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8. Kapitel. Nähnadelsruh und eine romantische Entführung beim Mondenschein.

Nähnadelsruh ist ein beliebtes, großes Gartenrestaurant, in der Nähe eines städtischen Parkes und am Wasser gelegen. Zuweilen ist Konzert dort, an diesen Tagen und am Sonntag ändert sich das Publikum. Dann wird es laut und vergnügt, läßt viel Geld springen, singt und summt mit der Musik mit. Im Saale wird getanzt. Und vorwiegend strömen die Küchenfeen mit ihren »Schätzen« herbei. – Anders an den exklusiven Wochentagen. Zahllose Kränzchen und kleine Privatvereine, welche den Winter über abwechselnd in den verschiedenen Häuslichkeiten getagt haben, verlegen ihre Versammlungsorte nach Nähnadelsruh. Dann erscheinen die Damen langsam und bedächtig. Am Arm den Pompadour mit der Handarbeit, und in seiner Tiefe sorglich eingewickelt Kaffeekuchen und belegte Butterbrote. Viele nehmen den Proviant in eigens dazu beschafften »Freßkobern« mit. Man nimmt dann im Lokal nur den Kaffee, und Bier oder Selter am Abend, wenn die geplagten Ehemänner nachkommen. Auch diese erholen sich im Freien von des Tages Lasten, lesen die Abendzeitungen, politisieren, rauchen oder meistens spielen sie Skat. – Nur die ganz heimlich bespöttelten und beneideten Protzen – die Reichen – lassen sich im Restaurant den Kuchen und warm' Abendbrot auftafeln. –

Jahraus, jahrein tagen die gleichen Vereine, bedienen die gleichen Kellner hier. Die verschiedenen Stammtische kennen sich, selbst in ihren einzelnen Mitgliedern genau. Man begrüßt sich freundlich, wundert sich, wenn irgend jemand fehlt, spricht miteinander ein paar Phrasen. Trotzdem bleibt man streng exklusiv, und alle, alle umspannt doch das feste Band der altangesessenen, urgemütlichen Berliner Gutbürgerlichkeit. –

Rechts von den vielen zusammengestellten Tischen tagt der »Verein für notleidende Waschfrauen«. – Links der kleinere »Milde Weihnachtsgaben« – Quer davor ein Tisch der »Beschützerin für arme Wöchnerinnen« und diesem gegenüber der für »Ausstattung von Waisenkindern«. – – Da wird mit Herzenseifer genäht und gesorgt. Und geschwatzt! – – – – Hu! – – – –

»Guten Tag, meine Damen, guten Tag!« Die Eintretende grüßt verbindlich nach rechts und links, hüben und drüben. »Guten Tag, gnädige Frau!« – Wie Ähren im Winde neigen sich die grüßenden Köpfe der bereits Versammelten. »Guten Tag, Frau Arndt, warum so spät heute? Es ist doch alles gesund?« – fragt die Vorsitzende. – – »Danke, Frau Werner, Gottlob alles wohl und munter. Aber ich hatte ein kleines Intermezzo mit meiner Köchin, und dann eine Stauung, Stromunterbrechung bei der elektrischen Bahn!« – – »Aha!« – – »Schon wieder? Schrecklich! Wann wird da einmal Abhülfe eintreten?« – – »Kellner, also Sie wissen schon: Kaffee verkehrt, recht viel Sahne, ein Glas Wasser und einen Blätterteig!« – – »Sehr wohl, gnädige Frau! Belieben gnädige Frau nicht lieber Spritzkuchen? Wir haben ganz frische, und im letzten Sommer – – – –« – – »Wie Sie Sich erinnern! Brav, mein Sohn! Na, dann geben Sie Spritzkuchen! Halt, halt! Und den Lokalanzeiger, es soll doch ein so interessanter Mord passiert sein!« – – »Um Himmelswillen, liebe Arndt, lesen Sie die Sache nicht! Es ist so grauenvoll, daß Sie Sich um die Nachtruhe bringen!« – – »Ach, ich bitte Sie, liebe Waldbach, ich habe meinen Riesen von Mann neben mir, und die Nachtlampe brennt. Ich lese solche Abnormitäten der menschlichen Psyche zu gern!« – – »Sagen Sie, beste Arndt, wissen Sie, warum Ihre Frau Schwägerin nicht kommt? Sie hat den letzten Beitrag noch nicht gezahlt, und ich, als Kassiererin, will Abschluß machen!« – – »Das kann ich verstehen, teure Berg! Sie haben gräßliche Scheerereien. Luise kann wohl nicht kommen, weil auch die Mission heute Sitzung hat.

