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Marquez war mit seinen Ausfallstruppen geschlagen worden, und wenn man auch in Mexiko wußte, daß der kleinen Zahl eine furchtbare Übermacht, noch dazu hinter befestigten Werken, gegenüber gestanden, so machte es doch in der Stadt einen höchst peinlichen Eindruck, denn was konnten sie jetzt noch hoffen.
Die Stadt selber sah auch verödet aus – alle Läden waren geschlossen, die Bewohner wagten sich kaum noch auf die Straße, denn das Feuer der Belagerer wurde von Tag zu Tag heftiger, und trübe Nachrichten von außen dienten nicht dazu, den Belagerten frischen Mut zu geben. So wenig man bis setzt wirklich geglaubt, daß Queretaro genommen und der Kaiser gefangen sei, so drängte sich doch der Masse endlich die Überzeugung auf, daß es im inneren Lande nicht gut stehen könne, sonst hätte man schon in dieser langen Zeit bestimmte Nachricht haben müssen – aber Gewißheit fehlte, und die wackeren österreichischen Führer, Graf Khevenhüller und Oberst Kodolich, wiesen alle Versuche des liberalen Oberbefehlshabers, die Waffen in einer hoffnungslosen Sache niederzulegen, auf das entschiedenste zurück.
Da gelangte plötzlich am 16. Juni ein Brief von Baron Lago aus Tacubaya, dicht bei Mexiko, an den Grafen Khevenhüller, der jeden Zweifel zerstreuen mußte und dem Ganzen eine entschiedene Wendung gab.
Baron Lago, der österreichische Geschäftsträger, aus Furcht, sein kostbares Leben gefährdet zu sehen, hatte allerdings den Kaiser in seinen letzten Tagen und in der höchsten Gefahr verlassen – hier aber traf seine Kunde zur rechten Zeit ein, um weiteres Blutvergießen und Unheil zu verhüten.
Der Brief lautete:
»Lieber Graf – Ich mache Ihnen offiziell zu wissen, daß der Kaiser Maximilian sich in Queretaro, von wo ich am heutigen Abend hier eingetroffen bin, in Gefangenschaft befindet. Er wurde am 15. Mai mit seiner ganzen Armee und allen seinen Generalen gefangen genommen.
Ich habe Seine Majestät zu wiederholten Malen in seinem Gefängnis in dem Kloster de las Capuchinas gesprochen. Ohne Zweifel hat General Marquez einen eigenhändigen Brief Seiner Majestät, den Ihnen Herr v. Magnus gesendet hat, beseitigt. In diesem Briefe befiehlt Ihnen Seine Majestät sowie allen übrigen Offizieren österreichischer Nationalität, fürderhin jedes Blutvergießen zu vermeiden.
Ich erlaube mir nun, Ihnen dies, in meiner Eigenschaft als österreichischer Geschäftsträger, mitzuteilen, indem ich Sie und die anderen Offiziere der genannten Nationalität für jedes, von nun an für eine verlorene Sache vergossene Blut jedes Österreichers verantwortlich erkläre, und dies zwar gegenüber Seiner k. k. österreichischen Majestät.
Empfangen Sie Herr Graf etc.
Baron de Lago.«
Der letzte Satz war eine – Schwachheit, um ein ganz mildes Wort zu gebrauchen; Österreich hatte sich lange von den nach Mexiko gezogenen Soldaten losgesagt, fand es sogar später gegen das »Prinzip«, Offiziere von dort wieder anzustellen, und gestattete es nur ausnahmsweise. Aber der Brief selber klärte endlich die Situation und brachte das unnatürliche Verhältnis in Mexiko zu einem Abschluß. –
Im erzbischöflichen Palast saß an dem nämlichen Nachmittag Labastida und schrieb verschiedene Briefe, horchte aber dabei immer unwillkürlich nach der Tür. – Er hatte den General Marquez zu sich bitten lassen, und erwartete ihn schon seit fast zwei Stunden, ohne daß er der Aufforderung gefolgt wäre.
Endlich meldete ein im Vorzimmer stationierter Padre den Oberbefehlshaber der Stadt, und gleich darauf betrat Marquez in voller Uniform, aber bleich und mit finster zusammengepreßten Zügen den Raum.
