Friedrich Gerstäcker
Der Erbe
Friedrich Gerstäcker

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28.

Die Haussuchung.

Zu Hause angekommen, überholte Witte auf der Treppe die Frau Räthin Frühbach, die im Begriff stand, seiner Frau einen Besuch zu machen. Sie war im höchsten Staat und strotzte von Seide, Sammetmanchester und unächten Spitzen.

»Ach, Frau Räthin,« sagte der Staatsanwalt nach der ersten Begrüßung, indem er eben in sein Zimmer abbiegen wollte, »kommen Sie von Hause und können Sie mir sagen, ob Ihr Herr Gemahl dort ist?«

»Ach nein, Herr Staatsanwalt, das weiß ich wirklich nicht,« erwiderte die Dame; »ich habe noch einige Wege in der Stadt besorgt und bin dann gleich hierher gegangen. Aber mein Männi kommt in dieser Zeit immer nach Hause – Sie finden ihn sicher!«

Männi nannte sie den Fleischklumpen, und der Staatsanwalt schüttelte den Kopf, erwiderte aber nichts, machte ihr eine halbe Verbeugung und trat in sein Schreibzimmer, um inzwischen eingelaufene Geschäfte zu erledigen.

Er wunderte sich allerdings im Stillen, die Frau Räthin hier zu sehen, denn sie kam nur selten zu ihnen, und da er dem Dienstmädchen unterwegs begegnet war, das eine Düte mit Backwerk, das stete Zeichen einer Kaffee-Visite, trug, so mußte seine Frau auch auf den Besuch vorbereitet sein. Aber andere, wichtigere Dinge zogen ihm durch den Kopf, um sich lange mit solchen Nebensachen zu beschäftigen, und er hatte sie auch bald vergessen.

Sonderbarer Weise war aber von der Frau Staatsanwalt wirklich die Frau Räthin heute, und zwar ganz allein, zum Kaffee geladen worden und das noch dazu einer wichtigen Besprechung und Unterredung wegen. Man wußte nämlich ziemlich genau in der Stadt, daß die Frau Räthin, vielleicht aus Mangel einer bessern oder andern Beschäftigung, sehr geschickt im Kartenlegen sei, und die Frau Staatsanwalt war zu dem Entschluß gekommen (von dem aber ihr Mann natürlich keine Silbe erfahren durfte), die geheimnißvollen Blätter mit Hülfe einer »Wissenden« zu befragen, da ihr die Polizei das gestohlene Silbergeschirr doch nicht wiederschaffen konnte. Auch andere Dinge lagen ihr auf dem Herzen, über welche sie gern Auskunft gehabt hätte: aber das Silbergeschirr ging unter allen Umständen vor.

Die Damen konnten ganz ungestört ihren geheimnißvollen Versuchen obliegen und gingen denn auch mit gutem Willen an die Arbeit.

Ottilie betheiligte sich übrigens nicht daran. Sie hatte Anfangs ganz still und lautlos am Fenster gesessen und sich mit einer Stickerei beschäftigt; endlich stand sie auf und ging in ihr eigenes Zimmer, wo sie den übrigen Theil des Abends blieb. Sie glaubte merkwürdiger Weise nicht an Kartenlegen und die Frau Räthin war ihr außerdem keine angenehme Persönlichkeit, weil sie das ewige Schimpfen und Klagen über Dienstboten und die Nachbarsleute, in dem sich jene Dame am liebsten erging, nicht leiden konnte.

Solche Zu- oder Abneigungen sind aber gewöhnlich gegenseitig, und so mochte denn auch die Frau Räthin das »schnippische Ding« nicht leiden, wie sie es gewöhnlich in anderen Kaffeegesellschaften nannte. Sie fragte allerdings die Frau Staatsanwalt, als Ottilie das Zimmer verließ, ob »das liebe Kind« vielleicht nicht wohl sei, aber erwähnte sie nachher nicht weiter, und die Kartenprocedur hatte ihren ungestörten Fortgang.

Merkwürdiger Weise wollte es aber heut Abend gar nicht so besonders damit gehen. Die Karten fielen, wie die Frau Räthin bemerkte, so ungünstig und verkehrt, und es war ihr immer bald einmal eine Treff-Sieben, bald eine Caro-Zwei im Wege, daß sie sich selber nicht hindurchfand und endlich erklärte, so gänzlich mißglückt sei es ihr noch nie und es müsse irgend ein Hinderniß in der »Umgebung« liegen, das man vielleicht beseitigen könnte, wenn man eben wüßte, was es wäre. So erzählte sie der Frau Staatsanwalt, sie habe einmal bei sich zu Hause die Karten legen wollen und ebenso wie heute nichts zuwege gebracht; alle Versuche, obgleich immer und immer wiederholt, seien mißglückt und sie wäre schon im Begriff gewesen, die Sache aufzugeben, als das Mädchen zufällig einen auf dem Tisch stehenden Blumentopf in das andere Zimmer getragen hätte, und von dem Augenblick an war es, als ob ein Bann von den Karten genommen sei. Sie fielen ordentlich wie ein Buch, in dem man ganz bequem lesen konnte.

Alle möglichen Versuche wurden deshalb jetzt auch hier gemacht: die Blumen sämmtlich entfernt, die Stühle herumgedreht, der Tisch selbst ward anders gestellt; aber es half nichts: die Kartenblätter wollten keine Vernunft annehmen, als die Frau Räthin endlich der Sache müde wurde und zu einem verzweifelten Entschluß kam.

»Hören Sie, Frau Staatsanwalt« sagte sie – es war indessen auch dunkel geworden und das Mädchen hatte eben die Lampe hereingebracht – »ich wollte Ihnen schon lange einen Vorschlag machen, aber ich habe mich immer nicht getraut. Ich wüßte Jemanden, der uns aus der Noth helfen könnte.«

»Und wer ist das?« fragte die Frau Staatsanwalt.

