ihr Schritt meinen verlangsamt hätte. Sie sollte mich im Wagen einholen, in Positano, wo wir frühstücken wollten.

Ich näherte mich Positano, als mich ein Geräusch von Rädern, das den Baß zu einem wunderlichen Singen abgab, plötzlich veranlaßte, mich umzublicken. Und erst konnte ich wegen einer Wendung der Straße, die an dieser Stelle an die Klippe tritt, nichts sehen; dann stieg plötzlich in wildem Zickzack ein Wagen auf; es war der Marzelinens. Der Kutscher sang aus vollem Halse, vollführte große Gesten, stieg auf seinen Sitz und peitschte wild auf das rasend gewordene Pferd los. Was für eine Bestie! Er fuhr an mir vorbei, ich hatte nur gerade noch Zeit, zurückzuspringen; er hielt nicht auf meinen Ruf … Ich stürzte hinterdrein, aber der Wagen fuhr zu schnell. Ich zitterte zugleich, Marzeline plötzlich hinausspringen und sie darin bleiben zu sehen; ein Satz des Pferdes konnte sie ins Meer hinabschleudern … Plötzlich stürzt das Pferd. Marzeline steigt aus, will fliehen; aber schon bin ich bei ihr. Sowie der Kutscher mich sieht, empfängt er mich mit furchtbaren Flüchen. Ich war wütend auf diesen Menschen; bei seiner ersten Beschimpfung stürzte ich mich auf ihn und warf ihn brutal von seinem Sitze hinunter. Ich rollte mit ihm am Boden, verlor aber nicht die Oberhand; er schien vom Fall betäubt, und bald war er es noch mehr von einem Faustschlag, den ich ihm voll ins Gesicht versetzte, als ich sah, daß er mich beißen wollte. Doch ließ ich ihn nicht los, sondern preßte ihm das Knie auf die Brust und suchte seiner Arme Herr zu werden. Ich sah sein häßliches Gesicht an, das meine Faust noch häßlicher gemacht hatte; er spuckte, geiferte, blutete, fluchte, ah! das scheußliche Wesen! Wahrhaftig! ihn erdrosseln schien berechtigt – und vielleicht hätte ich es getan … wenigstens fühlte ich mich dazu imstande; und ich glaube wohl, daß mich nur der Gedanke an die Polizei abhielt.

Es gelang mir, nicht ohne Mühe, den Rasenden festzubinden. Wie einen Sack warf ich ihn in den Wagen.

Ah! welche Blicke und welche Küsse wir nachher tauschten! Die Gefahr war nicht groß gewesen; aber ich hatte meine Kraft zeigen müssen, und zwar, um sie zu schützen. Es war mir gewesen, ich könnte mein Leben für sie geben … und es ganz hingeben, mit Freuden … Das Pferd hatte sich wieder erhoben. Wir ließen dem Trunkenbold den hinteren Wagen, stiegen alle beide auf den Bock, lenkten, so gut es gehen wollte, und konnten Positano und dann Sorrent erreichen.

In dieser Nacht ergriff ich Besitz von Marzeline.

Habt ihr mich recht verstanden, oder muß ich es wiederholen, daß ich fast ein Neuling in den Dingen der Liebe war? Vielleicht verdankte unsere Hochzeitsnacht ihre Anmut der Neuheit … Denn wenn ich mich: heute besinne, scheint mir, diese erste Nacht war die einzige; so steigerten die Erwartung und die Überraschung der Liebe die Wollust der Genüsse – so sehr genügt eine einzige Nacht der größten Liebe, um sich auszusprechen, und so hartnäckig bringt mir meine Erinnerung einzig sie zurück. Es war ein Lachen eines Momentes, in dem unsere Seelen zusammenflossen … Aber ich glaube, es gibt einen Punkt der Liebe, der ist einzig, und später, ah! da sucht ihn die Seele vergebens zu übertreffen; die Anstrengung, die sie macht, ihr Glück zu erwecken, nutzt sie ab; nichts hindert das Glück so sehr wie die Erinnerung an das Glück. Ah! ich erinnere mich dieser Nacht …

