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In Heilingen, in der Glockenstraße, stand ein vortreffliches Weinhaus, in dem die wohlhabenderen Bürger Abends gewöhnlich zusammenkamen und ihr Fläschchen, aus denen auch oft zwei und drei wurden, tranken. Das Lokal war ziemlich gemütlich, und dem Zweck entsprechend, in eine Menge kleiner Zimmerchen abgetheilt, die theils durch wirkliche Thüren und Verschläge, theils durch Vorhänge von einander getrennt lagen, einzelnen Gesellschaften zu gestatten eben einzeln zu bleiben, und ihr Glas, ungestört von dem Nachbar, zu trinken.
Das Haus hieß »der Pechkranz« nach einer alten Sage, die der Wirth sehr gern mit der Heilinger Chronik belegte, und die noch in dem dreißigjährigen Kriege spielte; ein, über der Eingangsthür in neuerer Zeit erst aus Stein gehauener Bachus, hielt auch in der einen Hand einen Tyrsusstab, und in der anderen einen Pechkranz, in höchst wunderlicher Weise Sage und Geschäft mit einander vereinigend. Die Allegorie war aber gar nicht so übel angebracht, und hätte sich auch schon ohne Tilly recht leidlich und genügend erklären lassen, denn Bachus hatte hier schon in der That in manchen Kopf seinen Pechkranz hineingeworfen, daß es lichterloh zum Dache hinausbrannte, ohne weiter eben größeren Schaden anzurichten, als der alte Pechkranz in damaliger Zeit angerichtet haben sollte.
Der Wirth war übrigens nicht in Heilingen geboren und erzogen, sondern ein Rheinländer, der sich hier erst vor einigen Jahren niedergelassen, und durch gute Getränke auch bald gute und schlechte Kunden genug bekommen hatte. Seine Preise waren allerdings ein wenig theuer, »aber,« sagten die Heilinger, »wer einmal Wein trinkt, dem darf es auch nicht auf einen Groschen dabei ankommen, wenn er nur ächt und rein ist,« und Wirth und Gäste befanden sich wohl dabei.
Es war am Abend des nämlichen Tages, an welchem ich meine Erzählung begann, als die Gäste, die den Tag über meist auf Spaziergängen im Freien gewesen waren, anfingen einzutreffen, und die Kellner geschäftig herüber und hinüber sprangen, Wein und Speisen den Hungrigen und Durstigen zu bringen. Die kleinen Räumlichkeiten füllten sich nach und nach, und selbst in dem großen Mittelsaal, der ungefähr das Centrum des Ganzen bildete, hatten sich schon hie und da einzelne Gruppen gebildet, oder auch einzelne Gäste saßen in irgend einer Ecke, ihre Flasche Wein vor sich, und auf eigene Hand, in ungeselliger Gemüthlosigkeit, langsam Glas nach Glas zu leeren. Es ist das aber nicht die rechte Art; zu einer schönen Landschaft und einer guten Flasche Wein gehören mindestens zwei Personen, um Beides recht und ordentlich zu genießen, die eine sich darüber, die andere sich dabei auszusprechen; wenn man allein ist, geht mehr als der halbe Genuß von Beiden verloren. Es giebt allerdings Menschen, die sich zufriedener fühlen wenn sie Alles allein genießen können, aber denen geh' aus dem Weg; es sind Hypochonder oder Schlimmere, und der einzige Dank, den Du ihnen schuldig bist ist dafür, daß sie sich eben auch von Dir zurückziehn. Nur wer Niemanden hat an den er sich anschließen darf, wer allein und freundlos in der Welt dasteht und das Leid das ihn drückt, allein tragen, die wenigen frohen Momente seines Lebens allein genießen muß, den bedauere und hilf ihm, wenn Du kannst, denn er ist der Unglücklichste von Allen.
