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Der Handwerksgeselle Heinrich Bucher war allmählich seinem heimatlichen Gau nähergerückt und schlenderte eines Nachmittags wohlgemut dem Dorfe Aarstetten zu. Am Rücken hing ihm ein wohlgefüllter Reisesack, und die Rechte schwang munter den währschaften Knotenstock. Den weichen Filzhut hatte er sich um und um mit Löwenzahnblüten besteckt, und die grauen Augen blitzten frisch und lustig aus dem sonngebräunten Gesicht heraus. Es war köstlich zu wandern an diesem sonnenhellen, mildwarmen Frühlingstage, und Bucher hatte dies Wanderglück in vollen Zügen genossen. Nun mahnten ihn seine leise brennenden Fußsohlen, daß es Zeit sei zum Ausruhen. Der Wegrain lockte zum Absitzen, und Bucher warf sich ins grüne Gras, schob sich den Reisesack bequem unter den Nacken, dehnte und streckte sich und lachte vergnügt in sich hinein:
«Es ist doch verteufelt schade, daß mich jetzt keiner meiner Nebengesellen sehen kann! ‹Bucher das Arbeitstier› stromert jupheidi und vallera anderthalb Wochen ins Blaue hinein und kümmert sich um Arbeit und 8 Arbeitsgelegenheiten nicht mehr als um die Stiefelabsätze des Königs von Siam! ‹Bucher, der Mehrbessere, der unausstehliche Streber›, liegt der Länge nach an der Sonne, als ob er Zehntausende Renten zu verzehren hätte! Die Lafern würden sie offen vergessen, die Dummköpfe, die meinen, unsereiner habe weder Augen noch Ohren und sei inwendig mit Sohlleder gefüttert...»
Freilich, das mußte Bucher zugeben, so leichtherzig wie andere hatte er sich nicht entschlossen, auf die Walz zu gehen. Von frühester Jugend an hatte man ihm den Grundsatz eingeimpft: Arbeiten! Sparen! Nie einen Tag unausgenützt verstreichen lassen! Dieser Grundsatz war ihm in Fleisch und Blut übergegangen. Und nun hatte er es doch über sich gebracht, die vielen schönen Taglöhne fahren zu lassen und sich das Vergnügen zu gönnen. Und er bereute seinen Entschluß nicht. In strahlender Schöne war die Sonne mit ihm über Land gezogen und hatte ihren lieblichsten Glanz über die Hügel und Täler, Wasseradern und Seebecken, Wälder und Fluren, Dörfer und Weiler der Heimat ausgegossen. Im Lichtglauz dieser Wunder- und Wandertage hatte sich Buchers Brust geweitet, dem Kraftbewußtsein und der Selbstsicherheit Raum geboten, und mancher unter dem Schutthaufen der Alltagseindrücke halberstickte gute Keim war in ihm lebendig geworden. Nie zuvor hatte er sich mit der Heimat so eng verwachsen 9 gefühlt, nie zuvor hatte ihn ihre Schönheit so stark und innig beglückt. Ihm war, als sei er in den wenigen Tagen ein neuer Mensch geworden, ein froher und zuversichtlicher Mensch, den das Enge und Kleinliche nicht mehr in Ketten zu schlagen vermöge.
Während er sich noch den Vorspiegelungen seiner Einbildungskraft hingab und träumend und sinnend in sich hinein horchte, spazierte ihm ein Laufkäfer über seinen Jackenzipfel. Der drollige Bursche trug einen dick aufgequollenen Hinterleib selbstbewußt zur Schau und wackelte so feierlich gespreizt einher, als ginge es in eine Synode oder Ratsversammlung. Offenbar bildete er sich nicht wenig ein auf sein vornehm schwarzes Mäntelchen, obschon es ihm kaum den dritten Teil der umfangreichen Hinterfront zu verhüllen vermochte — ein Mißverhältnis, das aller Würde spottete und den feierlichen Dicktuer dem Fluche der Lächerlichkeit preisgab. Bucher fühlte sich sofort lebhaft erinnert an gewisse Erscheinungen, die er in den Straßen der Stadt beobachtet hatte. Daß auch die Käferwelt schon vom Gigerltum durchseucht sei, hätte er sich nicht träumen lassen. «Aber», sagte er zu sich selber, «das ist wohl auch nur heute so. Käme ich an einein gewöhnlichen Werktage hierher, so hätte das Röcklein dieses drolligen Kriechers seine gehörige Länge und an dem ganzen Kerl wäre nichts Auffälliges zu bemerken.»
10 Doch nun war es Zeit zum Weiterwandern. Bucher stand auf und klopfte sich den Staub von den Kleidern. Die Märchenstimmung aber, in die er sich hineingeträumt hatte, ließ sich nicht so leicht abschütteln. Sie wanderte mit ihm und mischte sich in sein Tun. Allemal, wenn er neben einer Telegraphenstange vorbei kam, versetzte er ihr einen Fausthieb, horchte auf das zornige Brummen des Holzes und ergötzte sich am lange nachhallenden Singen und Summen der Drähte, die sich wie Saiten einer Riesenharfe hoch durch die Lüfte spannten. Wie klang das zart und fein und verzitterte geheimnisvoll! Buchern wurde dabei zumute, als könne ihm jeden Augenblick etwas ungeahnt Großes, Bedeutungsvolles begegnen. Und mitten im Wandern sprang ihm das Sprüchlein ins Bewußtsein:
Rosenrotes Glück, fall mir auf den Kopf,
Flieg mir um den Hals, roll mir in den Topf!
Ungerufen hatte sich ihm das törichte Verslein beigesellt, umgaukelte ihn wie ein mutwilliger Falter und ließ sich nicht mehr wegscheuchen. Bei jeder Stange mußte er es wiederholen. Schließlich verleidete es ihm und ärgerlich lachend hofmeisterte er sich selbst:
«Dummer Schnack! Nun muß es nächstens zu Ende gehen mit dem Vaganten, Wolkengucken und Fliegenfangen! Kein roter Rappen schaut dabei heraus. Jemine, wie ist mein Beutelein zusammeugeschrumpft, 11 und die Schuhsohlen wachsen auch nicht nach über Nacht. Erarbeiten muß man sich das Glück. Keinem fällt es auf den Kopf, keinem fliegt es um den Hals, keinem rollt es von selber in den Topf. Sobald Arbeit gefunden ist, werden die Wanderschuhe abgestreift.» Er schickte der verflossenen und genossenen Wanderherrlichkeit und Wanderfreiheit einen leichten Seufzer nach und schritt energischer aus. Als aber neben dem Wege sich ein weidendes Geißlein einladend in Kampfstellung setzte, verweilte er sich wieder und mupfte lachend mit dem mutigen Tierchen. «Ich komme immer noch früh genug, um mich wieder wie ein Stangenpferd in den Dreschgöpel der Arbeit einspannen zu lassen.» Es wurde der glückverlangenden Seele nicht leicht, sich unter das Leitseil und die Peitsche des abwägenden und rechnenden Verstandes zurück zu begeben. Vor der Pforte harrte immer noch das Sprüchlein, bereit durch eine Spalte oder durchs Schlüsselloch hineinzuschlüpfen.
Inzwischen hatte Bucher das erste Häuschen der Ortschaft erreicht und schickte sich an, beim Brunnen mit einem Schluck frischen Wassers den Staub von der Zunge zu spülen... Rosenrotes Glück — fall mir... Da war auch das verhexte Sprüchlein wieder. Aber zugleich flog Buchern wirklich etwas an den Kopf. Er erschrak heftig, dann aber lachte er hell auf. Ein Federkissen hing von seinem Halse 12 herunter mit dem Zipfel ins Wasser. Rasch hob er es höher, damit es nicht durch und durch naß werde. Dann schaute er um sich. Am offenen Fenster duckte sich ein Knabenkopf rasch nieder. «Wart, du Schlingel», dachte Bucher, «dir will ichs reisen!» Und laut sagte er: «Das kommt mir ebenrecht für heute Abend; ich danke schön.»
Totenernst sagte er das und schickte sich an zum Gehen. Jetzt wurde es drinnen im Zimmer lebendig von hohen, erregten Bubenstimmen.
«Martha, Martha! Das Kissen, das Kissen!» «Was ist mit?» ertönte die Gegenfrage. «Rausgeflogen ists, und jetzt nimmts ein Vagant mit sich fort.»
Heinrich fühlte sich nicht großartig geschmeichelt durch diese Einschätzung, und es pressierte ihm nicht besonders.
Nun trat ein erwachsenes Mädchen aus der Türe, ein Mädchen licht und freundlich wie ein Frühlingstag. Bucher riß bewundernd die Augen auf; wo solche Blümlein blühten, hätte er auch Gärtner sein mögen.
Auch das Mädchen faßte ihn überrascht ins Auge. Nein, einem Vagabunden sah der junge, wohlgewachsene Bursche nicht ähnlich. Das Schuhwerk war in Ordnung, Kragen und Hemd sauber, die Kleider einfach im Stoff und Schnitt, aber sehr reinlich und ohne Flick. Vor allem aber paßte das frische, offene 13 Gesicht nicht für einen Vagabunden. Als das Mädchen ihn so forschend betrachtete, wirbelte es Heinrichen leicht im Kopfe, als hätte er in überhitztem Zustande ein Glas Wasser hinuntergestürzt. Da ihm das Mädchen so ausnehmend wohl gefiel, beeilte er sich zu erklären: «Das Kissen flog mir an den Kopf, als ich Wasser trank. Ich hatte so ein Geschenk gar nicht erwartet. Nun gedenke ich es natürlich zu behalten und mitzunehmen.» Er strich mit der Hand wie liebkosend über das weiche Kissen und zwinkerte schalkhaft mit den Augen nach dem offenen Fenster hinauf, wo aus kurzgeschorenen Bubenköpfen zwei Augenpaare ängstlich herunterglotzten.
Das Mädchen merkte sofort, wie der Stein lief und sagte achselzuckend und mit einem leisen Lächeln: «Ja, wenn es Euch die bösen Buben angeworfen haben...»
«Nein, nein! Ruedi wollte es mir anschmeißen; ich bückte mich aber, und da flog es hinaus. Er braucht es nicht zu stehlen!»
«Was man geschenkt erhält, ist nicht gestohlen. Ich kann nichts dafür, daß es an mir hängen geblieben ist.»
Er tat wieder, als wolle er gehen.
«Nimm ihms! Nimm ihms!» schrien die Buben.
«Ich muß wohl», lächelte Martha, «obwohl es den Rangen schon recht geschähe, wenn sie heute Nacht ohne Kissen schlafen müßten. Übrigens könntet 14 Ihr noch etwas auflesen. Die zwei haben einen leichten Scharlachanfall durchgemacht und sollten noch im Bette liegen; aber wenn man ihnen den Rücken kehrt, treiben sie Dummheiten.»
«So — so — so!» machte Heinrich und nickte bei jedem «so» vorwurfsvoll mit dem Kopfe. «Sind das solche Buben. Je nun, das Kissen will ich jetzt zurückgeben, aber wenn ich zum Herrn Doktor komme, — das muß er wissen, was die Hemdenfranzen treiben. Wartet nur!»
Er streckte Martha das Kissen hin, und sie legte es über den Arm.
«Danke schön! Nichts für ungut!»
Heinrich schüttelte den Kopf. Zehn Kissen hätte er sich mit Wonne anschmeißen lassen, wenn er dafür allemal ein Weilchen mit dem Mädchen hätte plaudern dürfen. Ihre Stimme und ihr ganzes Wesen hatten es ihm angetan. Nun mußte er aber schicklichkeitshalber Lebewohl sagen. Schon hatte er sich zum Gehen gewendet, als ihm einfiel, er könnte doch nach Arbeit fragen. Hier in diesem Häuschen fand er sie zwar nicht, denn über der Türe war eine Tafel angebracht mit der Aufschrift: Daniel Zurbrügg, Flachmaler. Aber vielleicht war im Dorfe etwas los. «Fräulein, warten Sie noch, gibt es hier im Dorfe auch eine Sattlerwerkstatt? Ich suche Arbeit.» Martha, die schon den Fuß über die Schwelle gesetzt hatte, kehrte sich um und nickte. «Gewiß, gleich 15 nebenan! Aber ob sie Arbeiter einstellen, kann ich natürlich nicht wissen.»
