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Reinhart von Frundsberg tappte sich im Finstern zurecht. Zwei Decken dienten ihm als Unterlage, in die andern beiden wickelte er sich ein, schob einen alten Sattel unter seinen müden, wunden Kopf und trank in langen Zügen den Wein, der ihn wunderbar wärmte und erfrischte. Dann aß er, und dann streckte er sich aus, um endlich, nach langer Zeit einmal ordentlich auszuschlafen.

Er lag und sann und wartete. Der ersehnte Schlaf kam nicht. Der Regen rann unaufhörlich. Wie froh war er, wie dankbar seinem Geschick, daß er diesem entsetzlichen Regen entronnen war.

Und seinen gräßlichen Peinigern, die ihn seelisch und körperlich zugrunde richten wollten. Er dachte an die vielfach ihm und seinen Kameraden von den französischen Folterknechten angetane Schmach, die Beleidigungen, Drangsalierungen, schimpflichen Mißhandlungen, entehrenden Arbeiten, Peinigungen, Entrechtung, den grausamen Hunger – ach, es war die Hölle. Oder schlimmer als sie. Und diese Franzosen blutgierige Teufel.

Nein, nein, nur nicht denken, sonst wär's mit dem Schlaf vorbei.

In der wohltuenden Stille machte nur der Regen Lärm. Sonst war kein Laut zu hören. Und die Ruhe, die ihn umfing, begann auch seine erregten Nerven nach und nach zu beruhigen. Aber schlafen konnte er nicht. War es Übermüdung oder sein schmerzender Kopf, der ihn daran hinderte? Wie hatte ihn der Mob behandelt, ihm fast die Schädeldecke eingeschlagen. Löcher gab's, arg schmerzende Wunden.

Nun hatte sich ein leichter Schorf darüber gebildet. Doch der Kopf war heiß, und wo er ihn leise berührte, schmerzte er sehr. In seiner großen Erregung hatte er die Schmerzen nicht gespürt. Und auf der Flucht auch nicht. Da sorgten die auf ihn niedergehenden Regenmassen für Kühlung.

Er richtete sich auf, weil das harte Leder, auf dem der Kopf ruhte, unerträglich drückte. Da faßte ihn ein Schwindel, alles begann sich um ihn zu drehen, er fiel hintenüber, in seine frühere Lage. Nach einer Weile war der Anfall vorüber. Er war sich aber klar, daß er Fieber hatte. Das war ein doppeltes Unglück. Wie sollte er dann von hier fort- und weiterkommen?

Marie-Anne, die er für die Bäuerin hielt, würde ihn keine Stunde länger verstecken, als bis morgen. Morgen mußte er fort, wieder hinaus. Und sie werden ihn verfolgen, o, das wußte er bestimmt. Sie werden ihn hetzen und nicht nachlassen, bis sie ihn gefaßt haben und ihn in Ketten legen können, um ihn dann langsam zu Tode zu martern. Er kannte jetzt die moralisch verkommene Rasse der Franzosen, seit er das Unglück hatte, 1914 an der Marne gefangen zu werden. Von Rachsucht und Grausamkeit ist die ganze Nation erfüllt. Und von niedrigster Eitelkeit.

Ja, ihr großer Voltaire hatte recht, als er in einem Brief an Friedrich den Großen seine Landsleute als »halb Tiger, halb Affe« treffend charakterisierte.

Er unterbrach seinen Gedankengang. War wirklich die ganze Nation zu verachten? Sollte es nicht wenigstens eine Handvoll anständiger, sittlich hochstehender Menschen in Frankreich geben?

Und war nicht die Bäuerin, unter deren Dach er jetzt, vor Sturm, Regen und Hunger und vor der fürchterlichen Meute geschützt ruhte, war sie nicht auch eine Französin? Gewiß. Und sollten in dem großen Frankreich nicht noch mehr gute Menschen vorhanden sein? Weshalb nicht? Jedenfalls gab es Ausnahmen, die aber die Regel, d. i. halb Tiger, halb Affe, bestätigten.

All das Entsetzliche, das er seit zwei Jahren stündlich miterlebt, beobachtet und durch Kameraden erfahren hatte, trat anklagend wieder vor ihn hin.

Franzosen waren es, die Mordgeschosse gemeinster Art angefertigt und in Massen gebraucht hatten. Es waren Patronen, die entsetzliche Wunden verursachten, das Fleisch zerfetzten, die Knochen zersplitterten.

Franzosen waren es, die die Nettoyeurs geschaffen hatten. Zu dem furchtbaren Schlächterwerk konnte sich nur in dieser verkommensten aller Nationen der Abschaum der Menschheit vorfinden, wie sonst bei keinem Volk der Erde. Wehrlose, hilflose Verwundete, die das Erbarmen und die Hilfe eines jeden Menschen heischen, wurden zu ungezählten Tausenden abgeschlachtet. Ohne Erbarmen? Halb Tiger? Nein, ganz Tiger, – Voltaire hat seine Landsleute zu großmütig beurteilt. Von Entsetzen wird man gepackt, wenn man an diese Niederträchtigen denkt. Und Schauer erfaßt einen, wenn man sich erinnert, daß diese Greueltaten auf Befehl des hohen Militärkommandos verübt wurden.

Und Reinhart meditierte weiter.

Aus der Geschichte weiß man, daß die Franzosen in jedem Lande, in das sie als Eroberer kamen, durch ihren Hochmut, ihre Raubsucht und Grausamkeit sich verhaßt machten. In deutschen Landen stehen aus vergangenen Jahrhunderten noch heut die Ruinen zur mahnenden Erinnerung an ihre Mordbrennereien. Wie grauenvoll haben sie in Marokko gehaust, wie fürchterlich in China, wohin sie Napoleon III. kommandiert hatte.

Aber kaum irgendwo entehrten sie ihr Land in schamloserer Weise, als sie es in Mexiko taten. Ihr Befehlshaber Bazaine ermutigte sie damals durch sein eigenes Beispiel.

Ihre Raubgier war unersättlich. Ihr Benehmen in jenem unglückseligen Lande überstieg an Abscheulichkeit alles, was man bis dahin in alten Chroniken gelesen hatte. Unschuldige Menschen metzelten sie in Massen nieder. Das Niederbrennen von Häusern und Plünderungen waren noch nicht die abscheulichsten ihrer Verbrechen. Was sie an Grausamkeit und Schamlosigkeit gegen arme Frauen begingen, sträubt man sich, auch nur in Gedanken zu wiederholen.

»Eine Handvoll guter Menschen mag's in dem schmutzstarrenden Lande vielleicht geben«, flüsterte er. »Die Bäuerin hier ist schon solch eine seltene Ausnahme. Die Masse aber, die große Masse des französischen Volkes, einschließlich seiner Führer: halb Tiger – halb Affe – Tiger – ja Tiger.«

*

Ein schwacher Dämmerschein am östlichen Himmel kündete den neuen Tag, als Reinhart endlich den ersehnten Schlaf fand.