»Die Heßberger, des Schusters Frau – die versteht das aus dem Grunde, und mir – das versichere ich Ihnen – hat sie schon merkwürdige Dinge prophezeit.«

»Und ist es eingetroffen?«

»Auf's Haar, sage ich Ihnen, auf's Tittelchen. Nein, einmal – das war zu merkwürdig – da fehlte mir ein silberner Theelöffel und ich ging zu ihr, und blos aus den Karten sagte sie mir, daß ich morgen früh mit Tagesanbruch in meinen Holzstall unten im Hof gehen sollte, dort würde ich ihn finden – und wahrhaftig, wie ich am andern Morgen hinuntergehe, liegt er mitten drin und wie er dahin gekommen ist, weiß ich bis auf den heutigen Tag noch nicht!«

»Das ist in der That sonderbar . . .«

»Und ehe mein Männi neulich krank wurde, wo er sich so heftig übergeben mußte, hat sie mir fast die Stunde vorher gesagt und mir auch gleich eine Medicin mitgegeben, die ich ihm vorher heimlich in den Wein schütten mußte, damit es ihm nichts weiter schade, und ich sage Ihnen, nach zwei oder drei Stunden war er wieder gesund wie ein Fisch und eben so naß, denn ich hatte ihn tüchtig schwitzen lassen.«

»Ja, wenn wir die Frau nur einmal auf eine halbe Stunde hier hätten!« sagte Frau Witte. »Aber ich darf es nicht wagen, denn wenn es nachher durch einen Zufall mein Mann erführe, so könnte ich sicher sein, daß er ein volles Jahr darüber zankte und raisonnirte.«

»Sie geht auch nicht zu den Leuten in's Haus,« bemerkte die Frau Räthin, »eben der häufigen Störungen wegen, denen sie dort durch irgend einen fremdartigen Gegenstand ausgesetzt ist. Wenn wir aber nun einmal zu ihr gingen – bei ihr ist Alles darauf eingerichtet und kein Mensch brauchte ein Wort davon zu erfahren.«

»Um Gottes willen,« rief die Frau Staatsanwalt, schon von dem Gedanken erschreckt, »nachher möchte ich meinen Mann sehen!«

»Und was braucht der davon zu wissen?« sagte Madame Frühbach. »Ich bin oft und oft schon dort gewesen, es ist ein ganz anständiges Haus und in einer Stunde wäre die ganze Sache abgemacht.«

»Und wenn sie nachher darüber spricht und es weiter erzählt?«

»Da kennen Sie die Heßberger schlecht,« sagte die Frau Räthin; »eher ließe sie sich todtschlagen. Die ist berühmt wegen ihrer Verschwiegenheit und das ja auch nur zu ihrem eigenen Vortheil; denn sie weiß recht gut, daß sie ihre ganze Kundschaft verlieren würde, wenn sie nur ein einziges Mal plauderte.«

»Aber, liebe Frau Räthin, ich kann doch nicht meiner Schustersfrau einen Besuch abstatten?«

»Aber das ist ja doch kein Besuch, Frau Staatsanwalt; der Schuhmacher Heßberger arbeitet ja auch für uns, und ich bin ebenfalls hingegangen. Und dann braucht sie noch gar nicht einmal zu wissen, wer Sie sind – Sie nehmen einen dichten Schleier vor und setzen Ihre Kapuze auf. Sehr viele Damen kommen dort tief verschleiert hin – Damen aus den allerhöchsten Ständen, das kann ich Ihnen versichern. Ich habe selber schon einmal die Frau Präsidentin dort getroffen, aber das ganz unter uns, denn ich that natürlich gar nicht, als ob ich sie erkannte; aber Sie wissen wohl, sie hinkt ein bischen, hat wenigstens so einen krummen Gang, und dann müßte ich auch blind sein, denn wir haben ja eine und dieselbe Putzmacherin, und ich erfahre immer Alles, was sie sich machen läßt.«

Das Mädchen kam herein, um das Kaffeegeschirr hinaus zu tragen.

»Ist mein Mann zu Hause?«

»Nein, Frau Staatsanwalt; er ist vor etwa einer halben Stunde fortgegangen und hat gesagt, Sie möchten heut Abend nicht auf ihn mit dem Thee warten, da er etwas Wichtiges zu thun habe.«

Die Frau Räthin warf ihrer Freundin einen triumphirenden Blick zu, denn das hätte gar nicht besser passen können. Die Frau Staatsanwalt war aber noch lange nicht mit sich einig, denn der Schritt schien ihr zu gewagt, wenn sie auch selber nur zu gern gegangen wäre. Wie viel und wie oft hatte sie schon von der Schustersfrau gehört, die unter den Damen der Stadt allerdings einen Ruf besaß; wie oft gewünscht, sie einmal selber auf die Probe zu stellen, aber es trotzdem immer unterlassen – und jetzt auf einmal bot sich die Gelegenheit und schien auch in der That Alles zusammen zu treffen, um ihr den Versuch zu erleichtern! Sie zögerte freilich noch immer, aber die Frau Räthin hatte einmal, wie sie sagte, »ihr Herz daran gesetzt«, und sie ließ nicht nach mit Bitten und Zureden, bis sich die Frau Staatsanwalt endlich entschloß, ihr zu willfahren und sie zu begleiten. Die Frau Räthin versprach ihr auch, die Sache einzuleiten, indem sie zuerst für sich selber nach dem abhanden gekommenen Hosenstoff fragte – da sie ihren Mann noch nicht wieder gesprochen hatte, konnte sie natürlich keine Ahnung haben, welche Entdeckung er indeß gemacht und welchen Verdacht er hege.

