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In niedern Bauernstuben trifft man zuweilen Frauen, die wie Säulen an die Oberdiele ragen und auf ihrem Nacken das ganze Haus tragen. So eine aus zähestem Hartholz Gewachsene war dem Kleinbauern Scherler seine. Wenn sie ruhig abgemessenen Schrittes die Straße daher kam, hoch und straff aufgerichtet, mit herbgeschlossenem Munde und kühlen, ernsten Augen, wichen die Kinder links und rechts aus, wurden plötzlich still und gafften ihr nach, als wäre sie eine Gestalt aus einer alten Sage. Den klugen Erwachsenen fehlte zwar das Augenmaß für das seltsam Urtümliche im Wesen dieser Frau; aber eine ungewöhnliche Kraft und Gesundheit des Leibes und Zähe des Willens trauten auch sie ihr zu. Und daß sie damit nicht auf dem Holzweg waren, bewies die Folgezeit. Denn was geschieht?
Eines Tages kommt der Scherler ins Dorf gelaufen, außer Atem, schweißnaß, verstört.
«Wo brennt’s? Wo brennt’s?» fragten ihn neugierige Bekannte.
«Nirgends. Die Frau auf dem Schragen. Bodenbös!» Überraschte Mienen.
72 «Was, die und bresthaft! Eine, die aussieht, als wäre sie von Eisen und Stahl!»
«Halt in eine böse Luft gekommen!»
Und der Scherler rudert mit Armen und Beinen weiter. «In eine böse Luft gekommen? Dann freilich!» Einige meinen zwar, in solchen Fällen handle es sich einfach um eine Blutvergiftung. Andere wittern Hexerei im Spiele, und übernatürlichen Einflüssen kann selbst eine Scherlerin erliegen. Überhaupt — werden nicht just die Tannen vom Blitze gespalten, die am höchsten ragen?
Ein paar Minuten später sprengt der Doktor zum Dorf hinaus, daß der Schnee, von den Hufen des Rosses aufgewirbelt, hoch in die Lüfte stiebt. Hinter ihm drein hastet und hustet der Scherler.
Eine Viertelstunde später steht der Doktor am Krankenbett und legt sich sofort hitzig in die Stränge.
«Wo? Zeigen!»
Die Scherlerin liegt da wie eine gefällte Eiche und wickelt wortlos ihren linken Fuß aus einem Umschlag heraus. «Herrgottsackerment!»
Die Knöchelgegend sieht aus wie eine riesige Blutwurst, die eben aus der Bratpfanne kommt. Braun, rot, blau, gelblich, grünlich, in allen Farben schillert die zum Platzen gefüllte Haut. «Warum nicht eher Bescheid gemacht?» schimpft der Doktor.
«Ist zu jäh gekommen. Gestern spürte ich noch kaum etwas davon. Ich bin selber auch erschrocken, 73 als ich den Strumpf abziehen wollte und nicht mehr konnte!»
«Je nun, jetzt müssen wir halt schneiden, auspressen und einspritzen. Es ist die höchste Zeit.»
«So schneidet», sagte die Scherlerin nach kurzem Besinnen fest, und während der Doktor sein Etui auspackt und die nötigen Vorbereitungen trifft, schaut sie unverwandt zur Stubendecke empor. Dort stecken im Laden einige schwarzbraune Äste, an deren Rand der Hobel Holzfasern aufgerissen hat. Der größte gleicht deutlich einer kleinen aufgeringelten Schlange mit erhobenem Kopf und scharfgespaltener Zunge. Ein anderer ähnelt einer Wage mit gleichhoch schwebenden Schalen. Und der dritte — ist das nicht ein krähender Hahn, der mit den Flügeln schlägt? Oder ist’s ein Raubvogel, der mit einer Beute davonfliegt? Die Scherlerin kann’s nicht unterscheiden. In einem fort starrt sie zu der Decke empor, als stehe dort oben ihr Schicksal aufgezeichnet.
Ein weinendes Mädchen bringt Wasserbecken und Handtuch.
«Willst du mir helfen?» forscht der Doktor.
«Geh hinaus und schließ’ die Türe,» befiehlt die Scherlerin.
«Schnauzius Rapunzius,» denkt der Doktor und brummt scheinbar aufgebracht: «Es sollte doch jemand zur Hand sein.» «Ja, wenn der Mann da wäre. Aber dem Mädchen graust es. Und ich halt schon dar.»
