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Welche Sensation das Resultat dieses Geschworenengerichts in Alburg machte, läßt sich denken; es wurde fast von nichts weiter gesprochen, und Fräulein von Wendelsheim mußte über sich das Schwerste ergehen lassen, was Bierbänke oder Kaffeetische überhaupt zu leisten im Stande sind. Es wäre für sie nicht gerathen gewesen, sich in der nächsten Zeit wieder in Alburg zu zeigen, denn keine Polizei oder Gensdarmerie hätte sie vor Beleidigungen, ja vielleicht persönlichen Angriffen schützen können. Allerdings brach sich bei der gebildeten Klasse bald die Ueberzeugung Bahn, daß die Geschworenen ihr Verdict kaum anders abgeben konnten, als sie es gethan; denn allerdings war durch keine einzige Aussage, als die der damals zur Wuth getriebenen Heßberger, die Schuld der Dame entschieden festgestellt. Aber Niemand zweifelte trotzdem daran, während der Handwerkerstand auf das Bestimmteste behauptete, der »adelige Drache« sei nur deshalb ungerupft davongekommen, weil sie ein »von« vor ihrem Namen hätte und in einem großen Schlosse wohne.
Wer sich am allerwenigsten um das Ganze kümmerte und doch eigentlich das größte Interesse daran hatte, war der Erbe selber. An demselben Nachmittage verbrachte er allerdings noch wohl zwei Stunden mit dem Staatsanwalt in eifriger Unterhaltung und bei verschlossenen Thüren, erhielt auch von diesem noch an demselben Abend ein Packet Papiere ausgehändigt, mit denen er dann, den Nachtzug benutzend, in die Residenz fuhr. Er hatte aber Niemanden weiter gesprochen, keinen Besuch gemacht oder empfangen, und überhaupt mit keinem Menschen sonst verkehrt.
Indessen war der Tag der Erbschaftszahlung herangerückt, und es schien fast, als ob die Herren der Commission nicht übel Lust hätten, die Auszahlung zu verzögern und den Urtheilsspruch der Geschworenen anzufechten; der Sachwalter des gnädigen Fräuleins hatte sich wenigstens die größte Mühe gegeben, um dahin zu wirken. Aber sie mochten doch wohl am Ende einsehen, daß sie nicht durchdringen würden; die Beweise waren zu klar geliefert worden, und nur auf die Vollmacht hin, die Witte in Händen hielt, weigerten sie sich, die Summe auszuzahlen. Eine Clausel des Testaments lautete, daß es der Erbe selber in Empfang nehmen müsse, was sie als »persönlich« interpretirten.
Das verzögerte die Auszahlung aber nur um einen Tag, denn am nächsten Morgen kehrte Fritz schon zurück, und zwar selig über den Erfolg seiner Reise.
Auch in der Residenz war seine Sache eifrig besprochen worden, und es hatte dadurch – da sich selbst die königliche Familie dafür interessirte – wenig Schwierigkeit für ihn, eine Audienz beim König zu erlangen, um dort persönlich das Gnadengesuch für seine Pflegemutter zu befürworten. Der Königin selber, die zugegen war, standen dabei die Thränen in den Augen, und als er sich endlich verabschiedete, wurde ihm die freundliche Versicherung, er solle nur ruhig zurück auf seine Besitzung reisen, seine Bitte werde Erhörung finden.
Der Telegraph beförderte auch schon vor seinem Wiedereintreffen in Alburg den Gnadenerlaß Sr. Majestät an das Criminalgericht daselbst. Seine Pflegemutter wurde an demselben Tage freigelassen, an welchem er die Stadt betrat.
Jetzt hatte er freilich genug mit sich selber und seinen Geschäften zu thun, um an etwas Anderes denken zu können. Das Capital mußte erhoben werden, und zugleich erschien eine Ankündigung des Staatsanwalts Witte, daß Alle, welche eine Forderung an die Familie Wendelsheim hätten oder zu haben glaubten, sich bei ihm in seiner Wohnung melden und die Rechnungen einreichen sollten – und wahrlich, er bekam dadurch Arbeit. An dem Tage wurde ihm bald das Haus gestürmt, weil die meisten Gläubiger schon gefürchtet oder vielmehr gar nicht erwartet hatten, daß der neue Erbe die Schulden für den Eingeschobenen bezahlen werde.