»Monsennor hatten gewünscht, mich zu sprechen,« sagte er, »und es trifft sich dabei sehr gut, denn ich wäre auch von selber heute zu Ihnen gekommen. Was ist es, das Sie mir mitzuteilen haben?«
»Nichts Gutes, lieber Marquez,« sagte der Erzbischof, »nichts Gutes in der Tat. Aber was hätte Sie zu mir geführt?«
»Ich möchte Ihre Neuigkeit zuerst hören,« sagte Marquez trocken, »vielleicht ist es das nämliche, was ich erfahren habe.«
»Schwerlich,« rief Labastida, »dann bringen Sie mir eine andere Unglücksbotschaft.«
»Es kommt selten eine allein,« lachte Marquez bitter, »also was war es?«
»Santa Anna ist von den Liberalen gefangen genommen,« sagte der Erzbischof mit unterdrückter Stimme, »und Vera-Cruz selber vielleicht schon, während wir hier sprechen, in ihren Händen.«
»In der Tat?« sagte Marquez, ohne jedoch besondere Aufregung deshalb zu zeigen, »ist Ihr Bote zurück?«
»Denken Sie sich die Niederträchtigkeit von Porfeirio Diaz,« rief aber der Kirchenfürst, und seine Augen blitzten dabei vor Zorn und Ingrimm – »den Boten, den Padre Zaloga, haben sie aufgefangen – er hatte noch andere wichtige Papiere aus Puebla bei sich, die jetzt verloren sind – den Brief aber, der mir über Santa Anna Kunde gibt, schickt mir General Diaz hier herein, und zwar zugleich mit einem Zettel, worin er uns einfach anzeigte, daß er den »würdigen Padre« als Spion habe hängen lassen.«
Ein spöttisches, fast verächtliches Lächeln zuckte um Marquez' Lippen, aber er hielt es nicht einmal der Mühe wert, darauf zu antworten.
»Da bringe ich noch bessere Kunde,« sagte er nach einer Pause, »diesen Brief haben die fremden Obersten heute von dem österreichischen Gesandten erhalten.«
»So wissen sie alles?« rief der Erzbischof rasch.
»Gewiß –«
»Und was haben sie beschlossen zu tun.«
»Was konnten sie beschließen? Sie weigern sich, weitere Dienste zu tun, und die Geschichte ist aus.
Der Erzbischof sah den General starr und erbleichend an.
»Und was gedenken Sie zu tun?«
»Mich nicht von den Liberalen erwischen zu lassen,« erwiderte Marquez trocken.
»Und die Stadt?«
Der General zuckte die Achseln. – Unsere Truppen können sie nicht allein mehr halten,« sagte er ruhig, »und werden sich hüten, einen weiteren Versuch dahin zu machen.«
»Und wenn man ihnen Geld verspräche?«
»Monsennor haben schon zu viel versprochen,« sagte der General ruhig, »daß Ihnen kein Mensch mehr glaubt. Jetzt aber hülfe auch nicht einmal mehr Geld, und wenn es der Klerus wirklich bar aus den Händen gäbe – es ist zu spät. Hätten Sie den Kaiser unterstützt, so konnten Sie mit dem noch zu einem Verständnis kommen – mit den Liberalen ist das, wie Sie recht gut selber wissen, nicht mehr möglich, und Sie mögen jetzt sehen, wie Sie mit denen fertig werden.«
»Und ist das all der Dank, den wir von Ihnen zu erwarten haben, General?« sagte Labastida, sich stolz emporrichtend.
»Dank?« erwiderte Marquez bitter – »ich wüßte in der Tat nicht, Monsennor, wofür ich Ihnen Dank schuldig wäre, denn von allem Anfang an hatten Sie nur das Interesse des Klerus im Auge und hielten sich zu dem, der Ihnen Aussicht bot, das zu fördern. Ich habe es versucht, aber es ging eben nicht – das Volk wird doch mit den Jahren klüger. War es sonst noch etwas, das Sie mir mitzuteilen hatten?«
»Und soll denn wirklich alles verloren sein!« rief der Erzbischof in Verzweiflung.
»Darüber werden Sie sich mit dem Präsidenten Juarez verständigen müssen, Monsennor,« erwiderte kalt der General, machte dem Erzbischof eine tiefe Verbeugung und verließ das Haus.
