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Am nächsten Morgen klopfte das Schicksal in Gestalt des Leutnant Davannes an ihre Haustür.

Callot meldete ihn Marie-Anne.

»Ich komme sogleich, führen Sie den Herrn Leutnant in die Wohnstube.« Es war das nämliche Zimmer, in dem der Leutnant bei seinem ersten Besuch gewesen war.

Marie-Anne sprang behend die Treppe zum Bodenraum hinauf, klopfte an Reinharts Kammer und rief leise: »Militärischer Besuch! Vorsicht!«

Flugs öffnete Reinhart die Tür. Er flüsterte: »Ich gehe hinauf.«

Marie-Anne erwiderte nichts. Sie sprang in eiligen Sätzen die Treppen hinunter, während Reinhart in der Kammer eine verabredete Unordnung herstellte.

Dann eilte er an das dunkle Ende des Bodenraumes, wo die Fenster durch Truhen, Kisten und Schränke so verstellt waren, daß kein Tageslicht in diesen Winkel fiel. Wie eine Katze kletterte er gewandt in das Gebälk und verschwand hinter Brettern, die wie von ungefähr da oben lagen. An den Brettern und Balken hingen ausgediente Sachen, Rechen und Kummete, so daß jeder Unbefangene sich sagte: wer hier hinauf und sich dahinter verbergen wollte, erst all den hängenden alten Plunder fortnehmen müßte. Zerschlissene Pferdedecken, Bündel Heu, Körbe und Bütten verstopften die Einsicht von beiden Seiten, sobald Reinhart im Versteck war.

Das hatte er mit Hilfe Marie-Annes vor Wochen zurecht gemacht. Sie hatten es einige Male ausprobiert; heut sollte es Ernst werden.

»Mein schönes Fräulein, ich bedaure, daß ich Sie in so früher Stunde schon behelligen muß.«

»Sie stören nicht, Herr Leutnant, Sie sind willkommen.«

Sie reichte ihm unbefangen die Hand, die er galant an die Lippen führte.

»Bitte, wollen Sie nicht Platz nehmen?«

»Ihrer liebenswürdigen Aufforderung entspräche ich gern, mein Fräulein, wenn ich nicht in dienstlicher Angelegenheit käme. Meine Zeit ist leider sehr gemessen.

Also denn: Hat sich zu der Militärmütze, die wir vor diesem Fenster seinerzeit fanden, inzwischen nicht der Mann – ich meine den desertierten Boche – gefunden?«

»Ich bin erstaunt, Herr Leutnant, daß Sie diese Frage zum zweiten Male an mich richten. Hatte mir die Militärbehörde den verloren gegangenen Mann etwa zur Verwahrung übergeben, daß sie ein Recht hat, ihn zurückzufordern? Ich glaube kaum. Und ich glaube auch nicht, daß ein schlichter Bauernhof ein Ort ist, auf dem sich ein Boche unsichtbar machen oder – ungesehen vom Personal und den Nachbarn – konserviert werden kann.«

»Gewiß, mein Fräulein,« erwiderte in einiger Verlegenheit der Offizier, »was Sie sagen, ist – wie soll ich sagen – schon berechtigt. Die Militärbehörde behauptet auch noch nichts, sie vermutet nur. Sie hat – nun ja – sie hat einen Verdacht.«

»Das ist ja noch interessanter. Ihre Behörde bedenkt die Steuerzahler mit Beleidigungen auf einen Verdacht hin, gleichviel, ob er berechtigt ist oder nicht. Das wird ja immer schöner. Die französischen Bauern sind der Behörde also gut genug, um sie sans façon zu Verbrechern zu stempeln, bloß weil sie vermutet, es könnte dies und das von ehrenwerten Leuten, die seit ein paar hundert Jahren dieselbe Scholle bebauen, verübt worden sein. Sie machen sich, Herr Leutnant, zum Überbringer und Vollzieher einer keineswegs ehrenwerten Handlung, die ich an Ihrer Stelle abgelehnt hätte.«

Leutnant Davannes war kein großes Kirchenlicht. Er ließ sich ruhig die Malicen sagen, weil ihm die fadenscheinige Logik Marie-Annes, die sie temperamentvoll hervorgesprudelt hatte, einzuleuchten schien. Durch sein Schweigen gab er ihren Äußerungen einen Schein von Berechtigung. Diesen Vorsprung benutzte Marie-Anne, indem sie ihn kokett anlachte und ihm die Hand mit den Worten reichte: »Nicht wahr, wir verstehen uns?«

Ihre Schönheit faszinierte ihn wieder, er verschlang sie fast mit den Augen.

Im stillen dachte er über die Sache anders, als er gesprochen hatte. Was lag denn daran, ob der Boche gefunden wurde oder nicht. In Frankreich gab's doch genug von der Sorte. Zum Kuckuck ja, ist's nicht ein Skandal, daß seit fast zwei Monaten so viele brave Männer (er zählte sich auch dazu), hinter so einem lumpigen Boche hergehetzt wurden?

Er begriff diese Rachsucht seiner Vorgesetzten nicht. Konnte auch den Nutzen für Frankreich nicht begreifen, der aus dem Einfangen eines Allemands entstände.

Und deswegen sollte er sich mit der ebenso entzückenden als reichen kleinen Gérard verfeinden?

Wie lächerlich. Ehe das geschähe, lieber wollte er dem Deserteur selber forthelfen, falls er auf dem Bauernhofe gefunden würde.

Niemals durfte er gefunden werden. Wenigstens nicht hier. Das gelobte er sich.

Der Form wegen, und da jetzt gerade der Korporal eintrat, um sich zu melden, wollte er das Gespräch fortsetzen.

»Mit dem Verdacht der Behörde«, sprach er zu Marie-Anne gewendet, »ist keineswegs eine Beleidigung für den Verdächtigten verbunden. Die Behörde hat jedenfalls nicht die Absicht, Sie zu beleidigen. Oder Ihre verehrte Frau Mutter.«

Frau Gérard war bei den letzten Worten hereingekommen, um ihrer Tochter beizustehen. Was sie sagte, war ungefähr dasselbe, was Marie-Anne gesagt hatte, nur etwas kräftiger. Sie drohte, daß ihr Pfarrer diese Überfälle, dieses »gewaltsame Eindringen« in die Wohnungen ruhiger Bürger, die fortgesetzten »schändlichen Beleidigungen« nach Paris melden und in allen Zeitungen bekannt machen würde.

