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Der Schneefall hatte aufgehört, mit ihm der Sturm, auch die Kälte hatte nachgelassen. Ein Entkommen war für Reinhart schwieriger geworden, weil seine Fußspur im Schnee leicht zu merken und zu verfolgen war.

Das bestellte Telegramm für Marie-Anne war aus der Schweiz noch nicht eingetroffen. Auch der wiederholt hergebetene Vetter, der Gemeindevorsteher Sidi Lorrain aus Tracy, ließ sich nicht sehen.

»O, mit dem muß man deutlicher reden,« meinte Frau Gérard, »sonst narrt er einen, wie er alle narrt.« Sie schrieb ihm einige Zeilen und schickte Jeanne damit hinüber mit dem Bemerken, sie solle auf Antwort warten. Der Herr Gemeindevorsteher las den Zettel mehrere Male, auf dem stand:

Wenn Du nicht kommen willst, so sag's, dann werd' ich schon wissen, was ich zu tun hab'. Deine Schwindeleien werden Dir doch wohl eine Viertelstunde für mich und Marie-Anne Zeit lassen? Die Frage ist in Deinem Interesse.

Deine Kusine.

Auf diese Beschwörungsformel ließ er sagen, er würde bald kommen. Die Alte war ihrer Sache sicher, sie wußte zu viel von dem Musjö und brauchte nur zu plaudern, um ihn hinter Schloß und Riegel zu bringen.

Gegen neun Uhr des Morgens klopfte der Gendarm an die Haustür. Reinhart mußte ins Versteck zwischen Dachsparren und altem Gerümpel. Dann wurde geöffnet.

Mutter und Tochter empfingen den Beamten mit einem Schwall von groben Worten. Ob denn alles völlig verrückt wäre, ob der Bauernhof Gérard eine Kaserne oder ein Gefangenenlager sei? Ob man ihnen Gefangene zum Aufbewahren gegeben habe? Ob die alte, angesehene Familie der Gérards mit einemmal unter Polizeiaufsicht gestellt wäre? Weshalb die vielen Nichtstuer, diese feigen Drückeberger, die sie seit einiger Zeit fortwährend belästigten, nicht besser täten, an die Front zu gehen, um die Deutschen aus dem Lande zu jagen? Aber ein paar Frauen zu beschimpfen und zu drangsalieren, dazu hätten sie Mut – – –.

Nun wurde der Gendarm ungemütlich. Wen sie mit den Feiglingen meinten? Ob ihn persönlich? Oder die Soldaten?

Frau Gérard sagte: »Wen es juckt, der kratze sich. Ich hab' genug von den behördlichen Niederträchtigkeiten. Suchen Sie wieder eine Soldatenmütze? Oder ein Paar Stiefel? Handelt die Polizei jetzt mit alten Sachen?«

Die Mägde brachen in ein Gelächter aus.

Ja, die alte Gérard, die versteht's, die läßt sich nichts gefallen, die versteht zu reden. Wie rot der Gendarm im Gesicht ist, wie ihn das ärgert. Ach, dem geschieht recht. Der sitzt den ganzen Tag in der Kneipe und dann schnüffelt er bloß umher, um die Leute zu quälen. Und das nennt sich Polizei, dabei sind sie nicht mal so schlau, die Boches zu fangen, die armen Kerle.

Solche Reden hörte der Gendarm auch noch an. Er war nicht sehr beredt. Es schien ihm schon leid zu tun, daß er in das Wespennest gegriffen hatte. Er konnte aber nicht mehr zurück, denn jetzt war der Gemeindevorsteher Lorrain dazu gekommen, der ebenfalls lospolterte:

»Was gibt's, Gendarm? Sucht Ihr Beschäftigung? Wollt Ihr für Callot eintreten? Amtlich gibt's doch hier nichts zu schaffen? Oder doch? Was wollt Ihr?«

Umständlich und eingeschüchtert erzählte er von Brassard, dem Wegearbeiter.

»Was will der Lump? Hat er wieder was auf dem Kerbholz? War lange nicht im Zuchthaus? He?«

»Herr Gemeindevorsteher, er spioniert mitunter für die Polizei, die ist auf solche Subjekte angewiesen. Der rief heut in aller Früh telephonisch beim Amt an. Und deswegen bin ich hier. Es handelt sich um die gesuchten Boches –.«

Nun lachten alle, die ihn umstanden.

»Sucht die Boches an der Front, nicht hier. Die sich im Walde versteckt halten, die tun keinem was. Und wo anders sind keine zu finden.«

»Vielleicht doch, Herr Lorrain. Nämlich zu Brassard kommt gestern spät in der Nacht ein Herr, der will ein ganzes Schock von den ausgerissenen Boches gesehen haben.«

»Wie heißt der Herr?«

»Sie kennen ihn, er wohnt bei Ihnen drüben, Herr Parterre.«

»Er besuchte uns gestern«, fiel Frau Gérard ein. »Ich sollte ihm für seine Erfindung, die er vorhat, Gold geben, veritables Gold. Ich hieß ihn, den Narren, die Tür von draußen zumachen.«

»Herr Parterre hat – ich muß es sagen – in der Ruine, auf Ihrem Grundstück, heut nacht die Boches gesehen.«

»Nein, er wird nach Gold gesucht haben. Ja, er sprach undeutlich davon, er würde in der Nähe welches finden, da ich's ihm abgeschlagen hatte.«

»Und ein Schock,« schmunzelte Herr Lorrain, »hören Sie mal, soviel sind ja gar nicht entwischt. Und der kleine, brave Aristide hat sie gesehen und mit ihnen gesprochen?«

»Das«, entgegnete zögernd der Polizist, »wohl nicht. Im Gegenteil. Er sagt, er hätte nur den leibhaftigen Teufel wirklich und wahrhaftig gesehen.«

Die beiden Gérards lächelten.

»Und an die Boches haben Sie oder Ihr Brassard gedacht? Oder richtiger an die Fangprämien? Ist es so? Na, sehen Sie. Und nun wollen Sie nachsehen, ob das Schock noch vorhanden ist?«

»Ja, ich muß Frau Gérard leider stören. Sie erlauben, daß ich die Ruine durchsuche. Wo ist der Eingang?«

»Das können wir Ihnen nicht sagen, da wir dort nichts suchen oder aufbewahren. Vor 50 Jahren hatte dort mein Schwiegervater ein paar Wertsachen vor den Preußen versteckt. Der ist aber seit langem in der Ewigkeit, falls Sie ihn befragen wollen. Den Eintritt gestatte ich. Wünsch' viel Vergnügen.«

Er ging. Man sah ihn später, in Begleitung Brassards, von der Feldseite in die Ruine schlüpfen. Sie hatten eine Fackel mitgenommen, natürlich nichts gefunden.

*

Sidi Lorrain, der Glatzkopf, saß den Gérards, Mutter und Tochter, in der Wohnstube zu ebener Erde gegenüber.

Sie musterten einander, wie zwei feindliche Parteien, von denen keine den Angriff beginnen und ihre Schwäche zeigen wollte. Sidi fuhr nervös in die beiden schwarzen Wollpuschel hinter den Ohren und strich seinen Knebelbart.

