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Es war an einem neblig sauren Spätherbsttag, als sich unserem Dörflein ein mit Hausrat und Gerümpel beladener Zügelwagen näherte. Ein Bauernsohn in Halbleinhosen und blauem Burgunderüberhemd lenkte die muntern Braunen. Neben ihm saß ein Mann in Mittlern Jahren, gehüllt in einen grauen Überwurf. Ein wurmstichiger Trog von Großvaters Zeiten her diente ihnen als Sitz. Erhöht und weiter hinten hockte auf einer umgelegten, rauchschwarzen Waschkommode eine ältliche Weibsperson. Um Ohren und Hals hatte sie ein dickes, dunkelrotes Wollengewebe geschlungen, dessen Zipfel ihr über den Rücken fielen. Sie fröstelte und wickelte die verschränkten Arme in ihren schäbigen, schwarzen Mantel.
Der Graue bemühte sich, den Fuhrmann zu unterhalten; aber dieser hörte nur mit halbem Ohre zu. Lieber wäre er mit einem stolzen Brautfuder in unser Dorf eingezogen als mit der armseligen Zügelfuhre. Verdrießlich trieb er seine wohlgenährten Rößlein an, von denen eines den halbbeladenen Wagen mit leichter Mühe gezogen hätte.
Als das Gefährt in die Dorfgasse einbog, folgten 138 ihm aus allen Häusern neugierige Blicke, in denen geschrieben stand: Herjeh, was für ein Pack zieht jetzt da ein! Vor einem älteren Holzhäuschen, das sich an einen Riegbau schmiegte, wie ein gebücktes Mütterchen an ihre hochgewachsene Tochter, gab es Halt. Der Fuhrmann sprang ab, zäumte die Tiere rückwärts, band das Leitseil am Eisenring des Brückenwagens fest und kurbelte die Spanne an. Unterdessen war auch der Graue heruntergeklettert und half der Frau absteigen. Galant reichte er ihr die Hand und hob die Frierende und vom Sitzen sperrig Gewordene zur Erde. Dann öffnete er ihr die Türe und lud sie mit verbindlicher Armbewegung zum Eintreten ein. Sie reckte und streckte sich, neigte dankend das eingehuschelte Haupt und stapfte mit ihren abgetragenen Holztschoggen schwerfällig über die Schwelle ihres künftigen Heims.
Dem Fuhrmann kam diese Höflichkeit dermaßen übertrieben und lächerlich vor, daß ihm ein halblautes «Donnerwetter!» entrann. Auch ein paar rasch herzugeeilte Gassenrangen schauten dem Vorgang verblüfft zu und grinsten hintenher vor Vergnügen. Im Handumdrehen verstand sich der Fuhrmann mit ihnen und während er die Seile löste, schnitt er Gesichter und blinzelte ihnen vielsagend zu.
Bald trat auch der Graue wieder herzu und legte Hand an beim Abladen. Stück um Stück des leichtern Gerümpels langte ihm der Blaue vom Wagen. Die 139 schwerern Geräte half der Maurer verörtern, der den Oberstock des Riegbaues bewohnte. Dabei mahnte der Graue in einem fort: «Sorgsam! Sorgsam!» Und Behutsamkeit tat wirklich not, wenn das wackelige Zeug nicht auseinanderfallen sollte.
Kaum war der Wagen leer, wendete der Fuhrmann auch schon seine scharrenden Braunen. Er schien es eilig zu haben und wußte nicht, ob er das angebotene Trinkgeld annehmen sollte oder nicht.
«Nehmt, nehmt, und trinkt ein Glas Wein», ermunterte ihn der Graue, «Gäste können wir leider noch keine bewirten.» Widerwillig steckte der Bursche das Silberstück ein, saß auf und lenkte sein Gespann dem «Bären» zu. Froh, den unerwünschten Auftrag erledigt zu haben, bestellte er sich Käse, Brot und Bier. Die Wirtstochter tischte ihm das Verlangte auf, und während er sich an dem Imbiß erfrischte, begann ihn die Wirtin auszufrägeln. «Soso, Ihr habt uns scheint’s Zuzug gebracht.»
«Freilich. Wenn’s irgendwo einen Honighafen auszuschlecken gibt, trifft’s immer mich.»
Die Wirtin lächelte belustigt.
«Wie heißen sie denn eigentlich, die Neuen?»
«Herr und Frau Köhli, heißen sie.»
Beide lachten.
«Tausend noch einmal! Aber wollt Ihr nicht ausspannen und in den Stall stellen lassen? Ihr werdet doch nicht heimfahren ohne Hausräuche.»
140 «Hausräuche? Auf die könnte ich wohl noch lange warten; Leute, die auf der Bettelfuhr kommen, vermögen keine Hausräuche. Und eine Hausräuche von der Alten gekocht — rrr! — Lieber eine Woche fasten!»
«Was Ihr nicht sagt — auf der Bettelfuhr!»
«Auf der Bettelfuhr, ja gewiß, fragt den Landjäger.»
«Und die Alte, die oben auf dem Füderchen brieschte, ist seine Mutter?»
«Eben nicht. Seine Frau!»
«Was Ihr nicht sagt! Am Ende eine Zigeunerin?»
«Aussehen tut sie so, ’s ist aber eine Welsche. Und Ihr solltet sehen, wie er ihr den Kratz macht, der Narr!»
«Ist’s möglich!»
«Schickt sich für Gemeindebesteuerte!»
«Gemeindebesteuerte, soso! Darum hatte sie nur Holzschuhe anzuziehen.»
Der Bursche hätte wohl noch mehr Neuigkeiten ausgekramt; aber die Wirtin hatte nicht mehr Zeit zu hören. Sie war mit einem Gast im Kartenspiel begriffen, mußte ihre Trümpfe ordnen und draufgeben. Der Mitspieler klopfte schon ungeduldig auf den Tisch; er liebte die Zeitvergeudung beim Jassen 141 nicht. Vertieft in ihre Kurzweil achteten sie des Burschen nicht weiter, der in Ruhe seinen Imbiß verzehrte, bezahlte und wegfuhr.
Derweilen hatte Jakob Köhli, der Einzüger, seine letzten Siebensachen in der Wohnung verstaut und sich nach Kräften beeilt; denn es gab kalte Finger. Ein bissiger Nordost fegte das herbstbunte Falllaub in den Straßenschalen zusammen. Unter diesen Umständen verleidete auch der Straßenjugend das Gaffen. Zu erblicken war nichts mehr als oben am Kaminhut eine finstergraue Rauchstrange, und darum löste sich das Rudel ungebetener Gäste und verschwand.
Später, als die Milchkarren der Käshütte zueilten, kam auch Jakob Köhli wieder zum Vorschein, um Milch und Brot zu holen. Unbefangen trat er in die Käsküche, wo die Milch ausgemessen wurde, hielt den vielen neugierigen Blicken mit wohlwollend überlegenem Lächeln stand und strich sich mit selbstgefälliger Behaglichkeit den angegrauten Kinnbart.
«Was ist das für einer? Was ist das für einer?» fragten die Milchträgerbuben, schier ehe er zur Türe hinaus war.
«Heh, wer wird das sein», gab ihnen der flaushafte Käser an und setzte sein ernsthaftes Schalksgesicht auf, «der neue Schulinspektor ist’s. Nehmt euch nur höllisch zusammen, Buben, und schaut, was ihr treibt, sonst hat’s gefehlt.» Und blinzelte den Wissenden zu, sie sollten schweigen.
142 «Oho, er will uns nur in den Baren sprengen,» lärmten die Eingeschüchterten zweifelnd.
Am nächsten Morgen wurde allen Neugierigen Rat. Jakob Köhli befestigte an der Hausecke auf der Straßenseite ein messingenes Barbierbecken, das an einem Draht baumelte und leise klirrte.
Viel Kundschaft lockte es in der ersten Zeit nicht an. In unserem lieben Dörflein Dürrenfeld hatte bisher noch nie ein Barbier seine Zeltpflöcke eingeschlagen. An ausgiebigen Erntefeldern für Schere und Bartmesser hätte es zwar nie gefehlt; aber die meisten Dürrenfelder schabten sich selber oder hatten gelegentlich die Rasierstube des Nachbardorfes besucht. Allgemach kam nun aber doch der eine oder andere, um mit dem Neuen einen Versuch zu wagen, und Jakob Köhli hatte die Wartezeit benutzt, um seine Messer aufs sorgfältigste anzuziehen. Es ging besser, als man erwartet hatte. Mit einer kostbaren Ausstattung konnte Köhlis Rasierstube freilich nicht prunken. Der wurmstichige Armsessel wackelte, der Spiegel mit den erblindeten Goldrahmen litt am Fleckfieber und der weißgestrichene Aufsatz, der auf der Waschkommode thronte, vermochte auch dem Unkundigen keinen Marmor vorzutäuschen. Aber was tat’s! Mit Streichriemen, Pinsel und Schaumbecken wußte Köhli ordentlich gewandt umzugehen, seine Messer kratzten nicht stärker als landesüblich und seine Schere schnitt erträglich. Sie hinterließ auch 143 keine Treppenstufen oder Samstaudenpartien in den Dürrenfelder Haarkulturen und das war die Hauptsache.
Übrigens merkten wir Dörfler bald, daß unsere Verschönerungsanstalt noch andere Vorteile vermittelte. Der Gang zum Barbier am Samstagabend gab einen prächtigen Vorwand, der bessern Hälfte für ein nettes Stündchen oder zwei zu entrinnen. Auf dem Hin- oder Herweg schickte es sich ausgezeichnet, ein Glas Bier zu trinken oder ein Jäßchen zu schmettern. Wurde es spät, ehe man sich zurückfand in die Arme der lieben Gattin, je nun, man hatte halt beim Barbier lange warten müssen.