Unter dem Militär entwickelte sich jetzt eine ganz eigentümliche, aber dabei fast unheimliche Regsamkeit, denn mit der Gewißheit, daß das Kaiserreich gestürzt und der Kaiser gefangen sei, dachten die fremden Truppen gar nicht mehr daran, für General Marquez oder irgendeinen Mexikaner den Krieg fortzuführen. Ihre Führer erklärten augenblicklich dem General Marquez, daß sie mit Porfeirio Diaz selber über ihren Zug nach der Küste in Unterhandlung treten würden – erhielten aber gar keine Antwort. Marquez blieb überhaupt von dem Augenblick an verschwunden. Nachdem man ihn noch bei General Andrade hatte vorfahren sehen, setzte er sich in seinen Wagen, und kein Mensch war imstande anzugeben, wohin er sich gewendet.
Das Kommando in der Stadt, oder vielmehr den Oberbefehl über die jetzt unaufhaltsam eintretende Verwirrung, übernahm General Tavera, aber auch ihm blieb nichts weiter übrig, als mit dem Feind zu kapitulieren – es wäre ihm nicht möglich gewesen, die jetzt von den deutschen Truppen aufgegebene Stadt auch nur gegen einen Ansturm des Feindes zu halten, selbst wenn er noch Lebensmittel für seine Soldaten gehabt hätte.
Die fremden Truppen aber zogen, wie es mit Porfeirio Diaz ausgemacht worden, sämtlich in den kaiserlichen Palast, in dessen Hofräumen sie sich lagerten. Die Tore wurden geschlossen, und die ausgesteckte weiße Fahne deutete an, daß sie alle Feindseligkeiten eingestellt hätten.
Jetzt erst bekamen sie sichere Nachrichten von ihrem Kaiser, und mit welchem Weh es die treuen Herzen erfüllte, läßt sich denken.
Am 21. endlich marschierte Porfeirio Diaz in musterhafter Ordnung in die Stadt. Es war eine rauh aussehende Armee, die Soldaten meist barfuß oder mit Sandalen, in Leinwandhosen, oft ohne Jacken selbst, aber vortrefflich bewaffnet und in strenger Disziplin gehalten. Den Soldaten war unter Todesstrafe jede Gewalttat verboten, auch der Verkauf von spirituösen Getränken in der Stadt für die ersten drei Tage bei schwerer Strafe untersagt.
Der Klerus aber mußte – wo er am liebsten die ganze Armee der Liberalen exkommuniziert hätte, zu Mittag ein Tedeum abhalten und alle Glocken läuten lassen – sie deuteten den Frieden.
Während die Glocken noch erklangen, die Soldaten aber schon meist alle ihre Quartiere bezogen und die Offiziere sich zerstreut hatten, um ihre alten, lange nicht gesehenen Bekannten und Verwandten wieder aufzusuchen, ritten zwei Reiter in mexikanischer Tracht über die Plaza und bogen nach einer der Seitenstraßen ein. Dieser folgten sie eine kurze Strecke, bis sie ein kleines, aber freundliches Haus erreichten.
Der eine von ihnen, eine sehr stattliche Gestalt mit schwarzem Schnurrbart und Militärischem in seinem ganzen Wesen, hielt hier, sprang vom Pferd, warf seinem Begleiter die Zügel zu und klopfte mit dem Hammer an die Pforte. Es dauerte auch nur wenige Momente, so erschien ein indianischer Bursche, der aber mehr erschrocken als erfreut schien, den Caballero da zu finden.
»Nun, muchacho,« sagte dieser, »du schneidest ja ein sehr bestürztes Gesicht – ist die Sennora zu Hause?«
»Ah, Sennor Lopez!« rief der Junge, »sind Sie wieder da? Nein, die Sennora ist nicht zu Hause – schon seit drei Tagen nicht.«
»Seit drei Tagen?« rief Lopez erstaunt – »und wo sonst ist sie?«
»Bei ihren Eltern,« sagte der Bursche, »und ich weiß nicht, wann sie wiederkommt.«
Lopez warf ihm einen düsteren, mißtrauischen Blick zu, erwiderte aber kein Wort, drehte sich ab, schritt hinaus, sprang wieder in den Sattel und trabte die Straße hinab, dem Hause seiner Schwiegereltern zu. – Was konnte nur seine Frau bewogen haben, ihre eigene Heimat zu verlassen? Aber das alles mußte er ja bald erfahren, und schärfer ließ er sein Pferd austraben, um die Stätte rasch zu erreichen.