Fritz selber befaßte sich nicht damit; er bat Witte, der die Annahme und das Eintragen der Rechnungen einem seiner Schreiber übertrug, mit ihm nach Wendelsheim hinaus zu fahren, denn er fürchtete sich ordentlich davor, das alte Schloß, das von jetzt ab sein Eigenthum sein sollte, allein zu betreten. Witte war ein praktischer Mann, der ihm den besten und vernünftigsten Rath über die künftige Verwaltung geben konnte.
Er hatte geglaubt, seinen Einzug ganz still und unbeachtet halten zu können, und sich vorgenommen, einfach in einem Miethwagen hinaus zu fahren und beim Verwalter abzusteigen, mit dem er das Meiste ja bereden mußte. Witte war indessen anderer Ansicht gewesen, und ohne ihm etwas davon zu sagen, schickte er Morgens in aller Frühe einen reitenden Boten nach Wendelsheim, der den Leuten im Schlosse das Eintreffen ihres neuen jungen Herrn melden mußte; denn er hielt es für nicht in der Ordnung, daß derselbe unbemerkt und unbeachtet wie ein Handlungsreisender das Schloß seiner Väter, aus dem er so lange unschuldig verbannt gewesen, betrete.
Der Bote brachte einen wahren Aufruhr im alten Schloß hervor, denn der Zustand dort war auf die Länge der Zeit unerträglich geworden, und Alles jubelte ja dem neuen Gebieter, den sie bei seinen seltenen Besuchen und seiner freundlichen Theilnahme für den verstorbenen jungen Herrn immer lieb gehabt, aus vollem Herzen ein Willkommen entgegen. Das ganze Dorf wurde augenblicklich aufgeboten, um Blumen und Büsche zu pflücken und Kränze zu winden; die Leute legten alle ihren Sonntagsstaat an, und selbst der Schulmeister ließ die ganze Dorfschule noch einmal frisch überwaschen und den letzten Choral repetiren, den sie neulich mitsammen durchgegangen, denn etwas Neues in der Geschwindigkeit zu lernen, wäre unmöglich gewesen. Vorposten wurden dazu mit Stangen und Tüchern daran auf die nächste Höhe beordert, um die erste nahende Extrapost, deren Postillon einen weißen Federbusch – nach Anordnung Witte's als Gala – trug, gleich durch Schwenken der Tücher anzumelden.
Der Verwalter machte außerdem den kühnen Vorschlag, ein paar alte Böller, die noch im Wagenschuppen standen, vorzuholen, zu laden und abzuschießen, wenn die Extrapost in das Thor einfahren würde. Es stellte sich nur die einzige Schwierigkeit heraus, daß kein Pulver da und die Zeit zu kurz war, um deshalb noch einmal in die Stadt zu schicken. Der alte Baron hatte allerdings, wie man recht gut wußte, Pulver oben in seinem Gewehrschrank; aber den konnte man natürlich nicht darum ersuchen, denn er ließ Niemanden vor und gab auch auf keine Frage oder Bitte Antwort. Der Böllergruß mußte deshalb unterbleiben.
Und jetzt war Alles fertig; weißgekleidete Jungfrauen konnten allerdings nur zwei im Dorfe aufgetrieben werden. Es fehlte nämlich an reingewaschenen weißen Kleidern, zwei ausgenommen, die rasch geplättet werden konnten, und mit den Zweien mußte man sich denn auch begnügen, um sie zum Blumenstreuen zu verwenden. Es sieht immer besser aus, wenn das eine weißgekleidete Jungfrau verrichtet, und der Schulmeister besonders hielt es für unerläßlich.
Die Leute standen in größter Spannung auf dem Hof. Die Extrapost hatte um elf Uhr eintreffen sollen, und jetzt war es schon halb zwölf und noch keine Spur davon zu sehen, selbst nicht von der Höhe aus. Halt! dort hob sich eine Fahnenstange, das verabredete Zeichen, daß ein Wagen in Sicht kam, wenn man ihn auch noch nicht genau unterscheiden konnte. Alles drängte gespannt dem Thore zu – jetzt ging die zweite in die Höhe – Hurrah, das sind sie! Und nun ging es an ein wahres Durcheinander, um jeden in der Geschwindigkeit auf seinen richtigen Platz zu bringen.