Sie drohte mit einem Deputierten, der davon bald Nachricht haben solle und lamentierte so viel, daß dem Leutnant ganz schwül zumute wurde.

Nein, so sprachen nur Unschuldige. Und die Zeitungen und der Deputierte – man kann nie wissen, wie so eine Affäre ausgeht. Schließlich wird man ihn als Sündenbock fassen und in irgendeinen gottverlassenen Winkel strafversetzen.

Das fehlte noch, daß er aus der Gegend fortkäme, weg von seiner künftigen Herzallerliebsten, die er noch vor Friedensschluß heimzuführen gedachte.

Als die Alte endlich Luft schöpfte und eine Pause machte, sagte er:

»Madam, Sie haben völlig recht. Der Verdacht ist ganz sinnlos, ganz dumm. Als Soldat muß ich aber gehorchen.

Ich bitte deshalb die Damen, mir mein schweres Amt zu erleichtern und Zutritt zu den Räumen zu gestatten.«

Mutter und Tochter riefen wie aus einem Munde: »Bitte, mein Herr, genieren Sie sich nicht. Visitieren Sie mit Ihren Leuten wo und wie Sie wollen.«

»Nur eins«, sprach lachend Marie-Anne, »wird uns der Herr Leutnant sagen können, warum Sie gerade uns durch ihren Besuch zum zweiten Male auszeichnen. Ist's noch immer der läppischen Mütze wegen?«

»Ja und nein. Die Behörde klammert sich an das winzigste Ding, um daraus Schlüsse zu ziehen. Mitunter glückt so ein Verfahren. Zumeist kommt aber nichts dabei heraus. Es sind Indizien, die zur Beweisführung herangezogen werden.

Eigentlich sollt' ich nichts sagen; ich geb' Ihnen damit einen Beweis meines Vertrauens.

Da wird behauptet, Sie hätten oft Zitronen aufgekauft, auch danach ausgeschickt. Die Behörde macht daraus ihre Schlüsse, als ob Sie – –.«

»Solch ein Unsinn,« rief Mutter Gérard, »meiner Gicht wegen brauch' ich sie. Haben Sie noch nie von solchen Heilungen gehört?«

»Das wohl, man hat Sie aber nie welche brauchen sehen.«

»Nun habe ich aber genug davon. Soll ich die Bewohner des ganzen Departements zusammenrufen, um den Saft in aller Gegenwart zu trinken?«

Alle lachten.

»Sie haben schon recht,« begütigte der Leutnant, »ich muß gestehen, es ist verworrenes Zeug. Man will auch was Verdächtiges darin erblicken, daß Sie – obgleich krank – ein anderes Zimmer bezogen haben. In dem leeren Zimmer jedoch soll nächtlich ein Licht gebrannt haben.«

»Wie komisch, wahrhaftig, man könnte in einem fort lachen, wenn der Blödsinn nicht gar so arg wäre«, sagte Marie-Anne. »Mir war's bequemer und für meine Mutter auch, wenn ich sie des Nachts neben mir hatte, um ihr Handreichungen zu machen, sie in ihren Schmerzen zu trösten. Sie konnte mich leicht wecken, wenn sie was nötig hatte; andernfalls war sie ohne Hilfe, weil ich einen festen Schlaf habe.

Mein Gott, das ist doch klar. Und das Öllämpchen ließen wir gern nebenan brennen, weil sie der Lichtschein im Zimmer am Wiedereinschlafen gehindert hätte.

Auch wollen wir am Verbrauch der teuren Streichhölzer sparen. Bitte, vergessen Sie nicht, das Ihrer Behörde zu sagen.«

Der Leutnant lachte verlegen, der Korporal schmunzelte vergnügt. Ei, der tausend, die beiden Frauen ließen sich nichts gefallen. Ihr Mundwerk war scharf ausgerüstet. Aber beide Männer waren von der Richtigkeit des Gehörten überzeugt.

»Gehen wir«, sagte der Leutnant. »Sie, Korporal, warten hier. Ich bin gleich wieder unten.«

»Es wäre mir sehr erwünscht, wenn mich das verehrte Fräulein führen wollte.«

»Nicht doch, mein Herr, Sie wissen ja vom ersten Male her noch Bescheid«, entgegnete ironisch Marie-Anne. »Sonst kann auch meine Mutter mitgehen, sie ist wieder gut zu Fuß.«

Ihm lag aber gerade an der Begleitung Marie-Annes, mit der er plaudern wollte und der gegenüber er bestrebt war, sich in ein möglichst gutes Licht zu setzen.

Er redete also davon, daß er die alte Dame keineswegs bemühen wollte. Lieber nahm er von der Visitation ganz Abstand. Oder käme zu einer gelegeneren Zeit wieder, wenn das gnädige Fräulein ihm heute nicht die Ehre erweisen wolle, ihn zu führen.

Doch Marie-Anne lag nichts an der Ehre. Sie wollte von seinem Wiederkommen nichts wissen. So entschloß sie sich, mit ihm zu gehen.

Sie öffnete im ersten Stock weit alle Räume.

»Überzeugen Sie sich, mein Herr, daß unser Haus kein Hotel für unzufriedene Allemands ist. Bitte, suchen Sie in allen Zimmern, Winkeln und Mauselöchern, ob der Gesuchte darin sitzt«, rief Marie-Anne lustig.

»Behandeln Sie die Leute menschlicher, Ihrer eigenen Ehre angemessen; quälen, schinden, foltern Sie sie nicht, lassen Sie die Armen nicht hungern, – dann werden sie nicht fortlaufen.«

»Mein Fräulein, mein Fräulein,« drohte ihr Begleiter, »nehmen Sie sich in acht.«

Sie überhörte die Warnung. »Da Sie ihn in dieser Etage nicht entdeckten, Herr Leutnant, bleibt noch der Boden, die Scheune, Ställe und der Keller übrig. Ist's gefällig, begeben wir uns unters Dach?«

» Sapristi, mein schönes Fräulein, Sie sehen doch, daß ich Ihnen völlig vertraue und nur formell meinen Auftrag erfülle.