«Das wäre fein, wenn ich hier Arbeit fände», sagte er leise und bedeutsam und schaute dem Mädchen dabei ins Gesicht. Irrte er sich oder stieg ihr wirklich bei seinen Worten eine leichte Röte auf die Wangen? «Adieu, Fräulein, und vielmal Dank.» Er zog den Hut tief, wie vor einer vornehmen Dame und ging.
Der Vorsatz aber stand in ihm so fest wie das Eisen im Dangelstock: Ist hier im Dorfe Büez zu finden, dann springe ich ein und wenn der Meister Hörner hätte...
Rosenrotes Glück... Ach das Kissen war ja blaukarriert gewesen... Ja, wenn ihm die rosenwangige Martha selber an den Hals geflogen wäre, das hätte er als vollwertiges Glück gelten lassen...
Hopla, schon wieder mußte er die Augen aufsperren: Ein stattliches Gebäude und unter der dritten Fensterreihe ein mächtiges Firmenschild: Möbelhandlung von Heinrich Meier, Sattler und Tapezierer.
«Heiner», dachte Bucher, «ob dus glauben willst oder nicht, heut regnets Glück auf deinen Buckel. Gottlob ein größeres Geschäft, in dem man sicherlich einen fixen Arbeiter wird brauchen können, also los!» 16 Drei Treppenstufen hinauf, einige Schritte über den bekiesten Vorplatz und der Glockenzug lag in seiner Hand. Ein kräftiges Anziehen und kurzes Warten, hierauf innen Tritte. Der Herauskommende war wohl der Meister selbst. Hutlüpfen und Gruß: «Ein wandernder Handwerksbursche bittet um Arbeit.»
«Was für Landsmann und wo geschafft?»
Bucher überreichte sein Wanderbuch und seine Zeugnisse.
«Hier die nötigen Ausweise.»
Der Meister, eine vierschrötige, beleibte Gestalt, blätterte, faltete auseinander und las. Sein Blick und seine Haltung wurden zusehends freundlicher. Mehrmals nickte er beifällig und kam zum Schluß:
«Daraufhin dürfte man es wohl wagen, Euch einzustellen. Solche Zeugnisse kriegt man nicht alle Tage in die Finger.»
«Wir könnten eine kurze Probezeit vereinbaren, wenn’s gefällig ist.»
«Gut, gut, einverstanden... mir auch am liebsten. Arbeit haben wir hier immer.» Mit wenig Worten hatte man sich über den vorläufigen Lohn geeinigt.
Der Meister hieß ihn eintreten, machte ihn mit seinen Mitgesellen bekannt und wies ihm eine Kammer an. Als Heinrich dort seinen Ranzen auspackte, erblickte er durchs Fenster das Häuschen, aus dem ihm das Kissen angeflogen war. Und wieder rollte ihm das Glücksverslein durch den Kopf.
17 Den Rest des Tages benutzte er, um seinen Eltern zu schreiben, und noch am selben Abend stellte er mit einem Zuck des Vergnügens fest, daß das Schlafzimmer der hübschen Martha dem seinigen gegenüber lag. Freilich, ein Stücklein Hofstatt und ein Garten machten sich breit dazwischen.
Dennoch schimmerten die vollen weißen Mädchenarme verlockend herüber, als Martha die grünen Fensterläden schloß...
... Rosenrotes Glück...
Sie befanden sich auf der Landstraße, die von Aarstetten ostwärts durchs Flachland führt. Neben Buchern schritt Heinrich Meiers Altgeselle einher, ein Mensch, lang und hager wie eine Zaunlatte, mit einein glattrasierten Gesicht, das Kritze und Furchen aufwies wie die Schiefertafel eines ABC-Schützen. Dieser aufgestengelte Mensch hieß Jakob Reist und war wohl fast doppelt so alt als Bucher. Trotzdem zog er mit seinen Marschierhölzern so energisch aus, daß der Jüngere Mühe hatte, nachzukommen.
«Pressier doch nicht so; es ist ja heute Sonntag,» bat Bucher, den Schweiß von der Stirne wischend, «und der Weg bis zu meinen Eltern beträgt keine drei Stunden. Wir kommen also noch rechtzeitig an Ort, wenn wir’s auch ein bißchen gemütlicher nehmen.»
18 «Wie du willst», brummte Reist, der werktags für einen Batzen nicht manches Wort sprach, «aber gegen Mittag wird’s heute unerträglich heiß.»
«Das wohl», entgegnete Bucher, «die Alte dort droben steht schon jetzt in Weißglut. Aber wenn wir Stubenhocker einmal ins Freie kommen, sollten wir doch die Augen brauchen. Und mir scheint, im Vorsommer, wo die Felder noch nicht geräumt sind, sei besonders viel Erfreuliches zu sehen draußen in der Natur. Ein kleines Schwitzbad wird uns ja nur gesund sein. Die Bauern müssen jetzt auch schwitzen, wenn sie ihr Heu unter Dach bringen wollen. Guck, da hat sie das gestrige Gewitter auch von der Arbeit gesprengt.»
Links und rechts der Straße sonnten sich langgestreckte Wiesen, auf denen der Heuschnitt begonnen hatte. Ein Teil des reichen Futterertrages war schon eingeheimst; auf andern lag das Heu noch zu Brett oder in unordentlich aufgehäuften Walmen und Schochen; über ganze Flächen war noch kein Rechen gegangen.
«Das mag gestern nicht übel gezappelt haben hier», meinte der Altgeselle, «’s ist fruchtbar Wetter heuer, fruchtbar, aber gefährlich, gefährlich. Ich habe zu meiner Wohnung auch einen Fleck Land empfangen, etwas mehr als eine halbe Juchart, und 19 pflanze da ein wenig Gemüse. Und so schön wie heuer haben die Bohnen noch nie gewickelt; sie klettern über die Stangen hinauf, es ist eine Freude, und der Kohl überspreitet schon die Setzlöcher. Aber ich hab’s zu meiner Frau gesagt, schon mehrmals: Paß auf, es kommt ein Hagelwetter und schlägt uns alles in Grund und Boden!»
«Wir wollen’s nicht hoffen», begütigte Bucher lächelnd.
«Ich bin’s halt nicht gewohnt, daß mir etwas gut kommt. Andern, die auf einem Haufen Geld erronnen sind, kalbt noch der Holzschlägel auf dem Estrich und wirft Zwillinge. Mir hingegen, wenn ich Kraut säe, wachsen nur Nesseln.» Der Altgeselle verzog den Mund, als räze ihn der scharfe Saft eines Ackerrüben-Butzens auf der Zunge. «Letztes Jahr meinte ich es gut eingerichtet zu haben im Stalle. Ich hatte zwei Geißen gekauft, rassige, melkige Ware. Und schwer Geld dafür bezahlt, um zu kräftiger, ungepantschter Milch zu kommen; meine Frau hätt’s so nötig, und Geißmilch soll ja so gesund und nahrhaft sein. Aber wie ging’s mir damit? Die Weiße bekam ein Geschwür und ich mußte sie abtun lassen, und die Rehfarbige krepierte an der Lungenseuche. Luder sind sie halt, die Geißen. Wenn eine merkt, daß man Geld in der Hosentasche hat für eine andere, legt sie sich hin und stirbt aus lauter Bosheit. Und in den Sonntagskleidern zu ihnen in den 20 Stall soll man schon gar nicht, sonst meinen sie, es gehe einem zu gut. Und wenn sie einmal diese Meinung haben, verdrehen sie flugs die Augen und gibeln.»
«Es wird nicht so schlimm sein! Übrigens, könntest du nicht auch versichern, gegen Hagel zum Beispiel?»
«Ach, meine Sache ist dafür zu kleinartig. Am Ende meinten die Leute noch, ich wolle großtun damit. Und mit den Schreibern habe ich nie gern zu schaffen gehabt, die strählbenzen einen allemal, wenn man sich mit ihnen einläßt, soviel sie können. Zudem ist es für heuer verspult. Ja, wenn ich solche Äcker und Wiesen hätte...!»
Man war auf dem Rücken einer sanften Bodenwelle angekommen, wo man die ganze Umgebung bequem ins Auge fassen konnte. Es war wohl wert stillzustehen und dem sommerlichen Erdsegen einen Blick zu gönnen. Siegesstolz reckte die Armee der Kornhalme ihre Ähren in die Höhe und ließ die grünen Fahnen flattern. Wie Silber schimmerte die unbewegte Fläche des Roggenmeeres. Hatten auch Platzregen und Wirbelstürme den Klee auf einzelnen noch nicht abgeernteten Feldern in die Knie geworfen, die Sonne hatte ihm Kraft verliehen, sich wieder emporzuraffen und der drohenden Fäulnis zu entfliehen. 21 Die frischgewalmten Kartoffeläcker schmückten sich mit den ersten violetten und weißen Blüten; die Runkelrüben standen lückenlos und strotzend vor Saftfülle in ihren Zeilen. Am Hafer war keine Spur mehr zu merken von der überstandenen Maikrankheit. So weit die Blicke schweiften, verhieß die gütige Mutter Erde der fleißigen Menschenhand reichen Lohn für ihre treue, sorgfältige Arbeit.
Bucher konnte sich nicht enthalten, niederzuknien und seine Hand in die lockere Erde eines Kartoffelackers zu bohren.
«Ganz feuchtwarm, da muß es den Würzelchen wohl sein zum Jauchzen!»
«Ja, aber wenn dieses dunstige Wetter mit seinen heißen Sonnenblicken und ungestümen Ausleereten nicht bald aufhört, so ist der Kartoffelbresten eins zwei da; die Stauden fangen an zu traschten, und im Herbst fordern die Bauern wieder Preise, daß man beim Anhören schier rücklings umfällt.»
Unter solchen Gesprächen näherten sich die zwei Ausflügler einem stattlichen Dorfe, das zumeist aus behäbigen Bauernhäusern bestand. Vom Turme herab mahnte ein Glockenzeichen die Bewohnerschaft, sich zum Kirchgange zu rüsten; aber viele kümmerten sich um diese Einladung nicht. Unter den Dachvorsprüngen und in den Schöpfen standen noch unabgeladene 22 Heufuder; an andern Orten ließ man leere Wagen über die Einfahrten hinunter. Wenn der Bauer in der Woche sein Heu nur so erstehlen muß, hat der Pfarrer schweren Stand, ihm den Segen der Sonntagsruhe und Sonntagsheiligung weiszumachen, und alle Jahre wieder erzählt man sich auf dem Lande zur Entschuldigung das Geschichtlein, wie ein Bauer mit zwei Schübeli Heu zum Pfarrer gegangen sei und ihn gefragt habe: Herr Pfarrer, wenn du eine Kuh wärest, von welchem fräßest du lieber, vom beregneten oder vom unberegneten? Da muß der Herrgott schon selber ein Einsehen tun und den Hartköpfigen und Ängstlichen an den Wochentagen recht fleißig die beste Heuerin zuhilfe schicken, die liebe, strahlende Sonne. Dann denkt am Sonntag kein rechter Bauer ans Heuen.
Als man das Dorf hinter sich hatte, geriet der Altgeselle wieder ins Schwatzen.
«Recht geschieht ihnen, diesen Raxerbauern, daß sie auch einmal ihren Sonntag hergeben müssen. Unsereins muß auch schinden und rackern, wenn andere Leute längst Feierabend halten können. Allemal, wenn ich müde nach Hause komme, geht die Plackerei dort von neuem los. Und was mich an den Bauern am meisten ärgert: Niemanden gönnen sie etwas und immer haben sie zu klagen, sie verdienen nichts. Wenn aber einmal einer seinen Hof verkauft, macht er fast immer ein Vermögen zwischenhinaus. Der 23 Profit kommt dann auf einmal und fast von selber. Wenn uns die Nähte wachsen täten wie den Bauern die Tannen im Walde, ohne daß jemand einen Finger zu krümmen braucht, es wäre auch eher zum Aushalten.»