»Du trinkst ein Glas, nicht wahr? Geh, Marie-Anne, hol' dem Vetter eine Flasche Guten aus dem Keller. Einem so seltenen Besuch muß man das Beste vorsetzen.«

Lorrain entschuldigte sich mit seinen Geschäften.

»Ja, Vetter, du hast viel zu tun, wir wissen es, fast zu viel für einen einzelnen Mann.«

»So ist es. Als Adeline noch lebte, hatte ich an ihr eine Stütze und Hilfe. Das treffliche Weib fehlt mir, seitdem der Krieg ausbrach.«

»Nun trink', die trüben Gedanken führen zu nichts. Hast dich inzwischen durch deine großen Unternehmungen gewiß getröstet«, forschte die schlaue Alte.

»Auf dein Wohl.« Und mit einer Verbeugung zu Marie-Anne: »Auf deine Gesundheit.« Dann lobte er den Wein, und mit einem vielsagenden Blick auf Marie-Anne sprach er zur Mutter: » Sacre nom de Dieu, liebe Kusine, wie ist doch unser Nesthäkchen schön geworden, seit ich sie nicht mehr sah. Wenn ich nochmals heiraten sollte, ich würde keine andere als die wählen.«

»Gut gesagt. Wenn sie dich mag. Du könntest ihr Vater sein, du Glatzkopf.«

»Die Glatze beweist viel für mich, sie spricht für meine Solidität.«

»Papperlapapp, du bist doch nicht auf Besuch gekommen, um dir eine Braut zu holen. Laß den Unsinn, Vetter.«

»Meiner Treu, ich mein's ehrlich. Es ist Liebe auf den ersten Blick.«

Und als Mutter und Tochter in ein schallendes Lachen ausbrachen, entrüstete er sich und spielte einen Trumpf aus.

»Ihr solltet den Vorschlag ernst nehmen. Schon aus praktischen Gründen. Wenn der Krieg mal aus ist, wird die Auswahl unter den Männern Frankreichs keine große mehr sein. Die Verluste sind enorm. Da bin ich mit meinen Jahren noch immer ein respektabler Mann. Oder nicht? Und ein Mann mit einem Vermögen, das ausreicht, um sich in Paris angenehme Tage zu machen.«

»Man hört allerhand, Vetter. Du sollst an Lieferungen große Summen verdient haben. Und noch mehr an Lieferungen, die du – nicht geliefert hast.«

»Müßiges Geschwätz, nichts weiter.«

»Sehr gut. Auch daß du dir für Befreiungen vom Militärdienst große Beträge geben ließest –.«

»Jedem Arbeiter wird für seine Arbeit ein Lohn zuteil. Stimmt's oder stimmt's nicht? Umsonst ist der Tod. Die Versicherung des Lebens muß honoriert werden.«

»Um so besser, Vetter. Wir wollen was ähnliches von dir und wollen's bezahlen, wie jeder andere. Wie sind die Preise?«

Herr Lorrain tat empört. Unter Verwandten, so nahen Verwandten von Geld zu reden. Er würde gern gefällig sein und keinen Sou dafür nehmen.

Doch Frau Gérard ließ nicht locker. Sie wußte, als gute Menschenkennerin, daß er ihren Auftrag nur dann rasch ausführen würde, wenn seine Geldgier dabei auf die Kosten käme.

»Meinetwegen, wenn du es so wünschest, dann zahl' mir die Auslagen, keinen Centime mehr. Was soll ich für dich tun?«

»Ich brauche zwei Pässe. Einen für Marie-Anne.«

Sidi Lorrain stutzte.

»Zu dem brauchten wir dich nicht, wenn sie den Paß nicht eilig brauchte. Sie muß nach der Schweiz.«

»Ja, Tante ist sehr krank. Du weißt ja, daß ich lange Zeit bei ihr war.«

»Gewiß, ich erinnere mich, in Genf oder nahebei.«

»Jawohl. Und, Vetter, Marie-Anne hofft was Tüchtiges zu erben. Du verstehst –.«

O, er verstand. Und kombinierte für sich gleich, daß er Marie-Anne heiraten wolle. Zum Bauernhof würde die große Schweizer Erbschaft kommen, – halloh, das Mädel ist ein Goldfisch. Für den war er entschlossen mehr als das zu tun. Denn, daß das nicht alles war, was die Alte von ihm wollte, sagte ihm seine Schlauheit längst.

Wie erwünscht brachte Jeanne in dem Moment das erwartete Telegramm. Marie-Anne öffnete und las es. Dann reichte sie es der Mutter. Nachdem die es überflogen hatte, gab sie's dem Vetter, der nunmehr von der Richtigkeit des Gesagten überzeugt war.

»Da ist allerdings die größte Eile nötig. Auf mich kannst du zählen. Ich fahre selbst zum Präfekten. Gib mir das Telegramm. Bis morgen haben wir den Paß. Am liebsten würde ich Marie-Anne begleiten.«

»Was wolltest du für eine Figur am Kranken- oder Sterbebett machen?«

»Ich meinte, eine Amtsperson, wie ich, würde überall am Platze sein.«

»Du mußt nichts überstürzen, Vetter«, sprach die Alte ironisch. »Gut Ding braucht Weile.«

»Natürlich, natürlich. Ihr solltet nur wissen, daß ihr auf meine Hilfe jederzeit zählen könnt. Der Paß ist morgen hier. Was wolltest du noch?«

»Noch einen Paß. Für einen Mann, einen Schweizer.«

»Schlechter Scherz, wie? Der Mann kam aus der Schweiz?«

»Und will zurück nach der Schweiz.«

»Wo ist sein Paß geblieben?«

»Das weiß er nicht, er wurde ihm gestohlen. Nun fürchtet er Ungelegenheiten mit den Behörden. Er muß aber schnellstens nach Hause. Dazu muß er schnellstens einen Paß haben. Den bezahlt er gern.«

»Und du, Kusine, wie kommst du zu dem Manne?«

»Das geht dich gar nichts an. Ich laß mir so wenig in meine, wie du dir in deine Geschäfte hineingucken, verstanden? Willst du nicht, lassen wir die Sache auf sich beruhen.«

Lorrain zog und zupfte an seinem Bart.