Auf dem Hofe wurden Stimmen laut. Er schlief, er hörte nichts. Im Traum schienen die furchtbaren Bilder, die ihn im Wachen schmerzerfüllt beschäftigt hatten, weiter zu leben. Seine Lippen formten Worte des Hasses.

In der, von einem matten Schimmer schwach erhellten Stube schienen die Eumeniden, die entsetzlichen Rachegöttinnen, zu lauschen.

Wehe denen, die den untilgbaren Haß säeten, sie werden in düsterer Zukunft furchtbare Vergeltung ernten –.

Ein grauer Tag zog herauf, der Regen strömte weiter.

*

Callot, der Trinker, war endlich am hellen Tag vom Hochzeitsschmaus auf den Hof zurückgekehrt. Er war mit den andern geblieben, bis der letzte Tropfen Wein getrunken war. Als sie dann keine Miene machten, den gastfreien Bauernhof zu verlassen und in den strömenden Regen durchaus nicht hinaus wollten, machten die Wirte kurzen Prozeß. Sie warfen die betrunkene Bande auf die Straße. Hier purzelten sie aufeinander. Das war Grund genug, daß sie übereinander herfielen, sich schlugen und bissen, sich im Straßenkot wälzten und wie das Vieh benahmen.

Etliche blieben liegen, schliefen, trotz Schlamm und Regen; die andern torkelten gegen Bäume und Meilensteine oder in den Straßengraben, der reichlich Wasser führte. Wasser war jedoch ihr Feind, Wasser mochten sie weder von innen noch von außen. Und so strebten sie, wieder an Land zu kommen. Und schließlich nach Hause.

Callot sah aus wie ein Schwein, das sich im Kot gewälzt hatte. Marie-Anne wich ihm aus. Sie war froh, als sie ihn im Stall verschwinden sah. Es hatte keinen Zweck, ihm in diesem Zustande Vorhaltungen zu machen.

Als sie Jeanne hinüberschickte, kam sie mit der Meldung zurück, er liege in seiner »Stube« und schlafe.

»Gut, Jeanne, da kann er wenigstens kein Unheil anrichten. Mit dem Ausdreschen des Korns wird es doch heute nichts.

Rufen Sie mich, sobald der Lump wieder vernünftig ist. Ich bin oben bei meiner Mutter.«

Im stillen beschloß sie aber, ihm zu kündigen. Das war jetzt der willkommene Anlaß dazu. Das wollte sie ihm jedoch erst sagen, wenn er vom Pfarrer Grenelle zurück sein würde. Der wird ihm, seiner Roheit wegen, schon den Kopf waschen. Um so begründeter erschien dann seine Entlassung. Auch vor den Dorfbewohnern.

Ihr war dieser Callot, seitdem sie wieder zu Hause war, geradezu unheimlich. Von Tag zu Tag vertiefte sich ihre große Abneigung gegen ihn, ohne ersichtlichen Grund. Denn, daß er ein Trinker war, wußte sie ja, wie jeder sonst im Ort.

Sobald sie ihn sah, oder sowie er ihr auf ein Paar Schritte näher kam, beschlich ihr Herz ein unheimliches Gefühl, das sie warnte, vor dem Menschen auf der Hut zu sein.

Eigentlich kam Marie-Anne das Intermezzo mit Callot sehr gelegen.

Eine neue Sorge machte ihr jetzt der Allemand. Bei Tage konnte sie ihn nicht aus dem Hause lassen. Seinetwegen nicht, denn um seine Sprach- und Ortskenntnisse schien es schlecht zu stehen. Ein neugieriger Gendarm brauchte ihn nur um seinen Ausweis zu fragen, und er wäre geliefert. Denn ein so junger Mann in Zivil, der noch dazu so stattlich war, mußte auffallen, da die ganze Jugend an der Front war.

Aber auch um ihrer selbst willen durfte der heimliche Gast erst bei völliger Dunkelheit aus dem Hause gehen.

Das besprach sie mit ihrer Mutter, die das Bett hütete und die über ihre Gutherzigkeit entsetzt war.

»Du hast das nicht überlegt, Marie-Anne, gar nicht überlegt. Faßt man ihn im Hause – schrecklich – das Gerede dann überall – wird man ihn füsilieren. Und uns wird man den Prozeß machen. Das wird man. Was fang' ich dann an?

Packt man ihn unterwegs – sie werden ihn fangen – ach, ja – wird der Bursch reinen Mund halten, wo er gesteckt, von wem er die Kleidung hat? Nein, er wird schwätzen. Er wird uns verraten.«

»Nein, Mutter, das wird er nicht. Der hat treuherzige Augen. Dem half ich, weil ich ihm vertraute. Das würdest du auch, wenn du ihn nur siehst. Das ist kein Callot. Er ist unglücklich, unglücklich und – – –.«

Im Hof und Hausflur wurden Stimmen laut. Der Hund riß an der Kette und bellte wütend.

Jeanne polterte die Treppe herauf. Marie-Anne eilte hinaus.

»Was gibt's?« rief sie der Magd entgegen.

»Soldaten, Fräulein, es sind Soldaten da.«

»Geben Sie allen Wein, führen Sie sie ins Zimmer, ich komme schon.«

Marie-Anne flog die Treppe zum Boden hinauf. Sie zitterte am ganzen Körper. Gott im Himmel, kaum konnte sie die Tür aufschließen, so aufgeregt war sie.

»Schnell, schnell, wenn Ihnen Ihr Leben, Ihre Freiheit lieb ist,« keuchte sie, »kommen Sie.«

Reinhart hob den Kopf, aus tiefem Schlummer aufgeschreckt. Er fiel bleischwer wieder zurück.

»Ich kann nicht – alles dreht sich mit mir – habe wohl Fieber«, stöhnte er.

»Nachher können Sie krank sein. Jetzt kommen Sie.«

Sie beugte sich zu ihm nieder, riß ihn empor und trug den Willenlosen fast mit kräftigen Armen, als wäre es keine große Last. Sie horchte gespannt hinunter.

Dann schleppte sie ihn, so schnell sie konnte, die steilen Stufen hinunter und ins Zimmer ihrer Mutter.

»Sie sind da, Mutter – sie suchen ihn – es geht auch um uns. Wir müssen ihn verstecken.«

Sie war um das Bett herumgegangen, wo ein schmaler Gang Bett und Wand schied. Dort hatte sie den Allemand hingeschleift, auf den Fußboden gelegt und rasch mit einigen Decken und Kleidungsstücken bedeckt.