«Das würde auch unserem Nebengesellen Schnauzer nicht übel passen, besonders am Montag.»
Sie lachten und der Altgeselle sagte: «Der Schnauzer ist gar nicht der dümmste. Der hat wenigstens etwas von der Welt; ist keine Butter vorhanden, so schmiert er sich Schweineschmalz aufs Brot.»
Nach einer weitern viertelstündigen Wanderung führte ein Seitenweg die Beiden dem kühlen Schatten eines altbestandenen Laub- und Tannenwaldes zu. Ein vielstimmiger Vögelchor begrüßte sie beim Eintritt. Buchfinken jubelten ihre Daseinsfreude in die grünen Hallen hinaus. Goldammern priesen in rührend sanften Grillentönen das liebe Sonnenlicht. Eine Zaungrasmücke müllerte, von Zweig zu Zweig tänzelnd, ihr Liedchen herunter, daß die hellen Jubellaute wie Quecksilbertropfen über die Blätter herabrieselten. Hoch oben im Blauen segelten und zwitscherten die Schwalben. Bienen schwirrten vorüber, um an den Knötchen der Rottannenzweige süßen Ausbruch zu naschen. Eine zahlreiche Meisenfamilie suchte Busch und Baum ab nach Raupen, und die Jungen bettelten, in ungeduldigem Zwängern den Kopf hin und her werfend, immer wieder um einen 24 Leckerbissen, bis ein rauher, ärgerlicher Zuruf der Alten sie verstummen machte. Vergeblich duckte sich die geflammte Katze in den Wurzelgraben am Waldrande; sie war entdeckt, und Bucher verleidete ihr mit Steinwürfen das Räuberhandwerk.
Hier war gut rasten. Der Altgeselle stopfte sich eine Pfeife, und nachdem sie sich ausgeruht hatten, verfolgten sie in Ruhe und Bedachtsamkeit ihren Weg weiter, wechselten freundliche Grüße mit den sonntäglich staffierten Predigtleuten, ärgerten sich über die staubaufwirbelnden Motorräder, freuten sich der fruchtversprechenden Obstbäume, gönnten den Rosen in den Dorfgärten und dem Blumenschmuck vor den Fenstern einen Blick und verhandelten und besprachen dabei, was ihnen grad einfiel. Noch lange vor Mittag erreichten sie Buchers Heimatdorf.
«Mußt nicht etwa meinen, du kommest in ein vornehmes Haus», bereitete Bucher seinen Begleiter vor. «Meine Eltern sind Leute, die mit nichts angefangen haben. Nur ihrem Böshaben und Sparen ist es zu verdanken, daß sie heute ein kleines Gütchen samt Haus ihr eigen nennen. Sieh, dort guckt es schon aus den Bäumen heraus!»
Nach kurzer Zeit hatten sie es erreicht, und noch ehe sie unter das niedere Schindeldach traten, erschien Heinrichs Mutter unter der Türe. Durchs vergitterte Küchenfenster hatte sie die Ankömmlinge erspäht und trippelte ihnen in freudiger Erregung entgegen, wobei 25 sie leicht hinkte und sich mit der Hand an der Wand stützte. Dann trocknete sie die vom Salatwaschen nasse Rechte an der saubern Küchenschürze und bot sie ihnen mit gewinnender Freundlichkeit zum Willkomm. Ihr ganzes Wesen atmete warme Mütterlichkeit, und das Gefallen an ihrem wohlgeratenen Sohne leuchtete ihr hell aus den gütigen Augen. Sie wollte die Besucher in die Stube nötigen; diese zogen es aber vor, draußen auf der einfachen Hausbank zu sitzen. Nun ja, so sollten sie nur Platz nehmen, sagte die Mutter, vielleicht ruhe es sich da angenehmer aus als drinnen, wo man vor den vielen Fliegen nirgends sicher sei. Der Vater werde bald kommen, er sei noch am Barten. Er habe sich wieder einmal zu lange mit der Zeitung versäumt. Bald war die Bucherin in ein eifriges Gespräch mit dem Altgesellen verwickelt, und Heinrich fand Gelegenheit, in die Stube zu treten und seinen Vater zu begrüßen. Der alte Bucher säbelte immer noch an seinen weißen Stoppeln herum und ließ sich wenig stören.
«So bist du da?» sagte er und ließ einen freundlichen Blick über seinen Sohn gleiten, ohne ihm die Hand zu bieten. Dann kratzte er weiter, schnitt Gesichter und stöhnte leise dazu. Er hatte sich schon zweimal gehauen mit dem stumpfen Messer.
«Du solltest wieder einmal deinen Gertel schleifen lassen», riet der Sohn lächelnd.
«Ja, ich habe doch erst vor zwei Jahren frisch 26 schleifen lassen... aber Hoffahrt wär’s keine... Wen hast du da bei dir?»
«Es ist unser Altgeselle. Weißt, er hat mich halbwegs im Verdacht, ich wolle ihn aus seiner Stellung herauskäsen, und von diesem Mißtrauen möchte ich ihn kurieren. Zudem dauert er mich. Es ist ihm, wie es scheint, im Leben schlecht gegangen. Er hat Familie und soll früher ein eigenes Geschäft besessen haben. Es wurmt ihn, daß er immer noch Geselle sein muß, und zu Hause versauert er ganz. Manchmal kommt er in einer Stimmung zur Arbeit, daß es nicht kurzweilig ist, neben ihm zu schaffen. Aber nicht etwa, daß ich ihn zu fürchten hätte oder daß er mir schaden könnte.»
Nach dieser Erklärung ging Heinrich wieder hinaus, und als der Vater fertig war mit Rasieren, kam er auch nach. Man träppelte, derweilen die Mutter das Mittagessen rüstete, ein wenig in der Hofstatt herum und bis zur Pflanzung hinaus. Es nahm Heinrich wunder, wie weit man mit der Heuernte vorgerückt sei. Auch dem heimeligen Gärtlein der Mutter stattete er einen Besuch ab. Viel liebe Kindheitserinnerungen hasteten an diesem Plätzchen, und er wußte, daß er der Mutter eine innige Freude bereitete, wenn er ihre Blumen schön fand. Nachher zeigte ihm der Vater die frischgekaufte Kuh, schilderte ihm ihre Tugenden und Untugenden und berichtete, wie der Handel erst nach zähem Markten zustande gekommen 27 sei. Dann kamen Heinrichs jüngere Geschwister, ein schlank aufgeschossener Unterweisungsknabe und ein flachszöpfiges Kurzröcklein von einem Botengange heim und gesellten sich, schüchtern forschende Blicke auf den mitgebrachten Unbekannten werfend, zu den Erwachsenen. Als ihnen aber der große Bruder seinen Kram austeilte, tauten sie rasch auf und wurden zutraulich. Die Kleine erhielt einen buntbemalten Gummiball, der Bub eine Peitsche, und für die Mutter hatte Heinrich in seinen Freistunden ein schönes, ledernes Geldtäschchen angefertigt, von dem sie behauptete, es sei viel zu kostbar für sie.
Unterdessen war es Mittag geworden, und man setzte sich zu Tische. Die Kinder und der Vater beteten, und dann ging es hinter die safrangelbe Fleischsuppe. Man aß sie nach altem Bauernbrauch aus einer gemeinsamen Schüssel, was dem Altgesellen nicht wenig kurios vorkam, obschon er das nicht merken ließ. Der alte Bucher bediente sich dabei eines runden Löffels, an dem das Zinn längst alles weggeleckt war. Indessen verlief alles sehr gehalten und gesittet, keines fischte auffällig nach Brocken und keines der Kinder ließ ein Wort laut werden. Der Altgeselle bekam aber noch mehr Gelegenheit, sich zu verwundern. Als das Fleisch aufgetragen wurde, grünes und dürres, gab es wohl flache Holzteller zum Schneiden; aber die Mutter erklärte etwas verlegen, daß man mit richtigen Tischmessern nicht versehen sei, die Gäste 28 müßten sich mit den spitzen Schnitzerli zu behelfen suchen. Das taten sie denn auch; aber Heinrich nahm sich vor, dem Mangel bei erster Gelegenheit abzuhelfen. Die Hauptsache: Das Mahl war reinlich, reichlich und schmackhaft. Heinrich selbst war überrascht. Grünes Fleisch auf dem Tische... Das konnte nur die Mutter dem Vater abgerungen haben. Und nun rückte sogar die Weinflasche auf; der alte, mit Blumen und Äzschrift geschmückte Kindbettigutter wurde wieder einmal zu Ehren gezogen! Die Mutter strahlte, als sie ihn samt dem Zuckerwasserkännchen auf den Tisch stellte.
«Wir nehmen an, wir feiern heute unsere Heueten», sagte sie, wie entschuldigend, und der alte Bucher nickte ernsthaft dazu. Das sollte heißen: Für uns Alte wäre das eine törichte Verschwendung; aber für dich reut es uns nicht. Heinrich verstand es auch wohl und erwiderte: «Wegen uns hättet ihr euch nicht soviel Kosten machen sollen.»
Der Liebesbeweis der Eltern rührte ihn, bedrückte ihn aber zugleich. Ach, wenn sie sich selber doch auch etwas gönnen dürften, diese überängstlichen Seelen, dachte er. Es war ja nicht Geiz, was sie regierte, kein gemeiner Geiz, auch beim Vater nicht; der alte Bucher sah in seinem weißen Haar aus wie die verkörperte Ehrenhaftigkeit. Gewiß hatte er eine unbegrenzte Hochachtung vor Geld und Geldeswert; aber eben so sehr verabscheute er es, jemanden zu 29 übervorteilen. Wie lächerlich wenig wagte er für die Tücher zu fordern, die er den Bauern im Winter und zwischen der Stall- und Feldarbeit wob! Wie ängstlich vermied er es auch, jemanden zu erzürnen oder zu widersprechen! Nie kam ein gewagtes Urteil, nie ein überstürztes Wort über seine Lippen. Stets war er bestrebt, sich so zu verhalten, daß niemand an ihm etwas auszusetzen finde. Nein, es war nicht Geiz und harte Gesinnung, es war nur eine überbescheidene, unendlich vorsorgliche, abwägende, zage Art, die sich im Leben nicht durchzusetzen wagte, eine Art, an der Armut und Entbehrung allzulange gefeilt hatten. Das hatte Heinrich schon früher dunkel herausgefühlt, klar bewußt geworden war es ihm erst, seit er aus der Fremde heimgekehrt war. Die Luft in seinem Vaterhause behagte ihm nicht mehr restlos, er konnte nicht mehr zum Vater aufschauen wie vordem. Aller Leute Knecht werden, sich vor jedem Hochmögenden bücken, immer kurz abbeißen, jeden Faden vom Boden aufheben — nein, Heinrich Bucher dachte sich seine Zukunft anders.
Das Mahl ging zu Ende, ohne daß man zu einer zusammenhängenden Unterhaltung gekommen wäre. Der alte Bucher tupfte noch haushälterisch die letzten Brosamen auf, und die Kinder sprachen wieder ihr Gebet, langsam und in unnatürlichem Tonfall. Dann eilten sie hinaus, um ihre Geschenke zu erproben. Der Altgeselle holte seine Pfeife heraus 30 und fragte unter anderem, ob hier im Dorfe auch eine Sattlerei im Betrieb stehe.
«Nein», antwortete Heinrich lächelnd, «aber mit der Zeit wird sich wohl ein Sattler hier niederlassen.»
«Du selber?» horchte der Altgeselle auf.
«Unmöglich wär’s nicht; aber es liegt noch in nebliger Ferne. Vorerst heißt es noch, Geld verdienen und auf die Seite legen. Und bis ich ans Bauen denken dürfte, ist mir vielleicht längst ein anderer zuvor-gekommen.»