Ich danke Ihnen, bedaure, daß ich schon fort muß – –.«

»Wollen Sie nicht bleiben und wenigstens ein kleines Frühstück nehmen?«

»Vielen Dank! Aber wenn Sie gestatten, will ich den mir zugedachten Imbiß heute Nachmittag einnehmen. Ein Glas Wein schmeckt unsereinem zu jeder Zeit.«

Marie-Anne tat erfreut. Denn wie durfte sie seinen Vorschlag ablehnen. Sie war mißtrauisch geworden. Konnte sie nicht wissen, ob er sich nicht bloß so vertrauensvoll stellte, um sie sicher zu machen? Hatte er nicht geplaudert, daß man ihren Bauernhof beobachtete, ihre Angestellten aushorchte und über ihr Tun und Lassen zwischen ihren vier Pfählen gut Bescheid wußte? Sie wunderte sich nur, daß man nicht schon längst einmal bei Nacht eine plötzliche Haussuchung vorgenommen hatte. Das Ansehen ihres Namens, ihre verwandtschaftlichen Beziehungen zu maßgebenden Personen des Kreises ließ die Militärbehörde gewiß von einem solchen Schritt Abstand nehmen. Wie aber, wenn sie sich anders besonnen hätte?

Marie-Anne war klug genug, um alles zu erwägen. So stellte sie sich erfreut, bat ihn, ja wiederzukommen.

Und Leutnant Davannes sah die Einladung bereits als ein verheißungsvolles Zeichen für seine beabsichtigte Werbung an.

Reinhart war, durch den unerwarteten Ausgang der Haussuchung, der Weg ins Freie zunächst versperrt. Als ihm Marie-Anne das Resultat bekannt gab, tat sie es mit einer gewissen Genugtuung.

Er war betroffen – und erfreut. Die melancholische Stimmung gewann jedoch in ihm die Oberhand.

»Bin ich nicht der wahre Narr des Glücks? Seit zwei Jahren schmachte ich in Gefangenschaft und bittersten Leiden. Ich lechze wie ein Durstender nach der Freiheit; ich vermag die Ketten nicht länger zu ertragen und zerreiße sie.

Endlich erkenne ich wieder, daß mich der Himmel nicht verlassen hat. Ich finde Sie, Gütigste, beste aller Samariterinnen. Alles Heil widerfährt mir.

Und endlich will ich die freiheitliche Himmelsluft atmen, da – –«

»– – kommt plötzlich eine Militärpatrouille, Sie suchen. Das mag Sie nicht erfreuen. Das begreife ich vollkommen. In Ihrem Interesse bin ich jedoch erfreut, daß es so kam. Jetzt endlich – dank der Ergebnislosigkeit der heutigen Untersuchung, ist jeder Verdacht gegen uns beseitigt. Und man wird sich an den Gedanken gewöhnen, daß der verloren gegangene Allemand in irgendeinem Walde verhungert oder über die Grenze gekommen ist.

Indessen erholen und kräftigen Sie sich weiter. Und wir haben die Freude, daß wir Sie schützen und behüten dürfen und einen guten Sohn seiner Mutter und einen tüchtigen Patrioten seinem Vaterlande erhalten helfen. Denn wir – wir hassen ihr schönes Vaterland nicht.

Wir sehen alles als Gottes Fügung an.«

Reinhart blieb. Was konnte er gegen so viel offenbare Liebe tun? Er war überwältigt von der Uneigennützigkeit Marie-Annes, die ihn von neuem an seinen Egoismus erinnerte. Aber war der wirklich verwerflich?

Keineswegs. Seine Selbstsucht ging auf Selbsterhaltung aus, aber nicht um seiner selbst willen, sondern aus Liebe zu seinem Vaterlande, dem seine Kräfte bis zu seinem Tode gehörten.

Ja, Reinhart willigte ein zu bleiben. Heut und morgen. Doch Marie-Anne bestimmte ihn, drei Tage wenigstens noch auszuharren. Auch das sagte er zu. Dann aber – –.

*

Leutnant Davannes' Besuch dehnte sich bis in den späten Abend aus. Er sprach den vorgesetzten Speisen, besonders dem Wein stark zu.

Marie-Anne machte ein freundliches Gesicht zu seinen Erzählungen, die von seinen »Heldentaten« hinter der Front handelten. Sie hatte eine Freundin und deren Mutter gleichfalls eingeladen.

Das war ihm weniger angenehm, denn in deren Gegenwart konnte er doch kaum seine Werbung, mit der es ihm zu eilen schien, anbringen. Aber morgen ist auch noch ein Tag, dachte er. Was heut nicht gelingt, gelingt ein andermal. Inzwischen arbeitet die Zeit für ihn. Wenn er ein paar Tage fortblieb, wird die Sehnsucht Marie-Anne erfassen. Daran zweifelte er nicht. Einen so feschen Kerl, wie ihn, gab's zwanzig Meilen im Umkreis nicht. Sie sollte sich nur ruhig ein paar Tage nach ihm sehnen. Wenn er dann erscheint, wird sie ihm um den Hals fallen, so daß er nur bei der Mutter anzuhalten braucht. Acht Tage später wollte er schon heiraten. Wozu gab es Kriegstrauungen?

Mit dem rosigen Gedanken beschäftigte sich sein Hirnchen unausgesetzt. Er redete viel und trank noch mehr, als er vertragen konnte, so daß sein Bursche Mühe hatte, ihn aufs Pferd zu heben und darauf festzuhalten. Es war aber Mondenschein, der Nebel war fort und der Heimritt ohne Gefahr.

Die beiden Reiter ritten langsam aus dem Torweg.

Marie-Annes Besuch verabschiedete sich und Callot schlüpfte aus dem Hause, um einer Einladung Brassards in die »Distel« zu folgen.

»Halloh, da ist er«, rief der ihm entgegen, sobald er sich in der Tür zeigte. »Kommen Sie, Callot, wir warten schon auf Sie, der Herr Gendarm hier und meine Wenigkeit.«

Callot geriet in Verlegenheit. Mit dem Beamten an einem Tisch, – eine solche Ehre war ihm noch nicht widerfahren.

Er setzte sich an den Tisch und Brassard nahm das Wort, während der Gendarm nur gelegentlich ein Ja oder Nein dazu sagte.