»Alles was recht ist, man kann auch mal ein Auge zudrücken, ich bin immer dafür gewesen, leben und leben lassen. Was du aber da forderst, beste Kusine, wird nicht gehen. Ein Paß, – ein Paß in Kriegszeiten, für einen Unbekannten, einen Mann, den man nicht kennt, nicht sieht, den man nicht beschreiben, nicht photographieren kann. Wer weiß, am Ende gar für einen Feind, einen Boche. – – O, lala, Kusine, das wär' ein grausamer Scherz.«

Die Alte kicherte. »Scherz hin, Scherz her, die Hauptsache ist, es gibt was zu lachen. Sind denn deine Witze mit den Militärbefreiungen, den reklamierten jungen Männern, weniger grausam? Denkst du, mir sind die Namen nicht bekannt? Wenn ich die Liste dem Präfekten schickte, – –.«

»Du wirst doch nicht«, sprach erbleichend Herr Lorrain. »Das heißt denn doch den Scherz zu weit treiben.«

Eine Weile sah er in Gedanken vor sich nieder. Dann fragte er in ruhigem Geschäftston, als ob er nicht kurz vorher mit einer tödlichen Drohung bedacht worden wäre: »Also für einen braven Schweizer Bürger soll das Dokument sein?«

»Jawohl, einen Schweizer, einen Kaufmann. Du kannst einem Manne, der sein neutrales Vaterland mit Waren versorgen will, unmöglich das kleine Ausweispapier versagen, auch wenn deine nahe Verwandte ein Stück Geld dabei verdient. Glückt's, um so besser,« setzte sie vielsagend hinzu, »dann wird es dein Schaden erst recht nicht sein.«

»Abgemacht, ich besorg' den Paß. Wenn ich's tu – bei meiner armen Seele – geschieht's nur Marie-Annes wegen. Nur dir zuliebe, für die künftige Frau Lorrain hol' ich des Teufels Großmutter aus der Hölle.«

»Du siehst, Marie-Anne,« nahm ihre Mutter das Wort, »Sidi ist ein Prachtkerl, man muß ihn nur immer fest an der Kandare haben, sonst schlägt er aus.«

»Ich werd' es merken«, lächelte die Tochter.

»Nun aber los, Kinder, es ist keine Zeit zu verlieren. Sagt schnell, wie euer Schweizer heißt, wie er aussieht usw. Was ihr diktiert, schreib' ich auf. Also?«

Mutter und Tochter wisperten eine Weile zusammen. »Schreib', Vetter, Louis Durand –.«

»Ein französischer Name –.«

»Um so unverdächtiger wird er sein. Louis Durand aus Bern, geboren am 16. Mai 1891 in Guarda, Engadin, Kaufmann, Figur mittel, Haare dunkel, Augen und Nase gewöhnlich, keine besondere Kennzeichen.

Und wenn du noch was besonderes hinzufügen magst, so sage, wenn der Stempel der Präfektur drunter steht, daß er der hiesigen Behörde gut bekannt sei durch seine Lieferungen an Leder und Vieh. Oder geht das nicht?«

»Hm ja, wird sich schon machen lassen.« Sidi blickte die Alte an. »Weißt du, liebe Kusine, bin doch sackermentisch neugierig, was du für Geschäfte machst. Es mag wohl leicht in die Hunderttausende gehen, he? Oder noch höher? Sieh einer die Weiber an. Die sind allemal schlauer, denn wir.«

»Gewiß ist es so, Vetter Sidi. Du mußt von den Frauen immer das Beste glauben, auch daß du heut von uns übertölpelt wirst. Und was den Preis betrifft, Herr Durand wird sich schon erkenntlich zeigen, d. h. ich komme dir für den Betrag jederzeit auf.«

»Gut ist's. Und abgemacht, und morgen bin ich wieder pünktlich hier.

Und du, Marie-Annchen, wie ist's, willst du dir bis morgen meinen Antrag überlegen?«

Wie beim Kommen, so jetzt beim Gehen bekam der Herr Vetter auf die Frage soviel schalkhafte, boshafte Grobheiten zu hören, daß er es vorzog, in den spaßhaft sein sollenden Ton einzustimmen.

»O, ihr beiden, mit euch werd' ich schon fertig werden. Die Zeit ist mein Helfer. Also auf morgen.«

Beklommen blieb Mutter und Tochter zurück. Sie sprachen nichts, dachten der Unterredung nach und der Dinge, die sie heraufbeschworen hatten.

»Sei nicht wieder zag, Mutter. Es wird schon alles gut gehen. Denk' ein wenig an mein Glück.«

»An dein Glück, ich wollt', du hättest recht. Und an mich, an das Glück meines Alters, hast du daran nicht einmal gedacht?«

Da schluchzte Marie-Anne am Halse der alten Frau.

»Am liebsten stürb ich. Ob du dann glücklicher wärst, Mutter? Hilf mir am Leben bleiben, ihm und mir, denn ohne ihn will ich nicht weiter leben. Wir werden dir deine Güte danken, glaub' mir, sobald wir dieser Hölle entronnen sind.«

*

Kleine Ursachen rufen oft große Wirkungen hervor. Und unscheinbare Personen haben oft im Leben wichtige Entscheidungen veranlaßt oder hervorgerufen. Man soll keinen zu gering achten, denn er kann, unvorhergesehen zum bedeutenden Feinde werden, der unsere Lebensbahn heftig erschüttert.

Als Leutnant Davannes die Affäre mit Callot »ordnete«, als er Marie-Anne geraten hatte, mit einer Strafanzeige seine dreiste Erpressung zu beantworten, glaubte der verliebte Leutnant die Angelegenheit erledigt zu haben. Natürlich im günstigen Sinne für das von ihm so heiß begehrte Mädchen.

Die ganze Geschichte war ja auch so einfach, so überaus klar, daß er, nachdem er die Strafanzeige selbst in die berufenen Hände gelegt hatte, darüber zur Tagesordnung überging.

Er war sehr verwundert, als ihn sein staatsanwaltlicher Freund nach einigen Tagen in der Sache telephonisch um seinen Besuch bat. Unglücklicherweise hatte er mit dem Geleit eines Transports und anderen Beschäftigungen in der Kaserne zu tun, so daß er – zu seinem Schmerze – den längst beabsichtigten Besuch auf dem Hofe bei Gérards nicht machen konnte.

Die Überführung Callots ins Kreiskrankenhaus hatte der Bader besorgt. Es ging langsam damit, weil Frau Gérard, statt der Pferde, ein Ochsengespann für den Wagen gestellt hatte. Sie meinte, es würde zwar langsamer gehen, für den Blessierten aber besser sein, weil der Gang des Wagens ruhiger wäre.

Darin hatte sie recht. Callot schlief und schlief gleich seinen Rausch aus. Und der Bader konnte den Tieren, die den Weg kannten, die Zügel ruhig überlassen und ebenfalls schlafen. Am Morgen endlich, als das Gefährt still stand, wachte der Bader und der Patient auf und nun begann das ausgeruhte Redewerk des Baders sich wie ein Mühlrad zu bewegen. Callot, der von seinem guten Recht mehr denn je, und von dem ihm zugefügten Unrecht durchdrungen war, öffnete die Schleusen seines Mundwerks. Er erzählte von dem versteckt gehaltenen Boche im Hause der Gérards, beteuerte, er hätte aus Patriotismus der Marie-Anne darüber Vorhaltungen gemacht, und weil sie seine Anzeige fürchte, hätte sie den Boche gerufen, um ihn, den braven, treuen Callot, umzubringen. Daß sie ihn nicht vollends getötet hätten, läge an der Dazwischenkunft des Leutnants Davannes, der ihm die Fangprämie streitig machen und in seine Tasche leiten möchte. Ob Leutnant oder nicht, Geld sei Geld, und vor so einem Offizier, der sich in solche Sachen einmischte, hätte er keinen Respekt, dem traute er das Ärgste zu.