Frau Arndt nahm Platz und legte die Häkelei neben sich. Sie läßt die Blicke über die andern Tische schweifen: »Bei den »Weihnachtsgaben« sind doch heut nur so wenig. Wie kommt das?« – Der Kellner stellt grade das Tablett vor sie hin: »Frau Oberst und Frau Hofrat sind fortgereist, und Frau Baurats Töchterchen hat die Masern!« – sagt er bescheiden. – »Auch die »Waisenkinder« sind nicht alle da?« – inspiziert sie weiter. »Die meisten Damen sind im Bade. Frau Kore hat ein Enkelchen in Steglitz bekommen! Da ist sie bei der Frau Leutnant draußen!« – – »Aha, also endlich, Gott sei Dank! Junge oder Mädel?« – – »Ein Knabe! Ich kann mir die Wonne über den Stammhalter denken – erwidert jetzt eine Dame – Den Leuten lag ja zu viel daran, den Adel fortzupflanzen!« – – »Das ist doch lächerlich, wenn mit dem Adel kein Vermögen verbunden ist. Dann bringt er bloß Lasten und kann unangenehm werden!« – – »Nehmen Sie mir das nicht übel, verehrte Hanseberg, aber das verstehen Sie nicht!« – meint Frau Plettka energisch – Es geht nichts über einen Jahrhunderte alten Namen!

»Da kommt ja die Geheimrätin Bach mit ihrer Tochter!« – – »Ach ja! Daß die nicht verreist sind!« – – »Himmel, die Ausstattung und Einrichtung!« – – – Finden Sie nicht auch, daß beide Damen abgespannt aussehen?« – – »Ja, das junge Mädchen blüht wie ein Röschen sonst, heute sieht sie müde aus. Aber der Hut und das Kleidchen stehen ihr!« – – »Reizende Person!« – – »Na? Gelinde gesagt, etwas derb!« – – »Ich kann die freche Person nicht ausstehen, meine Freundin Rittler erzählt Wunderdinge von ihr. Wie die mit ihrer Mutter sprechen soll, schrecklich! Ganz ohne Respekt!« flüsterte die Arndt. Die Kommenden waren schon sehr nahe: »Guten Abend, meine Damen!« – – »Guten Abend, Frau Geheimrat, guten Abend, Fräulein Range!« Allgemeine Begrüßung. – »Nun, Fräulein Bach, was macht der Herr Doktor?« – – Lotte knixte: »Ich danke, Frau Arndt! Er holt uns nachher ab.« – – »Das ist ja reizend, da sehe ich ihn doch wieder. Er ist ein bildschöner Herr!« – – »Na ob, Frau Arndt, und so gut!« – – – – Frau Bach verabschiedete sich eben von einer Dame, welche zu den »Waisenkindern« gehörte. »Dickes, Wonnchen, komm doch bitte 'mal 'rüber, mach ein nettes Knixchen, und gieb Frau Arndt Deine liebe, kleine Pfote. Sie möchte Dich begrüßen!« – – Die Geheimrätin kam wirklich an: »So ein freches Ding, schämst Du Dich nicht, mich so zu kompromittieren?« – zankte sie stolz und freudestrahlend mit ihrer Jüngsten, welche ihr beruhigend die Wangen klopfte. Die Arndt tauschte einen mokanten Blick mit einer andern Feindin Lottes. »Na, was macht Ihr Freund Ernst Georgy?« – – »Danke, die Welt unsicher! Ich hoffe, er befindet sich! Der Mann gondelt wieder umher!« – – »Ist der Bräutigam nicht aus ihn eifersüchtig?« – – »Ein wenig, aber er verkneift seine Othellonatur vorläufig! Georgy mag mich ganz gern! Aber wir wissen, sein Herz ist sicher untergebracht! Das tröstet meinen Bräutigam!«