Es mochte neun Uhr Abends sein, als ein Bekannter von uns, der Kürschnermeister Kellmann, die Weinstube betrat und, sich überall umschauend, ob er nicht irgend einen Freund träfe zu dem er sich setzen könnte, in einer der Ecken eine bekannte Gestalt entdeckte. Aber er sah erst ein paar Secunden wirklich aufmerksam dorthin, ehe er seinen Augen traute, und sagte dann, auf Jenen losgehend und neben dem Tisch stehen bleibend:
»Hallo, Loßenwerder? Ihr hier im Pechkranz? na da möchte man doch, wie die Schwaben sagen, den Ofen einschlagen. Alle Wetter Mann und vor einer Flasche Rüdesheimer; nun das laß ich gelten und es freut mich wahrhaftig, daß Ihr endlich einmal aufthaut und unter Menschen kommt. Aber was ist denn heute los bei Euch? denn einen ganz besonderen Grund muß doch die Festlichkeit haben.«
»Ha – ha – ha – hat sie auch He – he – he – he – herr Ke – ke – ke – kellmann,« sagte der kleine Mann verlegen lächelnd und sich etwas schüchtern dabei umschauend, denn es schien ihm nicht angenehm, die Aufmerksamkeit der übrigen Gäste so direkt auf sich gelenkt zu sehn.
»Jetzt kann ich aber auch den Leuten widersprechen,« sagte Kellmann, seinen Hut und Stock an einen der nächsten Haken hängend und sich neben ihn setzend, »wenn sie behaupten Ihr tränkt nur Wasser, und Sonntags höchstens einmal ein Glas Dünnbier – ich kriege Leibschneiden, wenn ich nur an das Zeug denke – und sonst lebtet, als ob Ihr die Woche mit einem halben Thaler auskommen müßtet. Alle Wetter Mann, das ist recht, daß Ihr Euch auch manchmal ein Glas Rheinwein gönnt; das hält Leib und Seele zusammen, und stärkt die Nerven und Muskeln mehr wie Rindfleisch. Würde mir schwer ankommen, wenn ich unseren vaterländischen Wein entbehren müßte,« setzte er mit einem halbunterdrückten Seufzer hinzu.
»Ha – ha – ha – haben Sie a – a – a – auch wohl ni – ni – nicht nö – nö – nö – nö – nö – nöthig, be – be – be – bester He – he – he – he – he – he.«
»Ih nun wer weiß was Einem noch Alles bevorsteht,« unterbrach ihn Kellmann – »hier Kellner – mir auch eine Flasche von dem Rüdesheimer; der Duft hat mir Appetit gemacht.«
»Hallo Loßenwerder bei einer Flasche Rüdesheimer,« rief aber jetzt noch eine andere Stimme aus dem nächsten Stübchen, wo ein paar junge Kaufleute bei ihrem Glase zusammensaßen – »da müssen wir auch dabei sein; Loßenwerder hat vielleicht heute seinen splendiden Tag und traktirt – haben Sie was in der Lotterie gewonnen?«
Die jungen Leute, die Kellmann und Loßenwerder begrüßten, kamen mit ihrer Flasche heraus, und setzten sich an denselben Tisch, mit dem immer verlegener werdenden kleinen Mann anstoßend und trinkend. Denen gesellten sich aber noch bald darauf Andre zu; Loßenwerder war in der ganzen Stadt bekannt und oft auch, seiner körperlichen Mängel wegen, zum Besten gehalten. Vertheidigen konnte er sich aber schon seines Stotterns wegen nicht, was den Gegnern gleich nur noch mehr Anlaß und Stoff gegeben hätte; so wurde denn diese freilich gezwungene Zurückhaltung endlich für Gutmütigkeit ausgelegt, mit der er sich Scherz und Stichelrede ruhig gefallen ließ, und was die schärfste Erwiderung nicht vermocht, erreichte er unfreiwillig dadurch, daß man es endlich müde wurde, den sich nicht Verteidigenden zum Besten zu haben, und ihn eben zufrieden ließ. Aber in des Verwachsenen Betragen änderte das Nichts; abgestoßen und verhöhnt – in nur sehr wenigen Ausnahmen – von Allen, mit denen er in Berührung kam, zog er sich mehr und mehr in sich selbst zurück, ging, außer den nöthigen Geschäftswegen und außer der Geschäftszeit, fast nirgends hin, und lebte so einfach, ja fast dürftig, wie nur ein Mensch leben kann, der eben nur Geld ausgiebt, um zu existiren. In einem Weinkeller hatte ihn aber noch Niemand gesehn, und die Gäste dort, die überdies keinen weiteren Zweck da hatten als sich zu amüsiren, glaubten das einmal einen Abend mit dem kleinen »Stotterberg«, wie er spottweis, seines Stotterns und Höckers wegen genannt wurde, am Besten thun zu können.