74 «Gut, das werden wir gleich sehen.»
Er geht ungesäumt ans Werk, und die Scherlerin hält ihm wirklich dar, wie ihm noch selten jemand dargehalten hat. Ein leichtes Zucken, wenn er schneidet, ein krampfhaftes Spannen des Knies, wenn er auspreßt, das ist alles. Freilich bleich geworden ist die Tapfere, der Schweiß bricht ihr aus allen Poren, und die hervortretenden Backenknochen verraten das Zusammenbeißen der Zähne. Aber aus ihren grauen Augen leuchtet ungebrochene Willenskraft und nicht einen Wehlaut, nicht eine Träne preßt ihr der Schmerz aus, obschon der Doktor nicht zimperlich angreift, um das Gift herauszubekommen. Musterhaft beherrscht sie sich, eine andere hätte gestöhnt, gewimmert, geschrien, und der Doktor weiß solche Standhaftigkeit zu würdigen. Wie Seidenwatte ist er geworden. Beim Abschied drückt er ihr fest die Hand, und den Hut setzt er erst draußen auf.
«Das ist eine Kernige — Herrgottsackerment,» sagt er zum heimkehrenden Scherler, und fügt bei: «Hoffentlich ist nun der Schlange der Giftzahn ausgebrochen.» Und der Scherler ist froh, das glauben zu dürfen.
Doch diesmal hat der Doktor zu frühe Hoffnungsblümlein gesäet. Jeden Tag spornt er sein Roß auf den Grat hinauf. Alle Mittel wendet er an. Immer düsterer wird seine Miene. Ein Höllengift muß in dem wunden Knöchel stecken; immer weiter frißt es um sich. Nur das letzte bleibt noch.
75 «Der Fuß muß weg!»
Hart und bestimmt fordert es der Doktor. Nicht länger kann er die Verantwortung tragen. Ferneres Zögern könnte den Tod bedeuten. Allein nun stößt er mit dem Bohrer auf harten Fels. Ebenso entschieden entgegnet die Scherlerin:
«Der Fuß muß nicht weg; gesund werden muß er!»
«Und der Fuß muß weg! Oder er zieht den ganzen Leib ins Grab.»
«Entweder sinkt der ganze Leib ins Grab oder der Fuß wird heil!»
«Fürchtet Ihr Euch vor der Operation?»
Daraus erwidert die Scherlerin nicht ein Wort. Sie sieht den Doktor nur groß an, bis er verlegen wird.
Der Doktor, ein sehr gewissenhafter und kenntnisreicher Arzt, aber ein Hitzkopf und an Zurechtweisungen nicht gewöhnt, flammt auf:
«Was soll man denn, solcher Unvernunft gegenüber? In acht Tagen seid Ihr mausetot!»
«Ich will’s drauf ankommen lassen!»
«So sei’s! Zwingen kann ich Euch nicht!»
Achselzuckend brummt’s der Doktor. Das Nachgeben kommt ihn verdammt hart an. Er versucht noch, sich hinter den Scherler zu stecken. Draußen vor dem Hause trifft er ihn.
«Der Fuß muß abgenommen werden und sie will 76 es nicht geschehen lassen. Redet ihr doch zu! Habt Ihr denn kein bißchen Gewalt über sie?»
«Gewalt über sie?» Der Scherler ist keine Butter, die irgend einer in ein Modell streicht, und wegen einem bösen Stier oder bissigen Hund tut er nicht manchen Schritt nebenaus. Trotzdem zieht er jetzt den Atem lang und mißt den Doktor mit einem Blick, in dem geschrieben steht: Herr, unter Eurem Schädeldach nisten absonderliche Schwalben! Und dem Blick schickt er die Worte nach:
«Ihr kennt sie nicht. Was sie will, das will sie! Da pfeift kein Wind dazwischen und nagt keine Maus ein Splitterchen davon ab.»
«Dann macht Euch aufs Schlimmste gefaßt!»
Nun, in diesem Fall wagt der Scherler doch noch einen Versuch. Die Angst treibt ihn; sie treten nochmals ans Krankenbett, und der Scherler bröckelt hervor:
«Der Doktor meint, es müsse sein. Ich würde mich doch noch besinnen...»
«Der Fuß ist mein!»