Erst nach längerem Hinundher kamen die beiden Damen von dieser Tafel fort und begaben sich zu ihrem Vereinstisch für »Arme Wöchnerinnen«. »Gnä' Frau ein Kaffee, nicht wahr? Gnä' Fräulein eine Schokolade mit Schlagsahne?« – fragte der diskret lächelnde Kellner. – »Um Gotteswillen, Nummer Sieben! – widersprach Lotte – Für Frau Geheimrat stimmt es. Für mich nicht! Ich soll so etwas Süßes nicht mehr trinken, um nicht noch stärker zu werden! Also bitte für mich – – – –« – – »Du nimmst Thee!« – befahl die Rätin. – »Nich in die Tüte, es ist nicht Winter, und ich bin gänzlich gesund!« – – »Dann Kaffee!« – – »Ne, Wonne, Willi sagt auch, Koffein ist schädlich. Als Braut ist mein Herz so schon angegriffen!« – – »Dann trink eine Citronenlimonade!« – – »Hören Sie nur, wie die alte Dame mich brutalisiert! – klagte Lotte – Nun grade nich! Ich Hab meinen Mann weg und kann dicker werden! Also bitte Kakao. Ich trinke ihn bitter, dann hebe ich die verdickende Wirkung auf!« – Die Mutter gab nach. Lotte erhob sich, that, als ob sie ihren Schirm weghänge und raunte dem Kellner zu: »Also bringen Sie nur ruhig die Schokolade, einfach ohne Sahne wie voriges Mal. Dann merkt es Mama nicht!«

Sie und ihr Neigen zur Fülle wurde Tischgespräch. Man empfahl ihr tausend Sachen und Marienbad. Sie horte alles lachend an, besonders die Liste von Dingen, welche sie nicht essen sollte. Gerade diese liebte sie besonders. »Redet Ihr nur, wenn ich erst Hausfrau bin, koche ich, was mir schmeckt!« – dachte sie bei sich. – Dann erzählte man von einer neuen Verlobung, welche nur um des Geldes willen geschlossen worden war. »Es ist schrecklich! – meinte eine der Anwesenden – Alles geht jetzt nach dem schnöden Mammon. Die Liebe ist überhaupt Nebensache. Zu meinen Zeiten war das doch ganz anders!« – – »Verzeihen Sie, wenn ich Ihnen widerspreche! – rief Lotte und setzte ihre Tasse hin – Sie malen aber zu schwarz, meine gnädige Frau! Sehen Sie mich an und alle meine intimen Freundinnen! Wir sind alle aus reinster Liebe gewählt worden und haben alle aus innigster Liebe unsern Geliebten das Jawort zugejubelt! Es ist garnicht so poesielos und berechnet in dieser schönen Welt! Man muß nur Lust zum Leben und Lieben haben! In meiner ganzen Freundschaft giebt es so sehr glückliche Ehen. Wir modernen Blödel haben zuviel vom Leben gesehen und gehört. Wir erwarten keine Paradiese und sehen keine Götter in unsern Männern. Wir lieben mit offnen, vernünftigen Augen, machen von vornherein Konzessionen und erwarten das Gleiche! So giebt es keine Enttäuschungen später! Wir wollen nicht die Puppen, sondern die treusorgenden Kameradinnen, die Freundinnen unserer Gatten werden. Geteilte Rechte geteilte Pflichten!« – – »Hören Sie nur, das richtige Mädchen von heute!« – – »Was sagen Sie zu Ihrer Tochter, liebe Bach?« – – »Was soll ich sagen, ich kenne sie ja! Gräßliches Ding!« – – »Diese Weisheit!« – – »Alles Theorie, liebes Lottchen!« – – »O nein, gnädige Frauen! Theorien wucherten üppig bei den Mädeln mit den Scheuklappen! Wir Offenäugigen haben die liebe, fröhliche Vernunft aus das Panier geschrieben! Lesen Sie nur den neuen Roman von Ernst Georgy: »Moderne Ehe«, der in der »Modernen Kunst« und dann im Buche erscheinen wird, da werden Sie es ja finden! Da zeichnet er uns moderne Mädel in der Ehe! Wie vernünftiger wir sind, wie angenehmer für die Männer als solche Etepeteteliesen!« – – »Das ist ganz schön, Fräulein Bach, und wohl auch wahr! Jedoch die Romantik hat aufgehört!« – – »Ach, pardon, gnädige Frau, ich kenne so romantische Liebessachen!« – – »Nein, nein, echte Romantik giebt es nicht mehr mit Entführungen und Mondscheinpromenaden und Monogrammen in Bäumen!« – – »Oho!« – – »Nein, nein! Es giebt hier keine Poesie mehr – – – – –« »O bitte, da kommt sie in leibhaftiger Gestalt!« – rief Lotte und sprang auf. Mit glücksstrahlendem Gesichte eilte sie Willi entgegen, der eben am Eingang erschien. Er preßte ihre Hand und sah sie selig an: »Mein Glück, mein Sonnenschein!« – sagte er – – »Mein Lieber, Herzliebster!« – – Arm in Arm kehrten sie an den Tisch. Die gleiche Unterhaltung wurde ausgenommen. Willi beteiligte sich nach der Begrüßung an der Debatte.