Den Dürrenfelder Wirten entging natürlich auch nicht, daß ihnen ein frisches Wässerlein aufs Rad lief, und sie waren eifrig bestrebt, ihm das Bett zu ebnen und zu verbreitern, indem sie Jakob Köhlis Lob sangen, trotzdem er ihnen herzwenig zu verdienen gab. Köhli selber ließ sich keine Mühe reuen, Kundschaft zu erwerben und festzuhalten. Er schor mutz oder halblang, ganz wie man begehrte, ließ Jünglingen, die auf ihre Haarpracht stolz waren, eine halbschuhlange Löwenmähne stehen und rasierte niemanden ungefragt gegen den Strich. Er räumte Sitzplätze frei, langte Hüte vom Nagel, bürstete staubige Rockkragen und strich Zündhölzchen an, kurz, er war die Zuvorkommenheit selber und hatte stets Späne und Scheiter bereit, um das Feuerchen der 144 Unterhaltung zu schüren. Schon nach wenigen Wochen hatte er sich ordentlich eingelebt und leidlich festen Boden gewonnen.
Rätselhaft und Mißtrauen erweckend war nur, daß man einen so strebsamen und soliden Menschen auf der Bettelfuhr gebracht hatte.
Köhli, der günstigen Wind in seinen Segeln spürte, ließ sich angelegen sein, diesen dunkeln Punkt bald einmal aufzuhellen und sich zu rechtfertigen. Wenn er darauf zu sprechen kam, wie schändlich das Schicksal mit ihm umgesprungen sei, flackerten ihm Augen und Stimme.
«Kennt ihr Südamerika? Kennt ihr das Fieber? Nicht? Nun, so möge euch der liebe Gott gnädig vor beiden bewahren. Ich weiß ein Lied davon zu singen, ein Lied zum Heulen und Zähneklappern. Da hat man sein schönes Geschäft, ist auf dem besten Wege, ein wohlhabender Mann zu werden und meint, nun könne es nimmer fehlen. Und eines Tages bekommt man das verfluchte Fieber. Marsch, ins Spital, heißt es! Wegen der Ansteckung halt. Ja. Und während man auf dem Schragen liegt und im Fieberwahn Elefanten, Schlangen, Affen und Fledermäuse Mückentänze aufführen sieht — was geschieht? Eine Revolution bricht aus. Die Lumpenregierung samt ihrem Anhängerpack hat wieder einmal zu unverschämt gestohlen. Andere möchten auch mal an die Krippe und ihre Schnappsäcke füllen. Alles geht 145 drunter und drüber. Räuberbanden ziehen durch die Straßen; Gewalttat und Plünderung sind an der Tagesordnung. Auch in unser Geschäft dringt die Satansbrut. Was nicht niet- und nagelfest ist, wird ausgeräumt, die Frau geknebelt. Und kehrt man als zaundürres, wankendes Knochengestell heim, so ist man ein Bettler. Und der Doktor hat einem eingeschärft: Fort aus diesem Klima, wenn Ihr dem entrinnen wollt, der links mäht! O ja, da wird man mürbe, und fragt einen mutzen Teufel danach, was mit einem geschehe.»
Diese Erklärung klang allerdings ein wenig romanhaft. Aber Amerika ist ja das Land der unbegrenzten Möglichkeiten — konnte nicht doch etwas Wahres an der Sache sein? An heimtückischen Krankheiten, Schurken und unerwarteten Revolutionen litt Südamerika nie Mangel, das war auch in Dürrenfeld den meisten bekannt. Was man von Köhli bisher gesehen und gehört hatte, sprach durchaus zu seinen Gunsten. Er schaffte, war ein ruhiger und gefälliger Nachbar, jederzeit auf seinem Posten und vor allem kein lausiger Schuldenhund. Was er kaufte, zahlte er bar und das fällt auf dem Lande schwer ins Gewicht. Wenn er auch gelegentlich abweichende Meinungen verfocht, tat er dies doch bescheidentlich und ließ auch andere Ansichten gelten. Manche, die vom Auslande heimkehren, fühlen ein brennendes Bedürfnis, über die Schollenkleber und Nesthocker herzufallen 146 und ihnen zu beweisen, wie dumm und rückständig man in der Heimat sei. Windmacher, die nicht einmal ihren eigenen Hemdenzipfel ordentlich zu versorgen wissen, spielen sich auf als berufene Retter des Vaterlandes und reißen das Maul auf, als ob sie sämtliche zweiundzwanzig Schweizerkantone auf einmal zu schlucken gedächten. An Köhli hingegen war nichts Unsolides, Vagabundenhaftes hängen geblieben. Seine Armut war entschuldbar, und daß ihm das Mundwerk etwas geölter lief als den Einheimischen, leicht zu begreifen. Im übrigen schritt er so bescheiden und würdig über das Dürrenfelder Straßenpflaster wie der wohltemperierteste Zopfbürger. Offenbar war er auf seinen Irrfahrten in der Welt herum guter, heimischer Art und Sitte treu geblieben und hatte den Wert einer wohlgeordneten Häuslichkeit schätzen gelernt; denn an seinem Häuschen klebte er fest wie eine Weinbergschnecke.
Nur eines vermochten die Dürrenfelder nicht zu schlucken und mußten sich darüber aufregen: Wie kam ein so gescheiter und gewester Mann wie Jakob Köhli zu einer solchen Vogelscheuche von Frau! Denn grundhäßlich war dieses Weib, das mußte auch der Nachsichtigste zugeben. Ihr Gesicht wies eine Hautfarbe auf, daß ein Spaßvogel behauptete, es habe ihr jemand Kaffeesatz angeschmissen und diese gelbbraune Brühe sei ihr für zeitlebens angerostet. 147 Mitten in dieser Kaffeesatzwüste saß eine Knollennase von erstaunlichem Umfange. Wer diese Nase recht betrachtete, begriff, daß sich die Lippen durch diese Nachbarschaft bedrückt fühlten. Wirklich sah es manchmal aus, als ob die Mundwinkel ihre und ihrer Umgebung traurige Gestalt beweinten. Blieben die Lippen geschlossen, dann brachte man es immerhin fertig, dies Antlitz zu beschauen, obschon die derben Ohren, vorstehenden Backenknochen, filzigen Brauen und kohlschwarzen spießigen Skalplocken besser für eine indianische Squaw gepaßt hätten, als für eine christliche Bartschabersfrau. Denn es lag über diesen Zügen ein Anflug von Willensstärke und Festigkeit, und besonders das kräftig entwickelte Kinn und die lebhaften Augen verschärften diesen Eindruck. Öffneten sich aber die Lippen, dann war alles verpfuscht. Zähne kamen zum Vorschein, man hätte meinen können, der Schmiedlehrbub habe ihr alte, rostige Hufnägel in die Kinnladen geschlagen und dabei über den andern Streich daneben gehauen, so daß zuletzt alle schief saßen. Am Halse drohte eine niedliche Rübenlandschaft von Kröpfen Hautrisse zu verursachen; an den Händen legte sich das überflüssige braune Fell in Runzeln und Rümpfe. Kurz, die Köhline hätte Grund gehabt, sich jenen Leidtragenden anzuschließen, die mit dem wehmütig humoristischen Stoßseufzer: Gott verläßt die Wüsten nicht! hinter der trosthilben himmlischen Wetterwand 148 Deckung suchen. Daran dachte sie aber keineswegs: denn sie fand ihr Aussehen ganz erträglich und fühlte sich als vollberechtigte und vollwertige Erdenbürgerin. Deshalb schaute sie unbefangen gradaus und allen Leuten fest in die Augen. Auf diese Art zwang sie Späher, die sich an ihrer Häßlichkeit weiden wollten, verlegen die Blicke wegzuwenden. Irgend jemand entdeckte aber doch, daß sie beständig gelbe Fingerspitzen habe. Nun gab es um diese Zeit weder Baumnüsse auszuschalen noch Ostereier zu färben. Wo zum Kuckuck stammte denn dieses verdächtige Gelb her? Handelte es sich am Ende gar um Merkmalsreste einer fremden Rasse? Rollte unter den Nägeln der Köhline ein letzter Tropfen Mongolen oder Malayenblut?
Dürrenfelder-Rangen, die abends auf der Gasse herumschlingelten, vermochten das gelbe Geheimnis zu entschleiern.
Durch die verwaschenen Vorhänge der Köhline hindurch erspionten sie, daß die Alte aus einer Zeitung vorlas und zwischenhinein lebhaft an einer Zigarrette lutschte. Der Mann schien dies völlig in Ordnung zu finden; sobald sie den Stummel fortwarf, drehte er ihr eigenhändig eine neue und bot ihr Feuer. Auch er paffte genießerisch und ließ ganze Strangen Rauch durch die Nase stäuben. Die beiden schienen sehr fidel aufgelegt und welschten drauflos wie die Spatzen am Frühlingsmorgen. Nun ließ sich 149 die Fingerspitzengelbsucht leicht erklären und die Dürrenfelder waren um einen Schwatzstoff reicher. Gewiß hatten sie auch Wichtigeres und Nützlicheres zu tun, als sich um die Schönheitsfehler und Sittenmängel eines alten Weibleins zu kümmern. Aber in der ganzen Welt ist es so: Für Augenblicke setzt man sich doch mit Behagen auf die Bank der Spötter und striegelt irgend einem Nebenmenschen das Fell, auch wenn man kein Unmensch ist. Und auch die tun mit, die im eigenen Pelz zu kratzen genug fänden. Denn es stehet geschrieben: Ein jeglicher sehe nicht auf das Seine, sondern auf das, was des andern ist! Und was wäre bequemer, als das auf die Schwächen und Absonderlichkeiten der lieben Mitchristen anzuwenden. An irgend einem Knochen muß jedes Hündlein seine Zähne wetzen und stärken, und wenn der Drang recht groß ist, nimmt es sogar mit dem geringfügigsten Lederabfall vorlieb.