»Nun, Callot, Ihr hattet heut wieder militärischen Besuch? Hat er was gefunden, der Leutnant mit seiner Mannschaft? Wieder eine Mütze? Oder einen Stiefel vielleicht? Hahaha, das sind mir tüchtige Leute.«

Callot stimmte in das Lachen ein.

Brassard fuhr ihn an: »Da ist gar nichts zu lachen für Sie, mein werter Herr, ganz und gar nicht.«

Callot machte ein verblüfftes Gesicht, das dem Gendarmen nur ein ironisches Lächeln abnötigte. Er sah von einem zum andern und es kam ihm vor, als ob die beiden ihn verhöhnen wollten.

»Ich bin ungehalten auf Sie, Monsieur Callot und der Herr Gendarm auch. Und – sacre nom de Dieu – die hohe Militärbehörde auch. Es ist ja wahr. Sie gibt uns die Möglichkeit, ein großes Stück Geld zu verdienen – ich meine die ausgesetzte Fangprämie auf die entlaufenen Boches, und Sie rühren sich nicht und helfen uns nicht die Kerle fangen. He? Was sagen Sie?«

»Wie soll – wie kann ich – ja, sapperlot, was Sie da von mir verlangen – wenn ich nur einen dieser Burschen gesehen hätte.«

Wieder sah er hilflos von einem zum andern.

»Und bei uns ist keiner, weiß Gott. Und im Dorf hat auch niemand auch nur eine Nasenspitze dieser Allemands gesehen. Sie machen mir den Vorwurf, Herr Brassard, als ob ich – oh, Sie tun mir Unrecht, wie gern würd' ich tausend Frank verdienen wollen. Nur, um aus diesem Dorf herauszukommen, das ich hasse – –.«

»O lala, regen Sie sich nicht auf. Ich meine es gut. Wir kennen uns doch schon so lange.«

»Aber der Leutnant hat nicht das mindeste entdeckt. Er war bis auf dem Boden, in jeder Stube, jeder Kammer.

Im Keller war er auch. Und in den Ställen und Scheunen hat die Mannschaft alles wieder umgedreht. Ich versteh nicht, was Sie wollen.«

Damit war eigentlich die Unterhaltung auf einen toten Punkt gekommen. Brassard gab es auf, aus Callot etwas herauszulocken, weil er einsah, daß er wirklich nichts wußte. Seine anfängliche Überzeugung machte starken Zweifeln Platz. Und als der Gendarm, bevor er sich erhob, meinte, er wäre schon seit Monaten überzeugt, daß jede Bemühung der Polizei vergeblich sein würde, änderte Brassard auch sofort seine Meinung.

Bald, nachdem der Polizeibeamte sich empfohlen hatte, ging auch Brassard. Sie ließen Callot grollend zurück, der so lange trank, bis der Weinschank geschlossen wurde.

*

Es war tief in der Nacht, ein scharfer Ostwind wehte. Die Sterne funkelten klar, der Mond goß silberne Helle über alles aus. Es begann zu frieren.

Das Wetter war zu einem Spaziergang angetan. Callot ging die Dorfstraße ein Stück hinunter, kehrte aber wieder um, weil die Kälte zunahm und ihm die schwül-warme Stalltemperatur nicht behagte.

Er war ausnehmend unzufrieden mit sich selbst. Er schimpfte und fluchte. Der Abend hatte so nett begonnen. Wenn auch jeglicher Ehrgeiz in ihm erstickt war, so hatte es ihm doch wohl getan, daß man sich mit ihm an einem Tisch gesetzt hatte.

Daß ihn die beiden dann verhöhnten, ging ihm gegen den Strich. Und dieser Brassard, oh, er hätte ihn ohrfeigen mögen. Die Fangprämie war doch ohne die Anwesenheit eines solchen Boche nicht zu verdienen.

Und seine Arbeitgeber zu beschuldigen. Die alte Gérard, die Redlichkeit selbst. Für die wollte er durchs Feuer gehen. Und Marie-Anne erst. Wenn sie nicht gar so stolz wäre und ihn damals beim Pfarrer verpetzt hätte, wäre sie ein Engel. Denn schön war sie über die Maßen. Das mußte er brummend zugeben. Und so ein reines Geschöpf zu beschuldigen.

Dem Brassard wollt' er's beim nächstenmal eintränken. Er soll sich gefaßt machen, auch das andere Auge noch einzubüßen.

Am liebsten hätte er gerauft, um seiner Wut ein Ventil zu schaffen.

Die zunehmende Kälte trieb ihn nach Hause.

In seiner Stallwohnung war's lebendig. Das huschte, rannte, kreischte. Er machte Licht. Da stob ein Rudel Ratten von seiner Bettstatt. Nicht alle. Mehr als ein Dutzend blieb sitzen oder bewegte sich furchtlos hin und her.

»I, da soll doch«, schrie Callot wütend. Eine Mistgabel ergreifen, auf das Ungeziefer losschlagen war eins. Er zerschlug viele. Es waren junge Dinger, die vielleicht erst einige Tage alt waren.

Er löschte das Licht und verließ den Stall, in dem es ihm heut nicht geheuer vorkam.

Nebenan, auf dem Heuboden, der über dem Kuhstall lag, wollte er wieder einmal nächtigen. Wenn er sich erst ins Heu eingekuschelt hatte, war's ebenso schön warm. Und natürlich bei weitem sauberer. Ratten gab's auch da. Daraus machte er sich aber nichts.

Er legte die Leiter an. Der Hund strich wedelnd um ihn herum. Die Leiter schwankte, als er ein paar Stufen oben war. Er fiel oder sprang herunter. Was war das heut für ein Pechtag. Er hatte viel getrunken, aber er konnte auch was vertragen.

Wieder stellte er die Leiter an das Stallgebäude und stieg bedächtig hinauf. Gut, daß der Mond so hell schien, er hätte sonst nicht die Tür gefunden. Wurden seine Augen trübe?

Unsinn, der Wein war schlecht. Und die Menschen noch schlechter. Diesem Brassard wollte er's schon eintränken. Der Gendarm – ja, der sollte später etwas abkriegen – –.