»So. Und nun nicht gerührt, sonst geht's uns allen schlecht.«

Sie verließ das Zimmer, rannte nochmals hinauf, um den Korb mit der leeren Flasche an sich zu nehmen, die Decken mit einem Fußtritt in die Ecke zu schleudern und die Kammer zu verschließen.

Dann stieg sie langsam die Treppe hinunter, um im Hausflur gerade mit einem Korporal zusammen zu treffen.

»Mein Fräulein, der Herr Leutnant wünscht Sie zu sprechen.«

An den Türen, die in den Hof und auf die Straße führten, also an beiden Enden des Hausflurs, standen Soldaten, Gewehr bei Fuß. Die Tür zur Wohnstube stand weit offen.

Am Fenster stand der Leutnant, an dem nämlichen Fenster, durch das Reinhart in der Nacht seine Anwesenheit bemerkbar gemacht hatte. Ein Blick in den Hof zeigte ihr einige Infanteristen.

Es waren ältere Leute, die uninteressiert und lässig unter dem vorspringenden Scheunendach standen, um sich ein wenig vor dem Regen zu schützen.

»Leutnant Davannes«, stellte er sich vor. »Ich habe den Befehl, das ganze Dorf nach Deserteuren und deutschen Gefangenen abzusuchen. Die Besitzerin, Ihre Frau Mutter, ist krank, höre ich. Sie sind die Vertreterin?«

»So ist's. Bitte, das ganze Gehöft steht zu Ihrer Verfügung« sagte Marie-Anne, sich gewaltsam zur Ruhe zwingend.

»Es berührt angenehm, solcher Bereitwilligkeit zu begegnen. Habe sie nicht immer gefunden«, sagte der Leutnant. Dabei strich er seinen schwarzen Schnurrbart nach rechts und links. Und Marie-Anne merkte, daß ihre Schönheit Eindruck auf den Krieger gemacht hatte. Damit schien viel gewonnen.

Sie hatte ihre Ruhe vollkommen wiedergefunden. Sie betrachtete den Leutnant mit so überlegenem, kühlem Blick, als ginge sie die Haussuchung gar nichts an. Sein Gesicht war nicht unschön, es war regelmäßig. Nur die hervortretenden schwarzen Augen rollten in nervöser Unruhe unstet umher. Wer mit ihm sprach, mußte ebenfalls von Unruhe erfaßt werden.

Marie-Annes feiner weiblicher Instinkt ließ sie sofort Widerwillen gegen ihr Gegenüber empfinden. Sie ließ sich aber nichts merken, wollte aber vor ihm auf der Hut sein.

»Wenn es gefällig ist, Herr Leutnant –.« Damit lud sie ihn ein, ihr zu folgen.

Im Hausflur gab er dem Korporal den Befehl, den Hof und die Ställe zu durchsuchen.

Sie öffnete die Türen im Erdgeschoß und ließ ihn in die Stuben und Vorratskammern eintreten. Im ersten Stock wiederholte sich der Vorgang.

Nur als sie die Tür der Krankenstube öffnete, sprach sie halblaut zu ihm:

»Bitte, treten Sie leise auf, meine Mutter scheint ein wenig zu schlafen.«

»O, lassen Sie nur, mein Fräulein, wir wollen die Kranke nicht stören, ich danke. Es tut mir leid, wenn ich Unannehmlichkeiten verursache. Aber die Pflicht, nicht wahr? – –.«

Aufatmend schloß Marie-Anne die Tür. Dann rief sie eine der Mägde.

»Sie wird Ihnen die Bodenkammern aufschließen, mein Herr, wenn Sie sich diese Hühnerstiege hinaufbemühen wollen.«

Doch Leutnant Davannes dankte.

»Es ist ja klar, daß keiner der Bauern«, sagte er, indem er sich eine Zigarette drehte, »daran denkt, solch einem Boche einen Unterschlupf zu gewähren. Käm' ihnen auch teuer zu stehen. Wo mag so ein Kerl nur hingekommen sein? Bei dem Regen konnt' er doch nicht weit kommen. Und vierzig Kilometer läuft doch so'n ausgehungerter Allemand nicht in einer Nacht. Die Polizei und Feldgendarmen sind telephonisch benachrichtigt und schon seit gestern hinter den Ausreißern her.«

»Es sind mehrere entlaufen?« fragte Marie-Anne.

»Ja, mein Fräulein, ein paar soll man schon wieder haben. Besonders liegt uns aber an einem, der nicht so harmlos sein soll, wie die andern. Er hat einen Major – älteren Herrn – bei seiner Flucht niedergeschlagen – getötet. Was sagen Sie? Solch ein verfl – – Boche. O, der müßte hundertmal gehängt werden.«

Sie waren wieder in den Hausflur gelangt.

»Gern würde ich, mein schönes Fräulein, mit Ihrer gütigen Erlaubnis noch warten, bis der abscheuliche Regen aufgehört hat. Aber der Dienst läßt uns armen Vaterlandsverteidigern keine Ruhe.

Ach, der schreckliche Krieg«, schloß er seufzend.

Marie-Anne mußte unwillkürlich lächeln.

Der Leutnant wurde verlegen. Er wußte, weshalb sie lachte. Sollte er wütend werden? Oder grob? Wie töricht. Marie-Anne hatte Eindruck auf ihn gemacht. Sie gefiel ihm, ihre Schönheit reizte ihn. Er wußte nur nicht, ob ihre Herbheit ihn würde abblitzen lassen.

Über seine Gefühle für sie war er sich noch nicht recht klar. Würde die Bekanntschaft mit einer Heirat endigen oder blieb es ein amüsantes Abenteuer?

Vielleicht hätte er gleich eine Antwort darauf gewußt, wenn Marie-Anne seiner geistigen Beschränktheit durch Offenbarung ihrer Vermögensverhältnisse nachgeholfen hätte. Denn mit seinem Leutnantsgehalt war er nicht imstande eine Familie zu gründen. Zwar hatte er einen reichen Onkel in Lyon. Auf den war aber nicht zu bauen. Der hatte einige stümperhafte Pumpversuche seinerseits stets energisch abgelehnt.

Sie hatte gelacht, ihn ausgelacht. Das war kränkend, ja beleidigend. Daß man ihn in der Etappe, im Hintergrund der Front in Aktion treten ließ, statt auf der blutigen Wahlstatt, – er wußte nicht, warum das so war. Er hatte sich auch keine Sorge darüber gemacht. Als Soldat hatte er zu gehorchen, nicht zu fragen.

Sich von dem jungen Bauernmädel verlachen zu lassen, weil er noch mit ganzen Gliedern vor ihr stand und über die lange Dauer des Krieges geseufzt hatte? Er war innerlich empört, wollte seinem Ärger aber nicht Luft machen, um ihr nicht zu zeigen, wie sehr seine Eitelkeit verletzt war.