»Es ist schrecklich! Kein Bräutigam in der Welt hat so wenig von seiner Braut wie ich! Immer bist Du von Menschen umgeben! Nie habe ich Dich allein! – flüsterte er ihr zu – Am liebsten packte ich Dich und entführte Dich irgend wohin, wo uns kein Mensch kennt, wo Du nur mich hast, Du Liebling!« – Sie drückte seine Hand – »Ich wäre sogleich dabei, Willi!« – entgegnete sie innig. – »Was sollen uns diese alten Damen trotz all' ihrer Würde? Ich habe Dir soviel zu erzählen, mit Dir soviel zu besprechen! Im Walde oder auf einem Schiffe müßten wir sein, dahingleiten auf dem stillen Naß im Mondenschein! Nur mit Dir, mein Glück!« – – »Romantiker! – raunte Lotte – Aber Du hast recht! Entführe mich diesen alten Morcheln! Wir wollen entfliehen, irgend eine Dampferfahrt machen und erst spät zurückkehren, das ist genial, was?« – – Er sah sie unruhig an: »Schickt sich das? Was werden die Leute sagen?« – – »Das ist total schnuppe! Im übrigen kommt mir eine famose Idee! Damit Mama sich nicht ängstigt, teile ich es ihr mit. Wie spät ist es?« – – »Neun Uhr vorbei!« – –

Die Kellner entzündeten die Laternen. Man speiste allenthalben zur Nacht. Einige Skat-Partien waren schon im Gange. Lotte erhob sich und zog ihr Jacket an. »Wo wollt Ihr hin?« – fragte die Geheimrätin. »Einmal herumgehen und eine Ansichtspostkarte schreiben! – – – – – Nimm Deinen Überzieher, Willi! – – Auf Wiedersehen, Dickes, sei recht artig, und mach mir Freude bis auf Weiteres!« – – Damit hakte sie sich in den Arm des Bräutigams. Im Restaurant schrieben sie einen Brief, und Lotte schärfte Nummer Sieben mit einem guten Trinkgeld ein, ihn um dreiviertel zehn Uhr an die angegebene Adresse zu befördern. – Damit verschwanden sie. Der Arzt winkte eine Droschke heran. Sie bestiegen den Wagen und rollten in den dunklen Park hinein. – Genau um die festgesetzte Zeit gab der Kellner den Brief an eine der Damen. Frau Bach schaute schon ungeduldig umher und war auf das Brautpaar höchst erbittert. – Die Adressatin öffnete den Umschlag, las den Bogen, lachte laut auf und klopfte an ihr Glas: »Ich bitte um einige Minuten Ruhe, meine Herrschaften! Ich habe etwas zu verlesen!« – Es wurde still. Alle sahen sie an. Sie rückte dicht an die Laterne und begann:

»Meine hochverehrte, gnädige Frau!

Sie haben vorhin die gute alte Zeit zu Ungunsten der schönen Gegenwart allzusehr gelobt. Sie bestritten sogar das Vorhandensein von poetischem Liebesglück, von blühender Romantik in unserer Zeit! Ungläubig und von Erfahrungen gereift, haben Sie meine theoretischen Ausführungen zu dieser Frage belächelt. Damit haben Sie in mir, der Vertreterin der Moderne, die Opposition geweckt. Ich und mit mir mein Herzallerliebster werden Ihnen in der Praxis beweisen, wie sehr Sie Sich getäuscht haben! Es giebt noch Liebe – noch Phantasie und noch den alten Mondschein von früher! Ja, so romantisch und unglaubhaft es klingt: Es giebt sogar noch Entführungen! – Vor dem Lokal schnaubt ein kühner Berliner Droschkengaul. Der verschwiegene Lenker des Gefährtes wird uns liebendes Paar gegen Entgelt bis zum Hafen an der Jannowitzbrücke führen. Dort besteigen wir den Dampfer und werden nächtlings die Oceantour bei Mondschein nach Treptow unternehmen. Wir bedauern nur, daß kein Standesamt an Bord ist, sonst würde die »Dicke Wonne« alias Frau Geheimrätin Bach – heute Nacht eine verheiratete Tochter wiedersehen! Wir bitten Sie, Hochverehrte, bei unserer grollenden Mutter der Fürsprecher zu sein! Überzeugen Sie die teure Frau davon, daß sie sich unbesorgt zur Ruhe legt! Gesund und sicher werde ich heimgeleitet und hoffe, sie in Morpheus' Armen zu finden! – Den Hausschlüssel habe ich aus ihrem Pompadour auch entführt, ich lasse sie schnöde den Pförtner bezahlen! – Verehrte, gnädige Frau, giebt es noch Romantik? Sind Sie überzeugt?