So denn, während der Staatsanwalt oben auf dem Gericht war und eine unmittelbare Haussuchung bei dem Schuhmacher Heßberger, auf die Anklage eines Diebstahls hin, betrieb, rüsteten sich die beiden Damen, um der Frau des nämlichen Mannes einen geheimen Besuch abzustatten, und verließen auch, ohne selbst Ottilien ein Wort davon zu sagen, bald darauf das Haus. Nur das hinterließ die Frau Staatsanwalt bei dem Dienstmädchen, daß es ihrem Mann, wenn er nach Hause kommen und nach ihr fragen sollte, nur ausrichten möchte, sie wäre »einen Sprung« mit der Frau Räthin gegangen und würde bald wiederkommen. Abzuholen brauche er sie nicht. – –

Im Heßberger'schen Hause ging es an dem Abend und genau in der nämlichen Zeit, in welcher die beiden Damen das Witte'sche Haus verließen, etwas unruhig zu, denn Heßberger hatte seinen einen Lehrjungen auf frischer That ertappt, wie er ihm an die Privatflasche gegangen war, um so heimlich als unverschämt daraus zu kosten. Er machte nicht viel Umstände mit ihm: in übler Laune war er außerdem, und seinen Knieriemen nehmend, griff er dem armen Jungen mit der linken Hand in das struppige Haar und bearbeitete ihm mit dem schweren Riemen den Rücken nach Herzenslust. Er hörte auch wirklich erst auf, als er den rechten Arm nicht mehr rühren konnte, schickte den Jungen dann mit einem lästerlichen Fluch an seine Arbeit und setzte sich selber auf seinen Schemel hinter die Glaskugel, wo er, wie um seine ruhige Fassung wieder zu erlangen, fast unmittelbar danach in eins seiner gellenden geistlichen Lieder ausbrach und, mit dem Buche neben sich, um manchmal nach dem Text zu sehen, einen Vers nach dem andern abschrie.

Er mochte etwa bei dem sechsten angekommen sein, und der Junge saß noch immer still weinend bei seiner Arbeit und wischte sich nur manchmal die dicken Thränen mit dem Aermel von Augen und Nase ab, als es draußen anpochte. Der eine Junge öffnete, um zu sehen, wer da sei. Es waren zwei Damen – die eine dicht verschleiert –, die nach der Frau Heßberger fragten, und da das zu häufig vorkam, um nur die geringste Aufmerksamkeit zu erregen, so wies sie der Bursche, indem er einfach mit der Hand nach der Thür der Wohnstube deutete, dort hinüber zu gehen, und setzte sich augenblicklich wieder auf seinen Schemel nieder. Die Jungen hatten strenge Ordre, nicht einmal den Kopf nach einem solchen Besuch zu wenden, und Heßberger selber that gar nicht, als ob er existire. Er unterbrach seinen Vers nicht einmal und schrie so ruhig fort, als ob er draußen auf einer Haide und meilenweit von irgend einer menschlichen Wohnung gesessen hätte.

Desto förmlicher wurde der Besuch dagegen drinnen bei der Frau Heßberger selber empfangen, die, als die Damen das Zimmer betraten, bei einer sehr hübschen Lampe an ihrem Tisch saß und in einer aufgeschlagenen Bibel las.

»Frau Räthin,« sagte sie mit einer nicht ungeschickten Verneigung, »es ist mir eine große Ehre, Sie bei mir zu sehen. Wollen Sie nicht ablegen, und dürfte ich die fremde Dame nicht vielleicht ebenfalls bitten, Platz zu nehmen? Es geht bei mir freilich ein wenig eng zu – lieber Gott, wir haben in unserer beschränkten Wohnung nicht viel Raum, und die Miethen sind in den letzten Jahren so gesteigert, daß man gar nicht daran denken kann, eine größere zu nehmen!«

Frau Staatsanwalt Witte fühlte sich anfangs unter ihrem Schleier etwas unbehaglich; da aber die Schustersfrau nicht die geringste Notiz von ihr zu nehmen schien, ja sie wohl absichtlich kaum flüchtig ansah, so faßte sie nach und nach mehr Muth, nahm den angebotenen Stuhl an und beschloß nun, fest vermummt wie sie außerdem war, nur den stillen Beobachter zu machen. Die Zwischenzeit aber, in der sich die Räthin noch mit der Frau unterhielt, benutzte sie, um sich das Zimmer selber ein wenig genauer anzusehen – neugierig war sie lange genug darauf gewesen.

Hatte sie übrigens irgend etwas Absonderliches darin erwartet, so fand sie sich getäuscht. Das Zimmer glich tausend anderen Wohnungen des Handwerkerstandes auf ein Haar und war, wenn auch sehr sauber und nett gehalten, doch einfach mit Erlenholz-Möbeln ausgestattet. Nur ein paar hochlehnige und ledergepolsterte Stühle aus geschnitztem dunkelbraunen Wallnußholz schienen nicht hinein zu gehören und auch wirklich nur für »vornehmen Besuch« bestimmt zu sein. An der Wand hingen in schwarzen Holzrahmen ein paar schreckliche Oelgemälde, jedenfalls Familienbilder, die aber nicht die entfernteste Aehnlichkeit mit irgend einem bekannten Gesicht zeigten, dann noch ein paar Silhouetten, und auf der Commode standen einige Tassen mit Goldrand, die wohl kaum je im Gebrauch gewesen, ein paar blaue Glasvasen mit Schilfblüthen und einige kleine, buntbemalte Gypsfiguren, aber schneeweiße Gardinen hingen vor den Fenstern, und die beiden ebenfalls im Zimmer stehenden Betten des Ehepaares waren mit reinlichen Ueberhängseln von buntem Kattun verhüllt.

Frau Heßberger brauchte keine lange Zeit zu ihren Vorbereitungen. Sie wußte genau, was Damen, die sie zu dieser Zeit besuchten, von ihr wollten, und versäumte nie, ihnen zu Willen zu sein. Fand sie ja doch auch ihren reichlichen Nutzen dabei, da sie für ihre Bemühungen nie unter einem Thaler bekam, sich aber auch wohl einzelner Fälle erinnerte, wo ihr beim Abschied deren fünf in die Hand gedrückt wurden, und wahrlich mit leichter Mühe, wenn auch nicht ganz ohne Scharfsinn, war das Geld verdient!