Im Anfang wollte sich Loßenwerder aber auf Nichts einlassen, ja machte sogar zwei oder drei, wenn gleich vergebliche Versuche, sich zu entfernen, denn von allen Seiten wurde er gehalten, und Jeder wollte und mußte mit ihm trinken. Nach und nach aber fing er an aufzuthauen; der ungewohnte kräftige Wein mochte ihm das Blut leichter und rascher durch die Adern jagen. Nun sollte er erzählen, aber das ging nicht, sein Stottern wurde, mit der schwereren Zunge, kaum verständlich, bis Einer, im Spott eben, auf den Gedanken kam, ihn zum Singen aufzufordern. Loßenwerder weigerte sich erst ganz verschämt; das aber kam den Anderen zu komisch vor, und mit Lachen und Toben, während ein paar schon Champagner bestellten, den Genuß würdig zu feiern, räusperte sich Loßenwerder plötzlich und stieg, von dem Wein erregt, und jetzt unter dem lauten Jubel der ihn umdrängenden Gäste, auf einen Stuhl.
Was aber, wie sich die Uebrigen gedacht, Spott und Scherz hatte werden sollen, das erstarb in athemlosem Schweigen, nur von leisen Ausrufungen des Staunens und der Bewunderung unterbrochen, als der kleine verkrüppelte Mensch, mit einer hellen, glockenreinen Stimme, und Tönen, die zum innersten Herzen drangen, erst noch scheu, dann aber immer zuversichtlicher werdend, und wie von dem Inhalt des Liedes mit fortgerissen, dieses also begann:
»Ich habe schon zu oft geschaut
In Deiner Augen Glanz,
Du Holde, Auf meine Kraft zu fest vertraut,
Viel mehr, als ich vertrauen sollte.
Doch nein, für Dich Geliebte sind
Des Lebens schönste, reinste Blüthen,
Von keinem Schmerz getrübt, bestimmt,
Und was könnt' ich dafür Dir bieten?
Nichts – gar Nichts, als ein treues Herz;
Doch nimmer sollst Du es erfahren –
Ich kann, wie früher, meinen Schmerz
In tiefer, innerer Brust bewahren.
Sei glücklich! – wenn auch ohne mich,
Ich will Dich lieben, aber schweigen
Und mein Gebet nur soll für Dich
Empor, zum Thron des Höchsten steigen.
Wenn dann mein Herz im Grabe liegt,
Und austräumt seine stillen Leiden,
Dann soll der Geist zum Himmel nicht
Entfliehn, und zu der Seel'gen Freuden. –
Ein schön'res Loos werd' ihm zu Theil,
Umschwebend Dich in trüben Tagen,
Soll er, zu Deinem Schutz und Heil,
Selbst seiner Seligkeit entsagen.«
Loßenwerder war ganz gerührt geworden beim Schluß des Liedes, und die Thränen standen ihm in den Augen; während sein wirklich häßliches Gesicht durch den Schmerz aber eher einen komischen als ernsten Ausdruck bekam, jubelte die Schaar jetzt um ihn her, die wirklich erst wieder Athem und Laut gewann, als der wundersame Zauber dieser Stimme von ihnen genommen war.
»Bravo – bravo Loßenwerder – bravo dacapo! Donnerwetter Mann, Ihr habt ja eine Stimme wie eine Nachtigall, und stottert nicht die Probe dabei – wie am Schnürchen geht das!«
»Es ist erstaunlich!« rief Kellmann, vor lauter Verwunderung über das eben Gehörte wirklich fast sprachlos.
»Nun aber auch trinken – hier Loßenwerder – hier,« riefen sie, ihm das Glas bis zum Rand mit dem schäumenden Trank füllend, »und dann noch ein Lied; bei Gott, das zuckt und prickelt Einem ordentlich durch die Adern, und klingt wie Glockenton so rein und voll; Loßenwerder wo habt Ihr das Singen gelernt?«
»Vo – vo – vo – vo – vo – von mi – mi – mir se – se – se – se – selb – bber,« stotterte der kleine Mann, kaum im Stande jetzt mit immer schwerer werdender Zunge nur die paar Worte vorzubringen, während ihm im Gesang die Strophen wie der Lerche das schmetternde Lied; aus der Kehle wirbelten.