Nein, ihn wie einen Hund zu behandeln, daß er jetzt daliege und sich nicht rühren könnte. Sie sollen sich aber in acht nehmen, alle miteinander. Sowie er erst wieder auf dem Posten wäre, brächte er sie alle um. Ob so oder so, sein Leben bliebe doch verpfuscht. Denen würde er's aber vorher noch eintränken.

Heidi, das waren Neuigkeiten für den Bader, glatte, runde Neuigkeiten, kein Gemunkel, keine Verdächtigung, von Callot selbst, dem Unrecht geschah. Und von wem? Von reichen Bauern. Ja, die Armen, die mußten immer leiden. So war's auch wieder hier. Da kann man wieder sehen, der Reiche kann tun, was er will, der geht frei aus. Und den Armen schlagen sie halbtot, werfen ihn die Treppe hinunter und hindern ihn, dem Vaterland einen großen Dienst zu erweisen.

Callot ist ein Trinker, mag sein, er vertrinkt sein Geld; wen geht das was an. Deshalb ist er ein Patriot, ein Ehrenmann, dem man die Fangprämie gönnen sollte.

Ob der Leutnant sie ihm fortnehmen will, wer weiß das. Die geizigen Bauern sicherlich. O, die Gérards, die lernt man jetzt erst kennen. Hoffentlich gibt's noch eine Gerechtigkeit in Frankreich. Der arme Callot – – –.

Der Bader spielte sich nun, sobald er wieder zu Hause angekommen war, als den Vertreter der Gerechtigkeit auf. Er verbreitete die einseitig zurecht gemachten Lügen des Callot und log aus eigenem hinzu, daß im Dorf und den benachbarten Gemeinden die Gérards bald als die verworfensten Menschen galten.

Kaum kamen die hundertfältig verstärkten und entstellten Gerüchte zur Polizei zurück, als der Gendarm und seine Spione wieder neuen Mut faßten.

In aller Stille führten sie, ohne Auftrag bei Tag und Nacht, einen Überwachungsdienst ein, so daß jeder, der zu Gérards ging oder von ihnen kam, beobachtet wurde.

Auch die Mägde der Gérards versuchte Brassard und der Bader durch Versprechungen für den heimlichen Polizeidienst heranzuziehen. Sie sagten zu, meldeten die Verleitung zum Treubruch aber gleich zu Hause.

So kam es, daß Marie-Anne von dem neuen, um den Hof gespannten Netz in neue Herzensangst geriet. An der trug sie doppelt schwer, weil sie der von Kummer erfüllten Mutter nichts davon sagen mochte.

Schon der Gedanke, von Reinhart lassen zu müssen, ihn seinen Henkersknechten auszuliefern, versetzte sie in eine unbeschreibliche Wut. Diesen von ihr über alles geliebten Menschen wollte sie retten, allen bösen, geheimen Kräften zum Trotz. Auch wenn sie dabei ihr Leben lassen sollte.

Was lag an ihr, wenn dieser Edele, Gute, Tapfere nur seine Freiheit gewann und am Leben blieb. Dieser eine wog eine Million solcher Geschöpfe wie Callot und seines Gelichters auf. Die Erhaltung der Welt hatte doch nur einen Wert, wenn sie Edelmenschen erfüllten, Menschen, die gut, selbstlos, hilfsbereit, liebevoll zu ihren Mitmenschen waren und Mord, Raub, Plünderung und schlechte Taten verabscheuten.

Fort, um Himmelswillen, nur rasch fort! Jetzt gleich, heut abend oder nacht? Doch wie aus dem Hause kommen, an den Spähern vorbei?

Noch schlimmer aber, wenn jetzt plötzlich wieder das Haus vom Militär umstellt würde, wenn sie schärfer suchten, wenn diesmal kein Gimpel wie Davannes dabei war? Und wenn sie ihn fanden, aus seinem Versteck holten und peinigten und zum Tode führten. Bei dem Gedanken schloß sie die Augen, es überlief sie heiß und kalt.

Doch lebend sollten sie ihn nicht bekommen, weder ihn noch sie. Zusammen mit ihm wollte sie leben, mit ihm sterben. Und was sich auch entgegenstellen mochte, wollte sie niederkämpfen. Es ging um beider Leben. Wer danach griff, mußte sterben. Es war ein Kampf. Entweder – oder.

Sie biß die Zähne aufeinander, sie war entschlossen und kampfbereit. Nichts zur Mutter davon, – ihre Parole war fortan: schweigen und handeln.

Jeanne kam vom Krämer mit einer Neuigkeit. Der alte Pfarrer Grenelle hatte gestern den längst erbetenen Stellvertreter erhalten. Es soll ein noch junger Kaplan sein, hochgewachsen und ein hübscher Mann. Das Äußere ist das, was die Frauen zuerst interessiert.

»So,« sagte Marie-Anne, »ein junger Geistlicher, da ist Aussicht, daß das Gesprächsthema für die Dorfbewohner wechselt. Immerfort vom Boche reden, ist ja langweilig, nicht wahr, Jeanne?«

»Ach, Fräulein Marie-Anne, die Boches sind auch Menschen. Und wenn kein Krieg wär', wer weiß, ob wir nicht lieber einen blonden Allemand heiraten möchten, ich wenigstens, ich tät's.«

Polizeispitzel, dachte Marie-Anne, will mich aufs Glatteis führen. Für wie einfältig man mich hält.

Um die Mittagszeit machte der neue Kaplan, Herr Lutry, seinen Besuch. Den Wohlhabenden, die zugleich Lieblinge des alten Seelsorgers waren, brachte er gute Grüße und die Bitte um eine Spende.

Gewiß, der junge hochwürdige Herr solle sie haben, weil er vom Pfarrer Grenelle käme, den die Familie überaus schätze.

Der Kaplan wollte aber keinen Imbiß nehmen. Er hätte noch vor, das Paketchen, das er in der Hand trug, zum Postamt zu bringen, da ein Bote nicht zu haben wäre. Bis zum Wochenende müsse es beim Adressaten eingetroffen sein. Die Post befördere jetzt ungenau, wer weiß, wie lange Zeit sie für den Weg von 80 Kilometer brauchen wird. Der Inhalt wär' nicht besonders wertvoll, es sei eine Soutane, die er versehentlich in seinen Koffer getan hätte. Sie gehöre seinem Amtsbruder, der sie vermissen würde.

»Hochwürden, wenn es weiter nichts ist, das Sie an einem kleinen Frühstück hindert, das Pfarrer Grenelle uns noch nie abgeschlagen hat, so erlauben Sie, daß ich die Besorgung des Pakets übernehme.«

Marie-Anne nahm dem Kaplan das in Papier geschlagene Paket aus der Hand, trug es aus dem Zimmer und verschloß es in eine große Holztruhe im Hausflur.

»Ihre Soutane ist besorgt und aufgehoben«, mit den Worten kehrte sie lachend zu dem Geistlichen zurück und gab ihm 50 Frank für seine Armen als Spende ihrer Mutter. Wein und Essen machte ihn gesprächig, so daß sie in ihm einen neuen Freund gewonnen hatte, als er sich empfahl.