«Das wäre schade. Könntest du nicht hier im Elternhause eine Butike errichten?»
«Es läßt sich nicht wohl tun. Der Platz ist zu enge. Unten im Keller ließe sich zur Not eine Werkstatt einrichten; aber dort hat der Vater seinen Webstuhl aufgeschlagen. Zudem steht unser Häuschen zu sehr abseits. Aber drinnen im Dorfe wären Bauplätze prächtig am Paß, z. B. beim großen Roßkastanienbaum am Straßenkreuz. Hätte das Grundstück nicht dem alten geizigen und verdrehten Güllenmügger gehört, es wäre wohl längst überbaut. Aber der gab keinen Schuhbreit Land her.»
Während Heinrichs Rede saß der alte Bucher mit unbewegtem Gesichte und festgeschlossenen Lippen da; aber in seinen Augen regte sich geheimes Leben.
«Du sollst dem alten Manne nicht mehr seinen Schimpfnamen geben», mischte er sich in verweisendem 31 Tone ins Gespräch, «der Sonderling liegt seit letzten Frühling im Grab und den Toten redet man nichts Böses nach. Auch ist uns die Familie noch etwas weniges verwandt, und die Base Katherine, die einzige Tochter, hat uns erst vorige Woche ein Geschenk gebracht, als die Mutter gliedersuchtkrank im Bette lag.»
«Einen mürben, goldgelben Türkenbund», bestätigte die Mutter, als Heinrich sie zweifelnd ansah. Sie lächelte dabei, als ob sie noch mehr wüßte.
«Dann muß es stark geändert haben in der Familie; früher waren sie im ganzen Dorfe verschrien, und ein rechter Dienstbote hielt es auch nicht aus bei ihnen.»
«Ja, ja, es hat geändert, seit die Katherine Meister ist. Sie hat das Gut verpachtet, und man kann ihr nicht viel Böses nachreden. Sie ist jetzt nicht mehr so hart angebunden und kommt manchmal am Abend zu uns, um einen Augenblick mit uns zu plaudern.»
Hier stockte das Gespräch eine Weile. Heinrich witterte hinter den Worten und dem Wesen der Eltern irgend eine versteckte Absicht, und dieser Verdacht verstärkte sich noch, als die Base Katherine am selben Nachmittag in eigener Person erschien und der Mutter Bucher Rettichsetzlinge brachte. Die Mutter hätte doch wohl für die Bepflanzung der paar Lücken 32 im Kartoffelfeld genügenden Ersatz gefunden im eigenen Gärtlein, und für das Nachsetzen wäre am Montag auch noch Zeit gewesen. Und warum wohl die Base für den kleinen Gang ins Nachbarhaus ihre schönsten Kleider angezogen hatte? Sie sah wirklich stattlich aus in ihrer sonntäglichen Bauerntracht, und Heinrich fand genügend Zeit, sie anzuschauen. Er mußte zugeben, sie habe sich zu ihrem Vorteil verändert. Zu Lebzeiten des alten Kaspar, den sie im Dorfe den Güllenmügger nannten, hatte sie selten rechte Kleider besessen; denn der Alte war ein Querkopf und Erzfilz, der die Freier, die mit seiner Tochter anbändeln wollten, mit der Peitsche vom Hause wegjagte. Diese Freier waren allerdings auch danach gewesen, geld- und hofhungrige Schlucker, Füchse, denen keine Trauben zu sauer waren. Überhaupt wollte der Alte von einer Heirat seiner Tochter nichts hören, so lange er lebte, und so war Katherine in die Dreißiger gekommen, ohne Anschluß zu finden, trotzdem sie nach ländlichen Begriffen für leidlich hübsch gelten konnte. Sie war von fester Statur, hatte gesunde rote Backen und verfügte über eine resolute Stimme. Aber in Heinrichs Erinnerung lebte ein strahlendes Mädchenbild, mit dem sich die Base nicht messen konnte. Sie kam ihm plump und reizlos vor, und ihr Benehmen stieß ihn ab. Unaufhörlich nestelte sie an ihren Kleidern herum, streckte die Glanzspitzen ihrer Halbschuhe vor und 33 zog sie wieder zurück oder ließ wohlgefällig die schweren, silbernen Göllerketten durch die knolligen Finger gleiten. Sie vergaß auch nicht, sich bei der Mutter zu erkundigen, ob der Türkenbund gemundet habe und steckte mit Genugtuung den nochmaligen Dank ein. Dann berichtete sie, scheinbar ärgerlich, wie gestern abend wieder ein Lärm gewesen sei im Dorfe und wie es in jüngster Zeit die Nachtbuben bunt treiben. Keine Samstagnacht habe man Ruhe vor ihnen; aber sie gebe nicht ab, bis der Pächter einwillige, einen bösen Hund anzuschaffen. Dieses Geläuf müsse aufhören. So schwatzte sie in einem fort wie eine Elster und suchte sich in ein günstiges Licht zu stellen. Dem alten Bucher schien das alles über die Maßen zu gefallen, er war ganz Auge und Ohr und behandelte die Base als Respektsperson. Auch Heinrich antwortete höflich, aber mit merkbarer Zurückhaltung. Die Komplimente, auf welche die Base wartete, wollten ihm nicht über die Zunge. «Ach, wenn sie doch endlich wegginge!» dachte er heimlich. Sie traf auch wirklich Anstalten dazu; aber die Alten ließen sie nicht gehen. Sie mußte in die Stube, am Vieruhrimbiß teilnehmen und obenan sitzen. Dabei verriet sie, daß ihr die Ecke nicht unbekannt sei, wo Heinrichs Photographie an der Wand hing.
Mittlerweile war es für die beiden Sattler Zeit geworden, aufzubrechen. Der Altgeselle bedankte sich höflich, und sie nahmen Abschied. Die Eltern baten 34 Heinrich, bald wiederzukommen, und die Base fügte diesem Wunsche die Bemerkung bei: «Ihr dürftet Euch auch einmal bei uns sehen lassen.» Heinrich antwortete leichthin: «Das könnte schon einmal geschehen», und dann gingen sie.
Als sie an die Straßengabel kamen, wo der große Kastanienbaum stand, sagte der Altgeselle: «Du, wenn du nicht dümmer tust als Ankenmanns Esel, so ist dir der schöne Bauplatz sicher. Haha, die Base mit den Rettichsetzlingen! Nimmt mich nur Wunder, was aus diesem Rettich alles herauswachsen wird. Dein Alter, das ist einer von den ganz Schlauen! Der streichelt den Pelz nicht gegen die Haare!»
Heinrich stellte sich, als ob er die Anspielungen nicht verstünde, was den alten Sauerampfer erst recht belustigte.
«Hast recht, vollkommen recht! Wenn man den Trumpfbauer in der Hand hält, muß man die Karten gut verstecken. Und mich geht’s ja nichts an. — Aber komm, wir wollen noch ein Glas Bier auf die Reise nehmen. Der Rote hat mich durstig gemacht.»
Über dem Dorfe Aarstetten lag das sammtene Stockdunkel einer Regennacht. Die Bewohner hatten sich zur Ruhe begeben und ließen sich durch das gleichmäßige Rauschen der fallenden Tropfen nicht 35 stören in ihrem ersten süßen Schlafe. Nur in Heinrich Buchers Dachkammer brannte noch Licht. Der Geselle saß an seinem tannenen Tischlein und stützte den Kopf in beide Hände. Vor ihm lag ein offener Brief, den ihm der Bote vor wenig Stunden gebracht hatte, ein Brief, der ihm den Schlaf brach. Was er sich als schüchterner Lehrling in verwegenen Träumen ausgemalt, was er sich als Geselle zum festen Ziel gesetzt hatte, dieser Brief rückte es in greifbare Nähe. Klar und unmißverständlich stand es geschrieben von der Hand seines Vaters. Nur zuzugreifen und Ja zu sagen brauchte er, und die Träume wurden Wirklichkeit, das Ziel war erreicht. Ein einzig Wort, und aus dem Gesellen wurde ein Meister, ein Meister mit eigenem Geschäft, hinreichenden Geldmitteln und festbegründeter Lebensstellung. Ein einzig Wort, und in seinem Heimatdorfe wuchs an der Straßenkreuzung beim großen Kastanienbaum ein stattlich Haus empor, ein Haus mit Werkstatt, Magazin und Wohnung im zweiten Stockwerk, ein Haus und Geschäft, das sich mit Heinrich Meiers Besitztum in Aarstetten kecklich messen durfte. Denn die Base Katharine hatte dem Vater unverblümt gestanden, wie der Heinrich gefalle ihr keiner, und als der Vater ihr von Heinrichs Bauplänen gesprochen hatte, war sie sofort Feuer und Flamme dafür gewesen. Und die Base hatte Geld, Geld genug, um alles aufs Zweckmäßigste einzurichten.
36 Wäre dieser Brief auch nur einige Wochen früher gekommen, Heinrich Bucher hätte sich bald ausbesonnen gehabt und ohne langes Widerstreben die Hand der Base als Zugabe mit in den Kauf genommen. Vor jenem Tage, an dem ihm das blau-karrierte Kissen um den Hals geflogen war, hätte die Nachricht kommen müssen. Jetzt stürzte sie ihn nur in eine grenzenlose Verwirrung, in einen unlösbaren Zwiespalt. Stundenlang schritt er in seiner Kammer auf und ab, starrte hinüber zu den Fensterläden des Nachbarhauses oder saß auf dem Rand des Bettes. Erst gegen Morgen übermannte ihn der Schlaf, und mit dem Erwachen entbrannte der Kampf in seiner Brust aufs Neue.
Der Himmel hatte sich aufgehellt, und als es heiß zu werden begann, flüchteten sich die Gesellen mit ihrer Arbeit in den Schatten der Platanen auf dem Vorplatz. Heinrich Meier hatte den armen Bäumen die Wipfel absägen lassen, damit sie ihm nicht sein prunkendes Firmenschild verhüllten. Dieses Schild sollte die Augen der Vorübergehenden ansaugen, festhalten, ihnen schmeicheln und befehlen: Herkommen, eintreten, kaufen kaufen kaufen! Auch heute schrie es breitmäulig seine alte Botschaft in die Straße hinunter: Möbelhandlung von Heinrich Meier, Sattler und Tapezierer! Heinrich Bucher hatte dieses Schild anfangs etwas protzenhaft gefunden. Heute aber zog es seine Augen an, wie ein 37 Magnet. Stand dort oben nicht geschrieben: Möbelhandlung von Heinrich Bucher, Sattler und Tapezierer? Nein, es war eine Täuschung, der Name Meier war noch nicht ausgelöscht. Aber auf dem dunkelroten Plüschüberzug, den der Geselle eben auf das gepolsterte Ruhbettgestell nagelte, irrlichterte auch eine Aufschrift herum, die lautete wirklich: Möbelhandlung von Heinrich Bucher, Sattler und Tapezierer. Bald trat das eine Wort deutlicher heraus, bald das andere, manchmal sogar nur eine Silbe. Vergeblich wischte Heinrich die Augen aus und schaute anderswohin; das lästige Geschmeiß ließ sich nicht wegscheuchen, sondern folgte ihm auf Schritt und Tritt. Am Mittag streckte er sich hin, um ein wenig von der versäumten Nachtruhe nachzuholen. Doch kaum hatte er die schweren Lider geschlossen, war auch der verdammte Spuk da, um ihn zu quälen. Mit einem Fluche sprang er wieder auf und verließ die Werkstatt. Und doch riß es ihm jedesmal, wenn er vor der Hausfront vorbeispazierte, die Blicke hinauf zu den Messingbuchstaben. Da tat er, über sich selber ärgerlich, was er noch nie getan hatte in der Mittagspause, er schritt dem Dorfe zu, um ein Glas Bier zu trinken und Zerstreuung zu suchen.