Sogar ein paar Instrumente hatte man im Dorf aufgetrieben, Leute, die manchmal, um Musik zu machen, auf die Jahrmärkte zogen: eine Trompete, eine Posaune, eine Clarinette und eine Geige, und mit denen war schon unten vor dem Wirthshaus ein Tusch einexercirt worden. Unglücklicher Weise hatte der Trompeter beim Heraufkommen sein Mundstück verloren – die alte Schraube hielt nicht fest – und die ganze Zeit in Todesangst danach gesucht. Er fand es nicht wieder, es mußte irgendwo in das Gras gefallen sein, und Posaune und Clarinette mit der Violine sollten jetzt den Tusch allein spielen.
Jetzt kam der Wagen in Sicht, voraus, was sie laufen konnten, die beiden Jungen mit den Fahnenstangen, und wie der Wagen jetzt auf ein Zeichen des Verwalters im Schritt in das Thor einfuhr, scheuten die Pferde, denn die Posaune platzte, da ihr die Trompete fehlte, zu früh los und die Clarinette setzte falsch ein, während die Violine mit ihrem Tusch und ihrer feinen, piependen Stimme ordentlich durchging und schon fix und fertig damit war, ehe die Posaune nur wieder ihr altes Messing eingeholt hatte.
Aber mit donnerndem Jubel brach jetzt das Hurrahgeschrei der Dorf- und Schloßbewohner aus, ein Hurrah, das aus voller Kehle und volleren Herzen laut und jubelnd herausgestoßen wurde; und die Mädchen warfen ihre Blumen den Pferden vor die Hufe, die Frauen schwenkten ihre Tücher, die Männer ihre Mützen und Hüte, und die Luft bebte ordentlich von den Jubelrufen.
Fritz saß im Wagen, die Thränen liefen ihm an den Wangen nieder – er konnte kaum danken und winken vor innerer Bewegung; aber Witte besorgte das für ihn. Er schwenkte seinen Hut nach allen Seiten, sein ganzes Gesicht strahlte vor Freude, denn nicht mit Unrecht betrachtete er dies Alles als sein eigentliches Werk; und als der Choral jetzt begann und die Schuljungen vor Angst und Rührung nicht singen konnten und der Schulmeister, aus Furcht, daß sie sich blamiren würden, allein hinausbrüllte, und dann der Trompeter plötzlich jubelnd mit dem endlich gefundenen Mundstück zurückkam und nun den Tusch, freilich etwas verspätet, mitten in den Choral hineinschmetterte, wollte er sich rein ausschütten vor Lachen.
Der Verwalter hatte sich vorgenommen gehabt, dem jungen Herrn, wenn er aus dem Wagen stieg, eine Rede zu halten; aber es war ihm gegangen, wie dem Trompeter mit seinem Instrument, er hatte das Hauptende davon: den Anfang, verloren und blieb stecken, ehe er nur begann. So war denn wohl alles Einstudirte vergessen, aber was ihm im Herzen und auf der Zunge lag, doch nicht, und wie der junge Mann aus dem Wagen sprang, streckte er ihm die breite Hand entgegen und sagte: »Gott sei Dank, daß Sie da sind, daß Sie's sind, Gott segne Sie und Ihren Eingang!« Und das war die beste Rede, die er hätte halten können.
Fritz war froh, als er sich dem Lärm und Jubel da draußen in dem stillen Stübchen des Verwalters entziehen konnte. Er wollte noch nicht in's Schloß hinaufgehen, er mochte seiner Tante nicht begegnen, bis Alles geordnet und besprochen war.
Der Beamte, der bis jetzt die Controle im Schlosse gehabt, kam hierher und übergab ihm die Schlüssel, und bald hatte er sich mit dem alten Verwalter über die nächst zu nehmenden Schritte in der Bewirthschaftung des Gutes vereinigt oder vielmehr Alles gutgeheißen, was der Alte, mit der Führung überhaupt betraut, bis dahin unternommen. Ueberall nöthige Verbesserungen konnten natürlich erst in ruhigerer Zeit vorgenommen werden; der Verwalter bekam aber unbeschränkte Vollmacht, Alles anzuordnen und vorzubereiten, was er für dringend nöthig halte, damit nicht so viel Zeit versäumt würde, denn in den letzten Jahren war ja fast das Ganze in Verfall gerathen.