»Wissen Sie was, Hochwürden, ich werde Sie ein Stück begleiten. Dabei zeig' ich Ihnen die Bauernhöfe, die Sie vermutlich demnächst besuchen werden.«

Marie-Anne führte den Kaplan umständlich durch das Dorf. Sie wies mit dem Finger auf den Gendarm, der plötzlich aus einer Toreinfahrt hervortrat, um sich, beim Anblick der beiden, ins Haus zurückzuziehen.

Auf der Landstraße sah sie den Spion Brassard durch das Fenster seiner Hütte lugen. Sie sollten nur gucken, sie und die andern heimlichen Aufpasser, sie wollte ihnen allen schon ein Licht aufstecken.

Am Nachmittag und am nächsten Tage sah man bald hier bald da die hochgewachsene Gestalt des Kaplans im Dorfe, einer zeigte ihn dem andern. Man wich dem Soutanenträger aber aus, sein allzu ernstes Gesicht mochte niemandem recht gefallen. Der schien aus strengerem Holz geschnitten, als der gute alte Pfarrer Grenelle, meinten sie und mochten nicht unrecht haben.

Der Tag ging zu Ende, ohne daß sich der Vetter Lorrain mit den versprochenen Pässen gezeigt hätte.

Dafür überraschte ein Brief des Leutnants Davannes, der sich entschuldigte, daß ihn dienstliche Abhaltungen hinderten, sie im Augenblick zu sehen. Dann schrieb er:

»Ihr Knecht Callot ist inzwischen mehrfach vernommen worden. Er bleibt bei seiner Behauptung, daß er den Boche in einer Bodenkammer entdeckt und mit ihm gerungen hätte. Ihm hätte das Dolchmesser gegolten, nicht Ihnen oder sonst wem. Sie hätten sein Schweigen durch Geld erkaufen wollen. Es sei richtig, er hätte das Geld genommen, sein ›Patriotismus‹ wäre damit aber nicht zum Schweigen gebracht worden. Alles, was ihn belastet, leugnet er.

Von meiner Aussage, die für Sie eintritt (die Worte hatte er unterstrichen) und gegen den Callot gerichtet ist, kann ich nun nicht abgehen. Die Staatsanwaltschaft glaubt zunächst mir mehr, als dem alten Verbrecher. Und wenn die Mägde ihre Aussage aufrecht erhalten, wird das Verfahren gegen ihn wegen Bedrohung, Nötigung und Beleidigung eingeleitet. Es wird also Ihre Vernehmung, die Ihrer Frau Mutter und aller Personen, die in Betracht kommen, angeordnet werden. Damit Sie Ihren Hof nicht schutzlos zurücklassen, werde ich an dem Tage der Vernehmung dort sein. Es soll dann, das ist der Wunsch des Staatsanwalts, noch einmal nach dem verborgen Gehaltenen oder seinen Spuren gehaussucht werden, damit das Gerede, das bereits in den Zeitungen einen Niederschlag gefunden hat!, erlischt.

Eigentlich dürfte ich Ihnen das nicht mitteilen, weil ein starker Verdacht gegen Sie gehegt wird. Ich vertraue Ihnen jedoch und Ihrer Klugheit und bitte Sie ganz zu vertrauen

Ihrem verehrungsvoll ergebenen
Davannes, Leutnant.

Mehr und immer mehr. Statt der erhofften Hilfe kam neue Verfolgung. Sie und Reinhart waren umstellt. Und wie in einem Netz gefangen. Bewacht bei Tag und Nacht. Womöglich im Hause selbst die Spione, die jedes Wort der Gendarmerie hinterbrachten.

Nur eins blieb, die Flucht. Mochte Gott dann entscheiden, ob dem Mutigen oder dem feigen Häscher Erfolg beschieden blieb.

Wie aber ohne Pässe über die Grenze kommen?

Heut nacht wollten sie ihr Heil versuchen. Für Reinhart war ihr nicht bange. Der würde schon durchkommen. Aber sie? Man würde sie zurückschicken und – anklagen.

Ein trauriger Abend war es, als sie von der Mutter stillen Abschied nahm. Zum Aufruhr in ihrer Brust paßte das stürmische Winterwetter, das ums Haus wieder tobte und Schnee und Regen vom Himmel schüttete. Marie-Anne war über das Zeichen, das ihr der Himmel gab, erfreut.

Für Davannes ließ sie einige Zeilen zurück, daß sie ein Telegramm für eine kleine Weile nach der Schweiz rufe, er möge auf ihre Mutter inzwischen seine Freundschaft übertragen.

Spät am Abend kam Lorrain mit den Pässen. Auf einem hoch bepackten Wagen, dessen Lasten für das abgetriebene Pferdchen viel zu schwer waren, hockte der stark angetrunkene Vetter, dem Marie-Anne und Jeanne herunterhelfen mußten, allein war er dazu nicht imstande. Er wurde hereingenötigt und, halb ohne Willen, zu einem Trunke veranlaßt.

Marie-Anne wurde fröhlich, als sie Order gab, für den Herrn Vetter einen kräftigen Glühwein anzurichten; so ein Trank nur wäre die richtige wärmende Medizin bei solch einem Hundewetter. Brrr! Sturm mit Regen und Schnee. Und bei so einem Aufruhr in der Natur hat sich unser lieber guter Verwandter für uns und unsere Geschäfte geopfert. Das werden wir ihm nicht vergessen, nicht wahr, Mutter?

So redend, bemühte sich Marie-Anne um den fast schlafsüchtigen Mann, dem der reichlich genossene Alkohol die Augen schließen wollte.

Sie flüsterte der Mutter etwas zu und verschwand. Die Alte setzte das Gespräch fort, lobte den wackeren Mann und versprach alles, was er, bei Übergabe der Pässe, ihr in Erinnerung brachte: die Hand der Tochter, den Bauernhof, alles Geld, was sie besaß und was sie nicht besaß auch dazu. Es kam jetzt nur darauf an, dem guten Lorrain einen tüchtigen Trunk einzuflößen, wenn der Plan Marie-Annes glücken sollte.

Sie war indessen zu Reinhart geeilt. Er hatte in seinem Versteck gewartet und war zu allem entschlossen.

Marie-Anne hatte ihn zu bereden gesucht, die auf so eigentümliche Weise ins Haus gekommene Soutane des Kaplans anzuziehen und an ihrer Seite, in dieser Verkleidung, das Haus zu verlassen. Reinharts Figur konnte die Figur des Kaplans Lutry vortäuschen. Man hatte sie auch gestern bereits und heut mit dem jungen Geistlichen auf der Straße gesehen. Das würde keinen weiter in Verwunderung setzen. Wie aber, wenn es einem einfallen würde, den Kaplan anzusprechen. Wäre das so undenkbar? Der Bart Reinharts, der im Paß verbürgt war, würde das schlaue Manöver zu schanden machen.

Es war ihr deshalb lieber, das Paketchen würde am nächsten Tage von einer der Mägde zur Post gebracht, und Reinhart käme auf eine unauffälligere, gefahrlosere Art aus dem Hause und Dorfe. Dazu war der Wagen Lorrains wie von der Vorsehung geschickt worden.