«Aber wenn’s zum Sterben gehen sollte...»
«So stirbt niemand für mich.»
«Wenn ich doch weiß und sage: Heilung ist ausgeschlossen!» mischt sich der Doktor drein.
«So weiß und glaube ich: Heilung ist möglich. Entweder mit beiden Füßen ins Grab oder unverstümmelt ins Leben zurück.»
77 «Gut, so setzt Euren harten Kopf durch. Mit der Behandlung will ich aber nichts mehr zu tun haben.»
«Das ist mir leid; ich habe nichts gegen Euch. Nur zwingen lasse ich mich nicht, und wenn Ihr mir nicht helfen wollt, hilft mir ein anderer.»
«Nun also — vielleicht kann er mehr als ich.» Verdrießlich nimmt der Doktor Abschied. Er ist heilig überzeugt, daß sich die Dickköpfigkeit der Scherlerin rächen werde.
Nun folgt für die arme Frau eine Zeit schrecklicher Leiden. Unaufhörlich wühlt es wie mit Messern in der Wunde. Immer weiter frißt das Gift. Endlos dehnen sich die Tage und Nächte, schneckengleich schleichen die Minuten und Stunden dahin. Die Sorgenwalze drückt ihr schier Leib und Seele platt. Soll der Doktor doch Recht behalten? Jetzt gilt es, sich fest zu gürten mit dem Panzer des Vertrauens. Die Zweifel stürmen an und spähen, wo sie eindringen können. Bange späht auch der Scherler in die Bettecke, so oft er in die Stube tritt. Er kann es nicht verschweigen: «Du hättest doch aus den Doktor hören sollen.»
Die Frau gibt keine Antwort. Endlich hält’s der Scherler nimmer aus. Ein frischer Arzt wird geholt. Auch er kommt zum Schluß, operieren wäre das Zuverlässigste; aber erzwingen will er es nicht. Nur stehen kann er für nichts. Unter diesem Vorbehalt übernimmt er die Behandlung. Der stille 78 Kampf in der Bettecke geht weiter. Tagelang hängt der Wagebalken in der Schwebe, an der einen Schale zerrt der Tod, in der andern ruht das Leben. Tiefe Furchen graben sich um den Mund der Frau; ihre Lippen dorren und spalten; auf den Wangen brennt das Fieber. Häufig wandern die Blicke hinauf zu den Astbildern an der Decke. Ach, wenn sich doch endlich eine Schale senken wollte, damit diese Pein ein Ende nähme! Und der heiße Wunsch geht endlich, endlich in Erfüllung. Der Arzt konstatiert nach eingehender Untersuchung erste Anzeichen leichter Besserung. Die Todesgefahr scheint überwunden zu sein. Dafür droht eine andere: Dauerndes Siechtum. Das Schicksal spottet über das Entweder-Oder der Scherlerin und auferlegt ihr just das, was sie vermeiden wollte. Schrecklicher als der Tod ist ihr das Los, als unnützer Mensch andern zur Last fallen zu müssen. Darum spürt ihre Seele keine Entspannung, trotzdem die Schmerzen erträglicher geworden sind. Wochenlang dauert die neue Qual, und die Länge verschärft die Strenge. Seltsame Seelenzustäude bemächtigen sich der Ermatteten. Augenblicke, in denen sie sich das kranke Glied mit einem Beil abhacken möchte, wechseln mit Augenblicken, in denen sie sich wegen ihres Wankelmutes verachtet. Stark sein, frei sein, tätig sein — erst jetzt weiß sie, was das für ein unermeßliches Glück ist. Sehnsüchtig streckt sie ihre Arme danach aus und hadert mit dem Schicksal, 79 das sie in der Bettdecke gefangen hält. O, wie sie dieses Bett haßt, dieses schwächende Bett, das langsam an ihrem Lebensmark zehrt und den trotzigen Willen aus ihrem Herzen zu reißen droht. Ist es nicht ein Unsinn, daß eine, die Karst und Hacke zu schwingen vermag, die mit Griffsparren und Stockerbeil ebensogut umzugehen weiß wie mit Besen und Kuchenschüssel, eine, an der jede Faser nach