Als er wiederkam, hatte die Firmatafel zwar ihre Anziehungskraft noch keineswegs verloren; aber die erregte Einbildungskraft spiegelte ihm zur Abwechslung doch auch andere Bilder vor. Er sah seinen 38 Meister vor sich, wie dieser Sonntags nach dem Mittagessen in den «Bären» ging, um mit dem Großrat und dem Gemeindepräsidenten ein paar Flaschen Treytorrens herauszujassen: Fein eingetucht, tadellose Bügelfalte, knarrende Bottinen, stark auswärts gebogene Weste, Goldkette mit baumelndem Anhänger, zwischen den Lippen eine duftende Zwanzigräppige, sattes Wohlbehagen und strahlendes Selbstgefühl in jeder Falte des rotfrechen, wohlgenährten Gesichtes... Fürwahr ein angesehener, ein glücklicher Mann...
Dann tauchte die Gestalt seines Vaters vor ihm auf: Mit gestrecktem Rücken, freierhobenem Haupte, zufrieden- und stolzblickenden Augen, als hätte ihm jemand eine schwere Last von den Schultern genommen.
Der Mutter Bild suchte ihn heim: Sie saß auf einem weichgepolsterten Ruhbett, vor sich die dampfende Kaffeekanne und eine goldgeränderte Tasse samt Untertasse und Unterteller. Auf dem weißgedeckten Tische gab es gute Dinge in Menge: Butter, Honig und Weißbrot, Erdbeerkuchen und frischgestoßene Nidel. Und er, Heinrich, stand daneben und bat: «Nun laß es dir recht schmecken, liebe Mutter, du hast es so wohl verdient und ich gönne es dir so von Herzen.» Und der Mutter Stimme zitterte vor Rührung, als sie abwehrte: «Mein Gott, warum wegen mir so viel Umstände machen!»
39 Aber plötzlich schrillte eine laute Stimme dazwischen: Greif nur zu; wir haben’s und vermögen’s! Vergiß mir nur eins nicht: All die Gutsachen sind von meinem Gelde gekauft, und mir hast du dafür zu danken. Das war die Stimme der Base Katherine, die Stimme, die einem so weh tat in den Ohren. Das war der Base dummstolze, taktlose, prahlerische Art, sich zu benehmen...
Ärgerlich schlug Bucher auf den weißköpfigen Polsternagel, daß das Porzellan brach und er mit der Zange den Stift herausholen mußte. Aufschauend gewahrte er, daß die schlanke Martha Zurbrügg mit dem Kommissionenkörblein am Arm dorfzu schritt. Diesmal blieb der spröde Nagelkopf verschont; der Streich traf den Finger.
Wie leicht und zierlich sie einherschritt, wie stolzbescheiden und wie züchtig! Noch nie hatte Heinrich Bucher bei einem einfachen Landmädchen soviel Anmut und Frauenwürde vereinigt gefunden, noch nie in seinem Leben war er so scheuen, süßen, unschuldsvollen Augen begegnet. Diese stillen Augen hatten Macht gewonnen über ihn, obschon sie sich vor ihm zumeist schüchtern senkten. Allemal, wenn sie frisch auf ihm geruht hatten, war ihm, als könne er ihren Glanz nie mehr missen, und ahnend zog ihm durch die Seele: Alles Gute in dir müßte unter diesem reinen, warmen Lichte aufgehen, grünen und blühen. —
Am selben Abend bat Bucher seine Eltern brieflich: 40 Lasset mir Zeit; ich kann mich nicht so schnell entschließen; es kommt mir alles zu überraschend. Sobald ich mit mir einig geworden bin, gebe ich euch Nachricht oder komme heim.
Dann legte er aufatmend die Feder weg. Es trieb ihn hinaus ins Freie, es trieb ihn in Marthas Nähe. Ihr Kleid schimmerte im Garten, und er war so glücklich, einen Gruß und ein paar Worte von ihr zu erhaschen.
Als er von seinem Spaziergange heimkehrte und über den Vorplatz schritt, gleißte sie wieder kalt und giftig herunter, die «Möbelhandlung...»
Doch unwirsch wendete er die Augen ab und knirschte: «Schweigt, ihr da oben! Lügner und Betrüger seid ihr! Gold täuscht ihr vor und seid doch nur schlechtes Messing!»
Und begab sich hinauf in seine Kammer.
Da kam der Heumonatsonntag. «Tanz! Tanz! Tanz!» hatte es im Amtsanzeiger fettgedruckt gestanden anderthalb Seiten hinunter: Das war ein Augenschmaus und eine Vorfreude bei der Jungmannschaft. Willig folgten sie der Einladung. Die Hitzigern rückten schon am Nachmittag aus; am Abend schlossen sich auch die Bedächtigern und Verschämtern an. Arm in Arm schlenkerten die Mädchen einher, als ob es ihnen ums bloße Lustwandeln zu tun 41 wäre. Neckereien und Blicke mit ihnen tauschend, folgten die heiratsfähigen Burschen. Sie hielten nicht für nötig, ihre Absicht zu verhüllen, sondern strebten ohne Winkelzüge dem Wirtshause zu.
Auch der Schnauzer, Buchers Nebengeselle, hatte sich in den besten Sonntagsstaat geworfen und die Enden seines gewaltigen Schnurrbartes gewichst, daß sie klebten wie Pechdrähte und herausstanden wie Lismernadeln.
«Wie steht’s, Mustersohn», wandte er sich an Heinrich, «hüpfst du heute Abend auch einmal ab? Oder mußt du auch heute wieder abwechselnd dem Meier sein großmoguliges Glaraffenbrett anstarren und der Martha verschämte Fensterparaden machen?»
Betroffen fuhr Heinrich auf: «Laß mich in Ruhe und geh’ deines Wegs, wenn ich dir gut zu Rate bin.» Das Blut war ihm zu Kopfe gestiegen.
Der Schnauzer zuckte die Achseln: «Bucher, mit dir nimmt es noch ein schlimmes Ende. Wenn das so fortgeht, richtest du deine Augen zu, daß dir beim Plärren das Augenwasser kreuzweise den Rücken hinunterläuft!»
«Sorg du für deine Augen, daß sie dir am Morgen nicht wieder tropfen wie eine alte, verrostete Dachrinne!»
«Danke, liebes Kind, so gehe ich allein. Vergiß nicht, mich in dein Nachtgebet einzuschließen.»
Ärgerlich kehrte ihm Heinrich den Rücken. Vor 42 diesem Frechdachs war niemand sicher, jeden Winkel spionierte der aus. Da hieß es also, sich in Zukunft besser in Acht nehmen.
Immer noch mißgestimmt, unternahm Heinrich einen Spaziergang, schlug den Feldweg ein, der zum Lindenhübeli hinauf führte und setzte sich unter der mächtigen alten Linde auf die Holzbank.
Von hier aus konnte man das Dorf prächtig überblicken. Der Zug der Tanzlustigen dauerte noch an. Vom Dorfwirtshause her erscholl Musik. Oben im Tanzsaal flochten Geige und Handharfe ihre klingenden Blumenkränzlein, und helle Klarinettentöne gaukelten lustig in behendem Auf und Ab wie Falter drüber hin. Pärlein um Pärlein erlag der holden Lockung, schritt die Tanzsaaltreppe hinan und mischte sich in den fröhlichen Reigen. Allgemach wurde es stiller auf den Straßen. Die Dämmerung brach ein und wischte mit leisem Finger das letzte Stäubchen Abendgold vom Himmel, damit die schmale Mondsichel zu ihrem Rechte komme, die schon lange vergeblich versucht hatte, ihre Silberwährung in Kurs zu setzen.
Ein laues Nachtlüftchen strich um Heinrich Buchers gefurchte Stirne. Er horchte und sann. Gedämpftes Gelächter und übermütige Jauchzer schlugen an sein Ohr. Nun waren sie wieder einmal glücklich — die andern. Sie rechneten und spintisierten nicht wie er, bauten keine Häuser und richteten keine 43 Geschäfte ein, wie er — sie taten Gescheiteres, sie freuten sich. Greifbar lebendig sah er ihr buntes Gewühl vor sich. Die Bäcklein der Mädchen glühten; die Augen der Burschen blitzten; Arm in Arm, Brust an Brust, Wange an Wange, Auge in Auge regten sie ihre jungkräftigen Glieder und öffneten die Tore ihrer Sinne sperrangelweit der heranschäumenden Jugendlust. Nur er schloß sich aus, als ob er ein vertrockneter Zittergreis wäre. Mit aller Macht rebellierte sein junges Blut dagegen: Tor, dreifacher Tor, warum reißest du nicht dein Mädchen an die Brust und wirbelst mit ihr hinein, mitten in den jubelnden Schwarm? Bedrängt von wehmütiger Sehnsucht stand Heinrich auf und schritt dem Dorfe zu. Es trieb ihn, Menschen aufzusuchen.
Wie er in Gedanken verloren über den Dorfplatz schlenderte, tauchten plötzlich neben ihm helle Mädchengewänder auf. Ein freudiger Schreck durchzuckte ihn; es war die Martha und eine Freundin. Wie immer, wenn er sie traf, lüpfte er ehrerbietig den Hut. «Ihr wollt euch auch noch ein wenig lustig machen», redete er sie an.
«Nein», erwiderte Martha unbefangen, «ich begleite bloß meine Freundin auf den Bahnhof, sie will mit dem Nachtzug verreisen.»
Damit schritten die Mädchen weiter. Ein kurzes Besinnen, dann schlug auch Heinrich die Richtung gegen den Bahnhof ein. Sein Entschluß stand fest: 44 «Jetzt frag ich sie. Ob sie wohl kommen wird, wenn ich sie zu einem Tanze einlade?» Ein tolles Glücksverlangen hatte ihn übernommen, das keinem andern Gedanken Raum ließ. In fiebernder Erwartung spähte er die Straße entlang. Endlich kam sie zurück. Ungesäumt gesellte er sich zu ihr. Unbeholfen und stockend trug er ihr seine Bitte vor. Sie geriet darüber in holdselige Verwirrung und schützte vor, die Mutter könnte sich über ihr Ausbleiben ängstigen. Aber er spürte deutlich, daß sie ihm gut gesinnt sei, drang in sie, ergriff sie schließlich bei der Hand und ließ nicht nach, bis sie einwilligte. Pochenden Herzens schritten sie nebeneinander. An der Treppe des Tanzlokals sträubte sie sich nochmals: «Was werden die Leute sagen?»
«Was geht das die Leute an», hielt er ihr entgegen. «Sind wir nicht Nachbarsleute, die einander schon lange kennen?»
Wieder ergriff er sie bei der Hand, und zögernd folgte sie ihm. «Aber nur einen Augenblick. Lange darf ich unmöglich bleiben.»
Sie stiegen die Treppe hinauf, traten aber so leise auf, als ob sie auf verbotenen Wegen wandelten. Nun waren sie oben auf der Laube. Die Musik setzte eben mit einem lüpfigen Schottischen ein. Und nun wurde wahr, was sich Heinrich kurz vorher so verlockend vorgestellt hatte. Er schlang den Arm um sie, zog sie an sich und hinein gings 45 in das stampfende und schweißdampfende Gewühl. War es Wirklichkeit oder immer noch ein berückender Traum? Ach, es schien fast zu schön, um wahr zu sein! Sie schmiegte sich so vertrauensvoll an ihn und überließ sich willig seiner Führung, obschon er kein gewandter Tänzer war. Er spürte das Wogen ihres jungen Busens; ihr warmer Atem streifte seine Wange.
Als der Tanz zu Ende war, blieben sie hochaufatmend stehen, und er schaute ihr lächelnd ins Antlitz, das ihm lieb und licht entgegenleuchtete. Ihre zarten Wangen waren erblüht; ihre Augen strahlten. Er führte sie zu einer Flasche und ließ süßes Backwerk auftragen. Sie wehrte ab und griff nur schüchtern zu. Und wieder dünkte ihn ihre züchtige Verschämtheit das Reizvollste, Liebenswerteste an ihr. Er ließ ihr nicht Ruhe mit Anstoßen, damit sie ihm ihre Augen schenken müsse, aus denen ihm zwei süße Flämmlein entgegenleuchteten. Doch schon nach wenigen Tänzen erklärte sie bestimmt: «Zürnet mir nicht; nun muß ich nach Hause.»