Gern hätte Fritz seinen Vater gesehen; aber der Verwalter rieth ihm dringend ab, auch nur den Versuch zu machen, da sich der Zustand des alten Barons in den letzten Tagen sehr verschlimmert haben sollte. Kathinka und der Arzt waren die Einzigen, die zu ihm durften; das Mädchen, dem das Reinmachen der Zimmer oblag, mußte sich Morgens nur hineinstehlen und mehrmals selbst flüchten, wenn er es nur gewahrte. Fremde Menschen duldete er gar nicht um sich. Der Arzt hatte eines Tages, da er selbst verhindert war zu kommen, seinen Famulus zu ihm gesandt; auf den aber stürzte er augenblicklich los, so daß er sich gar nicht schnell genug aus dem Zimmer retten konnte. Seit der Zeit war es ernstlich besprochen worden, ob man ihn nicht einer Anstalt übergeben müsse, um bei einmal plötzlich ausbrechenden Wuthanfall Unglück zu vermeiden.
Und wo war Kathinka, daß er sie noch nicht gesehen, denn im Hofe konnte sie nicht gewesen sein? Der Verwalter wußte es nicht; sie hatte vorhin, als die Extrapost einfuhr, oben an einem der Fenster gestanden, wahrscheinlich befand sie sich noch oben.
Indessen kam die Meldung, daß für den jungen neuen Herrn das Frühstück oben aufgetragen sei; aber Fritz hatte vorher noch eine andere Pflicht zu erfüllen: er mußte das Grab seines armen Benno, seines Bruders, besuchen, und bat deshalb den Staatsanwalt, alles noch Nöthige unter der Zeit mit dem Verwalter zu besprechen. Er wollte dort draußen ungestört und allein sein.
Er kannte ja auch den Weg dahin gut genug! Oft und oft war er in früheren Zeiten, manchmal mit seinem kranken Bruder, manchmal allein, durch den Park gewandert, mit keiner Ahnung damals freilich, daß er auf seinem eigenen Besitzthum stehe. Eigentümliche Gefühle durchzogen ihm deshalb auch heute die Brust, als er das Laub der alten Bäume wieder über sich rauschen hörte und die grotesk verschnittenen Taxushecken sah, die den Gemüsegarten auf der einen Seite einfriedigten. Wie wunderbar war das Alles gekommen, wie unbegreiflich, ungeahnt, und so rasch dabei, daß er noch immer wie in einem Traum dahinschritt und in dem Traum doch wieder das jubelnde Willkommen hörte, das ihm seine künftigen Untergebenen zugerufen, doch wieder die glücklichen, freundlichen Gesichter sah, die ihm von allen Seiten entgegen lachten.
Die Augen auf den Boden geheftet, nur mit den Bildern beschäftigt, durchwanderte er den langen, etwas gewundenen Gang, der zu dem Erbbegräbniß derer von Wendelsheim führte, bis er den offenen Platz erreichte, der die stille, freundliche Ruhestätte umgab.
Die kleine Kapelle, in der das Todtenamt gehalten wurde, stand rechts, und dicht daran geschmiegt lagen die Gräber, nicht in dumpfer Gruft, sondern in der Mutter Erde, unter grünem Rasen und schattigen Trauer-Eschen und Weiden – und dort drüben?
Sein Fuß zögerte – an dem letzten, noch mit Blumen reich geschmückten Grabe kniete eine weibliche Gestalt und betete; es war Kathinka, er erkannte sie im Augenblick. Sie konnte ihn nicht gehört haben, denn sie veränderte ihre Stellung nicht im Geringsten, und er blieb stehen, um sie nicht zu stören. Aber sein Auge haftete fest auf ihr, und unwillkürlich faltete er die Hände und schämte sich dabei der Thränen nicht, die ihm die Wangen netzten; aber es waren nicht allein Thränen der Trauer um den so früh geschiedenen Bruder – es waren auch Thränen des Glücks. Jetzt erhob sie sich; sie hatte ihre Andacht wohl beendet und wollte nach dem Schlosse zurückkehren, als sie den Fremden auf dem freien Platze bemerkte und erschreckt zusammenzuckte. Aber sie mußte ihn erkannt haben, denn scheu wich sie ihm aus, grüßte ehrfurchtsvoll und wollte den anderen Weg einschlagen, der an dem Gitter des Parks hinlief.