fruchtbarer Betätigung schreit, wie ein Bündel Säcke in einem dunkeln Winkel vermodern soll? Ist es nicht doppelt schwer für sie, die als wildaufwachsendes Küherkind in ihrer frohen Jugendzeit auf waldumsäumter Alpweide nacktfüßig mit Füllen und Rindern um die Wette sprang, wenn noch der glitzernde Morgentau an den blauen Enzianen hing? O, wenn sie doch ihren kranken Fuß in diesem Tau baden könnte, hinauskönnte in den harzduftenden Wald und an die liebe Sonne, es müßte besser werden! Eines Tages, als sich wieder einmal alles in ihr aufbäumt gegen das faule Stilliegen, rutscht sie herunter von ihrem Schmerzenslager und tastet zum Fenster. Nur ein paar Schritte sind es, Schrank und Tisch dienen ihr als Stütze, dennoch kreisen ihr die Wände und Fenster, und sie bricht kraftlos zusammen. Ihr Mann will sie ins Bett tragen. Sie wehrt: «Nicht wieder zurück in die heillose Ecke; zieht mir doch das Bett besser an die Helle! Ich muß mehr Licht und Luft haben.» Man willfahrt 80 ihr, und ihr ist wohler. Am Tage darauf befiehlt sie ihrem Jungen: «Geh in den Wald, brich mir einen Reckholderschößling und ein paar Ästchen weißtannenes Kries!» Der Junge wundert sich; aber ans Gehorchen gewöhnt, schiebt er sofort ab und holt einen ganzen Busch Zweige. Die Mutter streichelt sie mit den Händen, breitet sie auf die Bettdecke, stärkt Augen und Herz daran und saugt leise den würzigen Duft ein. Von Stund an ist sie viel gefaßter und der Kleinmut ist aus dem Felde geschlagen. Schneeglöcklein und Weidenkätzchen künden ihr den kommenden Lenz an, und manchmal guckt ihr die Frühlingssonne auf das Bett und bleibt ein Weilchen bei ihr auf Besuch.
Der Schnee schmilzt; die Äcker trocknen; die Scherlerleute gehen an die Arbeit. Die kranke Mutter läßt sich nicht Pflegen, will niemanden versäumen. Nur das Fenster hat man ihr geöffnet, um die lauwarme Frühlingsluft einziehen zu lassen. Wie sie nach einem Stücklein blauen Himmel ausspäht, fliegt der Haushahn aufs Fensterbrett, schlägt wuchtig mit den Flügeln und kräht, daß es der Scherlerin durch alle Glieder fährt. Aber sie nimmt’s für ein günstiges Vorzeichen. Der Asthahn oben an der Decke, der faule Geselle, hält immer nur die Schwingen gereckt; aber den erlösenden Schrei ist er schuldig geblieben. Nun ist der lebendige Hahn an seine Stelle getreten und hat Viktoria gesungen mit voller Kraft. Jetzt 81 meint die Scherlerin: Die Leidensstationen sind überwunden. Zum zweitenmal wagt sie das Bett zu verlassen; denn übermächtig zieht es sie zum Fenster hin. Und diesmal zwingt sie’s durch. Eine Stabelle muß ihr den siechen Unterschenkel ersetzen; sie stemmt das Knie aufs Sitzbrett, rückt mit Armkraft die Stabelle weiter und tritt mit dem gesunden Bein nach. Es ist ein schrecklich mühsames Gnoppen und Nachhoppen, gut daß niemand ihre Schwäche sieht. Dafür lohnt nun der Blick ins Freie. Wie schön ist die Welt, verklärt im milden Glanz der Frühlingssonne! Im Sande baden und wälzen sich die Hühner. Unter der Zeugstange sonnt und putzt sich die geflammte Katze, unermüdlich fährt sie mit den Tätzchen hinters Ohr. Drüben am Rain blühen die ersten Goldköpfe des Löwenzahns. Eine Wunderwelt ist neu erwacht, nicht genug kann man sie schauen. Hart hält es die Scherlerin, sich von dem lang entbehrten Anblick zu trennen, aber endlich muß es sein, und sie sucht ihr Lager auf mit dem Trost im Herzen: «Ich werde doch durchschlagen und wieder arbeiten können.»