Er bettelte, schmeichelte — umsonst; sie blieb fest. Daraufhin begleitete er sie heim.
An der Schwelle ihres Häuschens angekommen, bat er sie um einen Kuß, erst scherzend, dann mit leidenschaftlichem Verlangen. Ihre Stimme hatte so innig geklungen, das hatte ihn ermutigt. Sie wurde befangen, dann wurde die Schalkhaftigkeit wach in 46 ihr, und neckisch schlug sie es ihm ab. Aber als er sie dennoch umfing, sträubte sie sich nur schwach und ehe sie sichs versah, hatten sich die warmen Lippen gefunden. Mit einem Ruck riß sie sich los, schloß die Türe und floh die Treppe hinauf.
Verträumt blieb er noch ein Weilchen stehen. Klang nicht irgendwo leise und fern eine tiefe, wunderbare Glocke?... Als sich nichts regte, kein Flügel geschlossen wurde, keine Hand winkte, trat er langsam den kurzen Heimweg an. Grausilbernes Mondlicht dämmerte über den Platanen und dem Vorplatze des Meierschen Hauses. Die Aufschrift, von der Heinrich so oft gequält worden war, krankte an Blässe. Er merkte es nicht; er schaute nicht einmal mehr hinauf. Er lauschte auf den Ton der fernen Glocke. Zwei süße Flämmlein tanzten vor seinen Augen und wichen nicht, bis er eingeschlafen war.
Montagmorgen! Die Zeiger der Kirchenuhr zu Aarstetten streckten sich zu einer geraden Linie, die Glocke hämmerte sechs. Fast mit dem Glockenschlage hoben sich im Meierschen Hause die schokoladebraunen Rolladen. Kurz darauf öffneten sich auch die Flügel der Werkstattüre. Heraus traten Heinrich Bucher und der Lehrling. Beide begannen hastig mit den Vorbereitungen für die Vormittagsarbeit. Während Bucher Roßhaar abwog, schleppte der Lehrjunge die 47 Böcke hinaus unter die Platanen und richtete die Bankung. Dann trugen sie gemeinsam die Rupfmaschine auf den Vorplatz und holten das abgewogene Haar. Der Lehrling ergriff die Stielbürste und säuberte die breite Zementterrasse. Derweilen hatte Bucher schon den Drehhaken eingehängt und mit dem Auffasern der festgedrehten Haarseile begonnen. Sobald er ein Häuflein bereit hatte, setzte sich der Lehrling an die Rupfmaschine, um das Haar noch gründlicher zu zausen. So fuhren sie weiter, bis die Hausglocke sie zum Morgenessen rief.
Nach dem Morgenessen stellte sich auch der auswärts wohnende Altgeselle ein, und zuletzt trat sogar der Schnauzer an zur Arbeit; aber erst nachdem er sich ausgegähnt und weidlich über das heiße, kopfwehmachende Wetter geflucht hatte. Der Himmel hing ihm heute schief, desgleichen der Schnurrbart. Dessen Spitzen schauten heute melancholisch erdwärts. Einen Bund messingene Matratzenfedern stieß der Katergeplagte mit einem Fußtritt auf den Vorplatz hinaus. Immerhin verriet die Art, wie er sein Werkzeug zu handhaben verstand, den flinken und geschickten Arbeiter.
Die Vier mochten etwa eine halbe Stunde schweigend ihrer Arbeit obgelegen sein, als eine kurze Unterbrechung eintrat. Vom Nachbarhäuschen her kam der Maler Zurbrügg geschritten, ein angehender, ziemlich beleibter Fünfziger mit rötlich angehauchtem, 48 etwas aufgeschwemmtem Gesicht. Den Zipfel seiner buntbeklexten Zwilchschürze hatte er in den Gurt hinaufgesteckt, den Strohhut burschenmäßig in den Nacken geschoben. In der Linken schwenkte er ein Brettchen mit roten Probeaufstrichen auf dunkelgrünem Ölgrunde.
«Muß zum Sandgrubenbauer wegen dem Reitwägelein. Ich will schauen, ob ihm diese Farbenzusammenstellung passe. Er ist halt ein diffisiler Hagel, der Sandgrübler, immer aufgelegt zum Reklamieren.»
Der Schnauzer zwinkerte mit den Augen und lachte: «Vielleicht wär’s nicht überflüssig, wenn ich mitkäme, um zu schauen, ob die Frau Gemeindeschreiber etwas gegen diesen Matratzendrillich einzuwenden habe. Gegen diese Pfeffermühle ist der Sandgrübler noch der unschuldigste Siruphafen... und Durst hätte ich auch.»
«Oho», lachte der Maler lärmend, «heut wird nicht gepuntet. Wenn er Arbeit hat, wie Misthans am Hochzeitstag, fällt der Daniel Zurbrügg nie und nimmer in die ‹Löwen›-Grube.» Händeschlenkernd strebte er eilfertig dorfwärts.
«Daß dem so sei,» rief ihm der Altgeselle nach. Er und der Schnauzer grinsten einander verständnisinnig an und behielten im Weiterschaffen den Abziehenden im Auge. Bucher dagegen kehrte der Straße den Rücken. Seine Brauen waren zusammengezogen, 49 als ob ihn das stechende Sonnenlicht belästige. Plötzlich lachte der Schnauzer laut und lärmend auf: «Verschwunden ist der Knab! Weiß der Teufel, wie er das anstellt. Soeben stand er noch beim Schlächter und untereinmal hat ihn das Wirtshaus verschluckt. Und so ist’s allemal. Erst steht er noch auf der Straße und kalauert mit jemanden, und im Handumdrehen ist er weggekommen wie eine alte Katze. Das macht ihm keiner nach.»
«Nun könnt’s leicht Mittag werden, bevor er wieder herauskommt,» meinte der Altgeselle.
«Oder auch Mitternacht,» lachte der Schnauzer, «denn, wenn er den Schuß hat und einmal abgesessen ist, klebt er wie Schindterliebel-Salbe. Der hat noch ein währschaftes Sitzfleisch, potz Stierstern.»
Er grunzte vor Vergnügen. Plötzlich aber hielt er inne, warf einen boshaften Seitenblick auf Bucher und stellte sich erschrocken.
«Himmelhagel, jetz hab’ ich ganz vergessen... du, Alter, wir dürfen den durstigen Daniel in Zukunft nicht mehr so ungeniert verhecheln... Es könnte eine Blutvergiftung daraus entstehen.»
«Ja, wieso denn?»
«Heh, halt weil ein lieber Freund und Musterbruder von uns mit ihm in nahe Verwandtschaft zu kommen trachtet! Schade, daß du gestern Nacht nicht auch auf den Tanzboden gekommen bist, um deine Alte wieder einmal zu traben, du hättest deine 50 Oberlichter nicht übel aufgesperrt. Stille Wasser fressen Grund! Wer hätte geahnt, daß unser vielgerühmtes Vorbild sich so bei den Mädchen umzutun wüßte.. Rugguh.. rugguh.. rugguh!» Er äffte einen schnäbelnden Tauber nach und schielte bezeichnend auf Bucher. «Und daß er nur ernstgemeinte Absichten hat, versteht sich doch von selbst.»
«Geht’s dich was an, wenn ich einmal mit einem Mädchen tanze?» fuhr Bucher ärgerlich auf.
«Natürlich geht’s mich nichts an,» lachte der Schnauzer.
«So halt deine Gosche!»
«Verlange nichts Unmögliches von ihm,» lenkte der Altgeselle ab, der nicht ungern Näheres erfahren hätte und lachte. «Der und schweigen, wenn er etwas weiß!»
«Versteh mich doch recht,» spöttelte der Schnauzer weiter und setzte eine scheinheilige Miene auf. «Ich bin ja stolz auf dich und beneide dich. Wenn die spröde Martha mir so süße Augen gemacht hätte... Sternteufel!.. meinst du, ich hätte nicht auch ein paar Heier draufgehen lassen für Petschierten und Süßes! Aber unsereins ist halt kein Mustersohn und darf nicht an solchen Staatsblümlein aus dem Tugendgarten riechen, sondern muß sich mit der Garnitur begnügen, die an den Tanzsaalwänden herumklebt. Na — manchmal ist auch noch ganz griffige Ware drunter. Und das Schönste.. sie meinen nicht schon 51 nach dem zweiten Walzer, in vierzehn Tagen müsse geheiratet sein.»
Der Altgeselle lachte:
«Die möcht ich auch sehen, die dir ernsthafte Heiratsabsichten zutraut. Rindstalg müßte sie im Kopfe haben, statt Gehirn!»
«Heiraten? Mit diesem blöden Wort bleibe man mir gefälligst vom Leibe! Es ist immer die nämliche Geschichte: Verliebt, verlobt, verheiratet, versimpelt! Mehr als einen lustigen Bruder hat mir das abgefeimte Weibervolk abspenstig gemacht. Mich selbst kriegen sie nicht. Verlieben, das ist unterhaltsam; verliebt bin ich alle sechs Wochen einmal. Verloben mag ein ungerades Mal auch nett sein — mich hat’s einmal aus einem Städtchen getrieben, wo es ächtes Pilsener und Münchner frisch vom Faß gab. Seither nehme ich mich in Acht, daß die Falle nicht unversehens zuklappt. Aber heiraten, Familienbastesel werden, davor wolle uns der Allmächtige in Gnaden bewahren.» Er spuckte aus.
«Aber wenn dich die Martha drüben nicht alleweil so unsanft abgeschüsselt hätte, wer weiß, ob du nicht auch unter die Bastesel und Familiensimpel geraten wärest,» neckte der Altgeselle.
Der Schnauzer kratzte sich hinter den Ohren und verdrehte die Augen: «Ich zweifle doch. Der Schutzengel hätte mich doch zuletzt vom Rande des Abgrundes zurückgerissen. Gegen die Martha will ich 52 nichts gesagt haben. Aber den durstigen Daniel, so lieb er mir ist als Zechkumpan, möchte ich unter keinen Umständen zum Schwiegervater. Er löffelt zu viel, und das Löffeln besorge ich lieber selber. Zwei so durstige Hälse mag’s nicht erleiden in einer Familie. Mein Schwiegervater müßte sparen wie ein Geiznagel und frühe daran denken, das Zeitliche zu segnen. Der Daniel hingegen macht noch sein ganzes Besitztum dünn, bevor er himmelt. Eine derartige Konkurrenz möchte ich mir nicht auf den Hals laden...»
Der Schnauzer hätte wohl noch weiter gekohlt. Mit einem Mal flog aber im zweiten Stock ein Fenster auf, und der zornrote Kopf des Herrn Meier fuhr heraus:
«Nun möchte ich endlich wissen, was das bedeuten soll! Den ganzen Morgen wird in einem fort gelafert da unten! Meint ihr, ihr seiet auf dem Geißmarkt und ich zahle euch den hohen Stundenlohn für gemütliche Unterhaltung? Nicht einmal schreiben kann man ungestört, geschweige denn, daß bei der übrigen Arbeit etwas vorwärts rückt. Donnerwetter noch einmal!» Und tätsch Mathis! flog das Fenster wieder zu.
«Wir haben halt nicht gewußt, daß der Herr Meier schon aufgestanden und schon am Schreiben ist,» jammerte der Schnauzer halblaut im Tone eines 53 Besserung versprechenden, weil Prügel fürchtenden Jungen und knitterte sein Fatzengesicht in groteske Kummerfalten.
Dem Lehrjungen drohten die Wangen zu platzen; es wurde aber doch still auf dem Vorplatze.