In fliegender Hast unterrichtete sie Reinhart. Auf dem Wagen waren Säcke mit Hafer, Mais und anderen Dingen und Häute, mit denen Lorrain einen schwunghaften Handel trieb. Während Jeanne in der Küche war, wollte sie die dort solange beschäftigen, bis Reinhart zum Hause hinaus und sich zwischen den Säcken auf dem Wagen versteckt hätte.

»Ist das geschehen, dann, liebster Mann, folge ich mit Lorrain nach. Ich begleite ihn aus verwandtschaftlicher Zuneigung, will ich ihm sagen, bis nach Tracy. Dort bleibe ich bei einer Freundin zur Nacht, falls die mich nicht zurückbringen läßt. Das glaubt er. Der starke, heiße Wein hilft das übrige vollbringen.

Und nun merk' auf. Sobald der Wagen hält, mußt du ohne Geräusch vom Wagen. Ich folge dir gleich nach. Und dann – beginnt unsere gemeinsame Wanderung ins unbekannte Leben.«

»Und in den Kampf.«

»Ja, in den Kampf. Und in den Tod, wenn es Gott gefällt.«

Sie besiegelten den Herzensbund mit einem Kuß. Als er allein war, warf er den Rucksack auf den Rücken, zog die Mütze tief ins Gesicht, nahm den Stock zur Hand und schlich die Treppe hinab. Er horchte. Marie-Anne sprach laut, sie war in der Küche. Jede Minute war kostbar. Rein mechanisch setzte er die Füße, das Herz schlug hörbar. Er ging und ging, und die Stufen wollten nicht aufhören. In zwei Sätzen war er an der Tür und draußen. Lichtschein fiel aus den Küchenfenstern. Er warf sich zur Erde und kroch auf allen vieren durch Schlamm und Schmutz bis zur Straße. Im Nu war er auf dem Wagen. Zwischen Häuten und Fellen schlüpfte er hinein, warf – so gut es anging – leere Säcke, deren es eine Menge gab, über sich und wartete. Er lag so, daß er jeden, der sich dem Wagen etwa näherte, sehen konnte, ohne gesehen zu werden. Es blieb jedoch alles stille.

Marie-Anne hatte über ihr dunkles Kostüm einen ebensolchen Mantel gezogen und eine dunkle Wollmütze auf dem reizenden Kopf festgemacht. So trat sie in die Stube, um Lorrain, der inzwischen seinen inneren Menschen weiter tüchtig erwärmt hatte, abzuholen. Er wurde nicht viel gefragt, sie nahm ihn untern Arm, umarmte rasch noch die Mutter, die mit Tränen kämpfte, und stolperte mit ihm zum Hause hinaus. Jeanne half wieder, ihn jetzt auf den Kutschbock heben, Marie-Anne nahm die Zügel und peitschte das Pferd, das dem Winke unverzüglich gehorchte und in die Finsternis rannte, als wartete seiner am Ende das Himmelreich.

*

Marie-Anne war so erregt, daß sie den schneidenden Wind nicht spürte, der ihr den Schnee und Regen ins Gesicht trieb. Vor Aufregung war ihr tagsüber die Kehle wie zugeschnürt, kaum daß sie ein paar Bissen essen konnte. Sie verspürte weder Hunger noch Kälte. Nur ein einziges Gefühl erfüllte sie, ein mächtiger Trieb, der Trieb nach Freiheit. Und die war für sie jenseits der Grenzpfähle, wo keine Trikolore wehte.

Früher war's anders. Seit sie Reinhart zugehörte, seit ihr in heiliger Gerechtigkeit erglühendes Herz ganz in seinem Denken und Empfinden aufging, dachte sie nur seine Gedanken. Für sie gab's fürderhin nur ein Vaterland, das sie sich erkoren hatte, das war Deutschland. Dem neuen Vaterland ging es entgegen. Jeder Schritt, der sie vorwärts brachte, war für sie wie ein glückverheißender Atemzug.

Ihre scharfen Augen erkannten in der herrschenden Finsternis den Turm des alten Kirchleins in Tracy. Sie ließ das Pferd halten, rüttelte den schlafenden Vetter wach und schrie ihm ins Gesicht: »Gute Nacht, Vetter, paßt auf, daß der Wagen nicht in den Graben gerät.« Sie wartete, bis den Wagen eine Bewegung erschütterte – Reinhart war abgesprungen – dann sprang sie rasch ab, gab dem Pferd einen freundlichen Schlag, das – wußte sie – würde den Weg schon ohne Lorrain nach Hause finden. Dann spähte sie in die Finsternis.

Da wurde ihr Arm gefaßt, ihren Kopf hielten zwei Hände. Einen Kuß, eine Umarmung, – dann zog Marie-Anne den Geliebten rasch fort.

Sie kannte den Weg. Eine ziemlich gerade Chaussee führt zur Aisne, wo sie Aristide Parterres Boot benutzen wollten, um rascher vorwärts zu kommen und ihre Spur zu verwischen. Beide waren überzeugt, daß, nach Marie-Annes Verschwinden, die Partei Callot triumphieren und die Verfolgung in verstärktem Maße einsetzen würde.

Eng aneinander geschmiegt marschierten sie, anfangs schnell, dann langsamer, immer langsamer. Der Wintersturm trieb ihnen die Eiskristalle gleich spitzen Nadeln ins Gesicht und hemmte ihre Schritte. Die Landstraße war ein tiefer Morast, in den ihre Füße bis zum Knöchel einsanken. In tiefem Schweigen strebten sie voran. Marie-Annes Schritte wurden immer kürzer. Sie stand einen Augenblick still – tat einige Schritte – blieb wieder stehen und seufzte schwer. Sie hatte ihre Kräfte überschätzt, sie konnte nicht mehr weiter. Zum Überlegen war keine Zeit, es blieb ihnen nur die Wahl: zu handeln oder zurückzukehren und sich den Behörden zu ergeben, also Freiheit und Leben zu verwirken.

»Höre, Marie-Anne, unsere Augen haben sich an das Sehen in der Finsternis schon gewöhnt. Du aber kennst die Gegend und magst mich leiten. Ich aber will dich tragen.«

Den derben Knotenstock streifte er an der Lederschlinge, die vom Vorbesitzer durch das eisenharte Holz gezogen war, über das rechte Armgelenk, um die Waffe gleich zur Hand zu haben. Dann hob er die liebe Last auf, die ihre erstarrten Hände um seinen Hals schlang.

»Nur ein Weilchen,« flüsterte sie ihm ins Ohr, »bis ich wieder frischer bin. Sei mir nicht böse, Bester. Ich bin wohl recht schwer?«

»Nicht doch, leicht wie eine Schneeflocke.«

Das Schneetreiben wurde stärker, doch allmählich ließ der Sturm nach, – aber auch der Eilschritt Reinharts verlangsamte sich. Als er innehielt, um zu verschnaufen, glitt Marie-Anne von seinem Arm. Sie wolle wieder marschieren, sie fühle sich jetzt wieder ganz erholt, sprach sie.