Er grüßte kurz und wandte sich zum Gehen.

Da trat eilig der Korporal in die Stube, neugierig stolperten drei Mann hinterher.

»Was gibt's, Korporal? Was haben Sie da?«

Der Korporal hielt ein graues Etwas in der Hand, das er jetzt hoch und zum Licht des Fensters hielt.

»Diese Mütze – eine Bochemütze – fanden wir eben da draußen, unter diesem Fenster. Sie lag in der Pfütze. So naß, wie wir sie fanden, bringe ich sie.«

Der Leutnant sah höchlich erstaunt auf die triefende Mütze, dann auf Marie-Anne, als ob er von ihr eine Auskunft erwartete.

Diese war näher getreten, sie sah beklommen auf den Fund und sah länger unverwandt hin, als es der gefundene Gegenstand und die Situation erforderte.

Sie war völlig in Gedanken verloren, sie hörte gar nicht, daß der Leutnant eine Frage an sie gerichtet hatte. Sie dachte an den armen Verfolgten. Sie sah ihn bereits verhaftet – und sich dazu. Unglück über Unglück.

Als sie jetzt aufsah, hatten die fünf Männer ihre starren Blicke auf sie gerichtet. Hatten sie sie in Verdacht?

Sie errötete und lachte verlegen, als der Leutnant sie wieder fragte:

»Können Sie sagen, wie die Mütze eines kriegsgefangenen Boches in Ihren Hof und unter das Fenster kommt?«

Den früheren liebenswürdigen Ton hatte der Offizier mit einem schärferen vertauscht.

Nun gut, auf den groben Klotz gehört ein grober Keil. Sie erwiderte pikiert: »Was weiß ich? Handle ich mit alten Mützen? Das müssen Sie den entlaufenen Deutschen fragen, den zu fangen Sie ja ausgeschickt wurden.«

Sie wollte an dem Leutnant vorüber, um die Stube zu verlassen. Der vertrat ihr jedoch den Weg.

»Ich muß Sie bitten, zu bleiben und meine Fragen ordnungsgemäß zu beantworten. Tun Sie's nicht, muß ich, so leid es mir tut, Sie verhaften.«

Marie-Anne blickte ihn wütend an. Sie sah aber auch ein, daß er im Recht war und die Macht hatte, ihr Unangenehmes zuzufügen.

»Schön, fragen Sie«, sagte sie kurz.

In etwas ruhigerer Weise fuhr er fort zu inquirieren.

»Auf Ihrem Grundstück wird ein Ausrüstungsstück gefunden, das zweifellos einem entflohenen Boche gehört. Das ist ein Beweis, daß er hier war, oder sich noch hier befindet.«

Als Marie-Anne unwillig die Achseln zuckte, fuhr er fort:

»Damit soll keineswegs gesagt sein, daß Sie, mein Fräulein, darum wußten. Nach dem – hm, ja – nach dem guten – außerordentlich guten Eindruck, den Ihre – Ihre Persönlichkeit auf mich machte, halte ich das für ziemlich ausgeschlossen. Jawohl.

Meine Fragen richten sich demnach keineswegs gegen Sie. Sie sollen nur helfen, das – wie sag' ich gleich – das Mysterium aufzuklären.«

Er erwartete von ihr für den wieder von ihm angeschlagenen liebenswürdigen Ton einen Dank.

Sie war so klug, durch ein freundliches Kopfnicken zu danken.

Leutnant Davannes wirbelte erregt die Finger durch seinen Bart. Er war erfreut und tat, als ob er den Boche schon in der Tasche hätte.

»Haben Sie gestern«, begann er erneut, »einen Allemand hier in der Nähe etwa herumstreichen sehen?«

Sie verneinte.

»Oder hatte er gar die Frechheit, am frühen Morgen hier anzuklopfen?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Wo sind Ihre Leute? Potin –.«

»Herr Leutnant«, sagte salutierend der Korporal.

»Korporal Potin, lassen Sie die Knechte und Mägde oder was sonst hier arbeitet, zusammenrufen.«

»Zu Befehl.«

»Warten Sie ein wenig, damit Sie keine vergebliche Mühe haben. Jeanne ist in der Küche, Amélie und Louise im Kuhstall. Wir haben nur drei Mägde. Der Knecht liegt betrunken in seiner Kammer, die ist im Pferdestall. Ob er schon ausgeschlafen hat, mögen Sie selbst feststellen. Der Lump war nämlich heute nacht nicht auf dem Hofe. Heut früh stellten wir fest, daß er die Hoftür, als er heimlich auskniff, offen gelassen hatte.«

»Ah«, riefen die Soldaten wie aus einem Munde.

»Und es hätte mich nicht gewundert, wenn eine ganze Räuberbande eingedrungen wäre. Bequemer konnte man's ihnen gar nicht machen.«

»Natürlich. Und da hatte es der Flüchtling ja ganz leicht. Daß er die Mütze verlor, ist sein Pech. Wir haben seine Kopfbedeckung. Bald werden wir ihn beim Kopf haben.«

Der Leutnant gab einen Wink, der Korporal verließ mit seinen Leuten die Stube.

Die Vernehmung der Mägde brachte nicht das mindeste Resultat. Callot schlief, er war nicht vernehmungsfähig.

Ob Marie-Anne ihn morgen nicht zur Vernehmung nach Lessard schicken könnte?

Das wollte Marie-Anne tun.

Doch an der Tür kehrte der Leutnant nochmals um. Wer weiß, ob der Tölpel morgen schon nüchtern sein und sich auf alle Vorgänge der Nacht besinnen würde. Hier würde er es sicherlich tun. Er, Leutnant Davannes, würde zur Vernehmung Callots selber kommen. Die Mühe wäre unbeträchtlich, im Vergleich zu dem großen Vergnügen, sie wiederzusehen.

Marie-Anne machte gute Miene zum bösen Spiel und verabschiedete sich freundlich von ihm. Und triumphierend zog der Leutnant an der Spitze seiner Leute ab. Er hatte einen, wenn auch sehr dünnen Erfolg gehabt. Er hatte die Mütze gefunden, zu der nur noch der erwünschte Ausreißer fehlte.

Einen um so größeren Erfolg wollte er bei Marie-Anne haben. Die Gelegenheit hierzu wollte er tüchtig ausnutzen. Als er durch den Regen heimwärts zog, dachte er nur an die bildschöne Bäuerin. Ihre Frische und Anmut hatten ihm den Kopf verdreht. Mit jedem Kilometer, den er zurücklegte, wurde es ihm gewisser, daß er sie liebe und besitzen müsse.