»Und da hat bis jetzt noch gar kein Mensch etwas davon erfahren,« rief Kellmann wieder – »behält die liebe Gottesgabe da ebenfalls für sich allein, kommt nirgends hin, spricht mit Niemand, trinkt und singt mit Niemand, und hat eine Stimme in der Luftröhre sitzen, die Einer, wer es darauf anzulegen verstände, in reines Gold verwandeln könnte.«
Von allen Seiten tranken sie jetzt dem kleinen Mann zu, und überschütteten ihn mit Lob und Jubel, und dieser schwamm wirklich in einem wahren Meer von Wonne. So wohl war ihm auch noch nie geworden – Niemand hatte sich bis jetzt um ihn bekümmert, Jeder ihn verspottet und verhöhnt, und zum ersten Mal, vielleicht seit langen, langen Jahren, fühlte er sich unter Menschen einem Menschen gleich, wußte sich nicht mehr verachtet und unter die Füße getreten, und sah freundliche Augen um sich her, die ihn wie ihres Gleichen anschauten.
Dem löste sich auch endlich seine Zunge, oder wenigstens sein guter Wille zu reden, so weit, daß er beginnen wollte Geschichten zu erzählen. Das ging aber unter keiner Bedingung; beim Singen ja, aber beim Sprechen brachte er kein Wort mehr über die Lippen, und selbst das Singen versagte ihm zuletzt den Dienst; die Augenlider wurden ihm schwer, er fing an zu lallen, und war eben zurück auf seinen Stuhl und dem Schlaf in die Arme gesunken, als die Thür aufging und zwei Gerichtsdiener in's Zimmer traten. Es war etwa elf Uhr Abends und die meisten Gäste, mit Ausnahme des einen Tisches, hatten das Haus schon verlassen.
»Hallo was ist das?« sagte Herr Kellmann, der die beiden Leute zuerst bemerkte, »das ist wunderlicher Besuch – es wird doch nicht etwa eine Polizeistunde eingeführt in Heilingen?«
Aber auch der Wirth war die »Diener der Gerechtigkeit«, wie sie meist etwas poetisch genannt werden, gewahr geworden und ging auf sie zu, sich zu erkundigen was sie hierher geführt.
»Ein kleiner buckliger Mann soll hier heute Abend bei Ihnen sein,« sagte der Erste – »er ist aus dem Dollingerschen Geschäft.«
»Dort sitzt er in der Ecke,« sagte der Wirth vom Pechkranz nach Loßenwerder hinüberzeigend, »hat er etwas verbrochen?«
»Ich weiß nicht,« erwiederte der Zweite ziemlich kurz – »wir sollen ihn abholen.« –
»Wird schwer sein,« meinte der Wirth – »sie haben ihm heute Abend hier ordentlich zugetrunken, und der Wein hat jetzt das Uebergewicht – wenn er aufsteht kippt er wieder um.«
»Hm – da wird wohl auch nicht viel mit Fragen aus ihm herauszubringen sein, Meier; was meinst Du, nehmen wir ihn mit?«
»Ich denke das Beste wird sein wir führen ihn zu Haus, und Einer bleibt bei ihm bis er morgen früh wieder zu Verstande kommt; jetzt ist doch Nichts mit ihm anzufangen.«
»Aber um Gottes Willen was ist denn vorgefallen?« frug Kellmann bestürzt; »der arme Teufel hat doch nicht etwa irgend 'was verbrochen?«
»Noch ist nichts Gewisses bekannt,« erwiederte der erste Polizeidiener, »nur bei Dollinger's ist heute Nachmittag eingebrochen, und die Untersuchung muß jetzt erst ergeben, wer schuldig sei.«
»Bei Dollinger's eingebrochen?« riefen Mehrere, »heute Abend?«
»Nein heute am hellen Tag,« sagte der Mann.