»Wir müssen nicht mehr weit vom Fluß sein, das merk' ich am schärferen Wehen des Windes. Und da – der Schnee leuchtet so brav – siehst du zwischen den Weiden den stumpfen Block mit der Spitze? Das ist die Hütte und die Spitze ist eine Flaggenstange.« Reinhart sah in der angedeuteten Richtung, erblickte aber erst, als sie 100 Meter weiter waren, das angestrebte Ziel.

Sie waren an der Aisne. Der ziemlich breite Fluß wälzte seine schwarzen Wasser, die in der Nacht unheimlich anzusehen waren, an den einsamen Flüchtlingen vorüber. Sie standen wie gebannt und sahen den Fluten nach, die in einer grundlosen Finsternis verschwanden und – wie ihre Zukunft – geheimnisvoll und endlos sich vor ihnen ausbreitete.

Reinhart riß sich von dem schauerlichen Anblick zuerst los. Er ging suchend am Ufer hin. »Du suchst das Boot? Das pflegt er an Land zu ziehen.«

Sie fanden es in einer kleinen Erdmulde, mit trocknem Laub und einer Schneedecke zugedeckt, die leicht entfernt wurde.

Wo aber waren die Riemen?

»Die Ruderstangen finden wir in der Hütte, komm' nur Schatz, und sieh, daß ich recht vermute.«

Die Tür der Hütte, die eher einem kleinen Ställchen glich, wurde mühelos eingedrückt. In dem einzigen Raume sah es wenig behaglich aus. Alles lag kunterbunt umher: eine Hängematte, Tiegel, Töpfe, Teller, Gläser, Angelruten, Blechbüchsen, ein Strohhut, zerrissene Kleidungsstücke. Und auf dem winzigen Herd stand ein Schmelztiegel, daneben lagen Erzstücke und Schlacken umher. Das alles übersahen sie rasch beim Aufflammen eines Zündholzes. Als Reinhart noch eins entzündete, entdeckte er einen Schemel und einen wackligen Tisch und im Winkel neben der Tür eine Ruderstange, eine zweite war nirgends zu finden.

»Hier, Kind, sitz nieder und stärke dich.« Mit den Worten zog er den Schemel hervor und öffnete den Rucksack, den er auf den Tisch gelegt hatte.

Durch ein kleines Fenster fiel eine spärliche, kaum nennenswerte Helligkeit in das Dunkel des Raumes. Der mitgenommene Wein erwärmte die halberfrorenen Glieder. Speck und Brot mundeten trefflich und erquickt traten sie hinaus, um ihre Fahrt zu beginnen.

Noch nie ward eine Fahrt ins Ungewisse so tollkühn angetreten, wie hier. Beide hatten von den Städten oder Dörfern, die sie passieren mußten, keinen blassen Schimmer. Reinhart wußte nur, daß sie ihre Flucht immer südlich führen mußten, wenn sie an die Schweizer Grenze kommen wollten. Trotz der Pässe setzten sie kein großes Vertrauen in die Wirksamkeit der Dokumente, jedenfalls war Reinhart davon überzeugt, daß man ihm, wegen seiner Blondheit, den Boche ansehen würde.

Das einfachste wär' es ja, zur nächsten Bahnstation zu gehen und mit dem Schnellzug über die Grenze zu pürschen, – wenn die vielfachen Revisionen nicht wären, vor und während der Fahrt. Und wenn man sie trennte? Beide in Einzelhaft, in Untersuchung nahm? Es war Krieg, die Berechtigung, einen Verdacht zu hegen, lag vor.

Eine telegraphische Rückfrage hätte Marie-Anne schon genügend legitimiert. Aber den blonden Kaufmann Durand würden die Schweizer Behörden suchen, aber vergeblich finden. Schon über seinen letzten Aufenthaltsort in der Schweiz würde er nichts Bestimmtes sagen können und sich von Tag zu Tag immer mehr als Spion verdächtig machen. Als flüchtig vorzuzeigendes Ausweispapier, z. B. beim Kauf einer Eisenbahnkarte, mochte sein Paß herhalten. Vor den allzu scharfen Augen der französischen Polizei konnte er nicht bestehen. Die würde – so glaubte er – den Schwindel gleich erkennen.

Die Sache mit dem Paß kam zu plötzlich, wie die notwendig gewordene, eilige Flucht. Da war von sorgfältiger Überlegung, von planmäßiger Flucht keine Rede. Nicht mal eine gute Karte oder ein Kompaß konnte Marie-Anne beschaffen. Auf Meilen weit im Umkreis gab's dergleichen nicht. Und überall hätte man ihr Mißtrauen entgegengebracht und Verrat gewittert.

So sind die Franzosen. Werden sie geschlagen, dann war nicht ihre falsche Führung oder Feigheit schuld, dann war Verrat im Spiel. Nur Verrat. So haben sie's zu allen Zeiten getrieben, die großmäuligen Gockelhähne, die in den Schlachten nur dann siegten, wenn ihr Gegner in der großen Minderzahl ihnen gegenüber stand oder in schlechterer Bewaffnung. Auch das Napoleonische Genie muß von diesem engen Gesichtswinkel aus betrachtet werden, um ihrer marktschreierischen » gloire« in der Weltgeschichte und den besiegten Heeren gerecht zu werden.

Reinhart mußte nun suchen, sich durchzuschlagen. Durch, – um jeden Preis – auch wenn Blut fließen sollte. Dunkel in Erinnerung waren ihm die Namen der Städte Dijon, Besançon, Poligny, von denen aus es zur Grenze nicht mehr weit war. Wo war er jetzt? Wie weit war's noch bis dahin?

Doch einen Ausweg gab's noch, sie mußten die Eisenbahn benutzen. Auf jedem Bahnhof fand sich schon im Aushang eine Eisenbahnkarte. Geld hatten sie. Also los, und wenn sie täglich nur ein Dutzend Meilen nach Süden führen, kamen sie der heißersehnten Grenze näher.

Das Boot hatte Reinhart ins Wasser gebracht. Der Riemen erwies sich als ein schwaches Holz, das an der Spitze brach, sobald Reinhart es recht brauchen wollte. Was in seinen Händen blieb, war eine Art Paddel, mit der der kleine Nachen in dem stark bewegten Wasser nicht dirigiert werden konnte.

Genug, sie schwammen. Und in südlicher Richtung. Das war ihnen vor der Hand genug, nach Süden lag die Schweizer Grenze, das Ziel ihrer Sehnsucht.

Das Boot kam anfangs nicht vom Ufer ab. Die Strömung führte es immer wieder auf den Sand zurück. War es glücklich wieder etwa in die Mitte des Wassers gelangt, glitt es wohl einige hundert Meter weiter, um – bei einer Biegung des Flusses – an die linke Uferseite getrieben zu werden.

