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Emmendorf, 3. April.
Liebe Schwester!
Ich bin in schwerer Sorge. Mit Ernsts Gesundheit steht es wieder einmal nicht gut. Seine Brust und sein Stimmorgan waren ja nie stark, und das anhaltende Sprechen ermüdete ihn immer. In letzter Zeit ist ihm aber das Predigen ganz besonders mühsam geworden. Das naßkalte Nebelwetter mag auch seinen Teil dazu beitragen. Als wir letzten Sonntag aus der Kirche kamen und über den Friedhof schritten, hatte er einen Hustenanfall, der mich im Innersten erschreckte. Er mußte sich am eisernen Gartentor festhalten und schritt so müde die Treppe hinauf, daß ich fast weinen mußte. Noch nie ist er mir so hinfällig vorgekommen. Wenn er sich nur ein paar Wochen Ferien und einen Aufenthalt im Süden gönnen wollte! Aber es wird hart halten, bis ich ihn dazu bringe. Immer schützt er sein Amt vor, das er nicht vernachlässigen dürfe und behauptet, besser als zu Hause könne er doch nirgends verpflegt werden. Ich tue ja, was ich kann, gewiß. Einmal 190 die Buchenklötze sind nicht gespart worden diesen Winter; Eibischsirup und Schlüsselblumentee ist immer zur Hand, und für warme Sohlen in die Schuhe sorge ich auch. Wenn er einen Tritt aus dem Hause tut, muß er mir Mantel und Halstuch anlegen, und bei schlimmer Witterung lasse ich ihn gar nicht hinaus. Aber was nützt das? Unsere rauhe Luft verdirbt mir alles. Empfindliche Lungen und Luftröhren spüren sie durch sieben Wände hindurch. Darum muß mir Ernst fort von hier. Diesmal gebe ich nicht nach. Dein Schwager Albert will mir helfen. Seinen ärztlichen Ratschlägen wird sich Ernst noch am ersten fügen und einen Stellvertreter annehmen. Erst dann wird mir wieder wohler. Ich hoffe, dir bald mitteilen zu können, daß mein «Rettungsplan» gelungen sei.
Inzwischen grüßt dich herzlich deine treue
Schwester Klara.
Orselina, 14. April.
Lieber Schwager!
Es ist wohl nicht nötig, dir ausführlich anseinanderzusetzen, wieso ich dazu komme, dir von hier aus Briefe zu schreiben. Mein liebes Frauchen hat dich und die Frau Professor vermutlich genügend aufgeklärt. Vielleicht seid ihr sogar an dem kleinen 191 Komplott mitbeteiligt, das zur Erhaltung und Förderung meiner Gesundheit im allgemeinen, sowie zum Heil und Segen meines angegriffenen Kehlkopfes im besondern gebildet worden zu sein scheint. Wenn Frauen und Ärzte sich verbünden, ist der Ehemann allemal der Schwächere und da ich die liebevolle Absicht wohl zu würdigen verstehe, habe ich mich denn nach kurzem Widerstande für besiegt erklärt und eingewilligt, in die «Verbannung» zu ziehen und nach dem vielgepriesenen Süden abzureisen. Aber die Konfirmation meiner Unterweisungs-Kinder am Karfreitag und die Ostergottesdienste habe ich mir nicht abnehmen lassen, und wenn es mir auch nicht leicht wurde, habe ich doch mit Gottes Hilfe durchgehalten, bis diese wichtigen und hoffentlich segensreichen Hochfeiertage vorüber waren. Nun darf ich mir schon eher Schonung anferlegen und eingestehen, daß ich wirklich erholungsbedürftig sei. Ich hoffe auch, daß niemand in meiner Gemeinde Anstoß nehme, wenn ich mir jetzt ein paar Wochen Ferien gönne. Ist es doch das erstemal während meiner dreißigjährigen Wirksamkeit, daß ich für mehr als einen Sonntag um Urlaub einkommcn mußte. Zudem hat sich diesmal ohne große Mühe ein Stellvertreter finden lassen, der mir trotz seiner Jugend einen recht vertrauenerweckenden Eindruck hinterlassen hat. Mit meinem klugen Frauchen als Ratgeberin an der Seite wird er sich bald an unsere 192 Gemeindegenossen gewöhnt und in sein Amt eingelebt haben. Soweit wäre also alles in gehöriger Ordnung. Nur das Wetter führt sich höchst unprogrammäßig auf. Der April scheint auch enet den Bergen ein launischer und «windiger» Geselle zu sein. Seit den fünf Tagen meines Hierseins regnet es fast ununterbrochen und wenn ich an mein wohlgeheiztes Studierzimmer denke, überfällt mich gelindes Heimweh. Von der «milden, sonnigen Luft des Südens» und den «weichen, wonnigen, sternenklaren Nächten dieses gesegneten Himmelsstriches» habe ich noch wenig bemerkt, dafür recht viel wackere Hühnerhaut an den voreilig entblößten, nackten Beinchen unserer Gassenkinder. Überhaupt spüre ich jetzt erst, wie unzertrennlich ich mit meinem Heim, meinem Amt und meiner Gemeinde verwachsen bin. Wohl mag es hier zu Zeiten entzückend schön sein (eine Schilderung erspare ich mir, da du die Gegend aus eigener Anschauung und viel besser kennst als ich), aber eine Heimat könnte mir dies Land nie werden, die ist dort, wo sich jetzt die Löwenzahnmatten und Kirschbäume zum Blühen rüsten, wo jetzt schwerfällige Bernerbauern ihre zähen, unbändigen Furchen hacken und breitwürfig ihren Hafer ausstreuen. Das hat noch nie so stark empfunden wie in der Fremde,
Dein dich und die lieben Deinigen herzlich grüßender Schwager
Ernst Lindauer, Pfr.