»Kathinka,« sagte Fritz herzlich, »bin ich Ihnen so fremd geworden, daß Sie mir nicht einmal mehr, wie sonst, die Hand zum Gruß bieten?«
»Ich weiß nicht, Herr Baron,« sagte das junge Mädchen ängstlich und wurde dabei purpurroth; »ich wußte nicht, daß Sie so bald hierher kommen würden, und war nur hier, um – Abschied zu nehmen.«
»Abschied, Kathinka?«
»Ja; das gnädige Fräulein hatte mir schon vor einiger Zeit befohlen, das Schloß zu verlassen; aber ich durfte nicht fort. Der fremde Herr, der in den letzten Tagen den Befehl hier führte, litt es nicht; Niemand durfte den Platz verlassen, wie er sagte, bis der rechtmäßige Besitzer eingetroffen sei, der dann selber zu bestimmen haben würde.«
»Und Sie haben noch einmal an meines armen Benno Grab gebetet?«
»Er war der einzige Freund, den ich auf der Welt hatte,« sagte das junge Mädchen weich; »ich durfte den Platz nicht verlassen, ohne wenigstens von ihm Abschied zu nehmen.«
»Und gehen Sie gern, Kathinka?«
Das junge Mädchen schwieg; ein eigenes, wehes Gefühl preßte ihr das Herz zusammen, und sie brauchte Minuten, um sich zu sammeln. Endlich sagte sie leise: »So lange der – so lange Ihr Bruder lebte, würde ich mich schwer vom Schlosse Wendelsheim getrennt haben; jetzt bedarf man meiner nicht mehr, und – das gnädige Fräulein sieht auch meine Gegenwart nicht gern.«
»Aber wohin wollen Sie sich wenden?«
»Ich – weiß es noch nicht; ich – habe Aussicht, als Lehrerin in ein Institut zu treten.«
»Unter fremde Menschen?«
»Unter fremde Menschen?« wiederholte Kathinka wehmüthig. »Ich war die Fremdeste im Schlosse von Allen. Aber Sie entschuldigen mich wohl, Herr Baron; ich möchte meine Sachen packen, und glaube doch nicht, daß meiner Abreise noch etwas im Wege steht.«
»Herr Baron?« wiederholte Fritz unwillkürlich leise; »wie sonderbar, wie unnatürlich das klingt!«
»Aber es ist doch Ihr Titel!«
»Und glauben Sie, Kathinka, daß mich der Titel freuen würde, wenn ich dadurch alte Freunde verlieren sollte?«
»Sie werden keine alten Freunde dadurch verlieren, Herr Baron, aber viele neue wohl dadurch gewinnen.«
»Aber Sie habe ich doch dadurch verloren, Kathinka,« sagte Fritz herzlich; »Sie waren sonst so einfach unbefangen, so gut mit mir, und sind jetzt auf einmal so entsetzlich kalt und höflich geworden.«
»Waren Sie nicht Benno's treuester Freund?«
»Also nur Benno's wegen?«
»Herr Baron!« sagte das arme Mädchen, und wieder schoß ihr das Blut in Strömen in Wangen und Schläfe.
»Ich hatte mich so darauf gefreut, Sie wieder hier zu finden,« fuhr Fritz herzlich fort, »mit Ihnen mich der Zeiten zu erinnern, wo Benno noch lebte; jetzt, da ich komme, wollen Sie das Schloß verlassen.«
»Ich muß, Herr Baron.«
»Aber selbst wenn mein gnädiges Fräulein Tante gar nicht mehr den Oberbefehl hier hätte – ein Zustand, der sehr wahrscheinlich ist –, würden Sie dann immer noch fort wollen?«
»Ja, Herr Baron – ich würde doch gehen.«
»Dann haben Sie einen andern Grund.«
Kathinka schwieg; sie war jetzt eben so bleich geworden, als sie vorher roth gewesen.
»Und darf ich ihn nicht wissen?«
Noch immer stand das junge Mädchen und sah still und lautlos zur Erde nieder.