Immerhin lagen jetzt schon viele Meilen zwischen ihnen und ihren Feinden. Der Tag zeigte sich am Himmel mit einer fahlen Blässe. Bis jetzt hatten sie ohne Unfall, und wie sie hofften, ungesehen, die Reise gemacht, als Marie-Anne rief: »Im Boot ist Wasser, Reinhart, das Boot sinkt.«

Das Schifflein war undicht. Ein Blick genügte, um das Unglück, das ihnen aufzulauern schien, zu übersehen. Solange es stockfinster war, hatten sie das Eindringen des Wassers nicht bemerkt. Reinhart hielt die Ufer scharf im Auge, seine Aufmerksamkeit war damit vollauf beschäftigt. Und Marie-Anne bemerkte das Lecken des Nachens erst, als der Tag graute.

Glücklicherweise hatte der Schneefall aufgehört.

Reinharts Bemühungen, zu landen, machte die Strömung, gegen die er nicht ankämpfen konnte, zunichte. Die Fluten ließen das Boot tanzen, sich im Kreise drehen. Dann schnellte es vorwärts, trieb zum Ufer, wo es an Büschen hängen blieb, um dann, wie vom Winde getrieben, fortgeführt zu werden.

Von einer Uferseite erschollen Rufe. Ein älterer Mann rief etwas. Marie-Anne riet, zu landen, damit sie nicht erst Aufsehen erregten.

Da waren auch schon schnellfüßige Jungen sichtbar, die mit lauten Zurufen auf sie zurannten und – soweit sie nicht behindert waren – am Ufer mit dem Boot um die Wette liefen. Ein Boot, das sich um sich selbst dreht, auf dem Wasser tanzt, dann wie ein Fisch dahinschießt, das gab einen Spaß. War's nicht wie ein Karussell? Und Menschen darin, die nicht mal so ein kleines Schiffchen meistern konnten. Am Ende haben sie's gestohlen – –.

»Hoho,« rief's jetzt zu ihnen herüber, »wo wollt ihr hin? Was ist denn los? Weshalb rudert ihr nicht?«

Weiter, nur weiter, um aus dem Bereiche der Gaffer zu kommen. Es schienen ihrer aber immer mehr zu werden.

»Und da – Gott sei uns gnädig – steht ein Maire dicht am Ufer. Siehst du seine farbige Leibbinde? Ein Glück, daß das Ufer hier hoch ist, sonst könnt' er uns mit einer Schlinge fangen, wenn er geschickt wäre. Sei still, laß mich mit ihm reden.« Und noch bevor das Boot in die Nähe der Amtsperson gekommen war, begann Marie-Anne laut zu rufen: Guten Tag, Herr Maire, unser Ruder ist zerbrochen, kann jetzt nicht ausgebessert werden. Wir sind aber bald da. Pech, nicht wahr?«

Woher und wohin? Er nannte einen Ort und zeigte mit der Hand hinter sich.

Sie schüttelte den Kopf und wies aufs jenseitige Ufer.

»Hast du gut gemacht, Schatz, ausgezeichnet. Ja, da drüben wollen, ja, müssen wir landen, sonst sind wir schnell auf dem Grunde dieses charmanten Flusses.«

Reinhart begann nun mit aller Kraft zu paddeln, daß es eine Art hatte. Die um den Maire versammelte Menge verfolgte ihn und seine Anstrengungen noch eine Weile mit Zurufen, bis sich eine größere Entfernung zwischen sie gelegt hatte. Und schließlich lief das Boot auf und Reinhart zog es vollends an Land. Er band es an einen Weidenstrauch und stieg mit Marie-Anne das bewaldete Ufer hinauf.

Ein trüber, kalter Tag begleitete sie durch den Wald, den sie, immer in der Nähe des Flusses, durcheilten. Hunger und Müdigkeit zwangen sie gegen Mittag haltzumachen. Der Rucksack war, bis auf etwas Brot, geleert, im nächsten Dorf mußte der Eßvorrat ergänzt werden. Damit rückten sie, da sie in Berührung mit Menschen kamen, der Gefahrzone näher.

Das immer dichter werdende Unterholz drängte sie auf einen schmalen Weg. Als sie den verfolgten, befanden sie sich auf einer Landstraße. Das sahen sie aus den Wagenspuren und einem Bauernhaus, das einen Steinwurf nur davon lag. Sie berieten, ob sie noch bis zum Abend weiter gehen oder bei dem Bauern versuchen wollten, sich über die Gegend zu orientieren.

»Komm', laß mich nur machen, aber schweige«, mit den Worten faßte sie Reinharts Arm und ließ sich zu dem ziemlich verfallenen Bauernhaus hinüberführen. Nachdem der Hund sein Willkomm gebellt hatte, kam eine alte Frau zum Vorschein. Marie-Anne hatte sofort leichtes Spiel. Sie hätten noch Verwandte besucht und ihr Vetter, der gern Häute kaufen möchte, hat nirgends Geschäfte gemacht. Die Bauern hätten alles verkauft. Sie seien vom Wege abgekommen, wollten zur nächsten Eisenbahn, wie weit es da noch wäre?

»O, lala, Madam, noch ein weites Stück. Bitte, treten Sie ein und nehmen Sie Platz.«

Marie-Anne legte eine Geldnote auf den Tisch und fragte nach Milch. O gewiß, und ihr Sohn wüßte Bescheid, er sei auf Urlaub. O, ihr George, wär' jetzt der einzige von dreien am Leben. Der schreckliche Krieg – –.

Bald stand Milch auf dem Tisch und Brot, auch ein Käse und sogar etwas geräucherter Speck wurde vorgesetzt. Dann erschien George, ein verschmitzt aussehender Mensch, dem man seine Absicht, nicht mehr zur Front zurückzukehren, unbedingt glaubte. Er wolle sich schon über die Grenze bringen. Schließlich würde er zu den Allemands hinüberlaufen. Das sollen ganz gute Leute sein, wie ihr Schulmeister erzähle, der als Krüppel nach Hause geschafft sei. Seine Mutter solle aber im Alter wenigstens einen Sohn behalten.

Von hier, fuhr er dann fort, müßten die Herrschaften nach Cussy, dann nach Lucenay, von da nach Igornay und, wenn sie den Wald hinter sich hätten, nach Autun. Da ist die Eisenbahn. In sechs oder acht Stunden, wenn sie Anschluß hätten, kämen sie über Chalon sur Saone nach St. Claude und Genf. Vor Genf beginnen scharfe Paßkontrollen. Da müsse jeder aufpassen. O, er wisse Bescheid, setzte er lächelnd hinzu und wünschte den Herrschaften glückliche Reise.

Und der Weg sei nicht zu verfehlen. Er würde gern bis Cussy mitgehen, wenn seine Zeit bezahlt würde und ihnen die weitere Route zeigen.

Da es nicht weit zum Dunkelwerden war und Marie-Anne starke Müdigkeit vorschützte, wurde die Einladung der Alten, über Nacht zu bleiben, dankend angenommen. Reinhart schlief in Georges Kammer, Marie-Anne schwatzte noch lange in der Stube der Bäuerin, bis sie entschlief.

Nur George Écu stapfte noch unruhig davon. Er entschuldigte sich bei Reinhart, er müsse noch in den Dorfkrug. Ob er mitwolle? Nicht? Dann wohl zu schlafen. Reinhart schlief so fest, daß er Georges Rückkehr nicht hörte.


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