»Eigentlich«, sprach er zu sich, »haben die verfluchten Allemands mitunter ganz gute Ideen. Daß sie ausrissen, war so ein vortrefflicher Gedanke. Und daß ich zur Verfolgung kommandiert wurde, dafür kann ich meinem Schicksal nicht genug dankbar sein. Das Kriegsglück wird mich zum Glücklichsten aller Sterblichen machen, wenn es mir die kleine Schöne mit den dunklen Augen ans Herz legt.«

*

Marie-Anne war in Sorgen zurückgeblieben. Ihr war der Leutnant durchaus zuwider.

Der Deutsche mußte unter allen Umständen bei Nacht aus dem Hause.

Vor allem mußte sie vorerst Callot aus dem Hause entfernen, der überall, wenn er nüchtern war, umherschnüffelte und von irgendwelchen Verstecken aus zu beobachten pflegte. Sobald er aufwachte, wollte sie ihn zum Pfarrer Grenelle nach Tracy schicken. Sie wußte, daß er diese Gelegenheit wieder benutzen würde, um sich von neuem zu betrinken. Heut sähe sie es sogar gern.

Vor allem mußte sie jetzt zu ihrer Mutter, um nach ihr und ihrem Gefangenen zu sehen.

*

Als Callot gegen Abend beim Pfarrer Grenelle ankam, mußte er im Erdgeschoß mit anderen Bittsuchern in einer Stube neben der Küche warten.

Die Stube des Pfarrers lag im ersten Stock.

Er klopfte bescheidentlich an die Tür, und auf das »Herein« des Pfarrers trat er scheu und linkisch in die Studierstube.

Er kannte sie von früher. Da hing noch das große Kruzifix, darunter stand der Betschemel. Und an den Wänden waren die nämlichen Heiligenbilder und Büchergestelle mit Büchern. Auf dem runden Tisch stand die Lampe mit grünem Schirm und davor saß der Pfarrer, gütig wie immer. Man merkte kaum, daß er inzwischen älter geworden war.

Vor diesem würdigen Greise hatte der alte Sträfling eine heilige Scheu und den größten Respekt. Es war der einzige Mensch, den er verehrte, und wenn man in seinem versteckten Herzen hätte lesen können, von allen Menschen der einzige, dem er eine tiefere Zuneigung entgegenbrachte.

In ihr kam sein Dank zum Ausdruck. Der Pfarrer hatte ihm Liebe erzeigt. Als er nach zwanzig Jahren aus dem Zuchthaus und nach Hause kam, hatte er das Reden, Denken, Empfinden verlernt. Er war wie ein wildes, bissiges Tier, in jeder Sekunde sprungbereit. Die Gefangenschaft hatte ihn nicht »gebessert«. Sie hatte ihn zu einem gemeingefährlichen Individuum gemacht. Alle besseren Triebe seines jähzornigen, aber von Haus aus guten Herzens waren in Cayenne vernichtet worden.

Pfarrer Grenelle hatte ihn damals voll Teilnahme aufgenommen. Niemals hatte er zu ihm von seiner Vergangenheit geredet, die schwere Wunde sollte vernarben.

Milde und Güte und herzliches Entgegenkommen fand er bei ihm. Und allgemach lernte er wieder zu den Menschen Vertrauen fassen, die ihn als wildes Tier aus ihrer Gemeinschaft ausgestoßen hatten. Ja, er begann nach und nach die Augen aufzuschlagen, wenn er jemand begegnete oder einmal angeredet wurde.

Das war solange, als er beim Pfarrer war. Da hätte keiner gewagt, des Pfarrers Schützling scheel anzusehen.

Anders wurde es allerdings, als er nach Semilly zum Bauer Gérard kam und unter andere Menschen. Was die Dummheit nicht zuwege brachte, tat die Mißgunst und Bosheit. Man hänselte ihn, führte spitze Reden, machte Anspielungen auf seine schmerzvolle Vergangenheit. Es kam bald zu Schlägereien.

Und nun brach der Haß gegen Callot allenthalben offen aus. Man mied ihn, wich ihm allerorten aus, wie einem Pestkranken, und die Folge war, daß sein Herz wieder ganz verhärtete.

Er zog sich in die Einsamkeit zurück, wich jeder Ansprache aus und wurde ein Gewohnheitstrinker.

»Callot,« redete ihn der Pfarrer jetzt an, »Louis Callot, nicht wahr, so heißt du noch immer? Komm' her, mein Sohn, gib mir die Hand. Setz' dich, nein, hierher, damit ich dein Gesicht sehen kann.

Und nun sag' mir, wie geht's dir? Du siehst nicht allzu zufrieden aus. Oder bist du krank gewesen?«

Kein Wort brachte der Sträfling über die Lippen. Nein, er konnte nicht reden. So liebreich, wie der gute Herr Pfarrer, hatte bisher niemand zu ihm gesprochen. Was sollte er sagen?

»Nun, ja, Hochwürden,« stieß er endlich hervor, »hab' zu essen – hab' Unterkunft – es reicht, bis es zu End' ist.«

»Für dieses Leben. Vielleicht. Du lebst aber, um künftig einmal bestehen zu können. Verstehst du? Hier bereiten wir uns vor für das künftige Leben. Und wenn wir hier Unrecht tun, wird's uns drüben einmal schlimm vergolten.

Da hab' ich Arges von dir gehört – –.«

Callot unterbrach heftig den Pfarrer.

»O, die Kerls in Tracy, Semilly und sonstwo – die – die –.« Er konnte vor Zorn nicht weiter.

»Nicht die Allerweltsleute«, fuhr sanft der Pfarrer fort, »reden schlecht von dir. Es ist jemand, den ich hoch achte und schätze und von dem ich weiß, daß er nicht lügt.«

Callot stierte den alten Mann schweigend an. Eine Pause entstand, in der der Pfarrer zu überlegen schien, bis er plötzlich mit starker Stimme auf den Erschreckten zufuhr:

»Wie kommst du dazu, wehrlose Menschen zu überfallen? Unglückliche Kriegsgefangene hast du blutig geschlagen. Tut das ein Christenmensch? Das ist feig, ist erbärmlich, verstehst du mich, Louis Callot? Ist nichtswürdig und fluchwürdig.«

Das hatte der Trinker nicht erwartet, so zornig hatte er den alten Mann noch nicht gesehen. Ein schwacher Versuch seinerseits abzuleugnen, mißlang gänzlich. Er fragte, ob denn gerade er unter so vielen gesehen worden sei, ob nicht eine Verwechslung möglich wäre? Und was die andern taten, war nicht viel besser als das, was er getan hatte. Alle meinten, die Allemands wären keine Menschen – –.