»Alle Wetter das muß dann gewesen sein während sie nach dem rothen Drachen gefahren waren,« sagte Kellmann rasch – »sie kamen an uns vorbei mit dem jungen Henkel.«
»In der Zeit war's,« bestätigte der Polizeidiener, »denn wie sie zu Hause kamen, wurde es entdeckt – hier da Loßenwerder – Sie da – wachen Sie auf.«
»Ja wenn Sie den stoßen wollen bis er munter wird,« lachte Einer der jungen Leute, »da haben Sie Arbeit.«
»Sie – Loßenwerder – hören Sie?«
»Ja – ja« – stammelte der von dem ungewohnten Weine, von dem er eigentlich gar nicht so sehr viel getrunken, Betäubte – »me – me – me – mehr We – we – wein; ich za – za – za – zahle A – a – a – a – a – alles!«
»So?« sagte der Polizeidiener ruhig – »nun für heute möcht' es doch wohl genug sein; komm, faß ihn da drüben unter den Arm, er wohnt ja auch nicht so sehr weit von hier – wo ist sein Hut?«
»Hier – armer Teufel, das wird ein böses Erwachen werden.«
»Wie man sich bettet so schläft man,« sagte der zweite Polizeidiener, und den Betrunkenen in die Höhe richtend, der dabei unverständliche Sachen stammelte und sogar einen total misglückenden Versuch machte wieder zu singen, führten sie ihn hinaus und seiner Wohnung zu, indeß die Gäste noch das »für und wider« der Schuld des Mannes, von dem sie nie etwas Uebles gehört bei einer anderen Flasche besprachen.
Und es war ein böses Erwachen für den Mann; von dem Weindunst betäubt schlief er, wie ein Todter, bis zum lichten Tag, und als er die Augen aufschlug und ihm der Kopf schmerzte zum Zerspringen, fiel sein erster Blick auf den ungeduldig in seinem Zimmer auf und ab gehenden Polizeidiener, den er einen Moment bestürzt anstarrte, und dann die Augen wieder schloß, wie vor einem unangenehmen Traumbild.
»Nun Loßenwerder, ausgeschlafen?« sagte der Mann aber, froh endlich einmal zu einem Resultat zu kommen – »das hat lange gedauert – kommen Sie, stehn Sie auf und ziehn Sie sich an.«
Die Stimme war kein Traum, und der kleine Mann richtete sich erschreckt von seinem Bett, auf dem er noch mit den Kleidern vom vorigen Abend lag, empor. Wo war er? – wie war er hierher gekommen? er drückte sich mit beiden Händen die Stirn und der klare Angstschweiß brach ihm aus über den ganzen Körper; er wußte nicht mehr was gestern Alles geschehn, und die unheimliche finstere Gestalt vor ihm füllte sein Herz mit einer wilden Ahnung von Unheil, die alles Blut dorthin in jähem Strom zurücktrieb.
Wie ein Schlag da hinein traf ihn die Nachricht von dem entdecktem Diebstahl, das Gefühl, daß der Verdacht auf ihm laste, und die nächste Stunde – während ein anderer Polizeibeamter bei ihm visitirte und man nichts weiter, als in einem Winkel seines kleinen Schreibtisches, unter dreifachem Schloß, ein Päckchen mit 200 Thalern in fünf und zwanzig Thaler Cassenanweisungen, wie noch einige Goldstücke fand, wie seine Abführung dann nach dem Dollingerschen Hause, da Herr Dollinger gebeten hatte den Mann, an dessen Schuld er nicht glauben wollte, erst einmal an Ort und Stelle selber zu befragen – lag wie ein Alp auf seiner Seele, unter dessen Last er auch kein Wort zu seiner Verteidigung zu sagen, ja nicht einmal eine an ihn gerichtete Frage zu beantworten vermochte.
In dem Dollingerschen Hause angekommen, wurde er gleich in Herrn Dollinger's Zimmer hinaufgeführt, und der alte Herr ging, als Loßenwerder die Stube betrat, mit auf dem Rücken gekreuzten Händen in seinem Zimmer auf und ab. Der junge Henkel saß in der einen Ecke des Sophas, das rechte Knie über das linke geschlagen, mit einem Buch in der Hand, über das hin er aufmerksam den Gefangenen betrachtete.
Loßenwerder war bleich wie ein Todter – jeder Blutstropfen hatte sein Antlitz verlassen, und bei dem Versuch den er zum Reden machte, kam kein Laut über seine Lippen.