Die Köhline schien vom Schicksal ausersehen, auf dem Dürrenfelder Dorftheater die Rolle der komischen Alten zu spielen. Ob ihr diese Rolle genehm und geläufig sei, fragte niemand. Da sie arm, häßlich und eine Fremde war, fühlte man sich nicht zu Rücksichten verpflichtet und witzelte drauflos, obschon man ihr im Grunde genommen durchaus nicht wehzutun begehrte. Selbstverständlich ging das Meiste hinter ihrem Rücken und da die Alte weder Schriftdeutsch noch Dürrenfelder Mundart verstand, wußte sie auch 150 nicht, wie sie im Dorfe angeschrieben war. Überdies gehörte sie zu jenen robusten, an ein ziemliches Maß von Staub und Schmutz gewöhnten Wegpflanzen, die nicht gleich verdorren, wenn ein Fuß auf sie tritt oder ein Stein über sie rollt. Der Dorfklatsch gab ihr also weder kalt noch warm und konnte ungehindert seine Blüten treiben. Es war erstaunlich, was alles man an ihr auszusetzen fand.
Daß andere, namentlich ärmere Frauen ihre Röcke selber schneiderten, taxierte man als zweckmäßig und lobenswert, auch wenn keine Kleiderkunstwerke herauskamen. Bei der Köhline hingegen war es lächerliches Großtun mit der eigenen Befähigung. Nun ja, ihr Schnitt richtete sich nicht nach der Mode, und kein Mensch konnte behaupten, die Röcke säßen ihr «wie angegossen». Holzschuhe zu tragen, galt sonst in Dürrenfeld keineswegs als verfassungswidrig, nur die Tschoggen der Köhline klapperten manchen übel in den Ohren, und es wurde behauptet, sie ziehe sie auch nicht aus beim Zubettgehen.
Gut wäre ihr angestanden, Einheimische um Rat zu fragen und sich nach ihnen zu richten. Das gab ihr der gallische Dickkopf aber nicht zu. Pflanzten andere Frauen Spinat, Mangold und Rüben, sie versuchte es mit Schwarzwurzeln und Tomaten. Landesübliche Blumen wie Rosen, Nelken und Geranien fanden vor ihren Augen keine Gnade; sie mußte etwas Apartes haben. In ihrem Gärtchen 151 geilten Sonnenblumen mit tellergroßen Blütenscheiben und Himbeerstauden unverschämt in die Höhe; derartiges Wucherzeug machte ihr Freude. Nun, es paßte zu ihrem brennend roten Kopftuch und den bunt- und großkarrierten Röcken, von denen man nicht wußte, ob sie als Überkleid oder Glosch anzusprechen seien.
Was sich aber an ihr besonders lächerlich ausnahm: Sie erhob Ansprüche, wollte respektiert sein. Einmal, als sie ihre Pflanzung jätete, kam der Bezirksstatthalter an ihr vorbei, und der Statthalter, ein leutseliger Herr, nahm sich die Mühe, sie französisch zu grüßen. Mit dem Finger höflich an den Hutrand tippend, wünschte er ihr gutgelaunt «Bon soir!» Und nun, wie wurde diese Herablassung aufgenommen? Die Köhline richtete sich flachssteckengrad in die Höhe, zäumte ihren Nacken wie ein Kadettenhauptmann, ließ ihre schwarzen Augen unter den wirren Haarsträhnen hervorblitzen und trompetete mit ihrer vertubakten Männerstimme herausfordernd: Bon soir, madame, s’il vous plaît, monsieur! Diesmal waren im Dorf nicht wenige, die lachten, und zum erstenmal klang aus diesem Lachen ein Wohlgefallen heraus. Andere fanden ein solches Betragen frech, titulierten die Köhline in Zukunft Madam und legten dem Barbierhäuschen den Ehrennahmen «Villa Köhli» bei. Eine solche hergelaufene Gurre soll denn doch nicht Einheimische maßregeln wollen.
152 Das Tollste aber, was die Dürrenfelder Klatschchronik von ihr zu berichten wußte, war die Hühnergeschichte. Die Dürrenfelder-Hühner galten als besonders vorgerückt; es gab deren erstprämierte Stämme, man durfte nur auslesen. Da waren Weiße, Blauschwarze, Gelbbraune und Graugesprenkelte, Behaubte und Haubenlose, Behoste und Unbehoste, mit lampenden oder stehenden Kämmen, Legrassen und Fleischrassen — kurz reichhaltigste Auswahl nach jeder Richtung hin. Trotzdem beschickte die eigelige Madam Bruteier aus Frankreich. Natürlich war auch keine Dürrenfelder Glucke adelig genug, diese Franzoseneier auszubrüten; Madam Köhli übernahm das Brutgeschäft selbst. Sie schob die Bruteier unter ihr Leibchen und wärmte sie Tag und Nacht an ihrer Brust, bis die Jungen ausschlüpften. Eine derartige unerhörte Brüterei gab zu reden und ahnungsvolle Einsichtige äußerten schwere Bedenken dagegen. Auch beim Brüten dürfen die Naturgesetze nicht mißachtet werden und was sich hinten gehört, gehört sich einmal nicht vorn... Die Bedenklichen behielten denn auch glänzend recht, der Verkehrtheit folgte die Strafe auf dem Fuße. Wohl schlüpften die Hühnchen glücklich, aber — tragische Geschichte sondergleichen! — ihnen wuchsen die Flügel und Federn nach vorn, statt nach hinten als bleibender Nachteil der verkehrten Brüterei. Die Schnäbel guckten mitten aus der Schwanzzierde heraus, der 153 ganze Körper saß verkehrt im Federkleid drin. Das Leben der armen Mißgeburten gestaltete sich, den Berichten glaubwürdiger Zeugen zufolge, überaus traurig. Beim Futteraufpicken waren ihnen die Schwanzfedern sehr hinderlich und nur mit großer Mühe vermochten sie sich aufrecht und im Gleichgewicht zu erhalten; denn Hals und Schwanz funktionierten bei ihnen nicht als eine in der Mitte unterstützte Balancierstange wie bei rechtmäßigen Hühnern. War es heiß, so schwitzten ihnen die Kämme, da die Schwanzfedern jeden erfrischenden Luftzug abhielten. Wurde es kühl, so erkälteten sie sich die mangelhaft bekleideten Eierstöcke. Das Traurigste aber war für sie, daß sich ihre Füße und Flügel nie über die einzuschlagende Richtung zu einigen vermochten. Eilten die Füße nach vorn und die Flügel wollten nachhelfen, um die Bewegung zu beschleunigen, war das Verhängnis da. Die Füße rissen den armen Leib vorwärts, die Flügel aber ruderten rückwärts, d. h. nach der dem Kopf entgegengesetzten Seite. Bei einem solchen Hüst und Hott bleibt der Karren stecken im Kot. Man stelle sich die Seelenangst der armen Tiere vor! Verzweifelnd schlugen sie mit den Flügeln! Nun erhob sich der Körper wohl in die Luft, entfernte sich aber von dem Ziel, dem er zustrebte immer mehr und stieß, wenn es unglücklich ging, irgendwo heftig an. Dabei verbeulten sich die beklagenswerten Geschöpfe 154 ihre Rückwärtigkeiten derart, daß ihnen aller Mut verging und auch das Eierlegen, weil mit Schmerzen verbunden, lieber unterlassen wurde.
Damit konnte Madam Köhli unmöglich einverstanden sein. Sie griff zur Schere und stutzte den saumseligen Eierlegerinnen die heillosen Flügel. Doch auch dieser operative Eingriff verfehlte die erhoffte Wirkung. Die Hühner, von vornehmer Abstammung und ohnehin schon aufs tiefste niedergeschlagen und verwirrt, nahmen sich diese Unterbindung ihres Höhentriebes so schwer zu Herzen, daß sie in unheilbaren Trübsinn versanken und dahingingen zum Teil durch Selbstmord, zum Teil durch Unfall, indem sie ins offene Jaucheloch stürzten.
Von da an kam fast jede Woche ein neues Müsterchen von der Köhline auf die Trommel.
Eines Tages richtete und zerschnitt sie vor dem Hause Kartoffeln. Zwei Straßenjungen murmelten im Sande und näherten sich im Verlaufe des Spiels der Traufe des Barbierhäuschens. Auf einmal faßten sie die Köhline scharf ins Auge, sackten ihre Märmel ein und tuschelten eifrig miteinander.
«Drein!»
«Daneben!»
«Nein, drein!»
«Nein, daneben!»
«Was wollen wir wetten?»
«Drei Märmel!»
155 «Gilt!»
Die Früchtlein legten sich leiblings auf den warmen Sand, stützten das Kinn in die Handballen und beaugapfelten die Köhline mit einer Spannung und Ausdauer, als wären sie Forscher, die einen neuen Urstoff zu entdecken hofften.
Zu ihrem Leidwesen trat aber eine Störung ein. Der Briefträger kam; die in ihre Arbeit ganz versunkene Köhline fuhr hastig in die Tasche und gebrauchte, ehe sie die welsche Zeitung abnahm, das Nastuch.
Ärgerlich sprangen die beiden Beobachter auf und entfernten sich brummelnd. Sie hatten gewettet, ob der Nasentropf der Alten in die Schüssel oder daneben fallen werde.
Ein andermal wollte sie dem Dorflehrer etwas Interessantes zeigen und zog ihn am Rockzipfel in die Wohnstube. Dort langte sie auf den Kranz des Kleiderschrankes hinauf, wo der Ellstecken und die alten Zeitungen verstaubten und brachte zwei graubraune, dürre Holzstücke zum Vorschein.