Unser Hotel lag, von Gärten, Obstgärten umgeben, außerhalb der Stadt; ein sehr weiter Balkon setzte unser Zimmer fort; ihn streiften Zweige. Die Morgenröte trat frei durch unser weit offenes Fenster. Ich hob mich leise, und zärtlich neigte ich mich über Marzeline. Sie schlief; sie schien im Schlafen zu lächeln. Ich dünkte mich um so stärker zu sein, als ich sie zarter empfand, und weil ihre Anmut eine Zerbrechlichkeit war. Wildirre Gedanken wirbelten mir im Kopfe. Ich dachte, sie log nicht, wenn sie sagte, ich sei ihr alles; und dann: »Und was tue ich für ihre Freude? Fast jeden Tag und fast den ganzen Tag lasse ich sie allein; sie erwartet alles von mir, und ich vernachlässige sie! … ah! arme, arme Marzeline! …« Tränen füllten mir die Augen. Vergebens suchte ich in meiner vergangenen Schwäche etwas wie eine Entschuldigung; was hatte ich jetzt mit beständiger Pflege und mit dem Egoismus zu tun? war ich nicht stärker, jetzt, als sie? …

Das Lächeln hatte ihre Wangen verlassen; die Morgenröte, die doch alles sonst vergoldete, machte mir sie plötzlich traurig und blaß; – Und vielleicht machte mich das Nahen des Morgens für die Angst empfänglich: »Werde ich eines Tages umgekehrt dich pflegen müssen? mich um dich sorgen, Marzeline?« rief ich in meinem Innern aus. Mir schauderte, und ganz von Liebe, von Mitleid, von Zärtlichkeit starr, drückte ich leise zwischen ihre geschlossenen Augen den zärtlichsten, den verliebtesten, den frömmsten der Küsse.

 

IX

Die wenigen Tage, die wir in Sorrent verlebten, waren lächelnde und sehr ruhige Tage. Hatte ich je solche Ruhe, solches Glück gekostet? Würde ich in Zukunft je seinesgleichen kosten? … Ich war unaufhörlich um Marzeline; ich beschäftigte mich weniger mit mir und beschäftigte mich mehr mit ihr, und ich fand im Plaudern mit ihr die Freude, die ich die Tage zuvor im Schweigen genossen hatte.

Ich konnte zunächst erstaunt sein, als ich fühlte, daß unser fahrendes Leben, in dem ich mich völlig zu befriedigen behauptete, ihr nur als ein provisorischer Zustand gefiel; aber alsbald wurde auch mir die Untätigkeit dieses Lebens klar; ich nahm nun an, es habe nur seine Zeit und zum erstenmal wurde ein Verlangen nach Arbeit aus der Beschäftigungslosigkeit selber heraus geboren, in der mich schließlich meine wiederhergestellte Gesundheit ließ – ich sprach im Ernst von Heimkehr; an der Freude, die Marzeline darüber zeigte, erkannte ich, daß sie seit langem daran dachte.

Doch die paar historischen Arbeiten, an die ich wieder zu denken begann, hatten für mich nicht mehr denselben Reiz. Ich habe euch schon gesagt: seit meiner Krankheit erschien mir die abstrakte und neutrale Kenntnis der Vergangenheit eitel, und wenn ich mich ehedem mit philologischen Untersuchungen hatte befassen können, indem ich es mir zum Beispiel angelegen sein ließ, die Rolle des gotischen Einflusses in der Auflösung der lateinischen Sprache zu präzisieren, und dabei die Gestalten Theodorichs, Kassiodors und der Amalaswintha und ihre wundervollen Leidenschaften ignorierte, um mich nur noch über den Zeichen, dem Rückstand ihres Lebens, zu erwärmen, so waren mir jetzt eben diese Zeichen und die ganze Philologie nur noch gleichsam ein Mittel, besser in das einzudringen, dessen wilde Größe und dessen Adel mir klar wurden. Ich beschloß, mich mit dieser Epoche mehr zu befassen, mich eine Zeitlang auf die letzten Jahre des gotischen Reichs zu beschränken und unseren demnächstigen Aufenthalt zu Ravenna, dem Schauplatz seines Todeskampfes, auszunutzen.