Die Gedanken wollten ihn nicht verlassen. Die Gedanken an den Einäugigen, den Polizeispion und die Fangprämie, die auf einen entlaufenen deutschen Kriegsgefangenen ausgesetzt war.

Ah, nun lag er eingewühlt im Heu. Doch nicht allzu lange. Dann hielt er's vor Hitze nicht aus. Sein Kopf glühte nach dem reichlichen Weingenuß. Und im Heu wurde er noch heißer. Er riß die kleine Tür auf. Die kühle Nachtluft, die hereindrang, tat ihm wohl.

Quer vor der Tür baute er sich nun sein Lager, da konnte er nicht hinausstürzen und der Nachtwind bestrich kühlend sein heißes Gesicht. Allerdings störte das helle Mondlicht den Schlaf.

Er schloß die müden Augenlider, tat sie wieder auf, drehte sich nach allen Seiten – der Schlaf wollte sich nicht einstellen.

Er warf sich wieder herum, sah in das glitzernde Mondlicht und wie weiß die Frontseite des ganzen Bauernhauses, ihm gerade gegenüber, in silbernes Licht getaucht war.

Und alles sah er so deutlich, so scharf, wie sonst am Tage nicht. Auf den Fensterläden, die nach außen offen standen, konnte er die gemalten Schnörkel erkennen. Und die Muster der vom Mondlicht getroffenen Gardinen sah er zum Greifen klar.

Und vorhin – wie eigentümlich – schien es ihm, als ob seine Augen nicht mehr ordentlich erkennen könnten.

Nein, er sah so scharf, wie irgendeiner sonst. Er war völlig munter geworden. Ihm schien das harmlose Spiel wie einem Knaben Spaß zu machen, Gegenstände im Hofe vollständig zu beschreiben.

Da war die Pumpe. »Ich sehe«, sprach er zu sich, »den Aufsatz mit dem eisernen Knopf – den Schwengel – und – den Holztrog darunter – und – meiner Seel' – Ratten darauf.«

Und als die Mondstrahlen ins Fenster der alten Gérard fielen, konnte er die Blumentöpfe genau unterscheiden, die auf dem Fenstersims standen.

Er hatte sich halb aufgerichtet, um mit seinen neugierigen Augen in die anderen Fenster zu gucken. Ob in Marie-Annes Stube was zu sehen war? Nein, die Fensterladen waren geschlossen.

Callot legte den Kopf ins Heu zurück und sah, was er sonst kaum tat, zum gestirnten Himmel auf. Dann glitt sein Blick zum Haus zurück, um auf dessen Giebel haften zu bleiben.

Er sah und starrte ihn an, als ob er noch niemals ein Ziegeldach, noch nie einen solchen Giebel gesehen hätte. Seine Augen weiteten sich, als wollten sie das mondbeglänzte Bild in sich aufnehmen, um es für alle Zeit festzuhalten.

Er hatte sich wieder halb aufgerichtet und starrte wie ein Mondsüchtiger regungslos hinaus. Es war auch zu sonderbar, was er da oben erblickte. Das kleine Mansardenfenster war geöffnet. Statt der Fensterscheibe füllte ein Kopf die Fensteröffnung aus, ein Menschenkopf.

Callot war noch nie so erschreckt zusammengefahren als in diesem Augenblick. Der Kopf hatte Leben, er bewegte sich.

Und mit aller Deutlichkeit, auf die er soeben seine Augen ausprobiert hatte, erkannte er den starken Schnurrbart und den leichten Bart, der Wangen und Kinn bedeckte.

Der Kopf gehörte einem Manne. Einem Dieb? Einem Einbrecher? Unsinn. Der würde sich keine helle Mondnacht ausgesucht haben. Und was wollte der auf dem Boden bei der alten Gérard holen? Die hielt im Hause kein Geld, das wußte er schon lange. Und aufs Geratewohl kriecht kein Dieb um Mitternacht da hinauf.

Und wie ein elektrischer Schlag fuhr's ihm plötzlich durch den Kopf: Ein Boche ist's, einer der deutschen Gefangenen!

Und mit einem Ruck war er freudig aufgesprungen, aber gleich mit einem Schmerzenslaut wieder zusammengeknickt. Er war mit dem Kopf an die niedrige Decke gefahren und hatte sich eine tüchtige Beule geholt, daß ihm der Schädel brummte.

Als er wieder zum Giebelfenster hinaufsah, war der Männerkopf verschwunden. Das Fenster war wie sonst immer geschlossen, und nur der Mond war noch da, der jetzt über dem Hof stand und lachte. Lachte er über Callot?

Was in Callots Kopf jetzt vorging, läßt sich schwer beschreiben. Wenn Gedanken darinnen waren, gab es jedenfalls zwei Parteien, die gegeneinanderrannten. Diese sagte: Im Mansardenfenster war ein Männerkopf sichtbar; die andere behauptete: Das ist nicht wahr, deine Einbildung täuscht dir was vor.

Was war richtig? Er grübelte, zermarterte sich das Hirn, er rief sich alles nochmals ins Gedächtnis, um endlich zu folgendem Entschluß zu kommen. Sobald Jeanne die Tür zum Hause geöffnet haben würde, wollte er barfuß, damit ihn niemand höre, auf dem Boden Nachschau halten. War niemand da, so war's eine Sinnestäuschung, durch den reichlichen Weingenuß hervorgerufen, dann wollte er still beiseite trollen.

Wie aber, wenn ein Boche da versteckt war?

Ein Strahlen ging über sein Gesicht. Er sah sich im Besitz einer großen Summe, wie er sie noch nie besessen hatte. Und die Summe bedeutete für ihn Freiheit, Glück, Seligkeit. Und durch den Boche würde ihm das alles zuteil werden.

O, er begann das Dachfenster beinahe zärtlich zu betrachten.

An Schlaf war nicht mehr zu denken. Er lag mit offenen Augen da, sah den Mond wandern und die Sterne und dachte an das Gute, das er sich antun wollte, wenn er die 1000 Frank für den ausgelieferten Flüchtling in der Tasche haben würde.

Und fort wollte er, nach Paris oder Algier, gleichviel. In der »Distel« das viele Geld ausgeben? Niemals. Paris schien ihm doch der lockendere Ort zu sein. Dorthin wollte er, und mit dem nächsten Zuge. Vielleicht – wenn ihm das Glück weiter hold blieb – konnte er morgen abend, spätestens übermorgen früh dort sein.