«Was sein dies?»
Der Lehrer wog die Dinge in der Hand und drehte sie hin und her. Sie schienen lange im Wasser gelegen zu haben und vom Wellensand glattgescheuert zu sein. Er riet darum auf Axthälme von Steinbeilen aus der Pfahlbauzeit.
Als Köhli die Antwort übersetzt hatte, brach das 156 Ehepaar in ein schallendes Gelächter aus. Die rätselhaften Dinger erwiesen sich nämlich als hartgetrocknete Meerfische, die ihnen Verwandte der Frau aus irgend einem Küstenwinkel Frankreichs als Geschenk gesandt hatten — armer Meister Köhli — mit dem Reinlichkeitsbedürfnis der Frau schien es böse zu stehen!
Ja, armer Meister Köhli! Ganz unerhört war nämlich auch, wie ihn die herrschsüchtige Madam, die alles verkehrt angriff, unter den Pantoffel nahm. Da sie zu träge oder zu dumm war, Dürrenfelderdeutsch zu lernen, fehlte es ihr an Gesellschaft. So sollte denn ihr Mann beständig um sie herumtänzeln und ihr Kurzweil machen. Nicht ein einzig Mal ließ sie ihn zum Bier, nicht ein einzig Stündchen fröhlicher Geselligkeit gönnte sie ihm. Zum Schaffen, Geldverdienen und Schemelchentragen war der geplagte Kerl da. Den Kunden, die nicht zu ihm kamen, mußte er nachlaufen. Jede Woche einmal packte er sein Rasierzeug in eine alte Marmotte und machte die Runde bei Klienten, die altershalber oder der Entfernung wegen seiner Rasierstube nicht die Ehre antaten. Köhlis Fleiß war wirklich rührend. Kein Haarwald war ihm zu struppig, kein Bart zu drahtig, kein Zifferblatt zu hogerig und gugerig, jeden Rappen, der am Wege lag, hob er sorgsam auf. Sogar die Zellen des Amtsgefängnisses besuchte er, pour raser les bischbous (die Spitzbuben!) 157 wie sich Madam in ihrem Kauderwelsch und Schauderdeutsch auszudrücken beliebte. Kehrte er von solchen Gängen müde heim, dann stand die «Regierung» schon auf der Straße, um ihn in Empfang zu nehmen. Und warum wohl? Damit er ja nicht etwa im «Bären» oder in der «Sonne» einkehren und sich einen erfrischenden Schluck gönnen dürfe. Und er, die Lämmerseele? Sobald er sie erblickt hatte, lief er auf sie zu wie ein Hündlein, dem der Meister gepfiffen hat.
Auch wenn er rasierte oder Haar schnitt, behielt sie ihn mehr oder weniger im Auge. Samstagabends, wenn die Wände der Rasierstube mit Bauern und Dörflern garniert waren, trat sie immer einmal auf die Schwelle der Zwischentüre und hielt flink Umschau. «Sie zählt nach, wieviele Zwanziger er ihr nachher abliefern müsse», wisperten sich die Inspizierten ins Ohr und manöverten mit Augenbrauen und Mundwinkeln. Sie trieben es so bunt, daß Köhli dem Raunen und Grinsen auf den Grund kam und giftig wurde.
In Zukunft, wenn die Madam unter die Zwischentüre trat oder gar in die Rasierstube hinauskam, runzelte er die Stirne, rollte die Augen oder stampfte hässig mit dem Fuße und zischte: Va-t-en! Worauf sie sich gehorsam zurückzog und gleichmütig die Türe schloß.
Die Einnahmen, besonders am Samstagabend 158 und Sonntagvormittag, waren nicht unbeträchtlich. Wenn Köhli hinter dem letzten die Türe eingeklinkt hatte, klimperten ihm die Zwanziger ganz vermöglich in der Hosentasche. Der Zins für die Villa Köhli war mäßig; die Lebensbedürfnisse der beiden Leutchen verschlangen nicht viel; Kartoffeln, Obst und Gemüse gediehen prächtig in Dürrenfeld; Milch war reichlich und billig zu haben und auch ein Happen Fleisch erschwinglich. Was Wunder, wenn Köhli an Leibesfülle zunahm und sich seine prallen Bäcklein röteten. Dennoch lag am Verfalltag der Hauszins auf Heller und Pfennig bereit, und was die Gemeinde zur Anschaffung der Möbel vorgeschossen, war nach und nach abbezahlt worden bis auf den letzten Rappen. Ein gutes Haar mußten auch die Übelwollenden an der Köhline lassen: Sie war eine gute Geldverwalterin. Mit der Zeit bildete sich im Dörflein über ihren Geldstrumpf sogar eine Legende. Es hieß, allemal, wenn die Alte einen Hauszins bezahlt habe, wandere schon der nächste vorsorglich in den Strumpf. Andere Weiber freilich fanden, es sei leicht Geld in den Strumpf zu legen, wenn der Mann so fleißig verdiene und so beispiellos solid lebe. Wenn man allen Männern so scharf auf die Finger sehen könnte und dürfte, wären noch in manchen Häusern Ersparnisse zu machen.
Seit die Köhlischen aller Verbindlichkeiten ledig waren, gönnten sie sich mittags ein Glas Wein. 159 Jeden Tag pünktlich zwischen elf und zwölf holte die Köhline drüben in der «Sonne» einen Dreier Roten, nie mehr, nie weniger. Dabei trat sie niemals in die Gaststube, sondern wartete zum großen Ärger der Sonnenwirtin stets in der Küche. «Sie will halt in die Nase bekommen, was wir zu Mittag essen, die Schnaustrucke,» schmählte die Wirtin. «Könnte sie nicht einmal einen Liter oder Doppelliter zusammen kaufen; wir müssen sonst noch oft genug die Kellerstiege hinunterrösseln!» Das sagte sie aber erst, wenn die Köhline fort war.
Nun begab es sich aber einmal, daß die Köhline krank wurde. Ihr Eheherr, sehr besorgt um sie, lief sofort ins Nachbardorf zum Arzt. Eine Influenzaepidemie regierte in der Gegend; das Wartzimmer des bewährten Arztes war gesteckt voll von Besuchern; sie rieben einander schier Stücke Haut ab. Der allezeit wohlaufgelegte Doktor vermochte fast nicht alle abzufertigen und riet den Wartenden das System der Ablösung an: Ein Drittel möge da bleiben, die übrigen sollen sich lieber im Wirtshaus bei einem Schluck alten Kognaks die Zeit vertreiben, bis die Reihe an sie komme, denn als Arzt der alten Schule hielt er große Stücke vom alten Kognak. Unter denen, die diesen fachmännischen Rat willig befolgten, war auch Jakob Köhli; ja, es ist anzunehmen, daß er in löblichem Eifer noch einen Schritt weiter ging und der Schlucke und Schlücklein mehrere nahm. 160 Wenigstens glänzten seine Äuglein schon recht angeregt, als er nach zwei Stunden im Sprechzimmer des Arztes vorgelassen wurde, und der Krankenbericht, den er abgab, zeichnete sich mehr durch Länge als Klarheit aus. Als der Doktor mit Rüsten der Mittel fix und fertig war, hatte Köhli die Schilderung des Krankheitsbildes noch keineswegs abgeschlossen. Um so verblüffter war er, als ihn der Doktor kurzerhand umdrehte, zur Türe hinaus schob und einen andern eintreten ließ. Diese Art Behandlung regte ihn so auf, daß er unmöglich nach Hause gehen konnte, bevor er sich seinen Ärger über diesen Grobian von Doktor von der Seele geschimpft hatte. So trat er denn neuerdings in die Wirtsstube, und dort hörte man ihn geduldiger an als im Doktorhause. Dabei kam ihm aber der Gleichgewichts- und Richtungssinn einigermaßen abhanden; auf dem Heimweg maß er die Straße nicht nur der Länge, sondern auch der Breite nach, und als er in Dürrenfeld einbog, führte ihn sein Stern nach der unrechten Seite. Offenbar sah er die goldene Sonne seines Nachbars für sein messingenes Barbierbecken an und merkte seinen Irrtum erst, als er drinnen in der Gaststube am langen Tisch saß. Aber dort wehte ja auch Dürrenfelderluft und darum kam ein behagliches Gefühl des Geborgenseins über ihn; er begann zu singen und geriet unversehens in die fidelste Stimmung hinein. Die Sonnenwirtin traute ihren 161 Augen kaum und hatte Bedenken, ihm noch fernere Trinkgaben zu verabfolgen. Aber Köhli ging auf ihre Winke nicht ein. Allemal, wenn er ausgetrunken hatte, streckte er ihr das leere Geschirr entgegen und krähte: «Frisch voran! Frisch voran, drauf und dran, vorwärts geht des Kriegers Bahn!» Auf einmal jedoch, als er diesen Schlachtgesang wieder mit mutbrünstiger, jeden Kompromiß ausschließender Entschiedenheit herausschmetterte, ging die Türe und auf der Schwelle stand die Madam. «Köhli!» sonst sprach sie kein Wort; es war auch nicht nötig; ihr Blick und ihre Stimme übten zwingende Wirkung aus. Köhli schnellte von seinem Sitz auf wie ein Soldat, wenn der Hauptmann ins Zimmer tritt. Doch die ungestüme Bewegung wurde ihm zum Verhängnis; das Strammstehen wollte ihm nicht mehr gelingen, der Schwerpunkt seines Körpers hatte sich gegen den Kopf zu verschoben; der Oberleib wippte hintenüber und Köhlis ganze Größe kam zu Fall. Die Füße steckten unter dem Tischblatt; die Kniekehlen hingen schlaff am Langstuhl; der Oberkörper und das schwere Haupt ruhten auf dem Stubenboden. Die Arzneimittelflasche benutzte diese Gelegenheit, um sich aus ihrer Haft zu befreien; ihrer Bestimmung eingedenk, rollte sie aus der Busentasche der Köhline zu. Diese hob sie auf, rührte aber keinen Finger, um ihren Mann aus seiner lächerlichen Lage zu erlösen. Ein paar Atemzüge lang richtete sie ihre vernichtenden Blicke auf 162 den kläglich und kraftlos Zappelnden; dann machte sie kehrt.