Sie ging jetzt zu einem kleinen Seitenschrank, um von dort ihre Karten vorzuholen. Hatte sie aber vorher, als sie sich beobachtet wußte, die verschleierte Dame kaum angesehen, so haftete ihr Blick jetzt, hinter dem Rücken des Besuches, um so viel forschender auf der Verhüllten, und nichts an deren Anzug, nicht das kleinste, unbedeutendste Band entging ihr. Ein spöttisches Lächeln zuckte auch um ihre Lippen, als sie den Schrank endlich öffnete; hatte sie die Fremde etwa doch erkannt? Aber es war nichts davon zu bemerken, als sie wieder zum Tisch trat und jetzt vor allen Dingen die Bibel und dann auch ebenso die Lampe entfernte. Sie legte die Karten nur bei dem Schein von Lichtern, von denen sie zwei entzündete und auf den Tisch stellte. Dann nahm sie selber auf einem hohen Rohrsessel ohne Lehne Platz, und das Spiel geschäftsmäßig mischend, sagte sie freundlich:

»Nun, Frau Räthin – bitte, heben Sie erst einmal ab – so – nun sagen Sie mir gefälligst, mit was ich Ihnen dienen kann und was Sie zu wissen wünschen.«

Die Frau Räthin überlegte sich die Sache erst einen Augenblick; dann erzählte sie der Frau von dem abhanden gekommenen Stück Hosenzeug, beschrieb genau, wo es gelegen hatte und wie es ausgesehen habe, und bat sie dann, die Karten einmal zu fragen, wer es mitgenommen, und ob und wie man es wohl wiederbekommen könne.

Die Frau hatte bei der Erzählung wieder langsam gemischt und ließ noch einmal abheben. Dann legte sie die Karten aus und betrachtete sich nun, den gebogenen Zeigefinger an den Lippen, die bunten Blätter wie in tiefem Nachdenken. Endlich sagte sie sinnend: »Ja, meine liebe Frau Räthin, das Zeug ist wirklich gestohlen, so viel ist richtig, und nicht etwa verlegt oder in eine falsche Schublade gekommen – da läuft der Bursche noch, der es mitgenommen hat – der Caro-Bube zwischen zwei Dreien – ein hagerer, aufgeschossener junger Mensch. Er hat es auch nicht aus Armuth genommen, denn die über ihm liegende zehn bedeutet Geld; aber wo er jetzt ist, wird schwer heraus zu bekommen zu sein. Warten Sie einmal, da geht Ihr Mann hinter dem Treff-Buben – er hat auf irgend Jemanden einen falschen Verdacht – der ist es nicht, der hat's nicht genommen, der ist ehrlich – sehen Sie, wie das Aß neben ihm steht – aber die Caro zieht sich hier herüber, und hier ist die Treff-Sieben und Fünf. Wenn sich Ihr Mann morgen Abend an die katholische Kirche stellt – um fünf Uhr, aber mit dem Glockenschlag –, dann wird der Dieb dort vorüberkommen.«

»Das wäre in der That merkwürdig!« sagte die Frau Räthin. »Also morgen Nachmittag um fünf Uhr?«

»Aber mit dem Glockenschlag, nicht früher, noch später, sonst verpaßt er ihn; er muß genau aufmerken.«

»Nun, da bin ich doch wirklich neugierig,« sagte die Frau Räthin kopfschüttelnd, »und da hätte sich mein Mann auch die Anzeige auf der Polizei ersparen können.«

»Die hilft ihm nichts, die hilft ihm nichts,« erwiderte die Frau, immer noch in die Karten sehend. »Die Polizei ist da ganz oben, weit von dem Caro-Buben entfernt, und kommt ihm gar nicht in den Weg. Die findet ihn nicht – aber Ihr Mann wird ihn finden; doch er muß auch das Herz haben, ihn anzufassen.«

»Das wird er schon,« nickte die Frau Räthin; »der fürchtet sich vor Niemandem, und wenn er erst einmal heftig wird, kennt er sich selber nicht mehr.«

»Und was war es noch, was Sie fragen wollten?«

»Ach, liebe Madame Heßberger,« sagte die Frau Räthin »zuerst möchte ich Sie bitten, meiner Freundin eine Frage zu beantworten.«

»Von Herzen gern.«

»Sie ist nicht von hier,« fuhr die Dame fort, »sondern erst heute aus der Residenz angekommen, und hat dort so viel von Ihrer Kunst reden hören, daß sie vor Neugierde brennt, Sie kennen zu lernen.«

»In der That?« lächelte die Frau, ohne den Blick aber von der Sprechenden zu wenden. »Und ist ihr auch etwas gestohlen worden?«

»Ja – über das möchte sie ebenfalls nachher Ihren Rath hören; vorher wünscht sie aber Ihre Kunst recht auf die Probe zu stellen und den Namen ihres künftigen Schwiegersohnes zu erfahren.«

»Das ist freilich viel verlangt,« sagte die Kartenschlägerin kopfschüttelnd, »denn wirkliche Namen nennen die Karten nicht; sie deuten nur Personen an, daß man sich danach ihre Beschreibung oder vielmehr ihr Aussehen zusammenstellen kann. Außerdem wird es sehr schwer sein, einem ganz Fremden solch eine Sache vorherzusagen. Die Dame muß mir jedenfalls vorher erlauben, einmal die Linien ihrer linken Hand zu betrachten; ein kleines Hülfsmittel muß ich haben, ich kann sonst nicht für den Erfolg einstehen.«

Die verschleierte Frau Staatsanwalt zog schweigend ihren linken Handschuh ab und reichte der Frau Heßberger die Hand, und diese schienen aufmerksam mehrere Minuten lang die Linien derselben zu betrachten. Aber sie sagte kein Wort dabei, sondern nickte nur langsam mit dem Kopf, und die Karten wieder aufgreifend, ersuchte sie die verschleierte Dame, abzuheben – aber mit der rechten, und zwar der vollen Hand, nicht nur mit zwei oder drei Fingern, und ohne Handschuhe, Das geschah auch, und auf das Sorgfältigste und Genaueste legte sie dann die Blätter aus. Aber sie kam nicht so rasch damit zu Stande, als bei der vorigen Antwort. Bedeutend und wie in tiefem Nachsinnen schüttelte sie den Kopf; endlich sagte sie:

»Die Dame muß aus einer sehr vornehmen Familie sein, denn Alles deutet darauf hinaus. Hier steht ein armer Werber – er hat rechts und links nichts als Zweier und Dreier –, aber die Coeur-Dame geht weiter. Da endlich laufen die Pfade von dem Coeur-König mit ihr zusammen – das trifft sich selten, daß Jemand seine erste Liebe bekommt – der ist reich und vornehm, und hier . . .« Sie horchte hoch auf, denn draußen entstand ein ungewöhnlicher Lärm. Ihr Mann hatte auch aufgehört zu singen; aber sie hörte eine tiefe Stimme, die sie nicht kannte und die wie befehlend sprach.