Er begann die Stunden zu zählen. Vor sechs Uhr waren die Mägde auf, um zu melken. Marie-Anne stand meistens früher auf. Aber nicht immer kam sie herunter. Er wollte spionieren, sobald die Mägde im Stall beim Melken waren.

Vom Kirchturm kam der Klang der Glocke; es hatte drei geschlagen. Callot war zusammengefahren. Die Glockenschläge der ehernen Zunge deuchten ihm wie Zurufe, wie Worte von über den Sternen. Nahm der Himmel an dem Treiben der Menschen Anteil? Griff er gar für oder gegen sie ein? Er überlegte, sann und grübelte und kam immer zu dem nämlichen Schluß: Um ihn hatte sich der Himmel nicht gekümmert. Warum nur gerade um ihn nicht?

Hatte die Hölle etwa vielleicht mehr Teilnahme für ihn in seinem armseligen Leben bekundet? Auch nicht.

Der Himmel kümmert sich nur um diejenigen, die sich um ihn kümmern. Und das hatte er sein Lebtag nicht getan.

Bei seinem Nachdenken war die Zeit rascher verronnen und der Morgen erschien, kalt, grau, geheimnisvoll. Er hörte die Türen gehen, die Holzschuhe der Mägde klappern.

Dann ward die Stalltür geöffnet. Das Vieh brüllte, zerrte an den eisernen Ketten. Er hörte die Mägde rufen, lachen, plaudern und die vollen Eimer in einen großen Zuber leeren.

Er stieg die Leiter hinunter und ging rasch in den Hof. An der Türschwelle streifte er die Schuhe von den Füßen.

Im Hausflur war es dunkel und still. Alles schlief noch. Um so besser. Dann brauchte er dem forschenden Blick Marie-Annes nicht zu begegnen.

Als er den Fuß auf die erste Treppenstufe setzte, horchte er wieder. Er glaubte Geräusche zu hören. Er lauschte weiter. Es war alles ruhig. Da – wurde über ihm nicht gesprochen? Es war ihm doch, als ob er Worte, halblaute Worte gehört hätte. Und nun war es wieder vollkommen still.

Unschlüssig stand er noch eine Weile. Da hörte er Jeanne, die den Zuber mit Milch brachte. Mit einigen Sätzen war er die Treppe auf leisen Katzensohlen hinaufgehuscht. Und ebenso flink die Treppe zum Boden. Dort prallte er mit Marie-Anne zusammen, die vor Schreck Teller und Tasse fallen ließ, die in Scherben gingen. Mit lautem Ausruf wich sie vor dem plötzlichen Erscheinen Callots zurück.

In dem nämlichen Augenblick hatte er aber auch gesehen, daß ein Mann in der Kammer verschwand. Sein Mann – sein Boche. Alle seine Zweifel waren verflogen. Er behielt recht. Er hatte ihn heute nacht am offenen Fenster gesehen.

Ein angenehmes Gefühl legte sich bei dieser Feststellung um sein Herz. Er glaubte schon den Klang der Goldstücke zu hören, die ihm die Fangprämie einbrachte.

Endlich würde er aus der unsagbaren Armut auftauchen dürfen, endlich einmal – wenn auch nur für eine kurze Zeit – an den Freuden der Welt, oder was er dafür hielt, teilnehmen dürfen.

Er reckte sich empor und sah Marie-Anne triumphierend ins Gesicht.

Die war von seinem plötzlichen Erscheinen so überrascht, daß sie ihn stumm anstarrte. Sie sah den geliebten Mann verloren, und sich in der Hand des erbärmlichen Rohlings.

Sie kannte Callots feigen heimtückischen Charakter. Sie wußte, daß er verderbter aus dem Zuchthaus in die Freiheit zurückgekehrt war. Wenn er schweigen sollte, mußte sie sein Schweigen teuer erkaufen. Schmach und Pein waren durch seine Entdeckung in ihre Nähe gerückt. Ein Martyrium, das in düstersten Farben an ihrem geistigen Auge rasch vorüberzog.

Als sie sich wieder gefaßt und die Scherben eingesammelt hatte, trat sie dicht vor den Verräter hin – denn, daß er sie verraten würde, sagte ihr sein boshaftes Grinsen und seine freche Haltung. Ihr Plan war gefaßt. Es kam vor allem darauf an, daß Callot so lange schwieg, bis Reinhart fort war und einen so großen Vorsprung hatte, daß ihn seine Verfolger nicht mehr einholen konnten.

»Was gaffen Sie? Was haben Sie hier zu suchen? Scheren Sie sich dahin, wohin Sie gehören, in den Stall. Und lassen Sie sich hier oben nicht noch einmal sehen, sonst jage ich Sie fort.«

Callot hatte einen so brüsken Angriff nicht erwartet. Er zuckte zusammen, sah sie aus zusammengekniffenen Augen wütend an und stieg dann langsam die Treppe hinunter.

Marie-Anne folgte dicht hinter ihm. Als sie im Korridor des ersten Stocks waren, begann Marie-Anne den Streit fortzusetzen.

Sie zählte ihm alle seine Sünden auf, nannte ihn einen Faulenzer und Säufer, der dem Herrgott die Tage stahl und Geld und Essen für sein Nichtstun bekäme.

Daß er ein Unmensch sei, der hilflose Christen totprügle, wüßte durch den Pfarrer jeder in der Gegend.

Wie könne in der Brust eines Mörders auch ein Funken von menschlichem Mitgefühl gesucht werden – –.

In dieser Tonart überschüttete sie ihn wahllos mit wuchtigen Worten, die hageldicht auf ihn niederprasselten wie harte Stockschläge. Sie wollte ihn einschüchtern, ihn ducken und klein haben, bevor sie daran ging, sein Stillschweigen mit Geld zu erkaufen.

Callot schwieg. Er war schlau genug, um zu wissen, daß das alles nur leere Drohungen waren, allenfalls Beleidigungen, die ihm nichts taten. Der lange Gesuchte war da, das war ihm die Hauptsache. Und daß er in der Falle blieb, daß er ihm nicht entwischte und ihn gar um die ersehnte Goldprämie brachte, war seine einzige Sorge.