Der Sonnenwirt zerrte den Beschwipsten endlich in die Höhe und setzte ihn wieder auf den Stuhl; aber Köhli schien unter den strengen Blicken seiner Frau alles Rückgrat eingebüßt zu haben. Er hing über den Tisch wie ein nasser Lappen an der Zeugstange und begann jämmerlich zu weinen.
Bald darauf erschien der Nachbar Maurer und erklärte, er habe Befehl, den unzurechnungsfähigen Scherenmann heimzuschaffen. Er packte den Sünder wie einen Kartoffelsack und schleppte ihn unter viel Mühsal, wo er hingehörte.
Die Wirtsleute gingen bei dem Handel auch nicht leer aus. Als die Köhline ihren Eheliebsten versorgt hatte, kam sie vor die Wirtschaft und stattete für die vermeintliche Verführung ihren temperamentvollen Dank ab. Sie schrie und tobte, stampfte mit ihren Holztschoggen, daß die Straßenkiesel nebenaus flogen, zerwarf die Arme, ballte die Fäuste und erbrach welsche Schimpfwörter eine ganze Flut. Ihre Augen loderten wie Feuerbrände, und die Zähne fletschte sie wie ein reißendes Tier. Einen solchen Vulkanausbruch welschen Zornes hatte in Dürrenfeld noch niemand erlebt. Zum Glücke war auch niemand da, der die Patoisliebenswürdigkeiten der Köhline restlos verstand. Ihre Schimpferei tat darum auch niemanden besonders weh, gegenteils machte ihr grotesker Zorn 163 einigen riesige Freude. Daß Jakob Köhli, der Geweste und Solide, der Musterehemann sondergleichen, einmal über die Stränge geschlagen hatte, mochte man ihr von Herzen gönnen. Warum hielt sie ihn immer wie in einer gedeckten Schachtel innen, wo er ihr Zigaretten drehen mußte und kaum ordentlich Luft schnappen durfte! Recht hatte er, vollkommen recht, einmal den Affen klettern zu lassen; ein weniger gutmütiger Kerl wäre ihr längst unter der Fuchtel weggelaufen. Wegen dem Rausch — pah! — einem Gepantoffelten steht ein solcher Rausch geradezu wohl an; denn ein solcher Rausch verrät, daß die Mannhaftigkeit noch nicht erstorben ist in dem Bedauernswerten. Darum herrscht unter dem Männervolk auf dieser Erde mehr Freude über einen solchen Sünder als über neunundneunzig Gerechte, die ihren Weibern untertan sind. Immerhin gab es in Dürrenfeld auch Leute, die den Jakob Köhli in Zukunft anders einschätzten, und auch den Unwitzigsten wurde klar: die Köhline betrachtete jeden als Todfeind, der ihr den Mann zu verführen versuchte.
Was nach diesem Sündenfall der unbotmäßige Ehemann für Buße zu tun hatte, entzog sich der allgemeinen Kenntnis. Es ist aber anzunehmen, daß die Köhline dem Sprichwort gemäß handelte: Mit einem Löffel voll Honig fängt man mehr Fliegen als mit einem Faß voll Essig. Wenigstens schlug ihre Kur erfolgreich an; Köhli wurde wieder häuslich 164 wie eine Weinbergschnecke und folgsam wie ein Lamm. Ja, die Köhline schien hintenher sogar ihr pöbelhaftes Wüten zu bereuen. Mehr als bisher suchte sie Anschluß an andere Familien, wurde aber in diesem Bestreben durch ihre mehr als dürftige Beherrschung der Dürrenfelder Mundart sehr behindert. In der Hauptsache blieb sie auf solche angewiesen, die Französisch gelernt hatten, und deren gab es in Dürrenfeld nicht allzuviele. Die Wenigen aber, die mit der Köhline in ihrer Muttersprache verkehren konnten, stellten ihr das Zeugnis aus, sie sei eine aufgeweckte Person, die viel erfahren habe und von diesen Erlebnissen verständig und fesselnd zu erzählen wisse. Nur bewirten mochte sich niemand von ihr lassen; die Geschichten von den gelben Fingerspitzen, von den Meerfischen und vom Nasentropf standen noch zu frisch in aller Gedächtnis. Darein mußte sich die Köhline seufzend ergeben. Ihre einzige Vertraute war und blieb die Frau des Maurers, der nebenan wohnte, eine einfache Frau, die einige Jahre in welschen Plätzen gedient hatte und bei jeder Gelegenheit eifrig für die Köhline eintrat.
Köhli hingegen fühlte sich längst im Vertrauen seiner Mitbürger sicher eingebettet. Nunmehr durfte er sein Licht freudig leuchten lassen, ihm nahm man nicht sobald etwas übel. Während er mit dem Pinsel Schaum schlug, arbeitete auch seine Einbildungskraft und erzeugte schillernde Seifenblasen. Alles verstand 165 er, überall war er dabei gewesen und an jeder Wegkehre von Schwarzenburg bis Honolulu hatte er Merkwürdiges erlebt. Am liebsten aber beschäftigte er sich mit der Politik und besaß, nach seiner Meinung, dafür ganz außergewöhnliche Begabung. Weil er sich aber für einen besonders starkgeistigen Kopf hielt, vermochten ihn die Vorkommnisse im eigenen Kriesviertel nur ausnahmsweise zu fesseln, über simple Gemeindeangelegenheiten zu diskutieren hielt er unter seiner Würde. Sein Tummelplatz waren die großen Welthändel, und dieses Steckenpferd ritt er jedem vor, der Lust und Muße hatte, einer Vorstellung beizuwohnen. Insbesondere schwärmte er für Frankreich und die Franzosen und haßte die Deutschen, was für einen, der sich rühmte, Rochefort, den Laternenmann, und Clemenceau, den Ministerstürzer, rasiert zu haben, nicht verwunderlich war. Die wurmstichigen Seitenwände seiner Rasierbude überklebte er nach und nach mit bunten Helgen aus Pariser Zeitungen, und an der Mittelwand paradierte schon längst ein Bild mit sämtlichen gekrönten Häuptern Europas. Das waren seine Dokumente, auf die er sich berief, wenn jemand wagte, seine Eignung und Zuständigkeit für höhere Weltpolitik anzuzweifeln. Wollten seine Widersacher sich auch auf ihre Zeitungen berufen, so belehrte er sie mit unendlich überlegenem Lächeln, daß auf solche Käseblättchen kein Verlaß sei und man sich hüten müsse, aus solchen 166 trüben Quellen zu schöpfen. Unter tausend Zeitungschreibern sei kaum einer ein feinerer politischer Kopf, und wer nicht jahrelang alle einschlägigen Verhältnisse aufmerksam verfolgt und studiert habe, sei nicht berufen, mitzureden. Unter den «Verhältnissen» verstand er in erster Linie die Abstammung, Verwandtschaft, Regierungs- und Kriegstüchtigkeit, sowie den Privatcharakter der Staatslenker, über die er diese und jene Anekdoten aufgeschnappt hatte und mit Glossen versehen zum besten gab. Dabei zählte er den Diplomaten ihre Fehler an den Fingern auf und teilte Parlamenten und Regierungen in freigebigster Weise Fleißnoten und Fähigkeitszeugnisse aus; denn gegen ihn, den Barbier von Dürrenfeld, waren sie nur Schulbuben. Am erbaulichsten aber wurde er immer, wenn er die unzähligen Kulturschäden der Gegenwart aufdeckte, die herrschende Unmoral brandmarkte und Vorlesungen hielt über Bürgertugend und Menschenwürde; denn einen solchen Brustton echtester Begeisterung für alles Schöne und Gute, eine solch schneidende Verachtung für alles Gemeine und Erbärmliche brachte nicht leicht einer auf. Wer nicht mit Büffelhaut überzogen war, mußte herausfühlen, einen ehrenfestern, charaktervollern und biedersinnigern Bürger als Jakob Köhli könne es nicht geben. Leider hatten aber die Dürrenfelder ein recht solides Fell und den wenigsten fiel es ein, ihren Rasierstubenpropheten ernst zu nehmen, trotzdem er eine 167 Einbildungskraft entwickelte, die einem Gespenstergeschichtenschreiber hätte auf die Beine helfen können. Die einen hielten ihn für einen unausstehlichen Seichmeier und schnitten ihm das Wort ab, wenn er ihnen wieder einmal seinen abenteuerlichen Quark aufbinden wollte. Andern machten seine Bombastereien Vergnügen, und sie kitzelten ihn durch beifällige Bemerkungen oder suchten ihn durch spöttische Einwände ins Bockshorn zu jagen, nur damit etwas lief und die Eintönigkeit unterbrochen wurde. Wieder andere waren geneigt, die Schuld der Madam in die Schuhe zu schieben. Anfangs sei Köhli doch so bescheiden und manierlich aufgetreten, nie habe er das Maul zu voll genommen. Nun könne man sehen, wie es herauskomme, wenn einer immer zu Hause hocke und keine Gelegenheit benutze, sich in Vereinen und am Wirtshaustisch weiterzubilden. Einmal möchte ein solcher armer Teufel doch auch mit dem Kopf durch die Decke hinauf, möchte eine Rolle spielen und was er mit der Tat nicht zu erreichen vermöge, suche er wenigstens mit dem Maul zu erlangen. Einer verstieg sich sogar zu dem Ausspruch: «Wenn ich Tag und Nacht mit einer solchen Nachteule im gleichen Käfig eingesperrt sein sollte, wer weiß, was ich anfinge! Vielleicht erginge es mir wie dem alten König Nebukadnezar, als ihn die unbezähmbare Lust anwandelte, auf allen Vieren zu kriechen und Gras zu fressen.»