Lieber Fränzel!
Achtung — steht! Die flaumbewimperten Lippen geöffnet zu einem dröhnenden Hurraschrei! Wisse Mensch: Mein Leben ist um ein hochwichtiges Ereignis reicher geworden! Höre und staune: Gestern hier in Emmendorf meine erste Predigt abgehalten! Und über Erwarten gut abgelaufen! Mir ist zumute, wie einem Soldaten, der die Feuertaufe mannhaft bestanden hat. Nicht daß ich meine, nun sollten sich Sonne, Mond und Sterne vor mir neigen meines magern Predigtleins wegen! Gott bewahre! Aber gefreut hat es mich doch, als mir vor der Kirchentüre der Präsident des Kirchenrates versicherte: «Es het is de gfalle!»
Weißt du, im Grunde ist das Predigen gar nicht so schwer. Als ich die Kanzeltreppe hinauf stieg, spürte ich allerdings ein leichtes Würgen im Halse, und mein Puls paukte schneller und lauter als nötig. Das verlor sich aber sofort. Schon während des Gesanges ließ ich meine Augen unbefangen schweifen. Mein Häuflein Zuhörer war nicht übermäßig groß, doch bemerkte ich viel vertrauenerweckende Furchengesichter darunter, viel scheue Ehrfurcht und gläubige Augen. Darum erschien mir meine Aufgabe dennoch dankbar und schön. Ich spürte: du sprichst zu Menschen, die wissen, was Leben heißt; sie werden dein 194 herzliches Verlangen, ihnen ein sonntägliches Wort auf den arbeit- und sorgenreichen Wochenweg mitzugeben, nicht verkennen, auch wenn sich dir etwa ein Satz verhaspeln sollte. Und als es hieß: Stoß ab vom Strand und laß vor Riff und Klippe dir nicht grauen, hob ich ruhig und mutig meine Schwingen zum Fluge. Sie trugen, und es war für mich ein köstliches Gefühl, zu gewahren, daß sie leicht und sicher trugen. Mitten im Fluge eröffneten sich mir neue Ausblicke und strömten mir Gedanken und Bilder zu, nach denen ich in der Enge des Studierzimmers vergeblich gesucht hatte. So leicht und ungezwungen fügten sie sich dem ein, was ich mir in sorgfältiger Vorbereitung erarbeitet hatte, daß ich selber darüber erstaunt und keinen Augenblick in Gefahr war, Ziel und Richtung zu verlieren. Mit einem warmen Glücksgefühl im Herzen verließ ich die Kanzel. Du weißt, wie ich mit schweren Anfechtungen zu ringen hatte. Nun scheint mir mein Amt recht lieb werden zu wollen. Irre ich nicht, so warten meiner hier in Emmendorf schöne Tage. Unterkunft habe ich im Pfarrhause gefunden. Es gleicht einem patrizischen Herrenhause aus der Barockzeit. Vor meinem Studierzimmer liegt der herrliche Garten. Nur einen Busch stämmiger Wettertannen wünschte ich mir noch dazu. Der kranke Pfarrer, eine vornehme und würdige Erscheinung, ist schon vor einigen Tagen nach Süden verreist. Ihn soll ich nun vertreten, 195 bis sein Kehlkopf wieder in Ordnung ist. Die kleine, feine, jugendlich lebhafte Pfarrfrau wird mir eine liebenswürdige Wirtin sein, mit der ich ausgezeichnet auszukommen hoffe. Morgen streife ich über Tal und Höhn und pflücke einen Strauß Aprilglocken für sie. Und dann nehme ich meinen Gotthelf zur Hand, er ist mir jetzt unentbehrlich.
Freundlich grüßt dich
dein Maxentius.
Emmendorf, 16. April.
Emmendorf, den 20. April.
Lieber Ernst!
Sorge dich ja nicht um uns zu Hause; es steht alles wohl. Der Garten ist so gut wie fertig und nächste Woche geht es hinter die Wäsche. Der Vikar will mir das Seil spannen und das Klämmerlikörbchen nachtragen. Beim Umspaten der Gartenbeete hat er auch geholfen und gar nicht ungeschickt. Nur mit meinen Rhabarbersetzlingen ist er barbarisch umgegangen. In der Meinung, es sei Ackerampfer, hat er sie auf den Unkrauthaufen geworfen, wofür ich ihm dann den Text gelesen habe. Manchmal ist er noch ein rechter Kindskopf! Du solltest sehen, wie er mit dem Schnauzi herumtollt und auf dem Rasen herumporzt, ganz unpfarrerlich. Und in deiner Studierstube 196 oben geigt und singt und pfeift und klingt es jetzt öfters wie im frischen, grünen Wald. Daneben studiert und liest er viel, und auf der Kanzel nimmt er sich gehörig zusammen. Ich war nicht wenig erstaunt über seine Redegewandtheit. Freilich, so gut wie du predigt er noch lange nicht. Das feine Abtönen, wie du es liebst, versteht er noch nicht. Seine Predigten gleichen einem Feldblumenstrauß, den eine unbekümmerte Hand gesammelt und ohne Rücksicht auf die Farben lose in ein Glas gestellt hat. Ich möchte sagen: du predigst geistlich, er hingegen weltlich. Den Bauern scheint es aber zu gefallen, und auch bei unsern aufgeklärten Dorfherren hat er schon einen Stein im Brett. Die Kirche war letzten Sonntag fast bis auf den letzten Platz besetzt. Er versteht es unzweifelhaft, die Leute für sich einzunehmen. «Man versteht ihn so gut, und es ist so kurzweilig,» sagte mir unsere Waschfrau. Hauptsächlich wird es aber der neue Besen sein, der so gut kehrt. Ich will wetten, nach ein paar Sonntagen nimmt der starke Zulauf ab. Zuverlässige Kirchengänger waren die Emmendorfer ja nie, und bald genug werden sie in ihren Schlendrian zurückfallen.