Vier oder fünf Straßen mochten die beiden etwa passiert sein, ohne ein Wort miteinander gewechselt zu haben, als sie wieder an einem größeren und sehr eleganten Hause anhielten, und wieder sprang Lopez aus dem Sattel und klopfte an die Pforte – aber niemand antwortete oder kam, um zu öffnen.
Sein Begleiter, Oberstleutnant Jablonsky, hatte wohl, als sich jener eben dem Hause näherte, eine Frauengestalt bemerkt, die auf den einen Balkon trat. Sie warf aber nur einen flüchtigen Blick hinab und verschwand dann wieder, und Jablonsky glaubte natürlich, daß sie nun einen Diener zum Öffnen senden würde – aber es kam niemand. Lopez klopfte jetzt stärker und anhaltend und ließ zuletzt den Hammer so rasch und tönend auf das Eisen niederfallen, daß das ganze Haus davon erbebte und die Nachbarinnen schon auf die Balkone hinaustraten. Endlich wurden unten Schritte gehört, die Tür öffnete sich, und ein junges Mädchen stand im Gang.
»Die Sennora im Haus?« rief Lopez, der sie recht gut kannte, – »wie geht es dir, Manuelita?«
»Meine Schwester kommt gleich,« erwiderte die Sennorita, ohne aber nur den Gruß mit irgendeinem Wort oder Blick zu erwidern. – Lopez wollte auch an ihr vorüber und durch den unteren Gang der Treppe zueilen, als er seine junge Frau erblickte, die mit dem Kinde auf dem Arm ihm entgegenkam, seiner Umarmung aber auswich und ihm nur den erschreckten Knaben entgegenhielt.
»Da,« rief sie, und ihr Antlitz war dabei totenbleich, aber ihre Augen blitzten, und ihre ganze Gestalt zitterte – »da hast du dein Kind, Verräter – Verräter an deinem Kaiser und Wohltäter, an dem Paten deines eigenen Knaben!«
»Querida!« rief Lopez entsetzt, indem er vor dem sprühenden Blick des jungen Weibes scheu einen Schritt zurücktrat – »was ist dir?«
»Was mir ist?« rief aber die Frau, den Knaben auf den Boden setzend, indem sie sich zu ihrer vollen Höhe aufrichtete, »und das fragst du auch noch? – Traidor! – Weißt du, wie dich das Wort, einem Judas gleich, durch die Welt treiben wird? Da, nimm deinen Knaben – du hast ihm die Schmach, den Fluch deines Namens gelassen, und er wird ein Verräter werden, wie du selber – aber dann weiche von dieser Schwelle, denn verflucht ist selbst der Boden, auf dem du stehst!«
»Um der heiligen Jungfrau willen!« rief Lopez, die Arme nach ihr ausstreckend; aber das junge Weib flog den Gang zurück, und das Kind, das sich aufgerafft hatte und so klein war, daß es kaum laufen konnte, suchte schreiend ihr zu folgen.
Lopez stand, das Gesicht in den Händen bergend, vernichtet und gebrochen, dann raffte er sich empor – er zögerte – sollte er ihr nach? – Er wagte es nicht – den schreienden Knaben aufgreifend und an sich pressend, küßte er das Kind, aber er setzte es wieder auf den Boden, dann aus dem Haus wankend, ergriff er die Zügel seines Pferdes und schwang sich in den Sattel.
»Caracho, Lopez!« rief ihm sein Begleiter zu – »was ist Euch? Ihr seht ja käseweiß aus, – etwas vorgefallen im Haus?«
Lopez antwortete ihm nicht, sein Tier fühlte die Sporen, und im Galopp sprengte er die Straße hinab – wohin? – Er wußte es selber kaum, und das Tier flog mit ihm den Weg entlang – Jablonsky war aber schon an seiner Seite.
»Compannero!« sagte er, »ich halte es jetzt nicht länger aus – acht Stunden sind wir nun geritten, ohne daß auch nur ein Bissen Brot oder ein Tropfen Wein über unsere Lippen gekommen ist – das wird langweilig. Da vorn ist eine Pulqueria, und ich muß wenigstens ein Glas Wein trinken, oder ich kann mich nicht mehr im Sattel halten« – und ohne weiteres voraussprengend, zügelte er sein Pferd dort, sprang herab, band es draußen an einen Ring und trat in das Innere.