168 Um diese Zeit — die Köhlischen waren jetzt schon mehrere Jahre in Dürrenfeld ansäßig — begann die Madam zu kränkeln. Der Arzt konstatierte ein Leberleiden und riet ihr, einen Spezialisten beizuziehen, da er die Verantwortung für die Behandlung nicht allein übernehmen könne. Die Köhline erschrak und weinte, begreiflich, sie hörte schon von weitem die Totenglocke läuten und niemand stirbt gern, wenn er es so behaglich hat, wie die Köhline. Seltsamerweise bangte sie sich weniger um ihr eigenes Schicksal, als um das Schicksal ihres Mannes. So berichtete wenigstens die Maurersfrau, die es immer mit ihr hielt. «Ach Gott, ach Gott, was soll aus meinem Manne werden, wenn ich sterben muß», habe die Köhline in einem fort ausgerufen. Aber der Maurersfrau verging die Lust am Erzählen jäh; denn ihre Erzählung wurde mit einem kalten Lächeln aufgenommen, das, in Worte umgesetzt, etwa bedeuten mochte: Drollig, nun meint die Alte gar noch, ihrem Manne geschehe Leides, wenn er endlich von ihr erlöst werde.
Köhli selber spielte in diesen Tagen, wie recht und billig, die Rolle des besorgten und aufopfernden Ehemannes; er spielte sie mit so viel natürlichem Geschick, daß man beinahe versucht war, seine Gefühle für echt zu halten. Nur hielt er sich leider nicht jederzeit in den ziemlichen Grenzen, sondern verfiel in geschmacklose Übertreibungen. Die Abschiedsszene 169 auf der Poststation z. B., als die Köhline in die Hauptstadt reiste, um sich von einem Professor untersuchen zu lassen, hätte er dem Dürrenfelder Publikum wohl ersparen können. Eine Scheuche wie die Köhline umarmt und küßt man nicht vor allen Leuten und weint nicht wegen ihr und sacktüchelt noch lange hintendrein! Aber weiter! Den ganzen Tag über benahm er sich so aufgeregt, daß es auffallen mußte. Seinen Kunden klagte er, wie hart es ihn halte, heute auf seinem Posten auszuharren, wie viel lieber er seine kranke Frau begleitet hätte, wie schwer ihm die Sorge um die Gute auflaste. Einige zuckten die Achseln und fanden, das sei nötlich getan, andere liehen seinen Klagen freundlicheres Gehör. Noch bevor die Vieruhrpost anlangte, begab er sich auf die Haltestelle; aber keine Madam stieg aus. Enttäuscht kehrte er zurück und als bald darauf die Rasierstube sich geleert hatte, trieb ihn die Unruhe hinüber in die «Sonne», wo er rasch ein Glas Wein hinunterstürzte. Um sieben Uhr kam die Frau wieder nicht, und nun war er nicht mehr zu halten. Von der Post begab er sich in den «Bären», vom «Bären» in die «Sonne», von der «Sonne» nach Hause und von dort auf die Bahnstation. Überall alarmierte er die Leute durch sein mit schwarzen Befürchtungen gespicktes Gerede. Man suchte ihn zu beruhigen, als aber auch der letzte Zug die Erwartete nicht brachte, ließ er sich nicht 170 mehr ausreden, daß ihr irgendein fürchterliches Unglück zugestoßen sei und verführte ein Lamento, daß ihn auch die Wohlgesinnten komisch fanden: «Ein Fuhrwerk her, es mag kosten was es will; ich muß wissen, was aus meiner Frau geworden ist!» Doch ein Fuhrwerk wollte ihm niemand anvertrauen, zumal sich bei ihm schon recht deutlich die Wirkung des in die Aufregung und in einen nüchternen Magen hinein genossenen Getränkes bemerkbar machte. «So gehe ich zu Fuß, mein Platz ist neben meiner Frau!» Nur mit Mühe konnte man ihn von diesem Vorhaben abhalten. Ein Dürrenfelder Bürger nahm ihn mit auf den Heimweg. Dieser Heimweg mündete aber nicht in die Barbierstube, sondern führte nochmals ins Wirtshaus. Köhli mußte doch sein Unglück den Wirtsleuten noch zu wissen tun, mußte ihnen zeigen, daß er recht gehabt habe mit seinen Befürchtungen. Dazwischen goß er den Wein nur so hinunter und rühmte seine Frau, daß die anwesenden Gäste vor Vergnügen grinsten. «Hundert Franken gebe ich, wenn mir sie einer noch heute Abend wiederbringt.» Schallendes Gelächter! Dann bot er zweihundert, dann fünfhundert, und dann fing er an zu heulen und das Gelächter steigerte sich zum wiehernden Gebrüll. Wenn man sich die garstige Alte vorstellte — es war doch einfach zum Wälzen! Zum Dank für das unbezahlbare Gaudium brachte man den sinnlos Berauschten in seine Klappe.
171 Als man am nächsten Vormittag nachschaute, war er verschwunden. Dafür rückte mit der Mittagspost die Madam wieder an. «Großer Gott, was wird er wieder angestellt haben», stöhnte sie, als sie ihren Mann nicht vorfand. Jetzt ging die Suche zum Ergötzen der Dürrenfelder aufs Neue los. Die Maurersfrau mußte sich auf die Beine machen; denn auch der Geldstrumpf fehlte; es konnte sich also nicht bloß um einen Geschäftsgang handeln. Nun kam aus, was sich am Vorabend zugetragen hatte, und das legte den Gedanken nahe, Köhli könnte seiner Frau nachgereist sein. Eine Anfrage auf der Bahnstation ergab, daß er ein Billet nach der Hauptstadt gelöst habe. Damit mußte sich die Madam vorläufig zufrieden geben. Ihre Unruhe wuchs, als der Vermißte auch am späten Abend noch nicht zurückgekehrt war und sie ließ die ganze Nacht das Licht brennen. Schadenfrohe rieten, man solle ihr angeben, ihr Mann habe sich mit einer andern aus dem Staube gemacht.
Am dritten Tage löste sich endlich die Verwicklung; Köhli kehrte im Laufe des Vormittags zurück. Er sah etwas bleich und angegriffen aus, stand aber noch leidlich fest auf den Beinen. Nun folgten die Erörterungen. Ihr hatte der Spezialarzt geraten, sich zu schonen und erst am andern Tage heimzureisen; ihn hatte die Angst um sie auf die Beine gelüpft und ihn in die Stadt getrieben. Jedes war 172 der Ansicht, das andere habe gefehlt; aber beide hatten auch Entschuldigungen vorzubringen und waren schließlich froh, einander wieder zu besitzen.
So waren die Dürrenfelder wieder um einen Stoff zum Lachen und zur Unterhaltung reicher geworden. Doch begannen sich die Stimmen diesmal zu widersprechen: die Köhline fand immer mehr entschiedene Verteidiger:
«Die ist noch lange hübsch und brav genug für ihn und hat ganz recht, wenn sie ihm das Klemmbiß eintut; just so eine hat er nötig, dieser Laferant.»
«Da sieht man wieder, was einer für Sprünge in den Klee tut, wenn man ihn immer bevogtet,» beharrten andere auf ihrer vorgefaßten Meinung.
«Sagt lieber: Wenn er eine Kleekuh ist!» fügten die erstern bei.
Weitaus die meisten aber ersparten sich die Mühe des Denkens und lachten nur mit, sobald es zu lachen gab. Immerhin, die Schaukel der öffentlichen Meinung war in Bewegung geraten, für Jakob Köhli ein starkes Sinken und für seine Frau ein energisches Steigen eingetreten. Vermutlich dämmerte ihm eine Ahnung dieser Tatsache auf; er benahm sich wieder bescheidener, vorsichtiger; vielleicht stimmte ihn auch der leidende Zustand seiner Frau herab. Auf alle Fälle hatte sie sich nicht über ihn zu beklagen; er kochte für sie, las ihr die Zeitung vor und ging ihr 173 an die Hand, wo er nur konnte. Sie hütete öfters das Bett und wenn sie auch aufstand, ging sie doch nicht mehr unter die Leute. Darum geriet sie allmählich in Vergeß; wenige kümmerten sich um sie; auch der Chor der Spötter war verstummt. Es schien, als dürfe ihr Lebensschifflein nun langsam und ruhig in unbeachteter Fahrt den letzten Hafen gewinnen; doch plötzlich schlug der Wind wieder um.
Eines Morgens pflanzte sich im Dörflein das Gerücht von Mund zu Mund, die Köhline liege im Sterben, sie habe sich in der Dunkelheit vergriffen und statt ihrer Arznei ein gifthaltendes Kropfmittel eingenommen, das ihr zu Waschungen verordnet war. Köhli sei Hals über Kopf zum Arzt gerannt. Diese Kunde erwies sich als wahr und rief ein wildes Durcheinander hervor; alles lief zum Barbierhäuschen und wollte raten und helfen. Zum Glück war ein Tierarzt in der Nähe, der mit kundiger Hand ein Gegenmittel rüstete. Als Köhli heimkam, schweißgebadet und halbtot, war seine Frau längst außer Gefahr.
Jetzt setzte auch die Kritik wieder ein. Da sehe man wieder einmal, wohin die Unordnung führe. Köhli, fand man, habe sich diesmal tadellos benommen, die Frau aber, ach Gott... Es sei ganz richtig, daß sie vom Tierarzt behandelt worden sei. Es gab Maulecken, in denen wieder das alte, verächtliche Lächeln saß.