Über den Vikar als Hausgenossen könnte ich mit Recht nicht klagen. Er ist zuvorkommend und macht keine großen Ansprüche. Nur will mir nicht gefallen, daß er neue Bräuche einführt. Letzten Sonntag nachmittag ging er mit den Unterweisungskindern spazieren. 197 Das war natürlich Wasser auf ihre Mühle. Doch sagte mir Kirchgemeinderat B., Herr Born habe es an strammer Ordnung nicht fehlen lassen.
Heute sind wir der Sonne lieb, sie gönnt uns einen mailichen Tag schon im April. Die frischgeweißten Berge erstrahlen in wunderbarer Klarheit und meine Gedanken schweifen unaufhörlich über ihre kühlen Häupter hinweg zu dir. Ich möchte dir so gerne unsere Stiefmütterchen und Vergißmeinnichtbeete zeigen; ich allein kann mich ihrer nicht genug freuen, sie verdienten bessern Dank von deinen lieben Augen. Hoffentlich hat sich nun auch bei euch das Unwetter zum Bessern gewendet. Schreibe mir ja recht fleißig, wie es dir geht. Aber nicht Karten, unser Briefträger liest sie immer.
Doch nun muß ich abbrechen, es klingelt, Besuch.
In herzlicher Liebe grüßt dich
deine Klara.
NB. Schnauzi läßt dich offenbar auch grüßen, er will mir immer die Pfote geben.
Emmendorf, 17. Mai.
Freund!
Du sitzest wie eine Truthenne auf einem Nest voll Spottvogeleier und brütest sie mit viel Behagen; malst dir aus, wie ich in der Emmendorfer Pfarrkirche 198 den Goliath Langeweile totgeschlagen habe, siehst mich umringt und bedrängt von bildschönen, hordreichen Emmendorfer Bauerntöchtern, die Kränze winden, Ehrenpforten schmücken, und singen: Saul hat tausend geschlagen, David aber zehntausend, usw. Leider muß ich dir diese farbigen Gebilde deiner übermütigen Einbildungskraft grausam zerstören. An begüterten und liebenswürdigen Töchtern ist Emmendorf wohl kaum ärmer als irgend eine seiner Nachbargemeinden. Aber so dicht wie Fliegenschwärme schwirren sie denn doch nicht in der Luft herum, und am ersten besten Leimpapier bleiben sie nicht kleben, auch wenn es ein pfarrherrliches wäre; ein Pinselstrauß auf einem Tschako gefällt ihnen besser als ein Kragen mit unschuldsweißen Bäffchen. Und daß es mir so überaus verlockend erschiene, mit einer reichen Frau an der Seite gegen den Mammon ins Feld zu ziehen, wie es meine Pflicht ist, könnte ich nicht behaupten.
Überhaupt ist mein Aufenthalt hier nicht mehr halb so angenehm wie anfangs. Ohne Wissen und Wollen bin ich in eine Zwickmühle hineingeraten. Daß irgendwo ein Surrbein angestoßen worden sei, merkte ich schon längst am Benehmen meiner Hauswirtin. Anfangs war sie liebmütterlich, heiter und zutraulich. Jetzt ist sie merklich kühler und zurückhaltender geworden und zeitweilig läuft sie mit einem Kummergesicht herum, das mich tief beunruhigt. 199 Teilnehmenden Fragen wich sie geschickt aus. Ich wußte nicht, was ich denken sollte. Gestern ist mir nun Aufschluß geworden. Der Geistliche des Nachbarortes hat mir den Knoten aufgelöst und mit ziemlich derben Händen: «Was das jetzt für ein Geläuf ist, der Emmendorfer Kirche zu, man sollte meinen, es sei ein neuer Prophet aufgestanden in Israel. Und ein Rühmen, daß die Schwarten krachen! Am liebsten täten sie ihren alten Pfarrer in den Rauch hängen.» Du kannst dir denken, wie bestürzt ich über dies ironische Lob war und wie mir das Blut zu Kopfe stieg. Aufstehen und zum Hute greifen war Eins. «Halten Sie mich für fähig, Schmutzkonkurrenz zu treiben?» fragte ich scharf. Daraufhin zog der Herr Nachbar eilig begütigende Register. Nicht mir wolle er aufs Dach steigen. Über die Emmendorfer sei er ärgerlich, die Herrn Lindauer als Prediger nie nach Gebühr gewürdigt hätten, trotzdem sie ihn als Mann und Seelsorger hochachten müßten. «Stellen Sie sich nun einmal vor, wie das werden wird, wenn Ihr Amtsbruder wieder den leeren Bänken predigen soll, und weiß, daß bei Ihnen die Kirche Sonntag für Sonntag geragelt voll war. Unserein könnt das nicht verputzen, geschweige denn ein so feinfühliger Mensch wie mein lieber Kollege!» «So sagen Sie mir, was ich tun kann!» «Nichts können Sie tun, das eben ist das Schlimme. Aber gescheiter wär’s, Sie hätten Emmendorf nie gesehen, 200 Sie Unglücksmensch,» schloß er mit grimmigem Humor.