»Loßenwerder,« sagte Herr Dollinger endlich, nach einer kleinen Weile vor ihm stehen bleibend und ihn ernst, ja traurig betrachtend – »ein böser Mensch ist gestern, während unserer Abwesenheit, in unser Haus geschlichen und hat, außer einigen Juwelen, auch noch das Geld entwendet, das Du mir gestern Mittag gebracht und das ich, wie Du weißt, in den Secretair dort schloß. Warst Du während unserer Abwesenheit wieder im Haus und in dem Zimmer meiner Töchter?«
»He – he – he – he – he – he – he – rr Do – Do – Do – Do.«
»Schon gut Loßenwerder, Du bist jetzt aufgeregt und das Sprechen wird Dir schwer; beschränke Dich auf ein einfaches ja und nein.«
»Ja – a – !«
»In dem Zimmer meiner Töchter?«
»J – a – a – a aber – i – i – i – i – ich wo – wo – wollte« –
»Sie haben einen Blumentopf dort hineingesetzt?« sagte Herr Henkel jetzt ruhig.
Das Blut stieg dem kleinen Mann rasch bis in die Schläfe hinauf, aber der nächste Moment ließ sein Antlitz wieder so weiß als vorher; er nickte nur, zur Betätigung des eben Gesagten, mit dem Kopf.
»Loßenwerder,« sagte der Herr Dollinger mit leiser, bewegter Stimme und dicht zu dem kleinen Mann hinantretend, wobei er die Hand auf dessen Schulter legte, »Loßenwerder, noch gestern würde ich eben so leicht geglaubt haben, daß eines von meinen eigenen Kindern eines schlechten, unrechtlichen Streiches fähig wäre, bis mich leider die immer deutlicher sprechenden Thatsachen in meinem Glauben an Dich wankend gemacht haben.«
»He – he – he – he – he – herr Do – Do – Do – Do – – Dollinger« –
»Ich will Dir klar und einfach unseren ganzen Verdacht vorlegen,« sagte da der alte Herr, dem Angeklagten jedes unnütze Wort zu ersparen – »gestern, während unserer Abwesenheit, ist der Secretair meiner Töchter erbrochen und das Dir bekannte Geld entwendet worden – drüben über der Straße hat Dich ein Mädchen gesehn, wie Du heimlich aus dem Hause geschlichen bist. Ebenso bestätigt Wilhelm, der Stalljunge, Dich gesehn zu haben, wie Du hättest das Haus durch die nach dem Hofe zu führende Thür verlassen wollen, bei seinem Anblick aber, was selbst dem Jungen aufgefallen ist, zurückgefahren, und dann auch nicht über den Hof gekommen wärst. Das Stubenmädchen, die keine Ahnung davon haben konnte daß Geld in dem Secretair lag, ist bereit den schwersten Eid abzulegen, daß sie, wenige Minuten später, nachdem man Dich hatte aus dem Hause schleichen sehen, die Vorsaalthür nicht mehr aus den Augen gelassen, und gewiß wäre, daß Niemand die Schwelle mehr überschritten habe, bis sie den zurückkehrenden Wagen in den Hof einfahren gehört. Heimlich bist Du im Haus gerade in der Zeit, in welcher das Geld entwendet wurde, gewesen, und die gestrige Ausschweifung, die man an Dir nicht gewöhnt ist, wie die bei Dir gefundene Summe, lassen allerdings das Schlimmste fürchten. Loßenwerder – ich brauche Dir nicht zu sagen, wie weh – wie weh mir das gerade von Dir thut, und ich wollte die doppelte Summe, so bedeutend sie ist, gern verschmerzen, wenn es nicht geschehen wäre. Mache aber jetzt Deinen Fehler, wenigstens so weit das noch in Deinen Kräften steht, wieder gut; gestehe was Du mit dem übrigen Gelde gemacht, wo Du es verborgen hast, und ich selber will dann auch Alles thun was in meinen Kräften steht, Deine Strafe zu erleichtern. Ein anderer Welttheil mag Dir nachher in späterer Zeit Gelegenheit geben Deinen Fehltritt zu bereuen, und das wieder zu werden, für was ich Dich, selbst bis diesen Morgen noch, gehalten habe.«
Loßenwerder hatte während dieser Auseinandersetzung wie aus Stein gehauen vor seinem Prinzipale gestanden, nur das Zittern seiner Glieder verrieth daß er lebe; jetzt aber brach er in die Knie, und zum ersten Mal vielleicht mit dem vollen Bewußtsein der gegen ihn erhobenen Anklage – oder auch von Schuld und Angst zu Boden gedrückt, denn wer konnte in den stieren, überdies nicht geraden Augen und in den todtenbleichen, mit großen Schweißperlen bedeckten Zügen das richtige lesen – umfaßte er die Knie des alten Herrn und bat mit wild stotternder Stimme, aus der dieser nur mit äußerster Anstrengung einen Sinn herausfinden mußte – ihn nicht unglücklich zu machen – Nichts so Schreckliches von ihm zu denken.