174 Nun, es fügte sich, daß bald darauf Ereignisse eintraten, die noch mehr Erde aufwarfen, als die beinahe erfolgte Vergiftung der Köhline. Alle Welt regte sich auf über den Dreyfußhandel, spaltenlang meldeten die Zeitungen davon. Jetzt geriet auch Jakob Köhli wieder ins politische Fahrwasser; er warf seinen ingrimmigsten Haß auf den bedauernswerten, unschuldig verdächtigten Dreyfuß. Für ihn war die Schuld des «Verräters» von Anfang an sonnenklar erwiesen und nach seiner Meinung keine Strafe zu schrecklich für den «hündischen, siebenmal verfluchten Spitzbuben!» «An den Füßen aufhängen, die Gurgel durchschneiden und verplampen lassen, wie man in Südamerika mit den Pferdedieben verfährt,» schrie er.
Er hatte, als er so wütete, just den Dorfkrämer unter dem Bartmesser und tat, als er das Wort «Gurgel» hinausschmetterte, einen Riß und Schnitt in dessen eckiges Kinn; daß ihm nicht nur der Bart, sondern ein batzengroßes Stück Haut und Fleisch auf der Klinge sitzen blieb. «Tuts weh?» fragte er zwischenhinein gewohnheitsmäßig und starrte dabei sinnlos auf die blutige Errungenschaft.
«Ja, zum Teufel, jedenfalls nicht wohl», fluchte der Krämer.
Erst jetzt sah Köhli bewußt und nicht bloß mit den Augen, was er angerichtet hatte.
«Sakrament abeinander», schmählte er sich selber 175 aus und beschaffte eilfertig und besorglich Verbandwatte und Heftpflaster; aber schon war das Blut dem Blessierten über Kragen und Hemd gelaufen.
Darum fragten die Dürrenfelder, wenn sie einander in diesen Tagen auf der Straße trafen nicht mehr: «Rasieren gehen?» sondern, «Willst zur Ader lassen?»
Und wenn samstagabends die ganze Wandbank und der Sandsteinofen mit Wartenden besetzt waren, und Köhli just seinen Rappel hatte, drängte sich keiner mehr unbescheiden vor. Sondern es hieß in solchen kritischen Augenblicken: «Wenn du etwa pressiert bist, ich kann schon noch ein Weilchen drangeben.» Gewöhnlich wehrte der Angeredete mit boshaftem Lächeln ab: «Nein, nein, sitz du nur her, du bist an der Reihe!» Oder es machten, wenn ein Ängstlicher unter dem Messer saß, ein paar Spitzbübische den Versuch, Köhli durch Widerrede, Spott oder gewagte Behauptungen in Gusel zu bringen. Nicht immer gelang ihnen dies; manchmal, wenn Köhli anfing laut zu reden, spaltete sich die Zwischentüre auf und die Frau machte ihm heimlich Zeichen, sich zu mäßigen. Dann nahm er sich besser zusammen, hielt sein Messer in acht und ließ nicht den Seifenschaum unbenutzt eintrocknen.
Der Dreyfußhandel war noch nicht zu Ende, als in Köhlis Leben eine entscheidende Wendung eintrat. Die Frau legte sich hin und starb. Er geberdete sich ganz als untröstlicher Witwer. Er ließ es nicht 176 bewenden mit ein paar dekorativen Tränen, die einem Witwer immer so wohl anstehen; er weinte an ihrem Totenlager heftig, verzweifelt, als hätte er Unersetzliches verloren.
Es war an einem eisig kalten Wintertage, als man der Köhline die letzte und erste Ehre erwies. Der Witwer stand auf dem Grabhügel mit schlaffen, blaugefrorenen Wangen, schlotternd und fassungslos; ein Weinkrampf schüttelte ihn. Es war, als könne er sich nicht trennen von dem Grabe und als er endlich wegwankte, schluchzte er: «Ihr wißt nicht, was sie für mich getan hat. Sie war mein guter Engel, mein Schutzengel. Jetzt ist es aus mit mir!» Mehr als einer vernahm diese leisen Worte, erstaunt, ungläubig. War es möglich, daß Köhli auch auf dem Rand des Grabes noch heuchelte und Komödie spielte? Dieser Mensch war doch seltsam! Andere prophezeiten auf dem Nachhausewege bedeutsam: «Nun werdet ihr bald sehen, wozu die Köhline nutz war!»
Nein, so bald trat eine Änderung nicht ein. In der ersten Zeit nachher bewegte sich Jakob Köhlis Leben durchaus in geregelten Bahnen. Er schabte, schnitt Haare, bereitete sich seine Kost selber und hielt an seinen alten Lebensgewohnheiten fest. Erst nach Wochen trat ein Umschwung ein, anfangs fast unmerklich, dann aber auffallend rasch. Wann und wo sich das erste Steinchen vom alten Bau löste, wer 177 vermags zu sagen? Vielleicht dennzumal, als Köhli vom Dreideziliter- zum Litersystem überging. Alle Tage einen Dreier oder Zweier Roten zu holen, schickte sich doch für ihn nicht; als Mann durfte er nicht im Hausgang oder in der Küche stehen bleiben wie vordem seine Frau, er mußte in die Gaststube treten und etwas Trinkbares bestellen und das hieß mit doppeltem Faden nähen. So war es ganz natürlich, daß er eine größere Portion zusammenkaufte, sowohl ihm als auch den Wirtsleuten blieben dadurch Läufe und Gänge erspart. Aber große Flaschen verführen zu großen Schlucken; auf Köhlis Weinvorrat ruhte nicht der Segen wie auf der Witwe Ölkrüglein; in immer kürzern Zwischenräumen schwand der Rote dahin. Damit das weniger auffalle, ließ Köhli bald in einem, bald im andern Wirtshause nachfüllen, oder brauchte zwischenhinein konzentriertere Mittel. Die Wirkung blieb nicht aus. Köhlis Messer fingen an zu kratzen, manchmal fanden seine Klienten die Türe verschlossen oder wenn sie offen war, den Barbier in unliebenswürdiger Stimmung. In der Stube sah es je länger, je unordentlicher aus. Köhli geriet wieder in ein wütendes Politisieren, zwickte seine Opfer mit der Schere in die Ohren oder schnitt ihnen Treppenstufen ins Haar. Halblang konnte er gar nicht mehr scheren, sobald er im Redeifer war, ging die Schere zu tief. Dafür bekamen seine Opfer seinen übelriechenden 178 Atem zu spüren, oder er bespritzte sie mit Geifer. Seine Hände waren auch nicht immer tadellos rein, kurz es haperte plötzlich an allen Orten. Reklamierte einer, so bekam er Grobheiten als Antwort, von seiner Schmiegsamkeit und Fügsamkeit war Köhlin nichts geblieben, nur im Prahlen hatte er noch Fortschritte gemacht. Immer häufiger mußte ihn im Wirtshause aufsuchen, wer von ihm bedient sein wollte; ganze Abende hockte er dort und trank, daß ihn am andern Tag der Schlotter plagte oder zog mit einem heruntergekommenen Likörreisenden umher, der mit Zoten hausierte, und in seiner Brieftasche unanständige Postkarten mittrug zur Belustigung angetrunkener Abendgesellschaften. Bei dieser Gelegenheit bewies Jakob Köhli, der Moralhüter von ehemals, eine beängstigende Kenntnis der Zustände in den Matrosenkneipen von Marseille und Toulon und zeigte sich völlig vertraut mit den Geheimnissen der dunkelsten Gassen von Buenos-Ayres.
Über diese Aufführung ihres Hofbarbiers waren die Dürrenfelder natürlich nichts weniger als erbaut; sie schimpften wie die Rohrspatzen. Als er wieder einmal halbberauscht in der Wirtschaft saß, nahmen ihn einige Bürger in die Hechel, machten ihm den Marsch und prophezeiten ihm, die Gemeinde werde ihn bald wieder erhalten müssen, wenn er zufahre mit seinem Saufen, Politisieren und Herumludern. Aber oha, sie kamen an den Lätzen:
179 «Von solchen dummen Hageln, die ihr Lebtag nie ab ihrem Misthaufen heruntergekommen sind, lasse ich mir nicht die Kappe schroten. Was ich saufe, zahle ich selber, und was ich tue, geht euch einen Dreck an. Von der Politik versteht ihr soviel, wie eine Kuh von einer Muskatnuß. Überhaupt habe ich es längst satt, dummen Bauerbüffeln die ungewaschenen Schnorren zu putzen und die verlausten Schmiergrinde zu scheren.»
Den Lohn für diese Liebenswürdigkeiten erhielt er nun allerdings in Form einiger saftiger Ohrfeigen bar ausbezahlt, worauf er fluchend und scheltend nach Hause ging. Aber schon nach kurzer Zeit kehrte er wieder in die Wirtschaft zurück, diesmal bewaffnet mit einem alten Revolver und seinen sämtlichen Geldvorräten und schwur, jeden kalt zu machen, der ihn mit einem Finger berühre. Dabei schlug er mit seinem zwilchenen Geldbeutel auf den Tisch, um seinen Widersachern zu beweisen, daß er nicht auf ihre klebrigen Zwanziger angewiesen sei, spienzelte ihnen eine Tausender Banknote und klimperte mit Geld in allen Taschen. Es gelang ihm auch wirklich, seine Gegner derart zu verblüffen, daß sie ihm nicht mehr tätlich auf den Leib rückten, sondern sich damit begnügten, ihn zu hänseln und auszufötzeln. Zum Danke schlug er ihnen in der folgenden Nacht mit Steinen die Fensterscheiben ein und machte sich aus dem Staube.
Über Köhlis Verschwinden regte man sich in 180 Dürrenfeld nicht übermäßig auf. «Werft ihm die Kappe nach und dankt Gott, wenn er nicht wiederkommt!» hieß es allgemein.