Da trat Fritz ihr näher, nahm ihre Hand und sagte leise: »Kathinka, ich kenne Ihr ganzes Leben, ich weiß, was Sie hier in dem alten Schloß ausgehalten, weiß, mit wie himmlischer Geduld Sie Alles ertragen haben nur des Bruders wegen, und lebte Benno noch, nie, nie hätte er gestattet, daß Sie Schloß Wendelsheim verlassen dürften. Ich bin sein Erbe, nicht allein der Erbe seines Gutes, nein, auch seiner Liebe – gehen Sie nicht fort. Sie haben Schloß Wendelsheim als eine Hölle gesehen, machen Sie es selber zu einem Himmel.«
»Herr Baron!« rief Kathinka, bestürzt zu ihm aufsehend.
»Erschrecken Sie nicht darüber, Kathinka,« rief Fritz, sie mit seinem linken Arm umfassend – »werden Sie mein Weib – ich war Ihnen gut vom ersten Augenblick an, wo ich Sie gesehen, und suchte doch das Glück an anderer Stätte, wo ich es wahrscheinlich nie gefunden hätte. Jetzt bin ich zurückgekehrt . . .«
»Um Gottes willen,« rief Kathinka beinahe außer sich, »Ihren Scherz können Sie ja doch an Benno's Grabe nicht mit einer armen Waise treiben – und Ernst? Es ist ja nicht möglich, nicht denkbar!«
»Werden Sie mein Weib, Kathinka,« bat Fritz noch einmal und sah ihr so treu, so liebend in die Augen, daß ihr schwindelte. »Einen heiligeren Platz für Ihr Jawort, als des Bruders Grab, finden wir nicht auf der weiten Welt, und daß sein Geist mit Jubel unsern Bund segnet – glauben Sie es nicht?«
»Aber es ist – es ist ja doch nicht möglich!«
»Bist Du mir gut, Kathinka?« drängte Fritz, indem er sie fester an sich preßte; »oh, sage nur das eine Wörtchen: Ja!«
»Gut?« rief das junge Mädchen, und während sie ihr Haupt an seiner Brust barg, machte ein Thränenstrom ihrem gepreßten Herzen Luft. Fritz aber, ohne sie los zu lassen, in Glück und Seligkeit, führte sie zu dem Grabe des Bruders, und dort, sich fest umschlingend, beteten Beide still und heiß.
»Und nun komm,« sagte Fritz endlich, sie mit sich vom Boden hebend; »mir bleibt noch viel daheim im Schloß zu thun, denn von heute ab hab' ich es übernommen. Du wirst so lange, bis unser Bund gesegnet werden kann, zu der alten Verwalterin hinüberziehen, und daß Dich die Tante nicht mehr kränkt, dafür laß mich sorgen. Aber eine Frage beantworte mir noch, Kathinka, ehe wir den Park verlassen: weshalb wolltest Du doch das Schloß meiden, auch wenn die Tante da nicht mehr zu befehlen hätte?«
Kathinka war wieder blutroth geworden; sie richtete sich von der Brust des Geliebten, der sie noch immer umschlungen hielt, auf und sah ihm in die Augen.
»Und darf ich es wissen?«
Und wieder barg sie ihr Haupt an seiner Schulter und flüsterte: »Weil ich elend geworden wäre, wenn ich Dich in den Armen einer andern Gattin gesehen hätte!«
»Mein Lieb, mein süßes, herziges Lieb! Und so warst Du mir schon lange gut?«
»Oh, von ganzem Herzen!« rief die Jungfrau und umschlang zum ersten Mal den Geliebten mit beiden Armen.
Es waren selige Augenblicke des Glückes, in denen die beiden Liebenden langsam durch den schattigen Park zurück dem alten Schlosse zuwanderten, und erst als sie in Sicht des unmittelbar daran stoßenden offenen Platzes kamen, wand sich Kathinka von ihm los, warf noch einmal die Arme um seinen Nacken, begegnete seinem heißen Kuß, und floh dann scheu seitab durch die Büsche, um den Hof von einer andern Seite zu erreichen.
Als Fritz ihn betrat, kam ihm Witte entgegen und sagte ihm, das gnädige Fräulein habe schon zum dritten Mal nach ihm geschickt und erwarte ihn beim Frühstück.
»Welches gnädige Fräulein?« sagte Fritz zerstreut.
»Welches?« lachte der Staatsanwalt; »nun, Ihre Fräulein Tante. Wenn die aber die Honneurs macht, will ich lieber nicht mit hinüber gehen, um ihr den Appetit nicht zu verderben.«
»Ich fürchte, lieber Staatsanwalt,« nickte Fritz, »ich werde ihn ihr selber verderben müssen; aber kommen Sie, denn ich habe nachher noch etwas sehr Wichtiges vor, bei dem ich gern wünschte, daß Sie Zeuge wären.«
Beide Männer schritten jetzt dem Portal des Schlosses zu, wo sie oben den alten Verwalter trafen, der, mit ein paar Flaschen Wein beladen, aus dem Keller stieg.