Geraume Zeit nachher kam der Herr Meier sonntäglich angezogen aus dem Magazin heraus, notierte sich einiges in seinem Kalender und schritt ein paarmal mit vorgepreßtem Wanst und auf dem Rücken gekreuzten Händen die Terrasse auf und ab. Dann blieb er vor dem Altgesellen stehen, rollte die Augen und schnurrte ihn an:
«Ich muß geschäftehalber in die Stadt. Aber ich trau mir fast nicht wegzugehen. Sobald ich den Rücken gekehrt habe, geht alles, wie es dem Teufel am besten gefällt. Wozu bist du eigentlich Meistergeselle, wenn du nicht Ordnung machen und die Leute im Zaum halten kannst? Wozu, heh?...»
«Die Arbeit ist nicht einen Augenblick stillgestanden, und das Maul verbinden kann ich niemanden.» Der Altgeselle knurrte es nur so heraus, und seine Augen glühten.
«Und ich will das ewige Getratsch nicht haben bei der Arbeit, und du bist mir verantwortlich dafür, daß es heute vorwärts rückt! Bis am Abend müssen die Matratzen an die Frau Gemeindeschreiber abgeliefert werden. Der Lehrbub soll sie hinbringen. Verstanden?»
54 Niemand erwiderte ein Wort. Noch einmal ließ Herr Meier einen drohenden Blick über alle gleiten; dann machte er kehrt und setzte sich hoch erhobenen Hauptes und gemessenen Schrittes in Bewegung.
Kaum war er außer Hörweite, fing der Schnauzer an zu schnaufen und zu pusten, als ob er von entsetzlichen Atembeschwerden gequält und einer Ohnmacht nahe wäre.
Dem Lehrjungen wollte das Lachen wieder den Schädel abdecken.
«Fang jetzt nicht schon wieder an,» fauchte der Altgeselle und schnitt ein Gesicht, als ob er Grünspan verschluckt hätte, «ich muß es doch immer allein ausbaden; an mir läßt der Hund seine schlechte Laune aus. Allemal, bevor er geht, putzt er noch die Schuhe ab an mir.»
«Ärgere dich doch nicht, altes Sauerkrautfaß! Laß doch das großartige Kamel laufen! Er bringt es doch nicht fertig, daß wir ihn respektieren. Paß nur auf! Bei der ersten günstigen Gelegenheit setze ich ihn in die Beize, daß es platscht und daß du deine helle Freude daran haben sollst! Mir ist doch Hundewurst, ob er mir aufkündet oder nicht.»
Damit hatte die Unterhaltung ein Ende, und jeder der Arbeiter vernähte seinen Gedankenfaden schweigend.
In der Mittagsstunde drückte sich der Schnauzer und ahmte Daniel Zurbrüggs Verschwindungskünste nach. Der Lehrbube legte sich in der Werkstatt aufs Ohr und schnarchte. Bucher setzte sich hinten in der Hofstatt unter einen Apfelbaum. Bald gesellte sich auch der Altgeselle zu ihm, der hier sein Mittagspfeifchen zu napfen pflegte. Eine Weile brüteten beide wortlos vor sich hin. Dann begann den Altgesellen die Neugierde zu kitzeln. Er rückte hin und her und räusperte sich:
«Du, Bucher, ist’s wahr, was der Schnauzer behauptet hat — das wegen der Martha meine ich?»
«Das ist die Leute ausgefragt,» erwiderte Heinrich mit gutmütigem Lächeln.
«Ach komm mir jetzt nicht so. Wir beide sind doch immer gut gefahren mit einander und wenn ich nichts wüßte von deinen Plänen und Aussichten, käme es mir nicht in den Sinn, dich zu fragen. Aber ich fürchte, du seiest im Begriff, eine Dummheit zu machen und darum nimmt es mich auch wirklich wunder, ob nur Dunst ist, was dem Schnauzer den Hafendeckel oben abgelüpft hat oder ob Wahrheit dahinter steckt.»
«Es könnt schon sein, daß diesmal etwas dahinter steckte,» gestand Bucher zögernd.
«Also doch. Gemerkt hab ich schon lang, daß ihr deine Augen nachlaufen wie ein Hündlein. Aber ich habe gedacht: Der Bucher ist nicht auf den Kopf gefallen, 56 er wird sich zweimal besinnen, was er tut. Aber wie es scheint, habe ich dir zu viel zugetraut. — Was sagen denn deine Eltern dazu, und was wird aus dem schönen Bauplatz beim Kastanienbaum und dem Haus, das du dort aufrichten wolltest?»
Wieder antwortete Bucher erst nach längerem Besinnen und sichtlich herabgestimmt:
«Was die Eltern sagen werden, kannst du dir ungefähr vorstellen. Und aus dem Hausbau wird natürlich nichts; denn die Base wird es mir nie vergessen, daß ich ihr eine andere vorgezogen habe. Es wird mir auch nicht leicht, diesen Weg einzuschlagen; aber lieber will ich doch alles fahren lassen, als die Martha aufgeben.»
Der Altgeselle sog aufgeregt an seiner Pfeife.
«So redest du jetzt; aber zähle darauf, du wirst reuig. Ich weiß, wie es kommt, weiß es aus bitterer Erfahrung. So wie du jetzt, stand auch ich einst am Scheideweg. Den Weg, den du einschlagen willst, habe ich zurückgelegt und weiß, wie steinig er ist. Denn auf den Knien bin ich ihn gerutscht und wohin er führt, das siehst du an mir. Wäre ich damals nicht ein so unberatener, dummer Teufel gewesen, brauchte ich mir nicht jeden Tag Schnödigkeiten bieten zu lassen von diesem verdammten Meier. Der Besitzer des Hauses und Inhaber des Geschäftes wäre nicht er, der hochmütige Protz, sondern ich, der ewig geschuhriegelte Gesell. — Vor achtzehn Jahren war’s, 57 als ich auf der Walz hierher kam. Ich war ein frischer Bursch und sprang hier ein als Geselle. Nach einem Jahr starb der Meister. Schlaganfall. Die Witwe ratlos auf meine Hilfe angewiesen. Das ganze Geschäft ruhte auf meinen Schultern. Manchmal sogar noch die Witwe dazu. Nämlich, abends mußte ich ihr die Eintragungen in die Bücher besorgen. Dabei schaute sie mir zu und stützte sich mit ihrem fleischigen Arm auf meine Achsel. Kaum ein Halbjahr nach dem Tode ihres Mannes gab sie mir zu verstehen, wenn ich etwas zu fragen habe, die Tür ihres Schlafzimmers sei nicht verschlossen. Für mich nicht. Das sagte sie auf der Schwelle und schaute mit vielsagendem Lächeln zurück. Ich begriff wohl. Und es hat mit mir gerechnet. Sie hatte keine Kinder. Ich kriegte ein eigenes Geschäft und eine gesicherte Stellung. Wie sollte das einen jungen Menschen, der vorwärts kommen möchte, nicht locken? Freilich, die überstellige Alte war nicht besonders appetitlich. Und in die Anna, meine jetzige Frau, war ich heftig verliebt, schon lange vorher. Ich hatte ihr mein Wort gegeben und mochte nicht als schlechter Kerl an ihr handeln. Ihr zuliebe ließ ich Haus und Vermögen samt der Witwe fahren. Mit meinem Ersparten richtete ich eine eigene Werkstatt ein; an meine Stelle trat der Meier. Ich selber habe ihn hergesalzt. Der war nun weniger eigelig als ich. Wäre die Witwe auch doppelt so alt und doppelt so dick gewesen, er hätte 58 dennoch angebissen. Ein vermöglicher Mann zu werden, war sein höchstes Lebensziel. Kaum hatte er es erreicht, schwoll er auf wie ein Sechspfünder im Backofen. Auf das Geschäftliche war er von jeher abgerichtet und weil er Kapital in den Händen hatte, kam er vorwärts. Mir aber hatte das Weltglück die Schattseite gewendet für immer. Arbeit fand ich zwar, und zu leben hatten wir auch. Aber der kleine Warenladen, den ich eingerichtet hatte und von dem ich mir viel versprach, schlug mich in den Graben. Wer kaufte bei mir? Bauern, die um jeden Fünfer markteten wie die Geißhenker, Leute, die das Meiste auf Borg nehmen mußten und andere solche. Die Bessergestellten kauften in der Stadt. Meine Auswahl genügte ihnen nicht. Mein Gott ja, ich konnte meinen Laden nicht vollstopfen mit schönen, teuren Sachen. Ladenhüter gab’s ohnehin genug, und mir fehlte das Betriebskapital. Einkaufen mußte ich da, wo man mir Kredit gab. Die vorteilhaftesten Bezugsquellen blieben mir verschlossen. An Verlusten fehlte es auch nicht, und bald hemmten mich Schuldenketten an beiden Füßen. Auf Schritt und Tritt fehlte mir Geld, das verfluchte Geld! Meine Frau tat ihr Möglichstes; ich will sie nicht beschuldigen. Alle Jahre kam ein Kind, bis wir kaum mehr Platz hatten am Tische. Dann fing sie an zu kränkeln, Herzleiden, o eine heillose Krankheit! Nun stand ich allein im Kampf ums tägliche Brot. Ob ein anderer es durchgefochten 59 hätte, ich weiß es nicht; aber ich zweifle schwer. Mich hat’s eingeäschert. Ich geriet in Konkurs, mußte die ältern Kinder bei Verwandten und guten Leuten unterbringen, mit meiner Frau in eine Mietwohnung ziehen und froh sein, daß mich Heinrich Meier zum Gesellen annahm. Ihm war’s derweilen gut gegangen; der Honig tropfte ihm nur so aufs Butterbrot. Nach ein paar Jahren starb seine Frau, worüber er sich nicht die Augen ausweinte. Sondern er ließ sich Haar und Bart scheren, bestellte flotte Anzüge beim Schneider und ging wieder auf die Freite. Und weil er Geld hatte und gut geschäftete, klopfte er nicht vergeblich an. Denn am Geld hängt aller Erfolg auf der ganzen Welt. Wer Geld hat, ist gescheidt, wer keins hat, ist ein Tor. Vor dem vollen Beutel kriecht man auf dem Bauche, wer leere Taschen hat, wird angespuckt. Hättest gestern den Meier sehen sollen, wie er zweispännig durch unser Dorf fuhr mit seiner stattlichen Frau und seinen hoffärtigen Kindern, während ich trübselig bei meiner vergrämten Alten saß! Da hat es aufgeschrien in mir: Bist ein Narr gewesen, wie alle, die das Geld mißachten — wenn es wirklich ihrer welche gibt. Denn schau sie dir einmal an, die, die gegen das Geld predigen, wie sie nach reichen Frauen und gut bezahlten Ämtern gieren! Darum sage ich dir, Bucher: Sei nicht ein Narr, wie ich ein Narr gewesen bin, sonst büßest du deine Torheit, wie ich sie büßen muß.»
60 Dem Alten war längst die Pfeife ausgegangen über seinem Eifern. Sein Zuspruch verfehlte auch die Wirkung nicht ganz. Bucher blieb zunächst eine Weile stumm, ehe er sich ermannte und die Rede des Altgesellen zu entkräften versuchte:
«Glaube nur ja nicht, daß ich ebenfüßlings und mit verbundenen Augen in eine Heirat hineinrenne. Ein Mädchen, mit dem nichts ist, das nichts kann und nichts hat, würde ich nie heiraten, und wäre es noch so hübsch. Ich habe hübsche Mädchen kennen gelernt, die ich um keinen Preis hätte heiraten mögen; sie waren eitel, eingebildet und dumm. Mit der Martha ist das anders. Wie sie drüben schaltet und waltet und als die Erste und Letzte für ihre leidende Mutter und für ihre Geschwister sorgt, das zeigt mir, was sie wert ist. Sie ist etwas und kann etwas, und wenn sie auch nicht Geld hat, so hat sie dafür Arbeitskraft, einen festen Willen, ein sonniges Gemüt und einen hellen Verstand. Sie versteht, mit wenigem auszukommen und dabei zufrieden zu sein. Das sind auch Gaben. Und sie ist mir lieb.»