»Um Gottes willen,« flüsterte die Frau Staatsanwalt der Räthin zu, »ich glaube, da kommt noch mehr Besuch, und ich möchte hier nicht gern gesehen werden – daß sie nur Niemanden hereinläßt!«

Die Frau Heßberger war aufgestanden und horchte nach der Thür der Werkstätte hinüber, nach der zu ihr einziger Ausgang lag. Was in aller Welt ging da drinnen vor? – Sie sollte nicht lange in Zweifel bleiben.

»Du, Thomas, stellst Dich an die Treppe,« sagte die Baßstimme wieder, »und läßt Niemanden hinunter oder herauf. Ist Ihre Frau zu Hause, Heßberger?«

Sie hörte die Antwort ihres Mannes nicht, aber sie mußte bejahend ausgefallen sein.

»Nun gut,« fuhr der Baß fort, als noch eine andere Männerstimme zu ihm gesprochen, »Niemand hinunter oder herauf ohne meine Erlaubniß. Einer von Euch bleibt bei dem Schuhmacher und läßt ihn nicht aus den Augen. Gehören die Leute hier alle in's Haus?«

»Nein, Herr Geheimer Commissar,« hörte sie jetzt Heßberger sagen. »Nur zwei von den Jungen schlafen hier, die beiden anderen sind auf der Arbeit.«

»Gut, die mögen sich anziehen und ihrer Wege gehen; wir haben nichts weiter mit ihnen zu thun. Die zwei Jungen bleiben da.«

Die Frau Heßberger schritt nach der Thür.

»Thun Sie mir den einzigen Gefallen, Frau Heßberger,« sagte die Frau Räthin rasch, »und schließen Sie die Thür zu, bis die Leute wieder fort sind, oder wenn das nicht geht, lassen Sie uns hinten hinaus; wir kommen lieber morgen Abend wieder.«

»Ich habe nur den einen Ausgang,« sagte die Frau; »aber geduldigen Sie sich einen Augenblick – ich will nur sehen, was da vorgeht – die ganze Sache scheint ein Mißverständniß zu sein, und mein Holzkopf von Mann weiß sich nie zu helfen.«

Damit verließ sie die Stube und trat in die Werkstätte; die Frau Staatsanwalt aber, die aufgestanden war, sank in ihren Stuhl zurück und stöhnte: »Oh Du barmherziger Gott, das war die Stimme meines Mannes! Er ist mit Polizei gekommen, um mich abzuholen!«

»Aber, beste Frau Staatsanwalt,« bat die Frau Räthin, die viel ruhiger bei der Sache blieb, »das ist ja gar nicht möglich! Der Zufall kann ihn hierhergeführt hoben, wenn ich auch nicht begreife, wie; aber er wird auch wieder fortgehen, und wir warten es hier ruhig ab.«

»Horchen Sie nur – sie kommen hierher!« – Sie hatte Recht.

»Thut mir leid, Frau Heßberger, Sie stören zu müssen, kann Ihnen aber nicht helfen muß meine Pflicht thun,« sagte der Baß wieder. »Ich ersuche Sie vor allen Dingen, Ihre sämmtlichen Zimmer und Kammern aufzuschließen.«

»Aber auf wessen Befehl?« rief jetzt die Frau Heßberger, empört über eine derartige Behandlung. »Wer darf friedlichen Bürgern bei Nacht und Nebel in das Haus fallen und ihre Wohnung durchsuchen?«

»Die Polizei darf Alles, Frau Heßberger,« sagte der Mann ruhig, »und wenn Ihnen nachher Unrecht geschehen ist, so steht es Ihnen frei, Ihre Klage anzubringen. Für jetzt haben Sie weiter nichts zu thun, als Folge zu leisten.«

»Aber wessen sind wir denn angeklagt? Das darf man doch erfahren, um sich vertheidigen zu können.«

»Ja wohl, gewiß,« sagte der Commissar wieder; »der Herr Rath Frühbach hat eine Klage gegen Sie anhängig gemacht und eine Haussuchung beantragt, weil er behauptet, daß ihm von dem Schuhmacher Heßberger Zeug zu einem Beinkleide und verschiedene Silbersachen gestohlen seien.«

»Was, der Herr Rath Frühbach hat das behauptet?« schrie die Frau, während die Frau Räthin hinter der Thür vor Schreck fast in die Kniee zu brechen drohte. »Der schlechte, nichtsnutzige Mensch will ehrliche Leute zu Dieben machen, und indessen kommt seine Frau hier zu mir und thut scheinheilig und freundlich, als ob sie von Gott und der Welt nichts wüßte?«

»So? Die Frau Räthin Frühbach ist bei Ihnen?« sagte Staatsanwalt Witte, der in diesem Augenblick vortrat. »Da bedauere ich allerdings, daß wir so zur unrechten Zeit gestört haben – aber jetzt kann's nichts mehr helfen. Herr Commissar, bitte, thun Sie Ihre Schuldigkeit!«

»Ja wohl, Herr Staatsanwalt,« rief die Frau mit einem tiefen, spöttischen Knix, indem sie die Thür zu ihrem Zimmer aufriß, »dann seien Sie nur so gut und heben Sie das ganze Nest aus und können dann Ihre Frau Gemahlin auch gleich mitnehmen! Weiter werden Sie aber wohl nichts finden – bedaure sehr, daß sich die Herren umsonst bemüht haben!«

»Alle Teufel!« murmelte der Staatsanwalt vor sich hin. »Aber das ist ja gar nicht möglich!«