Die Belehrung, die der feige Bursche darauf erhielt, fiel nicht minder kräftig aus. Und er verstummte erst völlig, als ihm der Pfarrer sagte, daß Marie-Anne Gérard alles mit angesehen hätte und willens wäre, einen solch brutalen Knecht zu entlassen. Von ihr hätte er die Mitteilung, und sie habe ganz recht, wenn sie sich von ihm trennte, und mit so einem Rohling nicht mehr unter einem Dache wohnen wollte.

»So – aha – so war's gemeint – na, dann adjes, Herr Pfarrer.«

Und im Handumdrehen war der ungeschlachte Gesell aufgesprungen und die Treppe hinuntergepoltert.

Das Rufen des Pfarrers hinter ihm her verhallte ungehört.

Callot rannte, als ob er gewaltsam zurückgeholt werden sollte. Und sprach vor sich hin und fuchtelte mit den Armen durch die Luft.

Wenn ihm der Pfarrer so kommen wollte, war er auch mit ihm, wie mit den andern fertig. Ihn so anzuschreien, so auszuschimpfen. Und das wegen dieser verdammten Boches, gegen die er, der Zuchthäusler, ein König war.

Die Art Menschen in Schutz zu nehmen, Menschen der niedrigsten Art. O, die Allemands, erwürgen würde er sie, wenn er ihnen jetzt begegnete.

War denn der Pfarrer nicht gescheit, daß er ihn, Callot, einen Franzosen, beleidigte, dieser lumpigen Kriegsgefangenen wegen? War das zu glauben? Sollte man zu so einem Pfarrer noch in die Kirche gehen?

Er ging allerdings gar nicht, oder nur selten in die Kirche. Aber immerhin, man sollte die Leute im Dorfe aufklären, damit sie sehen, was sie für einen Seelsorger an ihm haben. Die Weiber und Männer, die – so wie er – die deutschen Soldaten angespien und geschlagen hatten, wären dann ja um kein Haar besser als er. Dann wären sie ebenfalls Rohlinge gewesen und brutal und feig und erbärmlich.

Ach, er hatte sich alles wohl gemerkt. Das wollte er dem Pfarrer nicht vergessen. Und natürlich, auch nicht der Marie-Anne.

Also so eine war das, die Tochter seines Brotgebers; freundlich ins Gesicht und falsch hinten herum. Da soll doch gleich – –.

Ihn beim Geistlichen so schändlich anzuschwärzen. Was muß sie gar noch gegen ihn vorgebracht haben, wenn der Alte so wild werden konnte.

Und sicherlich wird der, wie er den Pfarrer kennt, von der Kanzel herunter gegen ihn wettern und ihn anmalen, daß das ganze Dorf hinter ihm herbrüllen wird, wenn er sich sehen läßt.

Er empfand die starken Worte, die der Pfarrer gegen ihn gebraucht hatte, als eine große Ungerechtigkeit. Denn gleichermaßen hätte er sämtliche Dorfbewohner abkanzeln müssen.

Das wollte er sich nicht gefallen lassen. Dagegen wollte er das Dorf aufrufen, noch bevor der Pfarrer darüber etwas öffentlich sprechen konnte.

Und immer wütender wurde er. Marie-Anne, ha, der wollte er's schon eintränken. Brotlos machen wollte sie ihn. Das hätte ihr Vater nicht getan. Und der hätte mehr Grund gehabt ihn fortzujagen. Schließlich richtete sich sein ganzer Haß auf sie, als die Urheberin des gegen ihn begangenen Unrechts.

So oder so – an ihm ist nichts gelegen, sein Leben war sowieso verpfuscht. Rächen wollte er sich an ihr. An ihr vor allem.

Mit diesem Vorsatz betrat er das Wirtshaus »Zur Distel« in Semilly, zu dem die Leute aus Tracy auch nicht weit hatten, weil es fast mitten zwischen beiden Dörfern lag. Als er die Schänke betrat, war er von Wut erfüllt. Als er sie spät am Abend verließ, war sein Zorn scheinbar verraucht. Dafür beseelte ihn eine tückische Schadenfreude.

Heut, was sonst nicht der Fall war, heut hatten ihn die Saufbrüder des Dorfes einer Ansprache gewürdigt.

Was er denn dazu sage? Ob er denn nicht wisse, was vorgehe? Auf Gérards Bauernhof hätten die Soldaten gehaussucht, nach den deutschen Boches natürlich, die wieder einmal rudelweis ausgerissen wären. Das sei nichts Besonderes, das müsse sich jeder gefallen lassen. Aber daß die Poilus auf dem Hofe, unter dem Fenster der Marie-Anne, eine Bochemütze gefunden hätten, das sei doch sonderbar. Ob er, Callot, nichts Näheres wisse?

Man soll es gewiß nicht für möglich halten und den Gérards auch nicht zutrauen – nein, das soll man nicht – es sind gute Patrioten – aber fragen wird man wohl noch dürfen, wie gerade die Mütze des Landesfeindes auf ihr Grundstück kam? Oder nicht?

Callot gestand seinen Viechsrausch. Bis in den Nachmittag hätte er geschlafen, dann sei er zum Pfarrer Grenelle geschickt worden. Wohl hätten die Mägde was davon erzählt, in seinem wüsten Kopf wäre aber nichts haften geblieben.

Die Bochemütze – das Thema beherrschte das Geträtsch, das, stets in den nämlichen Wendungen und Vermutungen und Verdächtigungen, die Nachbarn begeiferte.

Callot horchte auf und – schwieg. Sein Haß gegen Marie-Anne hatte seine Sinne geschärft, ihn hellhörig gemacht. Was da die Leute sagten, konnte unwahr, es konnte auch wahr sein. Er wollte an ein Verschulden Marie-Annes glauben, weil er es in seinem schwarzen Herzen wünschte.

Fortjagen wollte sie ihn? Hoho, vielleicht würde ihm das Schicksal einmal günstig sein und einen Trumpf in die Hand legen.

Allerdings hatten die Poilus die gefundene Mütze mit fortgenommen. War damit alles aus? Oder verbarg sich irgendwie oder -wo ein Geheimnis?

Marie-Anne war klug, das gestand er ohne weiteres zu. So dumm würde sie nicht sein, einem Boche Unterkunft zu geben. Nicht eine Stunde würde sie ihn verstecken, sich der Gefahr einer schweren Bestrafung aussetzen. O nein, das täte Marie-Anne nicht.

Aber wie kommt sie mit einem Male dazu, die Allemands in Schutz zu nehmen? Ihre Gegner zu denunzieren und den alten Pfarrer gegen sie mobil zu machen? Und besonders gegen ihn?