Es war die nämliche Pulqueria a los descontentos, die Jablonsky schon von früher her gut genug kannte und wußte, daß man dort ein gutes Glas spanischen Wein bekam. – Lopez folgte ihm fast willenlos. Die Zunge klebte ihm selber am Gaumen, und. er fühlte, daß er einer Stärkung bedürfe. Der Raum im Innern war freilich mit Menschen gefüllt, denn das drängte und wogte nur so heute durch die Straßen. Wurde doch die Stadt nicht mehr beschossen, und jeden trieb es, Neues von draußen und Nachrichten teils von Queretaro, teils von anderen Orten zu hören. Ebenso hatte sich hier eine Anzahl der liberalen Offiziere versammelt, um die Tagesneuigkeiten zu besprechen, und meist die Tische im benachbarten Zimmer besetzt. Einige standen aber auch an dem Schenkstand selber, um sich ihre Gläser füllen zu lassen, und der Wirt hatte kaum Hände genug, um ihnen allen zu willfahren.
Zwischen diese hinein trat Jablonsky, und niemand achtete auf ihn. Wer auch kannte den Burschen. Jeder hatte selber genug mit sich zu tun, und ebensowenig würde man seinen Kameraden, der ihm dicht folgte, bemerkt haben, wäre nicht einzelnen dessen so merkwürdig bleiches Gesicht aufgefallen.
»Caracho!« flüsterte einer der Offiziere dem anderen zu – »sieh mal den Caballero an; ich glaube, der hat nicht einen Tropfen Blut mehr in den Backen.«
Der Angeredete hielt gerade ein großes Glas Wein in der Hand, das er sich selber am Schenktisch geholt hatte, und war eben im Begriff, davon zu trinken. Über das Glas hin sah er nach dem Bezeichneten hinüber, als er es rasch und fast wie erschreckt wieder absetzte und laut ausrief:
»Lopez! Purisima!«
»Lopez? – Wer? Welcher?« rief es im benachbarten Zimmer – »Miguel?«
Lopez hatte den Blick dem, der seinen Namen nannte, zugewandt und einen Freund erkannt, mit dem er früher viel verkehrt – aber es lag ihm jetzt nichts daran, alte Bekanntschaften wieder anzuknüpfen – er wäre auch am liebsten gleich wieder umgekehrt, aber das hätte Aufsehen erregt. – Was kümmerten ihn die Offiziere – nur ein Glas Wein wollte er trinken, und dem anderen nur leicht zunickend, trat er zum Schenktisch.
Lopez – der Name hatte aber wie Feuer gezündet, denn es wurde gerade in der Zeit fast von nichts weiter in Mexiko gesprochen als von der Einnahme von Queretaro, bei der gerade dieser Lopez den Kaiser verraten und ihn und die Festung für 3000 Unzen an Escobedo verkauft hatte. – »Miguel Lopez?« rief es von allen Seiten. – Die Offiziere wollten den Mann selber sehen und drängten herbei. Der erste aber, ein Hauptmann Estella, der sich von seinem Erstaunen erholt hatte, rief, indem er einen Schritt auf Lopez zutrat:
»Und du Schurke wagst es, unter ehrliche Leute, unter Soldaten zu kommen und mit ihnen an einen Tisch zu treten und von einem Wein trinken zu wollen? Caracho!« Und mit dem zwischen den Zähnen hervorgezischten Fluch, goß er in aller Wut dem Buben den Wein, den er noch in der Hand hielt, ins Gesicht hinein.
Lopez griff, fast außer sich, nach der Seite, wo er jedenfalls seinen Revolver trug, aber jetzt brach der Sturm von allen Seiten gegen ihn los.
»Hinaus mit dem Schuft – hinaus mit der Kanaille!« rief es, selbst der Wirt griff in Entrüstung nach einer vollen Flasche, die er verkehrt in der Hand hielt – »auf die Straße mit dem Verräter, oder besser noch, an den Galgen mit ihm!« Und wer etwas Flüssiges in der Hand hielt, goß es über ihn, ja Gläser wurden nach ihm geschleudert; ein großes Pulqueglas barst ihm am Kopf, und nur durch den Hut wurde die Wucht desselben gebrochen.