In der Tat, ich bin übel dran. Vorsätzlich schlecht zu predigen, wird mir niemand zumuten; denn es sind schon an zwei Sonntagen Abgesandte einer Gemeinde, deren Pfarrer zurücktreten will, hierher gegekommen, um mich zu hören. Vielleicht winkt mir von jener Seite eine feste Anstellung. Daß ich meinem Amtsbruder im Ansehen schade, ist mir sehr leid; ich kann es aber nicht vermeiden. Seine Leistungen habe ich von Anfang an in ein günstiges Licht zu setzen versucht. Wirkung: Man rühmt meinen nobeln Charakter, rühmt mich vermutlich auch der Frau Pfarrer gegenüber in einer Weise, die ihr wehtun muß. Nun gibt sie sich alle Mühe, gegen mich herzlich zu sein und bringt es nicht mehr fertig. Und ich stehe vor ihr schuldbewußt, weil ich weiß, daß ich ihr Sorgen verursache und mich die Leute unsinnig überschätzen. Darum finden wir beide unsere Unbefangenheit und den vertraulichen Ton nicht wieder. Ist das eine leidige Geschichte! Meine Hausbesuche habe ich eingestellt. Nichts wäre mir schrecklicher, als in den Verdacht der Popularitätshascherei zu kommen. Gottlob ist Aussicht, daß dieser Zustand nicht mehr lange währt; Herr Lindauer schreibt sehr befriedigende Berichte über seinen Kurerfolg.
Es grüßt dich freundlich
dein Max.
Emmendorf, 25. Mai.
Liebes Schwesterherz!
Nur schnell einige flüchtige Worte. Ich reise nächste Woche zu Ernst und muß noch mancherlei vorher in Ordnung bringen. Mit der Pflanzung bin ich fertig und für den Haushalt genügt Karoline. Ich bin so froh, daß ich für ein paar Tage entrinnen kann! Das Zusammenleben mit dem Vikar ist recht unanmutig geworden. Die Emmendorfer treiben mit ihm eine wahre Abgötterei und rennen jetzt jeden Sonntag schon in der Morgenfrühe in die Kirche. Es mag ja meinetwegen wahr sein, daß er ein sehr begabter und einnehmender Mensch sei. Aber meinen Mann brauchten sie wegen ihm nicht ganz zu vergessen und zurückzusetzen. Das mag ich einfach nicht leiden, und dabei soll ich dem Vikar doch immer ein Glanzhimmelgesicht zeigen, sonst wäre Ernst nicht mit mir zufrieden. Ein solcher Zustand geht einem schließlich auf die Nerven, und darum freue ich mich ganz unbeschreiblich auf die Veränderung. Im Süden muß es jetzt wundervoll sein, und zudem ist es jetzt schon eine halbe Ewigkeit, seit Ernst fort ist.
Bald mehr!
Herzlich grüßt
deine Schwester.
Emmendorf, 2. Juni.
Lieber Franz!
Zwei Fliegen auf einen Klaps! Erstlich pfeif ich die Melodie: Morgen muß ich fort von hier, usw. (Aber nur die Melodie, das andere stimmt nicht.) Wir werden uns beim Abschied sehr als gebildete und wohlerzogene Menschen zu benehmen wissen. Zweitens: Ich, der Endsunterzeichnete, stelle mich hiermit dir vor als «einhellig erwählter Pfarrer in Merlitz.» Begratuliere mich! Vorläufig geht’s aber noch eine Weile zu Vatern und Muttern.
Herablassend grüßt dich
dein Maxentius.
Emmendorf, 3. Juli.
Mein lieber Bruder!