»Belieben Sie vielleicht gefälligst näher zu treten?« sagte die Frau höhnisch. »Eine verschleierte Dame aus der Residenz, die zu wissen wünscht, wer ihr Schwiegersohn wird! Bitte, Herr Commissar, geniren Sie sich nicht, thun Sie, als ob Sie zu Hause wären! Aber da will ich doch die ganze Welt fragen,« setzte sie boshaft hinzu, »ob das ein Betragen von anständigen, ehrbaren Frauen ist, hier in der Nacht zu mir zu kommen und sich an meinen Tisch zu setzen, während ihre beiden Männer gegen mich ein Complot anstiften und mit Polizei in's Haus rücken!«

»Meine Damen,« sagte der Commissar, aber jetzt wirklich selber in Verlegenheit, »es thut mir leid, so zur unrechten Zeit gekommen zu sein. Uebrigens habe ich nicht den geringsten Auftrag, Sie hier zurück zu halten, und stelle Ihnen deshalb frei, den Platz zu verlassen, wann es Ihnen beliebt.«

»Herr Commissar,« sagte die Frau Räthin, »wir werden von Ihrer Güte Gebrauch machen.« Und ohne den Blick rechts oder links zu wenden, erfaßte sie den Arm ihrer Begleiterin und eilte mit dieser, so rasch sie über das in der Werkstätte umhergestreute Leisten- und Lederwerk hinwegkommen konnten, der Treppe zu. Dorthin aber begleitete sie noch der Commissar, gab dem dort stationirten Polizeidiener, der schon vortreten wollte, Befehl, die Damen durchzulassen, und kehrte dann in die Stube zurück, um seine vorgeschriebene Haussuchung zu beginnen.

Heßberger selber zeigte sich dabei außerordentlich demüthig, aber doch auch störrisch; er meinte, es solle dem Herrn Rath Frühbach theuer zu stehen kommen, ihn auf solche Weise verdächtigt zu haben, und noch dazu, da er ihn heute Mittag selber in den Laden geführt hätte, wo das Hosenzeug zu verkaufen wäre, auf das sich, wie er jetzt vermuthen müsse, seine Nachfragen bezogen hätten. Dort aber könne ihm Jeder bezeugen, daß er den Stoff da gekauft und gleich bezahlt habe, und er wolle doch einmal sehen, ob er sich auf diese Weise als ehrlicher Mann brauche beschimpfen zu lassen.

Die Frau Heßberger selber, die ihren ersten Zorn hinuntergekämpft, benahm sich jetzt vollkommen vornehm gegen den Commissar und dachte gar nicht daran, ihn im Geringsten zu unterstützen. Da wären die Schlüssel, sagte sie, zu allen ihren Schränken und Laden; nun möge er selber, wenn es ihm Freude mache, nachsehen, ob er dort irgend etwas von des Herrn Frühbach Sachen fände. Sie selber aber rühre keine Hand und sei auch nicht dazu verpflichtet, bitte sich aber aus, daß Alles wieder so ordentlich gelegt würde, wie man es gefunden.

Dem Commissar gefiel das nicht; die Leute betrugen sich nicht wie ertappte Verbrecher, sondern handelten genau so, als ob sie in ihrem guten Recht wären, und der Staatsanwalt besonders befand sich nichts weniger als behaglich. Er wußte recht gut, welche Verantwortung er übernommen, und zum ersten Mal stieg der Wunsch in ihm auf, die ganze fatale Angelegenheit gar nicht berührt zu haben. Aber was half es! Die Haussuchung hatte durch das polizeiliche Besetzen der Wohnung factisch begonnen und mußte nun auch durchgesetzt werden. Und wer konnte denn überhaupt wissen, ob sie nicht doch etwas fanden, was sie in der Ausführung entschuldigte und rechtfertigte!

Zuerst wurde die Werkstätte untersucht, aber nur leichthin, denn hier war auch kein möglicher Platz, wo etwas hätte versteckt werden können, den Ofen vielleicht ausgenommen; dann kam das Zimmer der Frau, was schon mehr Schwierigkeiten bot. Aber trotz genauer Durchsuchung der sämmtlichen Schränke und Commoden fand sich auch nicht das geringste Verdächtige, eben so wenig in der Küche.

Der kleine Holzverschlag war fast leer und konnte mit einer Laterne leicht abgeleuchtet werden; er enthielt nichts, als einst weiß gewesene schmutzige Kalkwände mit vielleicht einem Korb Holz darin. Einen Keller hatten die Heßbergers gar nicht, eben so wenig Bodenraum; nur noch ein dunkles Käfterchen, in dem vielleicht zwei Scheffel Steinkohlen lagen. Auch das wurde durchsucht und der Bestand zum großen Theil bei Seite geschaufelt; aber auch dort fand sich nichts, und der Kommissar sah den Staatsanwalt an und zuckte die Achseln.

Staatsanwalt Witte befand sich in Verlegenheit. Die Sache war ihm entsetzlich fatal, und noch fataler, daß sich die Frau Heßberger auf einen ihrer Lehnstühle gesetzt und ihn mit höhnischen Blicken betrachtete. Aber was ließ sich thun! Daß Heßbergers jetzt den Rath Frühbach wegen falscher Anklage vor Gericht belangen würden, verstand sich von selbst, und er hatte eine heftige Scene mit dem Rath zu gewärtigen; aber das ließ sich eben nicht ändern. Keinesfalls wollte er sich dem Hohn der Schustersfrau hier länger aussetzen; der Commissar mochte sehen, wie er mit der allein fertig wurde.

»Schön,« sagte er, »wenn nichts zu finden ist, brechen Sie die Verhandlung ab!« Und ohne sich länger aufzuhalten oder das also gekränkte Ehepaar weiter zu grüßen, schritt er durch die Werkstätte der Treppe zu.

Dort an der Thür saß der Lehrjunge, den der Meister vorher so geprügelt hatte; er schien sich die ganze Untersuchung schadenfroh betrachtet zu haben und eben so wenig zufrieden zu sein, daß man nichts gefunden, wie der Staatsanwalt selbst. Als Witte aber an ihm vorüberging, zupfte er ihn plötzlich am Rock und flüsterte: »Kohlenkammer – Meister geht immer hinein!« und drehte sich dann scharf ab in die Werkstätte, wo er sich in einem Winkel niederkauerte. Witte hatte die letzten Worte kaum oder vielleicht gar nicht verstanden, aber das Wort »Kohlenkammer« war ihm nicht entgangen, und mit einer letzten Hoffnung, seine Ehre als Ankläger noch zu retten, drehte er sich rasch auf dem Absatz herum, ging auf den Polizeimann zu und sagte: »Herr Commissar, ich wünsche die nochmalige Durchsuchung der Kohlenkammer, ehe wir das Haus verlassen.«

»Aber, lieber Herr Staatsanwalt,« sagte der Mann, »wir haben fast die ganzen Kohlen bei Seite geschaufelt.«

»Wir werden es mit dem Rest ebenso machen,« sagte Witte, der sich an diese letzte Hoffnung klammerte.