Mehr zu reden gab sein Geldbesitz. Woher diese unerwartet großen Barmittel? Sollte es möglich sein, daß die Alte soviel auf die Seite gelegt hatte? War sie in der Lebensversicherung gewesen oder war ihr von den Verwandten in Frankreich noch vor ihrem Tode eine kleine Erbschaft zugefallen? Sicheres wußte niemand.
Durch Zufall wurde bald darauf bekannt, wohin sich Köhli gewendet hatte. Der Dürrenfelder Milchkäufer begab sich in die Hauptstadt auf die Käsebörse. Auf dem Bahnhofplatz fiel ihm ein wohlgekleideter Mann auf, der eine zweispännige Droschke heranwinkte. Herrgott, war das nicht...
«Mein Name ist Doktor Köhli, führen Sie mich ins Hotel Sauvage!»
«Jawohl, Herr Doktor!»
Ei ja doch, das war Jakob Köhli, wie er leibte und lebte, nur in neuen Kleidern und bereits zum Doktor avanciert. Es war nur verwunderlich, daß er sich mit dieser bescheidenen Standeserhöhung begnügt hatte, Baron Koehli von und zu Kohlburg oder Graf Koehli von Dürrenfeld hätte doch noch großartiger geklungen.
Von da an verlor sich für einige Zeit jegliche Spur von ihm. Man mutmaßte, er sei wieder nach 181 Südamerika ausgewandert. Andere bezweifelten das und sagten voraus: «Eines schönen Morgens bringen sie ihn wieder, schaut nur, und zwar auf dem Schub!»
Und er kam wieder, nicht auf der Bettelfuhr, nein, noch schlimmer, versoffen, eine verworfene Dirne am Arm führend. Das frechste Stadtluder hatte er sich ausgelesen, um diesen Dürrenfeldern Pfahlbürgern recht das Gruseln einzujagen, sich an ihrer sittlichen Entrüstung hohnlachend zu weiden. Am heiterhellen Tage zog er mit ihr durch das Dorf, trug den Hut herausfordernd neben am Kopfe, und blickte mit seinen roten Augen frech um sich; nur der Füße fühlte er sich nicht ganz sicher.
Plötzlich stutzte er.
«Dort drüben auf dem Kirchhof liegt meine Alte begraben.»
«Wir könnten ihr doch einen Besuch machen und ihr etwas aufs Grab pflanzen,» höhnte sie mit grellem Lachen.
Das neuartig Lästerliche ihres Vorschlags reizte ihn.
«Wär mal was, das noch nicht dagewesen ist, meine Seel, das wollen wir tun. Wenn ich nur das Numero noch finde.»
Sie gingen. Am Kirchbrunnen trank Köhli noch Wasser in langen Zügen. Vorwärts, den Moralphilistern zum Trotz, die in ihrem Schlafmützendasein 182 nicht wissen, was Leben ist! Der Weg führte neben dem Pfarrhausgarten vorbei, wo der Pfarrherr eben einen Zwergbaum aufband. Es war der stille, gütige Pfarrherr, der der Köhline, trotzdem sie eine Andersgläubige war, so freundliche Worte ins Grab nachgerufen hatte. Köhli fing an, strenger zu marschieren, duckte sich, sah auf die Seite und griff an seinen Hut, man wußte nicht, sollte es ein Gruß sein oder wollte er ihn nur tiefer rücken und seine Augen beschatten. Seine Begleiterin versetzte ihm einen Ellbogenstoß:
«Fürchtest du den Pfaffen? Eil doch nicht so; er wird dich nicht fressen.»
Und Köhli prahlte: «Aus dem mach ich mir nichts!» Aber nur halblaut sagte er das und mäßigte seine Schritte keineswegs.
Sie kamen auf den Kirchhof und fanden nach einigem Suchen das Grab.
«Etwa besonders gepflegt sieht es nicht aus,» sagte sie hämisch lächelnd. «Nichts als ein Täfelchen mit der Nummer und Unkraut.»
Köhli staunte wortlos vor sich hin.
«Ich will mir die Grabsteine ansehen, du kannst derweilen ungestört deine Andacht verrichten,» spottete sie.
Köhli blieb stehen und staunte weiter. Dann saß er auf die Gitterecke des Nachbargrabes und stützte den Kopf in die hohle Hand. Die Dirne entfernte sich, 183 schritt zwischen den Gräberreihen durch, pflückte hin und wieder ein Blümchen und steckte das Sträußchen kokett vor die Brust. Zwischenhinein las sie einige Grabschriften und rümpfte über die frommen Sprüche die Nase. Aber bald einmal wurde ihr dies zu langweilig; sie kehrte zurück.
«Mach jetzt fertig, du, so besonders unterhaltsam ist es hier nicht,» rief sie ihn schon von weitem an; er saß immer noch unbeweglich auf der Gitterecke. «Oder hast du etwa Langezeit bekommen nach ihr?»
Er antwortete nicht und als sie näher trat, bemerkte sie Tränen in seinen Augen. «Herrjeh, jetzt weint er noch, der alte Krauter,» lachte sie ausgelassen und klatschte Beifall.
Da sprang Köhli auf und seine Augen flackerten wild:
«Fahr zum Teufel, verfluchtes Mensch! Was hast du am Grabe dieser braven Frau zu lachen und zu spotten!»
Er ergriff eine Erdscholle und schmiß sie ihr an. «Lauf oder ich reiße ein Grabkreuz aus und schlage dich damit tot!»
«Bist du verrückt geworden, alter Lümmel,» schrie sie und floh ein paar Sprünge. «Lümmel, Lümmel, Lümmel!» Immer weiter fliehend, machte sie ihm lange Nasen, schnitt ihm Grimassen und bewarf ihn mit kotigen Schimpfnamen.
Ein dahersausender Einfassungsstein belehrte sie 184 indessen, daß ihr nützer sei, sich in Sicherheit zu bringen, und sie verschwand hinter der Kirche.
Köhli, nachdem er sich etwas beruhigt hatte, saß noch lange am Grabe seiner Frau und starrte verzweiflungsvoll vor sich hin. Dann stand er seufzend auf und suchte still und unauffällig seine alte Wohnung auf.
Der Taumel, in dem er die letzte Zeit über gelebt hatte, war vorüber. Der bessere Mensch regte sich wieder in ihm. Aber ach, dieser bessere Mensch hatte fast kein Geld mehr und das Zutrauen seiner Mitbürger völlig verloren. Mochte das Messingbecken an der Hausecke sich noch so flink drehen und wenden, es lockte in einer Woche keine drei Besucher mehr in die Rasierbude hinein. Kein Dürrenfelder mochte mehr seine Mundwinkel von Köhlis Fingerspitzen betasten lassen. Der liederliche Barbier war ein Verfehmter. Wo er ging und stand, trafen ihn Blicke, die nicht auszuhalten waren und ihn belehrten, daß seines Bleibens in Dürrenfeld nicht mehr sein konnte.
Zum Glück besaß er noch seinen Hausrat und sein Handwerkszeug. Davon verkaufte er in aller Stille, was entbehrlich und an den Mann zu bringen war und gewann so die Mittel für einen Umzug. Dann siedelte er in einen andern Landesteil über und zwar bei Nachtzeit. Bevor er ging, ließ er noch das Grab seiner Frau in Ordnung stellen.
Und nun vernahm man vorderhand nichts mehr 185 von ihm. Er scheint aber in der fremden Ortschaft nie mehr auf einen grünen Zweig gekommen zu sein. Der gute Wille zum Arbeiten und zu einer soliden Lebensführung kam zu spät; das Alter mit seinen vielerlei Beschwerden und Gebrechen stand vor der Tür. Ehe zwei Jahre vorbei waren, verbreitete sich die Kunde, hinter Jakob Köhli, dem ehemaligen Barbier von Dürrenfeld, haben sich die Pforten einer Armenanstalt geschlossen.
In Dürrenfeld hat man den tollen Köhli längst vergessen. Wenn man aber einmal zufällig auf ihn zu sprechen kommt, erinnert man sich allemal, und nicht ohne Anerkennung, auch seiner häßlichen Frau.
Und nicht nur ich, auch andere Dürrenfelder, erkennen jetzt lebhaft, daß sie diese späte Anerkennung reichlich verdient. Und wenn sie noch zehnmal häßlicher gewesen wäre, eine wackere, kernhafte Frau war sie doch nud eine grundgütige Natur, sonst wäre sie von all der kaltlächelnden Geringschätzung, die man ihr bot und die sie doch endlich spüren mußte, schlecht und boshaft geworden. Und ein starker Wille, eine große sittliche Kraft muß in ihr gewirkt haben. Was tausend durch leibliche und geistige Vorzüge ausgezeichnete Frauen nicht vermögen, einem schwachen Manne Halt und Stütze zu sein, ihn mütterlich durchs Leben zu geleiten und auf dem rechten Wege zu behalten, das hat sie, die Häßliche, Verlachte, fertig gebracht. Sie verdient in Tat und Wahrheit, 186 sein guter Engel, sein Schutzengel genannt zu werden.
«Sein Schutzengel?» höre ich einige spottlustige Dürrenfelder witzeln. «Besser hieße es denn doch: Sein Schmutzengel!»
Je nun, wer Hülle und Kern nicht auseinanderhalten kann, mag so reden, das Recht zu nörgeln steht jedem Schweizer frei. Ein richtiger Gegenwartsschweizer macht auch ausgiebigen Gebrauch davon und gießt an jedes Gericht seine Nörgelschweize, so daß man auf den Einfall kommt, Schweizer stamme ab von Schweize. Und wir Dürrenfelder sind durchaus richtige Schweizer, kein Haar schlimmer und kein Haar besser als alle andern.