In unserem Pfarrhause spielt sich eine jener stillen, kleinen Tragödien ab, an denen das Leben so reich ist. Vor vier Wochen kehrte dein Schwager Ernst aus Orselina zurück. Sein Zustand war derart, daß ich ihm mit gutem Gewissen das Predigen erlauben durfte. Aber was geschieht nun? Während bei der 203 Abschiedspredigt des Vikars ganz Emmendorf auf den Beinen war, gähnte an den folgenden Sonntagen die Kirche vor Leere. Darob im Pfarrhause tiefe Niedergeschlagenheit. «Und er entwendete ihm die Herzen der Männer Israels,» heißt es, mein ich, in der Schrift. Dabei ist aber keinen Augenblick an vorsätzlichen Raub zu denken. Letztlich kann ich es unsern Predigtleuten gar nicht verdenken, wenn der Vikar sie mehr angezogen hat, ist es mir selber doch nicht besser ergangen. Mein Beruf läßt nicht zu, daß ich viel in die Kirche gehe. Als aber durch Emmendorf der Ruhm erscholl, was der Neue für ein Wundertier sei, trieb mich die Neugierde doch auch einmal hin. Ich ging mit einem Vorurteil und erwartete einen Spiegelfechter und Zungendrescher zu finden. Denn auf das Urteil unserer Dorfbevölkerung in diesen Dingen gebe ich nicht viel, es bleibt zu sehr an Äußerlichkeiten kleben. Sie nehmen Mittelmäßigkeiten und Plattheiten für gute Münze, wenn einer nur recht laut und deutlich vorträgt, ohne zu stocken oder aufs Pult zu gucken. Um so angenehmer war ich überrascht, einen Redner kennen zu lernen, der schlicht und einfach, aber mit großer Lebendigkeit, Anschaulichkeit und einer seltsam zu Herzen dringenden Unmittelbarkeit sprach. Offenbar eignet ihm ein starkes Gefühlsleben, eine rege Einbildungskraft und ein jugendfeuriges Temperament. Was er angreift, atmet Frische, auch das Alltägliche 204 bekommt Glanz und einen Strich Eigenfarbe. Seine Worte schreiten einher, bald munter wie schlanke Mädel am Tanzsonntag, bald ehrbar und feiertäglich wie die Bäuerinnen zu Pfingsten, und immer haben sie klare Augen und rote Backen. Brausende Föhnworte voller Kraft weiß er zu mischen mit Blumenworten voller Lieblichkeit, seine Bilder graben sich ein, du kannst sie nimmer vergessen. Und dahinter steht ein lieber Mensch mit einer wohllautenden Stimme und spinnt dich ein mit dem ganzen Zauber seiner jugendfrischen, unverdorbenen Persönlichkeit. Lächle über mich, aber ich muß gestehen, auch mich hat er eingesponnen.
Wenn ich mir nun deinen Schwager daneben vorstelle! Wie leicht kann seine feine, stille Art mißverstanden und für Schwäche angesehen werden! Denn immer ist er in Sorge, etwas Heiliges zu unsanft, zu wenig ehrfurchtsvoll zu berühren. Immer muß er rund um die Dinge herum, muß jede Seite in Betracht ziehen, wohl abwägen, vorsichtig prüfen, um ja kein Unrecht zu begehen, kein schlimmes Beispiel zu geben. Ruhe, Würde, Rücksicht, Takt, Korrektheit, Selbstbeherrschung, das sind die Hauptwörter in seinem Lebenslexikon. Lauter Tugenden, sehr schätzbare sogar, ja, aber nicht nach jedermanns Geschmack, besonders in dieser Häufung und einseitigen Anordnung nicht. Unsere Dorfleute lieben es, wenn das Essen warm auf den Tisch gestellt wird und 205 kräftig gewürzt ist. Nun bietet Ernst zwar immer gehaltreiche Geistesnahrung; aber seine Predigt ist von der alten lehrhaft abstrakten Art, die sich zu wenig an die Sinnenfreudigkeit der Zuhörer wendet. Bestenfalls schweben die Worte vorüber wie Nonnen in langwallenden, faltigen, grauen Gewändern mit niedergeschlagenen Augen, bleichen Lippen und blutlosem Antlitz. Meist aber rieseln sie herunter wie Sandkörner in immer gleicher Feinheit durch die gleiche Rinne und das wirkt einschläfernd, wenigstens auf mich. Ich vermisse die meisternde Faust, die überraschenden Wendungen, vermisse die Nägel für das Gedächtnis und die erhebenden Schauer für die Seele, kurz das farbenbunte, vollströmende, herzwarme Leben. Umgekehrt empfinde ich bei einem Begräbnis Herrn Lindauers Art als wunderbar wohltuend. Du kommst vom offenen Grabe und erschütternden Abschiedsszenen in die weite stille Kirche. Ruhig und gefaßt steht er am Taufstein, heiliger Ernst thront auf seiner hohen, weißen Stirne, und nun hebt er mit seiner kühlen, leidenschaftlosen Stimme an zu beten: Es ist noch eine Ruhe vorhanden dem Volke Gottes! Da werden die aufschreienden Herzen stille, messen ihr Einzelleid am großen Allschicksal und beugen sich willig unter seine gewaltige Hand. Ich sage dir, Weihevolleres habe ich nie erlebt und empfunden in einer Kirche. Wie segensreich dein Schwager außerhalb der Kirche gewirkt und wie untadelhaft seine 206 ganze Lebensführung war, brauche ich dir nicht weitschweifig in Erinnerung zu rufen. Mit vollendetem Takt wußte er stets zu entscheiden, wo man ihn nötig hatte und wo nicht, und seine milde, gütige Gesinnung machte ihn zu einem Versöhner und Friedenstifter, den man schwer vermissen wird, wenn er nicht mehr da ist. Was er gelebt hat, ist eine schöne Bewährung dessen, was er gepredigt hat, und niemand von seinen Gemeindegenossen kann ihm hohe Achtung versagen. Darum bitte ich dich, nimm dich seiner an, tröste ihn und richte ihn auf; er hat es nötig und verdient es. Was ich tun konnte, habe ich getan; du stehst ihm aber näher als ich, und dein Urteil hat für ihn einen besondern Wert.
Über meine persönlichen Angelegenheiten ein andermal, sie sind nicht dringlicher Natur.
Freundlich grüßt
dein Bruder Albert.
Emmendorf, 4. Juli.
Lieber, geehrter Schwager!