Mit allseitig besten Empfehlungen
Ihr sehr ergebenes Paar:
Ritter Willi, der Entführer –
Burgfräulein Lotte, die Entführte.

Nachwort: Wir bitten um Ihren milden Segen!«

Das gab einen Halloh am Tische. Man dachte über diesen neuesten Streich der findigen Berliner Range. Die Damen beruhigten die Mutter, welche halb stolz, halb wütend und ganz perplex war. Frau Bach wußte in der That nicht recht, was sie sagen sollte. Sie nahm ihre treue, alte Berndt unter den Arm und stiebelte mit ihr philosophierend über die »Jugend von heute« den häuslichen Penaten zu.

Inzwischen genossen Willi und Lotte die lange Fahrt. Solange sie im Dunkel des Waldes blieben, mehr zärtlich, später in der Stadt nur Hand in Hand in ernstem Gespräch. Am Anlegeplatz stand das Schiff bereit. Und die so praktisch-fidelen Berliner strömten aus allen Straßen der rauschenden Großstadt herbei, um sich dem poetischen Genüsse hinzugeben. – Willi löste die Billette. Dann bestiegen sie den Dampfer. Nach vielem Suchen fanden sie noch zwei nette Eckplätze, von wo aus sie das Publikum beobachten konnten, die Musikkapelle nicht zu aufdringlich vernahmen und doch ziemlich abgeschlossen saßen. Das Wetter war prachtvoll. Die Stimmung an Bord bereits dem Siedepunkt des Entzückens nahe. Als die Pfeife die Abfahrt verkündete, schmetterte die Musik ihre erste Nummer. – Lotte lehnte sich fest an den Bräutigam: »Es ist herrlich!« – flüsterte sie ihm zu. »Wo alles liebt, kann Willi allein nicht hassen; drum komm, mein Kind, und lasse Dich umfassen!« entgegnete er und umschlang sie. Fast die gesammten Passagiere setzten sich aus Pärchen zusammen. Und von dem Halbdunkel beschützt, schmiegte man sich dicht aneinander. Zuerst war es ziemlich still. Alles flüsterte. Dann brachte ein Walzer die Gemüter in Champagnerlaune. »Das scheint ein Knutsch- und Animierstück zu sein! – meinte Lotte – Sieh Dir bloß die Menschen an. Daß es soviel Liebe in Berlin giebt, habe ich doch nicht vermutet. Die küssen ja ordentlich im Rhythmus der Musik!« – – »Wollen wir mithalten?« – fragte er unternehmend. – – »Bitte, nein!« – bat sie. Jedoch Willi war heute übermütig. Der Mondenschein wirkte auf den ernsten Mann erheiternd, und auf seine heitere Braut gegenteilig. Sie geriet in lyrisch phantastische Stimmung. Bald deklamierte sie ihm kleine Gedichte ins Ohr. Bald verwandelte sich ihr das vorübergleitende Berlin in eine bunt phantastische Fatamorgana. Die Fabriken wurden zu Burgen, die erleuchteten Häuser zu kleinen Welten, deren Leben und Treiben sie farbenprächtig in kurzen Zügen ausmalte. – Willi preßte ihre Hand stumm gegen seinen Mund. So war Lotte selten! So lyrisch gab sie sich nur in auserlesenen Momenten! Aber der schillernde Reichtum ihres Innenlebens bezauberte ihn. –