Er fand die Brücke nicht, die beide Gedankengänge miteinander verbinden konnte. Sein Haß gegen das schöne Mädchen ließ keine Logik und keine Vernunftgründe gelten. Aufpassen, spionieren wollte er. Natürlich ganz unauffällig, sich nichts merken lassen. Und seine Arbeit tun, keinen Anlaß zu Zank und Klage geben.

Er haßte Marie-Anne, und in ihr haßte der armselige Tropf die ganze Welt.

Zeitiger als sonst brach er auf, um sein schändliches Treiben gleich zu beginnen.

*

Kaum hatten die Verfolger das Gehöft verlassen, als Marie-Anne die Treppe hinaufeilte, um nach dem Versteckten zu sehen.

Der lag in heftigem Fieber.

In halblautem Ton eiferte ihr die Mutter entgegen.

»O, Marie-Anne – Kind – was hast du dir da für ein Kreuz mit dem Ausreißer aufgeladen.«

Da Marie-Anne eine unwillige Bewegung machte, fuhr sie begütigend fort: »Ich sag' nichts gegen den Burschen, durchaus nicht. Ich denk' immer an unsern guten Jungen – deinen Bruder – dem es vielleicht einmal ähnlich so bei den Prussiens geht, wie dem da. Dann will ich nur wünschen, daß er so einen Schutz findet, wie dieser Allemand.

Aber trotzdem, mein Kind, – es bleibt eine furchtbare Last. Und wir wissen heut noch nicht, wie das Abenteuer enden wird.«

Marie-Anne hatte die Tür verschlossen. Sie kniete neben dem Kranken. Sein Kopf war brennend heiß, seine Lippen waren trocken, aus seinen Augen glänzte hohes Fieber.

Er erkannte Marie-Anne und lächelte ihr wehmütig zu. Als sie ihm ein Glas mit kühler Milch an die Lippen setzte, trank er es ganz leer. Dabei drückte er ihr dankerfüllt die Hand.

Und mit kaum vernehmbarer Stimme flüsterte er: »Hier – und hier, – überall – Stiche, – Schmerzen. Kein Atem, – zum Abend – wollt' ich fort.«

Marie-Anne, die den Ernst der Krankheit ahnte, suchte den unruhigen Kranken zu beruhigen.

»Bleiben Sie mutig, es wird schon besser werden. Nach einem Arzt dürfen wir nicht schicken, – nicht wahr? – selbst wenn einer in der Nähe wäre. – Sie bleiben hier, bis Sie wieder gesund sind. Dann wollen wir Ihnen schon forthelfen.«

Reinhart versuchte sich aufzurichten. Einen langen, dankbaren Blick sandte er Marie-Anne zu, dann schloß er die Augen und atmete schwer.

Was war da zu tun? Die beiden Frauen überlegten. Sollte er wieder auf den Boden in die kalte Kammer?

Am sichersten wäre er da vor den Verfolgern.

Aber ohne Wartung, ohne Pflege, würde er die Krankheit kaum überstehen. Und Marie-Anne konnte oder durfte sich seiner Pflege nicht ständig widmen. Bald würden die Mägde neugierig werden und fragen, was sie denn mit einem Male so viel auf dem Boden zu tun hätte, da das doch bisher nicht vorgekommen war.

Es erschien ihr auch nicht menschenfreundlich, den Armen wiederum auf den harten Fußboden zu verbannen.

Er sollte merken, daß er sich unter Christenmenschen befand, denen das Wort Nächstenliebe keine tönende Phrase war.

Lindern, helfen, beispringen, Liebe betätigen, Wohltat üben, und wenn er hundertmal zu den Landesfeinden zählte.

Das gebot ihr das Herz, das von einer noch fernen, völkerversöhnenden Sonne das Glück der Welt erhoffte.

Es wurde ihrer Beredsamkeit nicht allzu schwer, die Mutter für die Hergabe des Zimmers zu bestimmen und zu ihr, in die Stube nebenan, zu ziehen.

Hier oben würde der Kranke ruhig liegen können. Da Marie-Anne sich die Säuberung der beiden Stuben stets selbst besorgt hatte, so hatten die Mägde hier oben nichts zu suchen und kamen das ganze Jahr nicht herauf.

Eine halbe Stunde später lag Reinhart im sauberen Bett, vorläufig vor allen äußeren Gefahren geborgen.

Die glühende Stirn kühlte ihm Marie-Anne mit Kaltwasserumschlägen. Später war ihr die Mutter behilflich, ihm die große Hitze aus Brust und Rücken durch kühle Waschungen zu vertreiben.

Vom Hollunderbeersaft, den sie im Hause hatten, stand ein kühles Tränklein immer zur Hand.

Ein Tag glich so dem andern. Von Nacht zu Nacht steigerte sich das Fieber und die Besorgnis von Mutter und Tochter um den mit dem Tode Ringenden.

*

Mutter Gérards Leiden hatte sich gebessert, so daß sie wieder in der Wirtschaft tätig sein konnte. Da sagte sie eines Tages zu Callot, er möchte ihr einige Zitronen besorgen. Sie hätte vom Pfarrer einmal gehört, eine Zitronenkur solle gegen Gicht gut sein. Und er sollte sich umtun und sechs Stück oder besser gleich ein ganzes Dutzend bringen. In Tracy oder Lessard oder wo sonst werde es schon welche geben.

Das paßte Callot nicht. Er wollte dem Pfarrer nicht wieder begegnen und wollte nur abwarten, bis es Abend war, bevor er sich wieder zu Hause blicken ließ. Es fiel ihm gar nicht ein, einige Meilen wegen der sauren Früchte zu laufen.

War die Gicht der Alten, so argumentierte er, bisher ohne Zitronenkur verflogen, brauchte sie, wo ihr Zustand gebessert war, das Zeug erst recht nicht mehr. Es gäbe nirgends welche, wollte er sagen.

Er ging nach Tracy, setzte sich in der »Distel« fest und trank ein Viertel Wein nach dem andern.

Er wurde von Stolz erfüllt, als sich der alte Brassard zu ihm setzte, der sonst nicht einmal aufsah, wenn er an ihm vorbeiging.

Brassard war ein Krüppel, beim Wegebau beschäftigt, aber ein Vagabund, dem alle ehrsamen Leute auswichen.

Irgend etwas hatte er vor vielen Jahren begangen, war dann, um sich zu rehabilitieren, in die Fremdenlegion eingetreten. Dort hatte er bei einer Schlägerei ein Auge eingebüßt und sich dann allerorten umhergetrieben.

Da er tagsüber beim Chausseebau arbeitete, konnte er mancherlei beobachten, was andern Leuten entging. Die meisten Menschen, die vorbei gingen, kannte er. Wer ihm fremd war, den suchte er durch seine Plauderhaftigkeit mit freundlichem Gruß festzuhalten.