Lopez warf scheu den Blick umher, aber er sah auch im Nu, daß er hier alle gegen sich hatte. Selbst sein Helfershelfer Jablonsky drückte sich vorsichtig von ihm fort, um nicht in den Verdacht zu kommen, daß er zu ihm gehöre, und dann gleiche Mißhandlung zu erfahren, und der Verräter, feige, wie er sich immer gezeigt, floh aus der Tür, warf sein Pferd los und sich in den Sattel, und jagte, wie von Furien gepeitscht, die Straße hinab. – Wohin er floh? Niemand hat es erfahren – unter anderem Namen mag er wohl das Land verlassen haben, aber selbst Mexiko, das Land des Verrats und Treubruchs, mochte diesen nichtswürdigen Verräter nicht auf seinem Boden dulden.
Auch Marquez war verschwunden, hielt sich aber noch, wie man bestimmt wußte, in der Stadt versteckt, und Porfeirio Diaz hatte 10 000 Pesos auf seinen Fang gesetzt, so daß die Polizei einen außerordentlichen Eifer entwickelte, um ihn aufzuspüren.
Ebenso fahndete man auf den Präfekten O'Horan, der in Tlalpam die zwölf Liberalen hatte hängen lassen.
Draußen am Nordende Mexikos, in einer vollkommen abgelegenen Gegend, wo nur die ärmsten Bewohner der Stadt in Schmutz und Dürftigkeit lebten und in den letzten Tagen der Belagerung, wo die Kugeln immer dichter flogen, auch fast alle ihre elenden Baracken verlassen hatten, schien noch die eine von diesen Hütten bewohnt. Eine alte Frau wenigstens stand vor der Tür draußen und mußte wohl jemanden erwarten, denn sie sah fortwährend die Straße hinunter und ging nur manchmal in ihre elende Kammer zurück. Dort hatte sie eine Kranke im Bett liegen, mit der sie, aber auch nur leise flüsternd, einige Worte wechselte.
Wieder war sie herausgekommen und erschrak sichtlich, denn dicht vor der Tür bemerkte sie zwei Fremde. – Sie wollte sich wenden und in das Haus zurückgehen, aber der eine, der mit dem anderen ein paar Worte geflüstert hatte, eilte ihr rasch nach und sagte:
»O, Sennora – erlauben Sie mir eine Frage – wohnen Sie hier ganz allein?«
»Ja,« brummte die Frau – »weshalb?«
»O – ich – suche einen guten Freund, dem ich gern etwas sagen wollte.«
»Ja, dann müssen Sie ihn wo anders suchen,« knurrte die Alte, deren Gesicht in tausend kleinen Falten lag, während die zusammengekniffenen grauen Augen daraus vorblitzten – und damit eilte sie über den Hof schräg hinüber, und würde im nächsten Moment auch die Tür erreicht und jedenfalls hinter sich zugeworfen und verriegelt haben. Der Fremde schien aber nicht gesonnen, sich so abfertigen zu lassen. Mit ein paar Sätzen war er an ihrer Seite.
»Seid Ihr ein Räuber?« schrie das Weib entsetzt, indem sie ihn zurückzuschieben suchte. – »Und glaubt Ihr, daß es bei einer armen, alten Frau etwas zu stehlen gäbe? Fort mit Euch, oder bei –«
»Pst,« warnte aber der Fremde, der auch gar nicht wie ein Mexikaner aussah. »Ich weiß, wen Ihr bei Euch habt, und muß ihn sprechen. Seid Ihr vernünftig, so soll Euch kein Leid geschehen – und ihm auch nicht. Nehmt Ihr aber keinen guten Rat an, dann rufe ich den nächsten Soldaten, der vorbeigeht, und was dann geschieht, wißt Ihr.«
»Wer seid Ihr?« rief das Weib, an allen Gliedern zitternd, »und was wollt Ihr?«
»Ich bin ein Amerikaner,« sagte der Fremde, »und muß den General sprechen – weiter nichts.«
»Welchen General – ich weiß von keinem General,« rief aber die Alte; während sich der Fremde jedoch ohne weiteres in die Tür drängte, »da seht selber – ist das etwa einer?« Und sie deutete dabei auf das in der Ecke befindliche Bett, auf dem, mit dem Rücken nach dem Zimmer zu, eine Gestalt, mit einer Serape zugedeckt, lag, die aber eine Frauenmütze über die Ohren gezogen hatte.