»Haben Sie keinen Champagner unten, Wunting?«
»Ja gewiß, Herr Baron.«
»Schön, der darf heute nicht fehlen; aber bringen Sie ihn selber in's Zimmer und frühstücken Sie mit uns. A propos, wo steckt denn Fräulein Kathinka?«
»Wie ich in den Keller ging, stieg sie die Treppe hinauf; ich glaube, sie wird in ihrem Zimmer sein.«
»Dann schicken Sie Jemanden hinauf, ich ließe sie bitten, in das Frühstückszimmer zu kommen. Es sind doch Gedecke genug aufgelegt?«
»Ja, mein bester Herr Baron,« sagte der Verwalter etwas verlegen, »das ließe sich wohl gleich besorgen, aber – die Sache hat einen Haken. Sie – kennen die Hausordnung auf Schloß Wendelsheim noch nicht. Das gnädige Fräulein ißt weder mit mir noch mit der Kathinka an einem Tisch, und als das der alte Herr Baron einmal einführen wollte, hat es einen Hauptspectakel gegeben. Ich möchte doch nicht die Ursache sein, daß es gleich am ersten Tage zu Zank und Unfrieden käme – der wird so nicht ausbleiben,« setzte er leise hinzu.
»Haben Sie keine Furcht, Wunting,« nickte ihm Fritz zu, »mein gnädiges Fräulein Tante soll, was das Frühstück betrifft, nicht in ihren Gefühlen verletzt und auch kein Zank und Unfrieden hervorgerufen werden. Erfüllen Sie nur meine Bitte und besorgen mir Alles nach der angegebenen Art; das Andere überlassen Sie mir.«
Damit stieg er langsam, Witte unter den Arm fassend, die Treppe hinauf, betrat aber das ihm bezeichnete Frühstückszimmer noch nicht, sondern zuerst den großen Saal, von dessen Balkon aus er den ganzen Hof und einen großen Theil des Parkes übersehen konnte. Und das Alles war jetzt sein – sein Eigenthum, sein Erbe von Eltern her, die er nie gekannt, oder, wenn gekannt, nur scheu und fremd betrachtet, an deren Herzen er nie gelegen, nie ein freundliches Wort nur von ihnen vernommen hatte. Es war ihm recht weich und weh zu Sinn – und doch auch wieder so wohl, so glücklich, daß er hätte weinen mögen, aber zugleich aufjubeln vor Lust und Seligkeit.
Witte betrachtete sich indeß die Bilder an den Wänden und das ganze alte, außerordentlich reiche, aber verwitterte und verblichene Ameublement, das genau so aussah, als ob es einer Ritterfamilie gehört und ein paar Jahrhunderte unbenutzt hinter verschlossenen Thüren und verhangenen Fenstern gestanden habe, bis der Verwalter sie hier aufsuchte und meldete, es sei Alles bereit, Fräulein Kathinka fürchte sich aber, in das Zimmer zu gehen, bis der Herr Baron mitkäme.