»Meinetwegen – wie Sie es wünschen; ich bin Ihnen gern gefällig,« erwiderte der Mann. »Aber ich fürchte, wir versäumen nur unsere schöne Zeit – wo ist die Laterne?«

»Hier, Herr Commissar.«

»Gut – schaufelt noch einmal den letzten Kohlenrest bei Seite; es könnte doch möglich sein, daß noch etwas darunter wäre.«

Die Leute gingen willig an die Arbeit, denn es war ihnen selber nicht recht, daß sie unverrichteter Sache wieder abziehen sollten – ist doch das ganze Polizeileben auch nur eine Art von Jagd, und ohne Beute scheut sich ein jeder Jäger heimzukehren. Aber selbst diese letzte Mühe schien vergeblich; denn mit jeder Schaufel voll Kohlen, die bei Seite geworfen wurde, stellt sich mehr und mehr heran; daß der kleine Vorrath nichts heimlich Verborgenes mehr verdecken könne; ihre ganze Mühe war vergebens gewesen. Aber der Staatsanwalt beruhigte sich noch immer nicht. Er nahm selber die Laterne und leuchtete an den Wänden herum, und als er dort keine Möglichkeit eines Verstecks sah, auf der kohlengeschwärzten Diele.

Heßberger stand an der Thür und sah ihm zu.

»Aber, Verehrtester Herr Geheimer Staatsanwalt,« sagte er, »glauben Sie denn wirklich, was der böse Herr Geheime Rath über uns gesagt hat? Habe ich Sie nicht immer bedient, wie sich's gehört und gebührt, und halten Sie mich wirklich für einen so corrumführten Menschen, um den Zorn Gottes auf mich zu laden?«

»Herr Commissar,« sagte Witte, der in der Diele, aber von Kohlenstaub fast verdeckt, ein kleines Stück blanken Eisens bemerkt hatte. Es war kaum sichtbar; nur dadurch, daß das Licht der Laterne einmal darauf fiel, blitzte es ein wenig, und Witte's Auge haftete daran. Was der Schuhmacher sagte, hörte er gar nicht. – »Bitte, kommen Sie einmal hierher.«

»Ja wohl, Herr Staatsanwalt; was wünschen Sie?«

»Sie haben mehr Praxis in derlei Dingen – was ist das da auf dem Boden?«

»Das hier?« sagte der Commissar, indem er sich dazu niederbog. »Hm, das sieht beinahe aus wie der Riegel an einer Thür, und ich weiß eigentlich nicht, was das hier auf dem Boden bezweckt.«

»Haben Sie kein Instrument bei sich, um es einmal zu versuchen?«

»Vielleicht finden wir etwas in der Werkstätte. Heh, Heßberger, was ist das hier für ein Eisen?«

»Kann ich nicht sagen, Herr Geheimer Commissar,« erwiderte der Schuster; aber dem Staatsanwalt entging nicht die Verlegenheit des Mannes – »Hat vielleicht früher hier einmal ein Schrank gestanden. So lange ich hier wohne, habe ich die Kammer immer nur zu Kohlen benutzt. Wahrscheinlich sind die Dielen damit zusammengefügt. Das Haus ist sehr schlecht gebaut, es trocknet Alles zusammen, wenn es nicht genagelt und geschraubt wird.«

»Geben Sie mir einmal irgend ein Instrument her,« sagte der Staatsanwalt, der indeß den Kohlenstaub mit den Händen von der Stelle weggewischt hatte – »und wenn es ein krummgebogener Nagel ist. Ich gehe nicht fort, bis ich den Platz untersucht habe.«

»Wenn Sie erlauben,« sagte der Schuhmacher, »werde ich Ihnen gleich etwas holen; ich habe da unten noch etwas Werkzeug stehen.« Und ohne eine Antwort abzuwarten, sprang er nach der Treppe.

»Halt,« sagte der dort stationirte Polizeidiener, »kein Mensch durch!«

»Aber ich will gerade für den Herrn Geheimen Staatsanwalt . . .«

»Laßt ihn nicht durch!« rief Witte. »Er soll herkommen – Wir kriegen das Ding schon auf – nur irgend etwas her, um damit zu heben!«

Der eine Polizeidiener hatte sich die Stelle jetzt ebenfalls angesehen und brachte rasch einen der Haken herbei, mit denen die Leisten aus den Stiefeln gezogen werden. »Können Sie das vielleicht gebrauchen, Herr Staatsanwalt?«

»Wie dazu gemacht!« rief Witte vergnügt, indem er den Haken in die Oeffnung brachte und daran hob. Er brauchte aber gar nicht etwa stark zu ziehen, denn das von den Kohlen befreite Brett gab außerordentlich leicht nach und zeigte jetzt an seinem untern Ende sogar ein Charnier, mit dessen Hülfe sich eine ordentliche Klappe bildete. Wie er aber den Deckel hob, entstand draußen an der Treppe ein Lärm – der Schuster hatte mit Gewalt hinunterbrechen wollen, und der Polizeidiener wäre beinahe von ihm die Treppe hinabgeworfen worden. Auf seinen Hülferuf sprang aber einer der Kameraden hinzu, und wenige Minuten später hatten sie den wüthend um sich schlagenden Schuhmacher überwältigt und fest gepackt, und der Commissar, der nun allerdings vermuthen mußte, daß der Bursche ein böses Gewissen habe, befahl, ihm die Hände auf dem Rücken zusammen zu schnüren.