«Wenn das Salz fade geworden ist, womit soll man salzen?» Mit großem Schmerz muß ich dieses Wort der Bergpredigt auf mich selber anwenden. Gott hat mir ein Halsleiden geschickt, damit ich meine Nichtigkeit endlich erkennen lerne. Mein Stellvertreter, 207 obwohl ein junger, unerfahrener Mensch, hat mir gezeigt, wie man religiöses Leben weckt. Seit ich wieder predige, steht die Kirche beinahe leer. Nur wenige Getreue, vielleicht bloß Mitleidige, finden den Weg noch ins Gotteshaus. Den übrigen habe ich die Lust am Gotteswort verdorben. Und doch habe ich Zeit meines Lebens mein Bestes gegeben. Wenn aber dies Beste so übel wirkt, was bleibt mir übrig, als mich zu bescheiden und den Staub von meinen Füßen zu schütteln? Denn je mehr ich anwende, desto trauriger mißrät mir die Predigt. Ich bin an mir selbst irre geworden, und Unsicherheit lähmt und steigert sich zum Unvermögen. Was ich zustande bringe, mutet mich selbst an wie Wasser, das zu lange in der Leitung gestanden. Soll ich nun in meinen alten Tagen noch anfangen, um Gunst zu buhlen, Mätzchen und Anleihen zu machen, Besuche abzustatten und zu schmeicheln? Nein, das Blut steigt mir beim bloßen Gedanken in die Wangen. Lieber in einem Erdenwinkel meine Schmach verstecken und karges Brot essen! Was bleibt mir übrig, als mein zuckendes Herz in die Hand zu pressen und Selbstbescheidung und Entsagung zu lernen? Wie oft habe ich davon gepredigt und nie gespürt, wie weh das tut! Zu ruhig und gleichmäßig ist mein Leben dahingeflossen. Den Frieden habe ich gesucht, und der Friede hat mich schwach gemacht: den Kampf hätte ich suchen sollen und die Schuld nicht scheuen. Denn 208 in Schuld und Verzweiflung reifen die Früchte des Herzens, und wer viel geleistet hat, darf auch viel gefehlt haben. Bitterer als Mißerfolg, Fehlschlag und Schuld nach Wagetat ist Unfruchtbarkeit, verursacht durch Zaghaftigkeit, unablässiges Abwägen und Rücksichtnehmen. Meine Sünde heißt Unmäßigkeit im Maßhalten. Wehe dem, der zu viel Rücksicht nimmt in seinem Leben, die Rück-Sicht auf dies verflossene Leben wird ihn nimmer freuen! Daß du doch heiß oder kalt wärest; denn die Lauen werden ausgespuckt! Ist es nicht traurig, von sich sagen zu müssen: Du bist nichts gewesen als ein Tröpflein Schmieröl zwischen den Reibflächen der andern! Früher hoffte ich, einmal auf mich das Wort vom frommen und getreuen Knecht anwenden zu dürfen. Jetzt zeigt mir auch der altvertraute Spruch ein höhnisches Gesicht. «Ja, ja, du bist über wenigem treu gewesen.»
In Gottes Namen! Ich werde einem Würdigern Platz machen, obschon mich nie nach etwas Großem, Befreiendem, nach segenbringender Tätigkeit dürstete wie jetzt.
In schwerer Seelennot grüßt dich dein sehend gewordener Schwager
Ernst Lindauer, Pfarrer.
Emmendorf, 4. Juli.
Liebe Schwester!
Ernst hat heute an den Herrn Professor geschrieben. Erlaube, daß ich auch noch etwas beifüge. Denn ich bin in einer Aufregung, ich kann dir nicht sagen wie sehr. Es ist elend, wie sie meinen Mann haben fallen lassen. Daß er das erleben mußte, der liebe, gute, will mir das Herz zerreißen. Denke dir (aber sage es niemanden, nicht einmal dem Herrn Professor!), letzte Nacht habe ich Ernst ins Kissen schluchzen hören! Was sollte ich tun? Zu ihm gehen? Ihn trösten? Nein, es hätte ihn zu sehr beschämt. Ich hielt mich totenstill, wagte kaum zu atmen und tat, als ob ich fest schliefe. Erst lange nachher, als er sich beruhigt hatte, drehte ich mich auf die Seite und ließ einen Seufzer fahren. Aber schlafen?! Schlafen mit diesem Wehgefühl im Herzen? An mich halten mußte ich, verbeißen, sonst hätte ich laut herausgeheult! Daß man ihn nicht besser kennt und würdigt, nach dreißigjähriger Wirksamkeit, ist mir unbegreiflich. Haben sie denn keine Augen? Keine Ohren? Kein Gefühl? Ist alle Dankbarkeit auf Erden ausgestorben? Ach, wenn sie doch wüßten, wie lieb und gut er ist, wie wahrhaft fromm, wie zartfühlend und gewissenhaft! Wie nicht ein unechter Faden an ihm ist! O, dürfte ich ihnen doch erzählen! Tausend kleine 210 Geschehnisse möchte ich ihnen zu Ohren tragen. Wie anders würden sie dann über ihn urteilen, die Stumpfen, Ungerechten! Ich hasse diesen Vikar, ja, ich hasse ihn, trotzdem es mir Ernst streng verbietet und ich mich vor mir selber schäme! Mit ihm ist doch das Unglück in unser Haus gezogen. Wie traulich und friedlich war es vorher bei uns! Jetzt redet Ernst immer von Zurücktreten und Fortgehen und zerquält sich in grausamen Selbstanklagen. Ja, wenn wir reich wären und sorgenlos leben könnten, geschähe diesen dummen Dorfleuten schon recht. Sie verdienen es gar nicht, einen solchen Pfarrer zu haben. Aber mag nun alles kommen, wie es will, zeigen will ich ihnen noch, wie ich ihn hochhalte, ich, die ihn kennt bis in jede Falte seines edlen, reinen Herzens hinein. Jeden Sonntag gehe ich in die Kirche. Keinen Blick wende ich von ihm. Jedes Wort lese ich von seinen Lippen. Sie sollen merken, was sie ihm schuldig wären.