Von da an verläßt sie jeden Tag ein Weilchen das Bett, und die Spinnen und Fliegen bekommen zu spüren, daß sich die Hausfrau wieder regen kann. Nach einer Woche ist sie schon so weit, daß sie mancherlei leichte Hausgeschäfte besorgen kann und nach einer ferneren Woche getraut sie sich bis in die Küche. Und nun erobert sie nach und nach alle Provinzen 82 ihres ehemaligen Reiches wieder: den Keller, die Gaden, die Schweineställe und den Garten. Und der kranke Fuß? Mit dem ist alles im alten. Innen am Knochen nagt das Übel immer tiefer und entwickelt sich zu einem bösartigen und langwierigen Knochenfraß. Sie arznet mit Hausmitteln weiter, ohne die Hoffnung sinken zu lassen, und nie hörst du sie klagen. Nach einem Vierteljahr besorgt sie schon wieder die ganze Haushaltung, trotzdem sie nur auf einem Bein stehen kann. Ein Knie auf den Stuhl gestützt, kehrt sie die Stube. Mit dem Stuhl als Knieunterlage steht sie am Kochherd und an der Abwaschbank. Gleicherweise meistert sie den Brotteig in der Mulde. Mit dem Stuhl steigt sie in den Keller hinunter und holt eine sechslitrige Kachel voll Milch. Nicht einen Tropfen verschüttet sie. In der ausgestreckten Rechten die schwere Kachel, mit der Linken den Stuhl regierend, klimmt sie die steile Treppe empor. So trägt sie auch die gefüllte Schweinemelchter zum Trog, so den Wasserkessel in die Küche. Abends ist sie freilich müde zum Niedersinken und erdenfroh über das Bett. Aber was tut das? Der Tag war kurz; der Haushalt klappt; die Messingkellen glänzen; die Fenster blinken; die Böden sind gefegt und Herz und Gewissen der Frau sind unbeschwert.
Einmal reitet der Doktor vorbei und sieht sie mit ihrem Stuhl kutschieren. «Ginge es nicht leichter 83 mit einem hölzernen Fuß?» sticht er sie an und zwinkert spöttisch. «Nein,» ruft sie ihm nach, «den Stuhl kann ich wegstellen, wenn der Fuß wieder heil ist, den Holzfuß hingegen müßte ich behalten.»
Vorläufig ist jedoch der Stuhl noch nicht entbehrlich. Das Jahr geht um, zwei Jahre sind vorbei, fünf Jahre verflossen, die Scherlerin schleppt immer noch ihr Marterholz nach. Manchmal wird es ihr entsetzlich schwer. Wie gerne möchte sie einmal in die Predigt gehen! Jeden Samstag abend kämmt sie sich die Haare; denn was man am Samstag tun kann, gehört nicht in den Sonntag hinein. Klingen am Sonntag die Kirchenglocken, dann steht sie vor dem Hause, horcht und verrichtet ihr Gebet, still und unauffällig. Bedauert sie einer, so erwidert sie gefaßt: Ich fülle doch noch einen Platz aus. So geht’s ins sechste, siebte und neunte Jahr hinein. Im zehnten Jahre kann die Scherlerin zum erstenmal wieder auf den Fuß stehen und im elften stellt sie den Stuhl schon häufig beiseite. Was will der Knochenfraß ausrichten an so harten Knochen? Das Nagen verleidet ihm. Zelle um Zelle verheilt, vernarbt, und endlich ist die Wunde geschlossen, und im dreizehnten Jahr kann die Scherlerin Weg und Steg brauchen, so rüstig und unbesorgt wie ehedem. Die letzte Fessel ist gesprengt; nichts hindert sie mehr, ihrem Mann eine treue Gehilfin zu sein bei der Arbeit in Feld und Wald. Siegesstolz und auf 84 gesunden Füßen marschiert sie allsonntägtich am Doktorhaus vorbei in die Kirche und der Doktor brummt in den Bart:
«Sie soll den Nacken nur zäumen! Herrgottsackerment ist das eine! Jetzt sag’ ich nichts mehr!»
Ja, sie war eine, die Scherlerin, und nie hatte sie zu bereuen, daß sie ihrem Kopfe gefolgt war. Mehr als zwanzig Jahre ist sie nachher festen Fußes über die Erde gewandelt. Und wenn sie ruhig abgemessenen Schrittes die Straße daherkam, hoch und straff aufgerichtet wie ehedem, mit herbgeschlossenem Munde und kühlen, ernsten Augen, traten nicht nur die Kinder ehrfurchtsvoll zur Seite, auch die Großen schauten ihr staunend nach.