Der Fremde beobachtete die angebliche Kranke etwa eine halbe Minute und ließ dann den Blick im Zimmer umherschweifen. Der Raum sah öde genug aus, kahle Wände, ein paar wacklige Sessel, ein alter Tisch – außerdem war es bei dem geschlossenen Laden fast ganz dunkel. Der Fremde stieß aber ohne weiteres den Laden auf – unter dem Bett sah er ein zusammengeschnürtes Bündel, und ein anderes, wie es die Indianer gewöhnlich zu Markte tragen, lag noch mitten in der Stube.
»Wer ist die Frau?«
»Meine kranke Tochter,« sagte die Alte finster. »Habt Ihr Euch nun überzeugt? – Und nun geht, daß Ihr sie mir nicht stört; sie hat in all dem Lärm und Trubel in der Stadt überdies in den letzten Tagen keine Stunde Ruhe gehabt.«
Der Fremde war nicht so leicht abgewiesen – er betrachtete sich die Gestalt etwas genauer – die breiten Schultern gehörten keiner Frau an, er schien auch seiner Sache zu gewiß, und sich einen Stuhl nehmend, rückte er ihn ruhig an das Bett, setzte sich darauf, nahm dann einen Revolver aus der Tasche und sagte mit der größten Freundlichkeit:
»General Marquez, dürfte ich Sie vielleicht ersuchen, sich einmal einen Augenblick umzudrehen – bitte, geben Sie sich keine Mühe,« setzte er hinzu, als er bemerkte, daß die Kranke eine fast krampfhafte Bewegung unter der Decke machte – »mein Revolver hier ist in guter Ordnung, und außerdem hält noch ein Freund von mir draußen an der Tür Wache. Sie müssen mir Rede stehen, aber fürchten Sie auch nichts für Ihre Sicherheit. Wenn Sie meinen Wunsch erfüllen, soll Ihnen nicht das geringste geschehen, und ich denke gar nicht daran, Sie zu verraten.«
Die Gestalt rührte sich nicht – sie lag jetzt still und regungslos, und die Alte sagte zitternd:
»Aber um der heiligen Jungfrau willen, Sennor, was reden Sie nur – es ist meine kranke Tochter und stocktaub noch dazu. Sie könnten eine Stunde auf sie einschwatzen, und sie würde keine Silbe davon hören.«
»So,« sagte der Fremde, indem er von seinem Stuhl aufstand – »das ist dann etwas anderes – so werde ich mir nur erlauben, als Wache hier zu bleiben, und meinen Freund indessen nach einer Patrouille schicken. Behüten Sie nur so lange die kranke Tochter, Sennora« – und mit langsamen Schritten ging er nach der Tür.
Da plötzlich richtete sich die Gestalt im Bette empor, und der Fremde, sich rasch wendend, hielt den Revolver gegen sie gerichtet, aber er hatte nichts für sich zu fürchten. Er starrte in das leichenblasse und durch eine alte Schußwunde arg entstellte Gesicht des gefürchteten Generals, das mit der Frauenmütze auch einen halb komischen, halb grausigen Anblick bot.
»Was wollen Sie – wer sind Sie?« rief er dabei, und der Fremde sah recht gut, daß auch er in der rechten Hand eine Waffe trug, aber er hob sie nicht, sondern hielt sie nur krampfhaft umspannt und blickte den Eindringling mit seinen bösen, stechenden Augen, in denen ein ganzes Meer von Haß und doch auch zugleich von Furcht lag, an.
»O, Santisima,« rief da die Frau, auf ihre Knie niederfallend, »ich habe ihn auf meinen Armen herumgetragen, ich konnte ihn ja nicht verraten! Erbarmen – Erbarmen!«
»Sennora,« sagte der Fremde mit voller Ruhe, »schreien Sie nicht so – ich habe Ihnen schon vorher gesagt, daß ich ihn nicht verraten will – General, kennen Sie mich nicht mehr?«
»Nein,« sagte der General finster und riß dabei die Mütze von seinem Kopf herab, denn er fühlte, daß er lächerlich darin aussehen mußte.