Aber, soll ich es gestehen, die Gestalt des jungen Königs Athalarich zog mich am meisten an. Ich stellte mir dies Kind von fünfzehn Jahren vor, das sich, heimlich von den Goten aufgereizt, gegen seine Mutter Amalaswintha auflehnt, wider seine lateinische Erziehung lökt, die Kultur abwirft, wie es ein Hengst mit einem lästigen Harnisch tut, die Gesellschaft der zuchtlosen Goten der des zu weisen und alten Kassiodor vorzieht, und so mit rüden Günstlingen seines Alters ein paar Jahre lang ein gewalttätiges, wollüstiges und zügelloses Leben kostet, um mit achtzehn Jahren ganz verdorben, von Ausschweifungen übersättigt, zu sterben. Ich fand in diesem tragischen Anlauf zu einem wilderen und unberührteren Zustand etwas von dem, was Marzeline »meine Krisis« nannte. Ich suchte eine Befriedigung darin, wenigstens meinen Geist darauf zu verwenden, da ich meinen Körper nicht mehr damit beschäftigte; und in dem furchtbaren Tod Athalarichs, überredete ich mich nach Kräften, galt es eine Lehre zu lesen.

Vor Ravenna, wo wir uns also vierzehn Tage aufhalten wollten, wollten wir in aller Eile Rom und Florenz sehen, dann Venedig und Verona liegen lassen und den Schluß der Reise beschleunigen, indem wir erst wieder in Paris Halt machten. Ich fand ein ganz neues Vergnügen darin, mit Marzeline von der Zukunft zu reden; eine gewisse Unentschiedenheit blieb noch inbetreff der Verwendung des Sommers; alle beide der Reisen müde, wollten wir nicht wieder fort; ich wünschte mir für meine Studien die allergrößte Ruhe; und wir dachten an ein ertraggebendes Out zwischen Lisieux und Pont-L'Evêque, in der grünsten Normandie – ein Gut, das einst meiner Mutter gehört hatte, und wo ich mit ihr ein paar Jahre meiner Kindheit verbracht hatte, wohin ich aber seit ihrem Tode nicht mehr gekommen war. Mein Vater hatte die Unterhaltung und Überwachung einem jetzt bejahrten Aufseher anvertraut, der die Pachtgelder für ihn erhob und uns dann regelmäßig schickte. Ein großes und sehr angenehmes Haus in einem von fließenden Wassern durchschnittenen Garten hatte in mir entzückte Erinnerungen hinterlassen; man nannte es La Morinière; mir schien, es müsse gut tun, dort zu wohnen.

Ich sprach davon, den nächsten Winter – diesmal als Arbeiter, nicht mehr als Reisender – in Rom zu verbringen … Aber dieser Plan wurde bald umgestoßen: in der wichtigen Korrespondenz, die uns seit langem in Neapel erwartete, teilte mir ein Brief unerwarteterweise mit, da im Collège de France ein Stuhl leer stehe, sei mehrere Male mein Name genannt worden; es war nur eine Stellvertretung, die mir aber gerade für die Zukunft eine größere Freiheit lassen würde; der Freund, der mich hierüber unterrichtete, gab mir, wenn ich annehmen wollte, ein paar leichte Schritte an, die zu tun waren – und er drängte mich sehr, anzunehmen. Ich zögerte, da ich zunächst vor allem eine Sklaverei sah; dann dachte ich, es könne interessant sein, meine Arbeiten über Kassiodor in einem Kolleg auseinanderzusetzen … schließlich gab die Freude, die ich Marzeline machen würde, den Ausschlag. Und sobald meine Entscheidung getroffen war, sah ich nur noch ihre gute Seite.

In der gelehrten Welt von Rom und Florenz unterhielt mein Vater mehrere Beziehungen, mit denen auch ich in Korrespondenz getreten war. Sie gaben mir alle Mittel an die Hand, die Untersuchungen anzustellen, die ich wünschte, in Ravenna wie anderswo; ich dachte nur noch an die Arbeit. Marzeline strengte ihren Scharfsinn an, sie durch tausend reizende Sorgen und tausend Zuvorkommenheiten zu begünstigen.

Unser Glück war während dieses Schlusses der Reise so gleichmäßig, so ruhig, daß ich nichts davon erzählen kann. Die schönsten Werke der Menschen sind hartnäckig schmerzlich. Was wäre die Erzählung vom Glück? Nur was es vorbereitet, und dann was es vernichtet, läßt sich erzählen. – Und ich habe euch nunmehr alles genannt, was es vorbereitet hatte.



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