Ein leichtes Lächeln flog über das Antlitz des jungen Mannes und er sagte freundlich: »So kommen Sie, Staatsanwalt, kommen Sie, lieber Wunting, denn ich muß Ihnen gestehen, daß ich hungrig geworden bin, und der Champagner darf ebenfalls nicht warm werden.«
Und damit eilte er leichten Schrittes hinaus über den Gang, auf dem Kathinka harrend am Fenster stand. Aber er redete sie nicht an, nur einen lächelnden Wink gab er ihr, und betrat jetzt, von den Uebrigen gefolgt, das Frühstückszimmer, in dem ihn seine Tante, in eine schwerseidene, violettblaue Robe gekleidet, stehend erwartete. Wie sie ihn sah, ging sie auf ihn zu, streckte ihm die Hand entgegen und sagte:
»Erlaube mir, Fritz, Dich auf Schloß Wendelsheim willkommen zu heißen! Ein wunderliches Geschick hat Dich so lange davon fern gehalten, und jetzt – nun, nimmst Du meine Hand nicht?« rief sie, ihn erstaunt ansehend. »Ist das Dein erster Gruß auf unserem alten Stammsitz?«
»Mein gnädiges Fräulein,« sagte Fritz kalt und fest, »was Sie thun konnten, um sich diesen ›ersten Gruß‹ zu ersparen, haben Sie redlich gethan. Gott hat es anders gewollt, und ich bin in die Mauern, aus denen ich heimlich und in einen Mantel gewickelt in stürmischer Nacht nicht verbannt, nein, verstoßen wurde, bei hellem Sonnenschein zurückgekehrt; aber nicht mehr als Kind, sondern als Mann und Herr – von jetzt ab keine Gemeinschaft mehr zwischen Ihnen und mir!«
»Fritz,« rief das gnädige Fräulein erschreckt, denn bis zu diesem Augenblick hatte sie noch gehofft, ihre Autorität im Schlosse nicht ganz zu verlieren, »und glaubst auch Du jenen faulen Zungen, die mich verdächtigten?«
»Die Stimme des Volkes gegen Sie ist Ihnen bekannt,« sagte Fritz ruhig, »Sie haben sie wenigstens bei Ihrem Austritt aus dem Saal der Geschworenen erfahren. Ich theile dessen Glauben, daß Sie gerade die Hauptschuldige des Verbrechens waren. Aber wie dem auch sei, ich will nicht Gleiches mit Gleichem vergelten. Dieses Schloß, das Sie die langen Jahre zu einem Fegefeuer Ihrer Untergebenen machten . . .«
»Herr Baron,« rief das gnädige Fräulein, emporfahrend.
»Soll Ihnen nicht verschlossen werden. Bleiben Sie, wenn Sie es wünschen, hier wohnen, und ich werde Ihnen in dem neuen Flügel Ihre Zimmer herrichten lassen. Im Schlosse selber wirthschafte ich aber von diesem Augenblick an mit meiner Hausfrau als unumschränkter Herr, und meine Hausfrau,« fuhr er fort, sich nach dem schüchtern zur Seite stehenden Mädchen umdrehend und ihre Hand ergreifend, »wird Kathinka werden.«
»Kathinka?« rief Fräulein von Wendelsheim entsetzt, während der alte Verwalter mit einem dankbaren Blick nach oben seine Hände faltete und Staatsanwalt Witte leise vor sich hin mit dem Kopf nickte.
»Ich weiß, daß Sie ein nicht unbedeutendes Vermögen haben,« setzte Fritz hinzu, »hinlänglich wenigstens, um bequem davon leben zu können; sollten Sie deshalb vorziehen, Schloß Wendelsheim zu verlassen, so steht Ihnen nichts im Wege, ja, ich erlaube mir sogar, Ihnen noch einen jährlichen Zuschuß von tausend Thalern anzubieten. Bleiben Sie aber hier, so verbiete ich Ihnen hiermit auf das Strengste, unsern Theil des Schlosses je zu betreten, oder . . .«
»Genug, genug, Herr Baron von Wendelsheim,« unterbrach ihn die Dame, in zornigem Grimm emporfahrend, »übergenug, um mir zu beweisen, daß Sie Ihrer Erziehung Ehre machen! Schloß Wendelsheim hat bis jetzt seinen alten Namen in Schmuck und Stolz bewahrt; ich will nicht Zeuge sein, wie er in den Staub getreten wird.«
Und sich rasch abwendend, eilte sie nach der Thür, durch die sie in Hast verschwand.
»Ich hätte nie geglaubt,« sagte Witte trocken, »daß ich noch in meinen alten Jahren ein solches Vergnügen empfinden würde, einen Drachen fliegen zu sehen; Fräulein von Wendelsheim's beste Seite ist aber entschieden ihr Rücktheil. – Und das ist Ihre Braut, Baron?«
»Meine liebe, süße Braut!« rief Fritz, das tief erröthende Mädchen an sich ziehend. »Es ist rascher gekommen, als ich eigentlich glaubte; aber sie wollte uns hier entfliehen, und da wußte ich kein besseres Mittel, um sie zu halten, als sie zu bitten, mein braves Weib zu werden.«
»Und tausend Gottes Segen über Sie Beide,« rief der alte Verwalter jubelnd, »denn jetzt geht eine neue Sonne über Wendelsheim auf!«