O, er wollte diesen Boche Tag und Nacht bewachen, falls es nötig sein sollte, – falls Marie-Anne dem kostbaren Vogel nicht davonhelfen würde.

Marie-Anne war jetzt seine Feindin. Sie allein hatte die Macht, ihn, Callot, aus dem Gehöft und außer dem Hause mit Arbeiten zu beschäftigen. Gewiß war das so.

Sie hatte auch die Macht, dem Kriegsgefangenen fortzuhelfen, wie sie auch die Macht gehabt hatte, ihn im Hause zu verstecken. Ein Sapperments-Mädel. Das Forsche, Unternehmende an ihr nötigte ihm Respekt ab.

Sapperlot ja, sie gefiel ihm immer besser.

Ihr sollten aus der Chose beileibe keine Ungelegenheiten erwachsen. Jamais. Schließlich aß er schon so viele Jahre auf Gérards Hofe gewissermaßen das Gnadenbrot.

Aber entwischen durfte der Boche nicht. Dafür war er nur ein dummer Deutscher, dem recht geschähe, wenn sie ihn füsilierten. Er aber wollte die ausgesetzte Belohnung verdienen. Das Geld mußte sein werden.

Und wenn ihn Marie-Anne daran hindern wollte, ei, zum Kuckuck, dann war's ihm egal. Dann würde er sie, gewiß und wahrhaftig, unter seine Füße treten. Sie und ihn, den Boche.

Er schwieg immer noch. Dann schien er einen plötzlichen Entschluß gefaßt zu haben. Er lief davon, über den Hof und in den Stall.

Marie-Anne lauschte gespannt am Fenster. Was würde er wohl jetzt tun? Sie erwartete nichts anderes, als daß er zum Hause hinaus und davonstürmen würde, um Anzeige zu erstatten.

Was dann folgen würde, sah sie schon voraus, Haus und Hof würden von Soldaten umstellt, Reinhart verhaftet und davongeführt werden und wahrscheinlich sie und ihre Mutter dazu. Barmherziger Gott, ihre alte Mutter.

Nein, das durfte nicht geschehen.

In der nächsten Minute war sie im Hofe. Sie rief Callot einmal, zweimal. Nach einer Weile erst kam er in seinem Sonntagsanzug zum Vorschein.

»Was ist? Was wünschen Sie, mein Fräulein?« fragte er, indem er ihr dreist ins Gesicht blickte.

Marie-Anne tat, als merkte sie seine Frechheit nicht. »Was soll das, Callot? Zur Arbeit zieht man doch nicht den besseren Anzug an? Sind Sie am frühen Morgen schon betrunken?«

»Fräulein Gérard, ich bin ganz nüchtern. Sie werden das gleich merken. Also denn: Ich arbeite nicht mehr.«

»Und warum nicht? Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen, merken Sie sich das.«

»O, lala, was für dummes Zeug. Arbeitet denn der Boche in der Mansarde? He? Und doch ißt er. Ja, ihm wird das Essen noch in die Stube getragen. In eine saubere Stube – einem Boche – einem Feind Frankreichs – einem Menschen, der weniger ist als ein Hund, schlimmer als ein Schwein. Sapristi, ja, ich weiß Bescheid. In einer sauberen Stube, ohne Kakerlaken, ohne Ratten, fidonc. Und ein Franzose wie ich, muß im Stall kampieren. Warten Sie, warten Sie, Madam, ob das so weiter geht.«

Er lief in den Stall zurück, um seine Toilette zu vervollständigen, kam auch bald wieder, nachdem er sich eine Krawatte, in den Farben der Trikolore umgebunden hatte.

Marie-Anne wußte nicht, was sie tun sollte. Jagte sie ihn fort, war in einer Viertelstunde das ganze Dorf alarmiert und vor der Tür, um sich an der Gefangennahme Reinharts zu ergötzen. Was dann? Ihr und ihrer Mutter Schicksal war dann besiegelt.

Wenn sie Callot gute Worte gab und Geld dazu, gewann sie Zeit. In der Voraussetzung natürlich, daß der Halunke den Mund hielt. Verloren war das Spiel so oder so.

Mochte werden was wollte, wenn nur Reinhart nichts geschah, wenn er nur heil blieb und die Freiheit gewann.

Für sein Leben zitterte sie, für ihn wollte sie alles tun, alles hingeben – und wenn er tausendmal ein Deutscher war.

Als Callot an ihr vorbei wollte, rief sie ihn an: »Heda, wohin, Callot? Kommen Sie einmal mit mir.«

Als er ihr in die Stube zu ebener Erde gefolgt war und die Tür geschlossen hatte, änderte sie die scharfe Tonart in eine freundlichere: »Nun wollen wir mal vernünftig miteinander reden. Sehen Sie, als Sie vor zwanzig oder fünfundzwanzig Jahren jenen armen Kerl umgebracht hatten und dann geflohen wären – und hilfesuchend vor unserer Tür gestanden hätten, hätten Sie dann gegen mich auch so gewettert wie vorhin?«

Callot schwieg.

»Wer Hilfe sucht, hat sie nötig. Da fragt man nicht erst, wer bist du, wo kommst du her. Diese Nächstenliebe und Nächstenhilfe hat uns unser Heiland gelehrt, hat unser Herr Pfarrer uns hundertmal eingeschärft. Oder nicht?«

Callot nickte stumm.

»Auch dieser Deutsche hat eine Mutter zu Hause, die um ihn trauern würde. Und die französische Mutter empfindet den Schmerz genau so wie die deutsche.

Sie haben den Gefangenen gesehen, gut. Er soll fort. Sie sollen ihn aber dem Gendarmen nicht überliefern. Am allerwenigsten Sie, denn Sie wissen, wie bitter das Gefängnis ist.

Lassen Sie ihn laufen. Wird er unterwegs gefangen, nun, dann haben Sie die Sünde nicht auf sich geladen.

Und Ihr Schaden soll's nicht sein. Wie mir der Deutsche sagte, ist seine Mutter wohlhabend. Ich werde ihm Geld borgen, das Sie erhalten, wenn er fort ist und wenn Sie – schweigen.