»Hallo, Commissar,« rief Witte jubelnd aus, »kommen Sie einmal hierher und sehen Sie, was wir da haben! Hol's der Teufel, das ist ein ganzes Nest von Sachen, und Sie werden ein paar Stunden Arbeit bekommen, um die alle zu protokolliren!«

Die Frau Heßberger hatte in ihrer Stube auf dem Lehnstuhl gesessen und wollte jetzt aufstehen – aber sie konnte nicht, wie in einander gebrochen sank sie zurück und war so weiß geworden wie ihre Gardinen.

Witte indessen, den Kohlenstaub und die Arbeit nicht achtend, sprang fast jubelnd in die kleine Höhlung hinein, und die Gegenstände von dort herauf gegen das Licht hebend, rief er: »Da, sehen Sie – Heiland der Welt, was sich der Schuft hier für eine ordentliche Schatzkammer von Waaren angelegt hat – silberne Löffel in Masse – bei Gott, da ist der Deckel zu meiner Zuckerdose und hier die Schalen – Seidenzeug, Meerschaumköpfe, alte, kostbare Goldsachen – sehen Sie nur den Reichthum!«

»Herr Staatsanwalt,« schrie da der Commissar erschreckt, »dabei sind Sachen, die dem alten Salomon gehört haben!«

Der Staatsanwalt richtete sich empor; er war in dem Moment der Aufregung todtenbleich geworden.

»Dem alten Salomon! – Also wirklich?«

»Ich habe sie selber in seinem Laden gesehen.«

»Verwahren Sie den Menschen gut!« rief Witte, aus dem Loch herausspringend. »Lassen Sie ihn um Gottes willen nicht fort!«

»Der ist gut genug verwahrt,« sagte der Commissar, »und keine Gefahr, daß er uns entspringt.«

»Und die Frau?«

»Auf die werden wir noch besonders Acht geben. Haben Sie keine Angst; das Pärchen ist sicher.«

»Schön,« sagte Witte; »dann haben Sie die Güte und schicken die beiden Leute vor allen Dingen in Gewahrsam, damit sie Ihnen hier nicht mehr im Wege sind, und packen dann den Waarenvorrath zusammen und lassen ihn auf das Criminalamt schaffen, damit er dort geordnet und registrirt wird. Haben Sie Leute genug?«

»Ich denke, wir werden mit der Gesellschaft fertig werden,« sagte der Commissar. »Herr Staatsanwalt, ich glaube, wir haben heut Abend einen guten Fang gemacht.«

»Ich denke es auch, Herr Commissar; aber kommt da nicht Jemand?«

Es fiel, allem Anschein nach, irgend wer die etwas dunkle Treppe herauf, denn es polterte furchtbar, und man hörte ein paar halbverbissene Flüche; dann wurden wieder Schritte hörbar, und zuletzt zeigte sich in dem Lichte der von dem einen Polizeidiener emporgehaltenen Laterne eine menschliche Gestalt.

»Halt! Werda?« rief sie der Mann militärisch an.

»Gut Freund – ich bin's,« antwortete eine fremde Stimme. »Ist Herr Staatsanwalt Witte hier?«

»Hier bin ich. Wer ist da?«

»Mein lieber Staatsanwalt,« sagte Rath Frühbach – denn als solcher stellte sich der späte Besuch heraus –, indem er die letzten Stufen emporklomm, »nehmen Sie mir das nicht übel: ich habe Ihnen die Betreibung der Angelegenheit überlassen, aber doch nicht zu dem Zweck, um mich in Teufels Küche zu bringen. Ich protestire gegen jedes weitere Verfahren, insofern es die brave Heßberger'sche Familie betrifft, und überlasse Ihnen alle und jede Verantwortung für das Geschehene.«

»Aber, bester Herr Rath!« lachte Witte.

»Bitte,« sagte Rath Frühbach, »das ist kein Spaß: ich lag schon im Bett und im ersten Schweiß, als meine Frau nach Hause kam und mir mittheilte, daß Sie hier im Heßberger'schen Familienkreise auf meine Veranlassung mit Polizei wirtschafteten und Haussuchung hielten. Ich sage Ihnen, wie ich war, fuhr ich aus dem Bette und in meine Kleider, und ich kann den Tod davon haben, denn nichts auf der Welt ist schlimmer als eine unterbrochene Transspiration . . .«

»Und Sie protestiren wirklich, Herr Rath?«

»Allerdings, soweit es den Ihnen gegebenen Auftrag betrifft. Ich ziehe meine Klage vollständig zurück!«

»Dann bedauere ich, daß Sie zu spät kommen,« lachte Witte, »denn wir haben das ganze Nest schon ausgehoben und einen wahren Schatz von gestohlenen Sachen gefunden.«

»Von gestohlenen Sachen?« rief Frühbach erstaunt.

»Ueberzeugen Sie sich selber – genug Silber, um eine fürstliche Tafel auszustatten.«

»Nun, sehen Sie wohl, daß ich Recht hatte?« bemerkte Rath Frühbach, in dem er auf die oberste Stufe trat und das Terrain mit seinen Blicken überflog (der gebundene Heßberger stand dicht neben ihm). »Habe ich es Ihnen nicht immer gesagt, daß der Heßberger ein ganz durchtriebener Bursche ist? Aber Sie wollten es mir nie glauben! Und was wird jetzt?«

»Jetzt schaffen wir die Gefangenen auf die Polizei,« sagte der Commissar, »und morgen früh ersuche ich Sie, mit Ihrer Frau Gemahlin auf das Amt zu kommen, um die aufgefundenen Gegenstände in Augenschein zu nehmen und zu erklären, ob etwas darunter Ihr Eigenthum ist. Auf Ihre Veranlassung wurde die Haussuchung vorgenommen, und es versteht sich von selbst, daß Sie zuerst über die Gegenstände, die wir Ihnen vorlegen müssen, vernommen werden.«

»Und haben Sie das Hosenzeug gefunden?«

»Das allerdings noch nicht, aber es kann noch Manches in dem untern und sehr geschickt angebrachten Versteck liegen. Also versäumen Sie Ihre Zeit nicht – morgen etwa zwischen zehn und elf Uhr, wenn ich bitten darf.«



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