»Ein aufrichtiges Geständniß, Loßenwerder,« entgegnete darauf Herr Dollinger, »ist das Einzige, was Deine Schuld jetzt noch in etwas erleichtern kann. Das Gericht wird einen unbewachten Augenblick, dem die Reue auf dem Fuße folgt, nicht so schwer strafen, wie den hartnäckigen Uebelthäter.
»A – a – a – a – a – aber ich bi – bi – bin ni – ni – ni – nicht schu – schu – schu – schuldig,« – stotterte der Unglückliche – »ich we – we – we – we – weiß vo – vo – vo – von Ni – ni – ni – nichts – «
»Du weißt von Nichts, Loßenwerder?« sagte Herr Dollinger leise mit dem Kopf schüttelnd – »und woher ist das Geld das man bei Dir gefunden, woher die Fünfundzwanzig Thaler-Note, die Du locker in der Tasche getragen, und die Dir der Polizeidiener gestern Abend noch herausgenommen hat?«
»Ge – spa – pa – pa – pa – partes Geld – e – e – e – e – e – ehrlich ge – ge – gespartes G – g – g – geld!« stammelte der arme Teufel.
Herr Henkel stand jetzt auf und ging langsam auf Herr Dollinger zu, dem er ein paar Worte in's Ohr flüsterte und dann, während dieser leise und traurig mit dem Kopf nickte, das Zimmer verließ. Loßenwerder aber, der ihm ängstlich mit den Augen folgte und vielleicht in einer unbestimmten Ahnung fühlte daß man ihn fortführen – in ein Gefängniß bringen werde, ergriff wieder und jetzt aber wie in Todesangst des alten Mannes Hand, und bat ihn um Gottes – um seiner Seligkeit willen, soweit es ihm die, jetzt in der Aufregung nur noch mehr fehlende Sprache immer gestattete, daß er ihm nur das nicht anthun – daß er ihn in kein Gefängniß möge führen lassen. Herr Dollinger erklärte aber natürlich darin Nichts thun zu können, denn wenn er Nichts gestehen wolle oder zu gestehen habe, so müsse allerdings das Gericht, bei so stark vorliegendem Verdacht, die Untersuchung aufnehmen, wonach sich bald seine Schuld oder Unschuld herausstellen würde.
»Hab' ich aber einmal erst auf solchen Verdacht gesessen,« stotterte der Unglückliche, »so bin ich gebrandmarkt mein Lebelang« –
Herr Dollinger zuckte die Achseln, und die Thür öffnete sich in diesem Augenblick, den einen Polizeidiener zeigend, der Loßenwerder leise auf die Achsel klopfte und freundlich sagte:
»Wenn's gefällig wäre.«
Loßenwerder zuckte zusammen als ob er einen Schlag bekommen, und wandte sich noch einmal, wie Hülfe suchend, an Herrn Dollinger, aber ein Blick auf diesen überzeugte ihn, daß er schon nicht mehr helfen könne, wo das Gericht die Sache in die Hand genommen, und sein Gesicht in den Händen bergend, folgte er dem Gerichtsdiener fast willenlos hinaus.
Gerade als er durch die Thür schritt begegnete ihm, noch auf der Schwelle, Frau Dollinger, und rasch bei Seite tretend, als ob sie selbst durch seine Berührung angesteckt zu werden fürchte, warf sie ihm einen zornigen, verächtlichen Blick zu und ging an ihm vorüber.
Loßenwerder seufzte tief auf, sagte aber kein Wort, denn wie er den Kopf hob, sah er am andern Ende des Vorsaals Clara mit dem jungen Henkel in eifrigem Gespräch, und auch dort mußte er vorbei. Das war zu viel und wie unschlüssig blieb er stehn und sah sich um, als ob er einen Weg zur Flucht suche.