Das schwört dir deine tiefbetrübte
Schwester.
Bärnstetten, 6. Juli.
Lieber, hochgeschätzter Schwager!
Ich danke dir herzlich für dein Zutrauen und nehme an dem Leid, das dich betroffen hat, den innigsten Anteil. Solchen Dank zu ernten für redlichstes 211 Streben, muß bitter wehtun, das kann ich dir lebhaft nachfühlen. Du leidest aber unverdient, und darum bitte ich dich vor allem ernstlich: Halte ein mit deiner Selbstanklage! Das ist nicht mehr vernünftige Einkehr und Selbstprüfung, sondern grausame und nutzlose Selbstzerfleischung. Es ist schlimm genug, wenn andere über dir die Nesselpeitsche der Verkennung und Mißachtung schwingen und dich Hinaustreiben in die Wildnis des Zornes und in die giftigen Sümpfe des Ärgers. Wüte nicht gegen dich selber, schmähe nicht, was dir lieb und teuer, hoch und heilig war, du tust dir selber blutig unrecht. Schmerz und Trauer malen das Bild eines Lebens ebensowenig richtig wie Erhobensein und Begeisterung. Beides ist nur Schein, nur Beleuchtung. Unerschütterlich und unantastbar bleibt das Grundgefüge deines der treuesten Pflichterfüllung gewidmeten Lebens. Ob der Wald von goldenem Abendlicht geliebkost wird oder graue Nebelfetzen seine Wipfel verhüllen, Stamm bleibt Stamm und Ast bleibt Ast und behält seinen Wert. Wer wird einen reichtragenden Fruchtbaum umhauen wollen, weil einigen Vorübergehenden eine andere Apfelsorte besser mundet? Nicht jedem ist es gegeben, die Schätze seines Innern vor aller Augen auszubreiten, wie ein Krämer seine Waren im Schaufenster ausbreitet, und welcher Redner kann es allen recht machen? Vielleicht hätten deine Predigten bei einer andern Zuhörerschaft die beste 212 Aufnahme gefunden. Zudem ist nicht ausschlaggebend, was und wie du gepredigt hast. Ich kann (wie Faust) das Wort so hoch unmöglich schätzen. Entscheidend ist der unablässig aufs Gute gerichtete Wille (nach Kant das Einzige auf der Welt, was ohne Einschränkung könnte für gut gehalten werden), und der Umstand, daß du jederzeit gelebt, was du gelehrt hast. Von all dem Guten, was du nicht nur geredet, sondern stets mit der Tat bewährt hast, wird auch nicht ein Tüpfelchen untergehen; denn auch im Sittlichen gilt das Gesetz von der Erhaltung der Kräfte. Jedes gütige Wort, jedes hilfreiche Werk ist ein Baustein für die Burg des Vertrauens, in der die Menschen sicher wohnen; jedes Haßwort und jedes böse Werk reißt eine Bresche in die Mauern dieser Burg, die das Glück der Menschheit umschließt. Darum fort mit deinem Kleinmut und schmähe mir ja nicht das Friedensöl, das ein reibungsloses Zusammenarbeiten aller Nädlein im großen Uhrwerk der Menschheit ermöglicht. Nicht jeder kann Stundenzeiger sein, das ist nur einzelnen Großen beschieden und für sie meist ein unverdientes Glück, denn die treibende Kraft stammt nicht aus ihnen selber, sondern aus dem Gesamtwerk.
Ich kann meinen Brief nicht besser schließen als mit den Worten des Dichters, die eigens für dich bestimmt erscheinen:
213 Hast mit der Kraft, der ganzen, vollen,
Du treu geschafft zum Heil der Welt;
War gut und rein dein Streben, Wollen;
Hat Edles dir die Brust geschwellt:
Dann darfst gehobnen Hauptes wallen
Du deinem fernen Ziele zu;
Dann ist der größte unter allen
Nicht größrer Ehre wert als du.
Das unterschreibt mit vollster Überzeugung dein dich herzlich grüßender Schwager
E. Langhard, Prof.
Emmendorf, 15. Juli.
Lieber Schwager!
Deine aufrichtenden Worte haben mir außerordentlich wohlgetan; ich danke dir von ganzem Herzen dafür; es war Hilfe in der Not; denn meine Nerven hatten sehr gelitten. Nun hat sich meine Betrübnis schon um vieles gesänftigt, so daß ich sagen darf, ich habe mich wiedergefunden. Wenn man nicht den Erfolg als Maßstab annimmt, sondern den guten Willen, darf ich mein Leben ruhig einer Prüfung unterstellen, denn ich bin mir bewußt, stets das Rechte gewollt zu haben.