«Das ist ja alles recht, und ich will das Mädchen nicht herabsetzen, sie hat mir nie etwas zuleide getan. Jetzt siehst du keine Fehler an ihr. Aber wenn man einmal verheiratet ist, lassen sie sich dann schon hervor. Auch die, die man lieb hatte, können einen plagen; ich hab’s erfahren. Und die Verwandtschaft, die du dir anheiratest, solltest du dir auch ein wenig näher ansehen...»
61 «Es ist wahr, der Alte ist mir zuwider; aber dessen vermag sich die Martha nichts, und...»
«Bucher, du sollest sofort ins Magazin kommen», ertönte zwischenhinein die Stimme des Lehrjungen vom Hause her, «die Meisterin verlangt’s; es sind Kunden da.»
Heinrich stand auf und ging. Im Abgehen kehrte er sich noch einmal um und sagte zum Altgesellen:
«Übrigens... die Entscheidung ist noch nicht gefallen; ich kann und will es mir immer noch überlegen.»
An dieses Wort hat Bucher später noch denken müssen.
Die Schatten der Platanen auf dem Vorplatze hatten sich schon stark verlängert. Weder der Schnauzer noch der Maler Zurbrügg waren zurückgekehrt. Bucher nähte an einer Obermatratze, doch die Arbeit lief ihm diesen Nachmittag nicht aus der Hand wie sonst. Manchmal ließ er die Nadel sinken und starrte ins Leere oder hinauf zu der «Möbelhandlung». Der Altgeselle betrachtete ihn heimlich von der Seite und dachte selbstgefällig: «Meine Medizin wirkt.»
Auf einmal kamen Schritte straßauf. Als Bucher aufschaute, erschrak er heftig und verfärbte sich. Vor ihm stand sein Vater. Der alte Mann sah ganz verstört aus, obschon er sich zu beherrschen trachtete.
62 «Du hier, Vater? Ist etwas Ungutes vorgefallen zu Hause?»
«Soweit nicht. Aber ich muß mit dir reden.»
Was, das wußte Heinrich nur zu gut. Die Augen des alten Bucher ergänzten, was der Mund sich vor Zeugen auszusprechen scheute: Wir warten auf dein Jawort — und du lassest uns in der Angst! Bist du wirklich so verrucht, unsere schönen Pläne zu zerstören?
Heinrich griff nach einem Vorwand, um Zeit und Fassung zu gewinnen.
«Setz dich einen Augenblick, Vater! Nur wenige Stiche noch und die Arbeit ist fertig. Sie muß abgeliefert werden, sonst schimpft der Meister.»
Er stellte dem Alten einen Stuhl in den Schatten, und dabei klopfte ihm das Herz in einem fort die Frage vor: Was antwortest du jetzt dem Vater? Was antwortest du ihm?
«Wie geht es der Mutter?» würgte er endlich heraus.
«Wie wird es ihr gehen, hm!»
Der wegwerfende, verächtliche Tonfall reizte Heinrich; aber ein Blick auf das Gesicht des Vaters raubte ihm den Mut, sich dagegen aufzulehnen. Der alte Mann kauerte auf seinem Stuhle wie ein Aschenhaufen, in dem die Glut aufs Emporlodern lauert. Mühsam darniedergehaltene Erbitterung, mühsam erzwungene demütige Ergebung, mühsam bemeisterte 63 zitternde Erwartung malten sich in seltsamer Mischung auf seinem düstern Antlitz.
«Wie wird das ein Ende nehmen?» seufzte Heinrich inwendig. Er befand sich in namenloser Verwirrung. Daß es den Vater so hart treffen werde, hatte er sich nicht vorgestellt. Wie furchtbar peinlich das alles war!
Plötzlich wurde es lebendig auf der Straße. Der Schnauzer und der Maler Zurbrügg kamen vom Dorfe her angezottelt. Sie hatten beide Öl am Hut und schwatzten und krakehlten drauflos.
«Er saß natürlich immer noch in der Löwengrube», schrie der Schnauzer dem Altgesellen entgegen und lachte eine Schütte. «Aber beim Sandgrübler bin ich denn doch gewesen», verteidigte sich Zurbrügg, «und wenn der Lump da nicht gekommen wäre und gezahlt hätte, säße ich längst zu Hause hinter der Arbeit.»
«Er will nämlich jetzt solid werden, unser guter Daniel und den Frommen spielen. Er geniert sich halt vor seinem zukünftigen Schwiegersohn.» Der Altgeselle winkte dem Schnauzer: Schweigen! Dieser achtete des Winkes jedoch nicht und konnte der Lust, andere in heillose Verlegenheit zu setzen, nicht widerstehen. Es gewährte ihm eine diebische Freude, zu beobachten, wie sich Heinrichs Wangen blutrot färbten, und er plaferte unbeirrt weiter: «Ja, ja, Daniel, nun heißt es sich zusammennehmen. Dieser junge, 64 tugendhafte Mann da und deine Tochter, die werden dir die Schnur ziehen.»
«Hör jetzt auf, Sturm du!» brummte Zurbrügg ärgerlich und unsicher und schickte sich an zum Gehen. Aber es war zu spät, der Stein war im Rollen, unaufhaltsam.
Mit einem Mal stand der alte Bucher neben Heinrich und packte den Sohn am Arm. «Ist das wahr, Heinrich?» schrie er ihn an. «Hast du etwas mit seiner Tochter? Red! Und dieser volle Süffel soll dein Schwiegervater werden? Das wird auch eine Saubere sein, dem seine Tochter! Deswegen hast du dich so lang besinnen müssen?...»
«Vater, Vater!» wehrte Heinrich ängstlich ab.
«Was sagst du?» brannte jetzt Zurbrügg auf. «Was hast du dein Maul dreinzuhängen und mich ‹vollen Süffel› zu titulieren, du altes donnerwetter Käderimanndli du! Und meine Tochter laß ich nicht verschimpfieren. Die kriegt noch einen andern, als nur so einen lausigen Sattlergesellen. Hast’s gehört du, junger Schnaufer: Brauchst dir keine Mühe mehr zu geben, wegen meiner Tochter! Bist jetzt lang genug um unser Haus herum getichen, Hutlüpfler du, scheinheiliger Schleicher du! Packt ihr euch nur, wo ihr hergekommen seid, du und dein Alter!»
Jetzt wurde der Zorn auch über Heinrich Meister.
«Gut, so sei’s! Ich werde eure Tochter nie mehr belästigen...»
65 Laut und scharf hatte er gesprochen und noch mehr beifügen wollen, irgend etwas Beleidigendes für Zurbrügg; aber die Worte erstarben ihm auf den Lippen... Vom Malerhäuschen her kam eilig die Martha geschritten, in der Gartenschürze, mit erdigen Händen, im Gesicht bleich wie ein Leintuch, aber festen Ganges, mit stolzgetragenem Kopfe.
«Jetzt kommst du nach Hause, Vater», sprach sie, faßte den Maler unter dem Arm und zog ihn fort. Den Heinrich und die Gesellschaft auf dem Vorplatze würdigte sie keines Blickes. Dem Zurbrügg war es schwül geworden, als sie erschien, kleinlaut und ohne Sträuben ließ er sich wegziehen.
«Nimm’s dir nicht zu Herzen, du, es ist nichts mit ihm, einen solchen findest du noch zehnmal für einmal!»
«Schweig jetzt!» schnitt sie ihm das Wort ab, «mit mir will ich schon selber fertig werden...»
Heinrich schaute ihr nach, wie versteinert, bis sie verschwunden war. Dann kehrte er sich jäh um, riß das Schurzfell vom Leibe und schmiß es weit von sich.
«So, Vater, du wolltest mit mir reden. Jetzt stehe ich zur Verfügung!» Schneidender Hohn klang aus seinen Worten, offene Feindseligkeit flammte aus seinen Blicken.
«Ich glaube, es werde jetzt nicht mehr nötig sein», erwiderte der Alte bedrückt und forschte besorgt, was 66 sich hinter des Sohnes Antlitz verberge. «Kommst du bald heim», bettelte er unterwürfig.
«Jedenfalls hier bleibe ich keinen Tag länger. Was nachher wird...»
Der alte Bucher stand noch eine Weile herum, niedergeschlagen, bekümmert, und sah zu, wie Heinrich seine Werkzeuge znsammenräumte. Er wartete auf einen Blick, auf ein Wort von seinem Sohne. Aber der hatte keine Augen für den Vater, und als der Vater endlich «Gut Nacht» sagte, biß der Sohn die Zähne aufeinander, daß die Backenknochen heraustraten. Da seufzte der alte Bucher tief und schwer auf und ging. Und sobald Heinrich seine Sachen beieinander hatte, verschwand er ebenfalls und stieg hinauf in seine Dachkammer.
Spät in der Nacht erhielt er dort noch einen Besuch. Unversehens stand der Schnauzer auf der Türschwelle.
«Mach, daß du hinauskommst!» herrschte ihn Bucher an. «Ist man denn nirgends sicher?» Er stand auf, um den unerwünschten Gast hinauszudrängen und die Türe zu verriegeln.
«Nur gemach», entgegnete der Schnauzer, «ich habe mit dir zu reden und zwar diesmal ernsthaft; ich gehe sofort wieder. Nämlich: Deinen Alten hab’ ich nicht gekannt, sonst hätte ich das Maul gehalten. Ich wollte nur dich und den Daniel schrauben und dir ein wenig Füße machen. Daß es so herausgekommen 67 ist, tut mir leid. Nicht wegen dir, sondern wegen der Martha. Weißt Bucher, ich will dir jetzt etwas anvertrauen: Wenn sie mich hätte leiden mögen, ich glaube, ihr zuliebe hätte ich das Saufen lassen können und wäre wieder ein ordentlicher Mensch geworden, ich, der Schnauzer, das Lumpenluder! Aber du, Bucher, obschon sie dir gut war, mochtest ihr zuliebe nicht ein Wörtlein ertragen, das der Alte in der Hitze sprach. Warum hast du nicht vorwärts gemacht, als es noch Zeit war? Weil du immer noch nach dem Geldsacke schieltest! Und als der Notknopf kam und du für sie kämpfen solltest, bist du zu feige gewesen... pfui Teufel!»
Damit drückte der Schnauzer die Türe ins Schloß und verschwand. Heinrich aber warf sich auf sein Bett, verbarg sein Haupt im Kissen und weinte. Als er sich nach Stunden wieder erhob, ballte er die Fäuste und murmelte:
«Sie haben mich nun gehärtet; sie mögen nun schauen, wie es kommt.»
* * *
An der Straßengabel beim alten Nußkastanienbaum erhebt sich ein stattliches, neulochtiges Gebäude, und weithin leuchtet das stolze Firmenschild: «Möbelhandlung von Heinrich Bucher, Sattler und Tapezierer.»
Wenn du in dieses Dorf kommst, so vergiß ja 68 nicht, dir das Haus und das schöne Schild zu betrachten. Und vergiß ferner nicht, zu fragen: Wie ergeht es auch dem Heinrich Bucher und seinen alten Eltern? Du kannst fragen, wen du willst, die Antwort wird allemal aufs gleiche herauskommen: «Dem Heinrich Bucher? Ach Gott, der steckt dem Geldteufel in den Klauen, und mit seinen Eltern ist er längst auseinander. Sie meinten, er werde sich ihrer und der jüngern Geschwister annehmen; aber da hatten sie sich gründlich verrechnet. Auch die Frau, die Kathrine, hat einen bösen Lebtag bei ihm. Reich ist er, das ist wahr und wird immer reicher. Wie sollte er auch nicht? Der schenkt niemanden einen Batzen.»
Und triffst du zufällig den Heinrich Bucher selber und schaust ihm einen Augenblick in sein mageres, hartes Gesicht, so weißt du: Dem läuten schon längst keine heimlichen Glocken mehr...
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Ja, und so ergeht es Tausenden, die in ihrer Jugend dem wundersamen und verheißungsvollen Klange gläubig gelauscht haben.