»Na kommen Sie, Loßenwerder, machen Sie keine Dummheiten,« sagte aber, ihm ermunternd auf die Schulter klopfend, der Polizeidiener – »es ist Alles ein Uebergang, wie der Fuchs sagte, als sie ihm das Fell über die Ohren zogen.«
Loßenwerder nahm sich zusammen und schritt festen Trittes an dem jungen Mädchen vorüber, das ihn mitleidig betrachtete.
»Etwas über zweihundert Thaler hat man schon bei ihm gefunden,« flüsterte der junge Henkel ihr leise zu – »ich hoffe daß Vater Dollinger das andere auch noch wieder bekommen soll.«
»Ach Loßenwerder, warum habt Ihr das gethan?« sagte Clara, leise und mitleidig den Gefangenen ansehend, als er an ihr vorüberging.
»U – u – u – und Si – si – si – si – sie g – g – g – glau – ben d – d – das a – a – a – a – auch?« rief Loßenwerder und die großen hellen Thränen standen ihm dabei in den Augen, aber der Polizeidiener hatte sich schon länger mit ihm aufgehalten, als er meinte verantworten zu dürfen, nahm ihn leise an der Hand und führte ihn die Treppe hinunter. Loßenwerder folgte ihm wie in einem Traum.
Das Polizeigebäude war nur höchstens fünfhundert Schritt von dort entfernt, und stand an der andern Seite einer kleinen steinernen Brücke die über den, mitten durch die Stadt und häufig überbrückten kleinen Fluß führte. Als sie hinunter auf die Straße kamen, ließ der Polizeidiener seinen Gefangenen los, kein Aufsehn zu erregen, und flüsterte ihm zu nur ruhig neben ihm hinzugehn. Loßenwerder verstand ihn wohl gar nicht, denn er sah verstört zu ihm auf, und dann um sich her, und fand die Augen der Vorübergehenden alle neugierig auf sich geheftet; sich aber doch, wenn auch nur dunkel, des Zwanges bewußt der auf ihm lag, nahm er sein Taschentuch heraus, trocknete sich die feuchte Stirn damit ab, und ging mit krampfhaft zusammengebissenen Zähnen neben seinem Wächter her. So erreichten sie die Brücke, wo vier oder fünf Jungen standen, die neugierig die Ankommenden betrachteten; Loßenwerder's Blick schweifte über sie hin, aber er sah sie nicht, bis er dicht bei ihnen war und einer derselben spottend rief:
»Hoho, hoho – Stotterberg hat gestohlen, Stotterberg hat gestohlen!«
Die Anderen stimmten lachend mit in den Ruf ein, und der Polizeidiener drehte sich ärgerlich und drohend gegen die Buben um, die scheu auseinander stoben; Loßenwerder aber fuhr sich mit beiden Händen krampfhaft gegen die Stirn – »hat gestohlen!« schrie er dabei, ohne zu stottern, mit gellendem wilden Schrei, und ehe sein Wächter es verhindern konnte, ja nur eine Ahnung davon hatte, warf er sich mit einem verzweifelten Sprung, über die niedere Ballustrade hin in den unten vorbeilaufenden Strom. Noch über dem Geländer erfaßte ihn der Polizeidiener an einem Rockzipfel, das Gewicht des niederfallenden Körpers war aber zu groß, als daß er es mit einer Hand hätte aufhalten können, ja er mußte sogar loslassen, nicht selber das Gleichgewicht zu verlieren, und der Unglückliche schlug gleich darauf auf das Wasser, unter dessen Oberfläche er im nächsten Augenblick verschwand.
Der Fluß war indeß hier weder breit noch tief, und auf der ziemlich belebten Straße fanden sich gleich mehre Leute, die unterhalb der Brücke in's Wasser sprangen, das ihnen etwa bis unter die Arme reichte, den niedertreibenden Körper aufzufangen. Sie hatten ihn auch bald erreicht und gefaßt, und von kräftigen Armen wurde derselbe an die Oberfläche gehoben und zum Ufer gezogen. Wenn ihm jedoch auch das Wasser selber noch nichts geschadet hatte, war der Unglückliche doch durch den Sturz, in dem er wahrscheinlich durch das Zurückhalten seines Rockes gegen einen der Brückenpfeiler geworfen worden, schwer am Kopf verletzt – die Wunde blutete stark, und die Männer trugen den Bewußtlosen zuerst auf die Polizei, und von dort, auf den Ausspruch eines rasch herbeigerufenen Arztes, in die Charité.