Nach reiflicher Erwägung habe ich mich aber dennoch entschlossen, im Herbst von meinem Amte zurückzutreten. Meine Gemeinde soll nicht an einen Prediger gebunden sein, den sie nicht hören mag, 214 und an einem andern Orte vornen anzufangen, dazu fehlt mir der Mut. Die Predigt ist ein so wichtiger Bestandteil der pfarramtlichen Tätigkeit, daß daran kein Makel haften sollte. Ich räume das Feld Würdigern, die es besser verstehen, die Herzen der Zuhörer zu gewinnen und zu lenken.
Mitbestimmend bei meinem Entschluß ist der Umstand, daß sich mein Halsleiden wieder meldet. Leicht könnte der Fall eintreten, daß ich schon nächsten Winter neuerdings für längere Dauer einen Stellvertreter annehmen müßte, und das will ich vermeiden.
Den Rest unserer Tage wollen wir in der Stadt verleben. Meine Frau und ich werden nächster Tage nach B. kommen, um uns rechtzeitig nach einer passenden Wohnung umzusehen. Bei dieser Gelegenheit möchten wir euch einen Besuch abstatten und ich verspare darum alles übrige auf die mündliche Aussprache. Nochmals herzlich dankend, sendet euch allen die besten Grüße
E. Lindauer, Pfr.
Emmendorf, 25. September.
Schwesterlieb!
Unsere Kisten sind zugenagelt. Nur das Allernotwendigste zum täglichen Gebrauch harrt noch der 215 Verpackung. Schwere Tage. Wurzel um Wurzel unseres Lebensbaumes mußten wir aus dem Boden reißen, der uns so lange Saft und Kraft gespendet hat. Wie mühsam löst man sich los von einem Orte, wo einem jeder Treppentritt, jede ausgelaufene Schwelle vertraut und heimelig geworden ist! Hunderterlei muß man zurücklassen, was einem bisher tägliche Augenweide oder sonstwie Annehmlichkeit war. Ich will nicht anfangen aufzuzählen, sonst würde ein ganzer Katalog daraus. Am schwersten werde ich meinen Garten entbehren. Nach Jahren noch wird mir von ihm träumen, das ist gewiß. Ernst hat mir erlaubt, wenigstens ein Kistchen von der herrlichen, mürben Gartenerde für meine Blumentöpfe mitnehmen zu dürfen. Aber es ist uns ein schwacher Trost. Den Pflaumenbaum in der Hausecke (die Steine lösten sich so prächtig von dem süßen Fleisch!), die Schlingrosen an der Gartenwand, die Spalierbäume, die Schattenbank unter der Traueresche... nein, nein, aufgehört, sonst kommt mir das Augenwasser! Und auf mich kommts ja so sehr nicht an, Ernst muß noch viel mehr und Lieberes zurücklassen. Die Kanzel reut ihn doch unsagbar. Er hofft, hin und wieder einmal einen Amtsbruder vertreten zu dürfen; der Gedanke, untätig sein zu müssen, ist ihm das Schwerste.
In großer Not waren wir wegen unserem armen Schnauzi. In der Stadtwohnung dürfen wir keinen 216 Hund halten. Allen unsern Bekannten, soweit es Leute sind, denen man einen Hund anvertrauen darf, haben wir ihn angeboten. Durchwegs abschlägigen Bescheid erhalten. Niemand wollte ihn, und doch ist er ein so liebes, kluges Hundi (und gut angefüttert!). Ich behaupte, er hat Menschengedanken und versteht fast alles, was man zu ihm sagt; man sieht es ihm an den Angen an. Schließlich hat sich Dr. Langhard seiner erbarmt. Ohne unser Vorwissen schrieb er an Pfarrer Born, unsern Stellvertreter unseligen Angedenkens, und stellte ihm Schnauzis bedrohliche Lage in beweglichen Worten dar. Und Herr Born erbarmte sich über den Todeskandidaten und versprach, ihn vorläufig an «Kindesstatt» aufzunehmen. Anfangs lag mir diese Lösung nicht ganz nach Schick; aber dem Hundi zulieb habe ich endlich eingewilligt. Und nun geht es dem Schnauzi besser als uns; er bleibt an der Pfarrhaussonne und Pfarrhauskost als ein gehätscheltes Pfarrhaushündchen; wir aber ziehen an den Schatten, wo uns niemand hätschelt als das Heimweh.
Aber, gottlob, ungeschätzt ziehen auch wir nicht von dannen. Dieses Mißverständnis hat sich gelöst; der Stein ist uns vom Herzen gefallen. Wir durften in den letzten Wochen noch so viel aufrichtige Zuneigung und Dankbarkeit erfahren, daß mir ohne jeglichen Groll scheiden können. Eine Zeit lang hatte Ernst hart mit sich zu ringen. Jetzt ist er immer 217 von einer milden Seelenheiterkeit durchsonnt, daß ich fühle, auch er hat überwunden. Du hättest seine letzten Predigten hören sollen, lauter Liebe und Güte, nicht ein Schimmer von Gekränktsein. Nächsten Sonntag besteigt er zum letztenmal die hiesige Kanzel und wenn er mit seinen weißen, schlanken Händen den Segen erteilt, weiß ich sicher, er segnet mit der ganzen Kraft seiner reinen, starken Seele. Ich bin unendlich stolz auf ihn. Gott erhalte ihn mir, dann will ich mich mit allem andern abfinden.
Es grüßt dich und freut sich auf ein baldiges Wiedersehen
deine Klara.