»Dann will ich mich Ihnen selber vorstellen,« erwiderte der Amerikaner. »Mein Name ist Galway – erinnern Sie sich meiner jetzt? Es sind noch kaum acht Tage her – vielleicht etwas länger, daß Sie so freundlich waren – mich, wie eine Anzahl von Kaufleuten aus der Stadt, einzuladen, wonach Sie uns dann zwangen, Ihnen bedeutende Summen Geldes auszuzahlen. Mich hielten Sie damals zwei Tage lang ohne einen Bissen Essen oder einen Trunk Wasser eingesperrt, bis mich der Hunger zwang, Ihnen zu willfahren, und ich war genötigt, Ihnen hundert Unzen zu übergeben.«
Als Marquez schwieg, fuhr der Amerikaner freundlich fort:
»Ich war glücklich genug, gerade Zeuge zu sein, wie Sie diesen Schlupfwinkel suchten, und eine Weile habe ich mit mir gekämpft, ob ich die auf Ihren Fang ausgesetzten zehntausend Pesos verdienen solle oder nicht. Die Sache hat aber einen Haken. Mitleid für Sie hielt mich natürlich nicht ab, denn Sie sind vielleicht der abgefeimteste und blutgierigste Schurke, den die Welt trägt, und haben den Tod tausendfach verdient. Aber die liberale Regierung macht von der mexikanischen Tugend: alles zu versprechen und gar nichts zu halten, keine Ausnahme. Lopez, der Queretaro und den Kaiser verriet, hat ebenfalls nichts bekommen, und ich würde nur Mühe gehabt und aller Wahrscheinlichkeit nach gar nichts weiter als das Vergnügen erreicht haben, Ihrer Exekution beizuwohnen. Ich habe mir deshalb die Sache anders überlegt. – Geben Sie mir die hundert Unzen, die Sie mir frecherweise abgenommen, wieder zurück und machen Sie dann, daß Sie fortkommen – ich werde Ihnen nicht dabei im Wege sein. Weigern Sie sich, so befinden Sie sich eine halbe Stunde später in den Händen der Liberalen, und was dann mit Ihnen geschieht, wissen Sie – den alten General Vidaurri haben sie auch vor etwa anderthalb Stunden hinausgeschleppt und von hinten erschossen.«
Marquez war totenbleich geworden. »Und wer bürgt mir dafür,« sagte er mit heiserer Stimme – »daß Sie das Geld nehmen und nicht doch nachher hingehen und mich verraten?«
»Sie urteilen nach sich selber, bester General,« lächelte der Amerikaner. – »Schon daß ich nicht mehr Geld von Ihnen erpresse, als wirklich mein Eigentum ist, mag Ihnen den Beweis liefern – außerdem gebe ich Ihnen mein Ehrenwort, daß weder ich noch mein Freund da draußen Sie in den nächsten vierundzwanzig Stunden anzeigen werden. Bis dahin wünschen wir Ihrer Gegenwart enthoben zu sein. Wie ist es, haben Sie sich entschlossen?«
»Ja,« sagte Marquez finster, indem er unter die Bettdecke griff und einen kleinen Sack mit Unzen hervorholte – »es bleibt mir nichts anderes übrig.« Er langte mit der Hand hinein und hatte rasch hundert Stück abgezählt, die er dem Amerikaner reichte – »sind Sie jetzt zufrieden?«
Der Amerikaner zögerte: »Die Zinsen möchte ich nicht gern verlieren – ich bitte Sie, noch eine zuzulegen.«
Marquez lachte. »Sie sind wirklich praktisch,« sagte er – »und was wird jetzt? – Können Sie mir behilflich sein, von hier fortzukommen? Ich gebe Ihnen –«
»Bitte, nein,« unterbrach ihn aber Galway – »das ist Ihre Sache und geht über unseren Kontrakt. – Nicht einen Finger würde ich bewegen, um Sie vom Galgen zu retten, würde Sie aber mit Vergnügen hängen sehen. Also adios, Sennor – unser Geschäft ist beendet!« Und ohne sich weiter um den General oder die Frau zu kümmern, schob er seinen Revolver wie das Geld in seine Taschen und verließ das Haus.