Schweigen zu jedermann. Seine Mutter würde mir das Geld zurückzahlen. Hier haben Sie inzwischen 20 Frank. Nun gehen Sie aber an die Arbeit und machen Sie keine Dummheiten.«

Callot nahm das Geld, wendete es in der Hand, dann sprach er bedächtig: »Tausend Frank sind ausgesetzt und das hier – –.«

»Sobald Sie schweigen, zahl' ich Ihnen 1000 Frank in seinem Namen.«

Callot stand unentschlossen. »Wenn der Boche fort ist, wird mich jeder auslachen, daß ich ihn entwischen ließ. Und Sie werden's ebenso halten. Ja, ja, jetzt sagen Sie so und dann werden Sie sagen: ›Der Callot ist ein Trunkenbold, ist verrückt.‹ Nein. Jetzt will ich das Geld haben, gleich jetzt. Und mir einen guten Tag machen. Das will ich. Das müssen Sie einsehen, daß das gerecht ist. Sonst – –.«

Bei der Drohung gab's nicht viel zu überlegen.

»Warten Sie, ich will das Geld holen.«

Callot blieb längere Zeit allein. Er wußte, daß Marie-Anne die Alte um Geld angehen mußte. Er wußte auch, wie zäh sie war und wie schwer es halten würde, ihr das Geld aus der Tasche zu holen, bares Geld, von dem sich der Bauer zu allen Zeiten schwer zu trennen pflegt.

Er trat auf den Hof hinaus, weil ihm das Warten zu lange währte. Da sahen ihn die Mägde, deren Neugierde natürlich groß war, als sie ihn am Werktag im Sonntagsstaat sahen.

Er war schlau genug zu schweigen. So lange er schwieg, so lange er sein Wissen nicht ausposaunte, wollte er aus den Gérards Geld herauspressen, so viel sie hatten.

Und das Arbeiten wollte er den andern überlassen. Dafür jedoch gut leben und viel, viel Wein trinken. Jeden Tag. Und jeden Tag wollte er seinen tüchtigen Rausch haben.

Und wenn's ihm paßte, wollte er nach Paris fahren. Daran sollte ihn niemand hindern, wo er jetzt mit Marie-Anne, der schönen Marie-Anne ein Geheimnis hatte. O, wenn er plauderte – –. Nein, sein gutes Leben wollte er haben, Tag für Tag. Und das konnte er nur, wenn er schwieg.

Und so schwieg er zu den neugierigen Mägden und sprach nur von einer kleinen Erbschaft, die er machen würde, ein paar hundert Frank.

Um weiteren Fragen zu entgehen, ging er in die Wohnstube zurück, setzte sich in eine Sofaecke und begann von künftigen Dingen mit sich selbst zu reden.

Er fühlte sich. Wenn er Marie-Anne anzeigte – er wird's nicht tun, wenigstens ist jetzt kein Grund dazu vorhanden – wenn er's aber täte, wär's mit ihr vorbei. Und mit dem schönen Bauernhof auch. Hähähä. Er lachte boshaft.

Aus dem verachteten Callot war plötzlich ein wichtiger Mann geworden. Von seinem Wort, seinem Stillschweigen hing das Wohl und Wehe des Hofes und seiner Eigentümer ab.

Was waren die tausend Frank gegen den Wert des Gehöfts, gegen die Seelenruhe, das Glück Marie-Annes?

Hoho, nein, so dumm war Callot nicht. Das Schicksal hatte ihm die Zügel in die Hand gedrückt. War's der Himmel? Tat's der Teufel? Er fand sich da nicht zurecht.

Aber die Zügel wollte er festhalten. Die sollte ihm keiner entwinden. Und da er sich vornahm, daß auf dem Hofe fortan alles nach seinem Kommando gehen sollte, schlug ein naheliegender Gedanke wie ein Blitz bei ihm ein. Er zündete, setzte Herz und Hirn in helle Flammen und richtete in seinem Denken eine heillose Verwirrung an. Die wurde größer, als Marie-Anne vor ihm stand, deren Kommen er ganz überhört hatte.

Sie drückte ihm noch hundert Frank in die Hand. Den Rest versprach sie ihm einen Tag nach Reinharts Abreise zu geben.

Callot hörte kaum hin. Er hatte nur Augen für Marie-Anne, die er ganz anders als sonst betrachtete.

»Gut, sehr gut«, sagte er, indem er das Geld in die Tasche schob. Dann verzog er das Gesicht zu einem teuflischen Grinsen, vor dem Marie-Anne erschrak. Diese grausame Fratze war der Spiegel seiner schwarzen Seele. Wie vor einer giftigen Viper trat sie ein paar Schritt zurück.

Er sah wohl, was in ihr vorging. Sein lauernder Blick erkannte die Furcht, die er einflößte, aber auch den entsetzlichen Ekel, den sie vor seiner Person empfand.

»Ei ja,« lachte er, »verstehe – hm – verstehe. Nun kommt meine Zeit. Ich kann warten, obgleich das einer Dummheit meinerseits gleichkommt. Aber Callot ist nicht dumm. Wenn ihn alle Welt auch für dumm hält. Er wird schon reden. Zur rechten Zeit reden und handeln. Und vielleicht, meine Schöne, ist die Zeit ganz nahe, näher als Sie vermuten.«

Marie-Anne stand stumm und verängstigt, keines Wortes fähig. Sie beobachtete jede seiner Bewegungen und war seines tätlichen Angriffs gewärtig.

Doch den wagte er nicht, dazu war er allein zu feig, da er ihre nicht zu unterschätzenden Körperkräfte kannte. Erinnerte er sich doch daran, daß er einmal vor dem Angriff einer toll gewordenen großen Dogge davon gelaufen war und Marie-Anne mit raschem Griff die rasende Bestie furchtlos gepackt hatte? Ihre Hände hatten die Kehle des Tieres eisenfest umschlossen und nicht losgelassen, bis es hin war.

Daran mochte er sich erinnert haben. Denn unschlüssig ging er einige Schritte rückwärts, blieb dann stehen, um in gleichgültigem Tone, als ob kein Streit zwischen ihr und ihm bestände, zu äußern: »Hm, ja – kann ja alles friedlich erledigt werden, nicht wahr? Zur rechten Zeit. Sie verstehen, Fräulein Gérard?«

Er ging. Betroffen blickte sie ihm nach. Was hatte er vor? Ging er sie verraten?


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