Als man endlich aus dem Bannkreis von Berlin herausglitt in die freie Natur, da verstummte auch Lotte. Mit feuchtschimmernden Augen blickte sie hinaus auf die silberne Mondbahn, die auf dem dunklen Wasser lag. Eng, eng schmiegte auch sie sich an den Geliebten. Und ihr reiches, junges, blühendes Glück küßte beide leise auf Mund und Augen. – – Viele sangen laut die sentimentalen Weisen der Kapelle. Die Meisten flüsterten zärtlich. Gott Amor fuhr oben auf der Fahnenstange unsichtbar mit. – In der schönen Abtei wurde Rast gemacht. Ganz allein, in seliger Wonne, tranken Willi und Lotte eine Flasche Champagner und stießen auf die Zukunft an. Dann folgte er dem Beispiele vieler Pärchen und mietete einen Kahn. Er selbst ruderte sein Lieb hinaus. Die poetische Stimmung hielt vor bis zu dem Augenblicke, wo aus einem daneben auftauchenden Boot folgendes Gespräch an Lottes Ohr drang: »Sach, Mietze, ist det nich famos? Son Mondschein kann een' doch janz kiesätig machen?« – – »Ach, Quatsch, Mile, was kickste denn ruf! Mond is doch nischt Neies!« – – »Aba ick bin nu mal for de Poesieh, mein Schnuteken!« – – »Ick bin mehr for wat Anderes, oller Schaute! Wenn Du mir hier die Thrantute rausbeißen willst, denn kommste an 'ne Falsche und bist schief jewickelt! Ick bin nich' for Menkenkes! Schunkle mal lieber een bisken! So!« – – – – »Du, wenn wa man bloß nich kippen mit Dein Jeschunkle! Ick bin nich forn kaltet Bad in die Dunkelheit!« – – »Ick och nich, aba wo wer'n wer denn och?«

Nicht nur die Beiden, sondern viele Andere »schunkelten«. Und ängstliches Aufkreischen und Gelächter erfüllte die Nacht. Bei dem Signal sammelten sich alle wieder heil und munter am Schiffe. Die Laune war jetzt eine sehr übermütige, und die faulsten Witze wurden gerissen und bejubelt. Zuerst waren Willi und Lotte zurückhaltend, dann konnte die Letztere nicht umhin: sie ulkte auf echt Berlinisch mit. Ihre Freude stieg aber bis zum Gipfelpunkt, als sie unter der Menschenmenge zwei bekannte Herren entdeckte. Der eine war ein Strohwitwer, der sich hier mit einer niedlichen, kleinen Person über die Abwesenheit von Frau und Kind tröstete. Der andere einer ihrer Vettern, auch »mit einem kleinen Mädchen bewaffnet«. Auf Willis Bitten schwieg sie zwar diskret still und verschob ihre Neckerei auf später. Trotzdem konnte sie sich nicht enthalten, im Vorbeigehen beim Aussteigen laut zu sagen: »Sieh 'mal, Schatz! Der Herr in grau mit der Dame in weiß ähnelt meinem Vetter Gustav sprechend! Wenn dieser verlobt oder verheiratet wäre, so würde ich darauf schwören, er sei es!« –

In der Droschke nach Haus nieste Lotte verschiedentlich. »O Weh. ein Schnupfen!« – sagte sie. – »Hast Du Dich heute erkältet?« – fragte er besorgt. – – »Ne, ich glaube nich! Höchstens kommt er zum Ausbruch! Ich habe schon seit Tagen Kopfweh und fühle mich nicht so ganz recht!« – – »Siehst Du, Lieb, Du streitest ja stets und giebst es nicht zu! Ich fand Dich doch schon seit Wochen blasser und matt!« – – »Ist das ein Wunder, bei der Hitze, den ewigen Besorgungen und dem Abgehetz?« – – »Du wirst noch ein paar Wochen fort, Deine Geschwister und Mama besuchen. Ich fand Dich etwas blutarm!« – – »Ich von dir fort? Jetzt noch? Willi, Du delirierst!« – – »Nein, ich spreche sehr ernst!« – – »Vor der Hochzeit, nicht um die Welt! Ich will mich auf der Hochzeitsreise schön erholen!« – – »So, davon kann keine Rede sein, mein Liebling! Unsere Hochzeitsreise wird manche Strapazen mit sich bringen, unwillkürlich! Und zu all dem Neuen und Schönen will ich Dich ganz gesund und frisch haben! – erklärte er energisch – Lieber lege ich mir das große Opfer auf und entbehre Dich jetzt noch, so schwer es mir wird!« – – »Na, abwarten und Thee trinken!« – erwiderte sie pflegmatisch und sagte nicht, wie sehr sie ihr Kopf und ihre Glieder schmerzten.

Sie waren daheim. Er schloß ihr das Haus auf und legte seine Hand auf ihre Stirn und Wangen: »Wie Du glühst! Hör 'mal, Du wirst – – – –« – – »Gute Nacht, Wonnelump, schlaf schön!« – – Schwapp war sie im Hausflur, drückte die schwere Thür ins Schloß und drehte die Schlüssel um. »Gute Nacht!« – rief sie von drinnen. Besorgt und ärgerlich mußte er den Heimweg antreten. – –


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