Und dabei fiel manche Zigarette, manche Pfeife Tabak für ihn ab. Darum war's ihm nebenbei auch zu tun. Hauptsächlich aber spionierte er für die Polizei allerhand aus, in deren geheimen Dienst er stand.

Seine primitive Holzhütte, dicht an der Chaussee, war zum Aufpassen wie geschaffen. Sie war von Büschen ganz umgeben. Je ein kleines Fenster sah nach Norden und nach Westen. Auch in der nach Süden gelegenen Tür war ein handtellergroßes Fensterchen zum Kundschaften angebracht. Bei schönem Wetter war die Tür offen, bei schlechtem äugte Brassard hinter den Fenstern auf die Straße. Denn immer hatte er etwas auszukundschaften.

Callot fühlte sich geehrt, als der Wegeausbesserer sich zu ihm setzte, obgleich er sonst immer am Tisch des Gendarmen saß, der auch heut zugegen war.

»Schönen guten Abend, Monsieur Callot. Sie erlauben, daß ich bei Ihnen Platz nehme.«

Einige unverständliche Laute Callots drückten seine Zustimmung aus.

»Man sieht Sie so selten hier, Herr Callot.«

Brassard wartete die Antwort nicht ab, da er wußte, daß Callot nicht redegewandt war und lieber zuhörte.

»Ja, unsereiner säße auch lieber öfter hier beim Schoppen. Magerer Verdienst. Schlechte Zeiten. Und jetzt der leidige Krieg, der alles ruiniert.«

Er sog an seiner Stummelpfeife, entwickelte große Rauchwolken und sprach halblaut, in gedämpftem Ton, über den Tisch gebeugt:

»Der Herr Gendarm guckt – sehen Sie, wie er nach mir glotzt? Der soll warten, bis er blond wird. Haha, was sagen Sie? So ein Beamter an der Staatskrippe, ja, der hat ein feines Leben. Aber unsereiner, Herr Callot, ist übel dran. Sehr übel.

Glauben Sie mir, keinen Sou gilt mir so ein Leben. Wenn ich kein Krüppel wär' – ach – da sollten Sie zu Brassard bald Herr Millionär sagen.

Hier natürlich nicht. Nicht in diesem entsetzlich abgegrasten Land, das die Dummen Frank – reich nennen.«

Er stieß ein wieherndes Lachen aus, als ob er einen guten Witz gemacht hätte.

»Nein, Herr Callot, drüben nur – bei der Legion – kann man's zu was bringen. Das Land ist reich. Das Gold liegt sozusagen auf der Straße.

Als Legionär hat man keine Zeit, keine Gelegenheit es aufzuheben. Sie verstehen, nicht wahr? Da hat man Dienst zu tun, o lala, daß einem das Blut unter den Nägeln hervorspritzt. Man ist unfrei. Und hat kein Geld.

Aber als freier Mann – und mit Geld – es braucht nicht viel zu sein. Mit tausend Frank kann man ein Stück Land kaufen, so groß wie ganz Semilly.«

Callot sperrte Mund und Ohren auf. Dann sagte er kleinlaut nur: »Sapperlot – mit tausend Frank – und so groß.«

»Auf Ehre,« versicherte Brassard, »vielleicht noch größer. Das ist, wie gesagt, nur für Leute, die was in der Tasche haben und nicht bis an ihr Lebensende Knecht sein wollen.

Sie verstehen? Was ist man hier? Knecht, nichts weiter. Sie und ich und hunderttausend andere.

Drüben – ach, mein schönes Afrika – drüben ist man erst ein wahrhaft freier Mann.

Hätten Sie etwas Geld, würde ich zu Ihnen sagen: ›Mein lieber Callot, schnüren wir unsere Bündel und fahren wir nach Oran oder Sidi-bel-Abbès oder irgendwo da drüben. Wir kaufen uns an, bestellen den Acker, die Weinstöcke, den Tabak, haben den Stall voll Vieh und werden reich, kolossal reich. Nur ein paar tausend Frank – –?‹«

In Callot begann das ihm von dem schlauen Brassard eingeflößte Gift zu wirken. Unruhig rückte er auf seinem Stuhl hin und her und trank ein Viertel nach dem andern. Endlich stotterte er:

»Wie – ja, wie – Geld – woher – woher soll's Geld kommen? Der Lohn – –.«

»Vom Lohn können Sie nichts sparen – weiß ich. Es gibt aber andere Quellen, wenn wir wollen.«

Callot spitzte die Ohren.

»Ja, da sehen Sie mich erstaunt an und haben's in Ihrer Hand, ein großes Stück Geld zu verdienen. – Allerdings setz' ich voraus, bevor ich weiter rede, daß wir halbpart machen. Unter Ehrenmännern versteht sich das von selbst, nicht wahr?«

Callot nickte.

»Gut also, geben Sie mir die Hand darauf.

Und nun passen Sie gut auf. Es sind, wie Sie gehört haben, wieder einmal eine Anzahl Boches desertiert. Man hat wohl ein paar gekriegt, die meisten aber noch nicht. Auf jeden ist eine Fangprämie von 500 Frank gesetzt. Auf einen sogar 1000 Frank, weil er einen Major getötet hat. Und so einen abgehetzten, halbverhungerten Burschen fängt ja jedes Kind.«

»O, ja, das tut es,« grinste Callot, »wenn es weiß, wo er sich versteckt hat.«

»Sehr gut, mein Bester, unter uns«, – flüsterte er jetzt – »niemand braucht's zu hören, am allerwenigsten der Gendarm, der gern wissen möchte, was wir verhandeln – unter uns, in der Umgegend halten sich ein paar von den Boches versteckt.«

»Dacht' ich's doch,« sagte Callot, »aber wo?«

Brassard lächelte verschmitzt. »Das müssen wir versuchen herauszukriegen. Denn das ist die Arbeit, für die wir die Fangprämie einstecken sollen. Verstanden?«

Callot nickte wieder. Gewiß hatte er alles verstanden. Wenn er sich die Fangprämien, ach, wenn auch nur eine verdienen könnte!

Für ihn war es ausgemacht, daß die Ausreißer im Walde, in einem Erdloche oder im dicken Gebüsch sich verkrochen hatten. Wo denn sonst? In den Häusern, Ställen oder Scheunen? Lächerlich. Da wären sie von den Hunden längst aufgestöbert worden, wenn sie von den Eigentümern oder den visitierenden Soldaten übersehen worden wären.

Das sagte er Brassard.

»Hm, ja, – vielleicht –«, meinte der – »ist auch meine Meinung. Aber so ein Boche muß doch essen. Im Walde wird er nicht satt. Ein paar Beeren oder Wurzeln, – das reicht nicht weit.

Anfangs – ja – hoffte der Gendarm – als die Soldatenpatrouille abgezogen war – es würde sich zu der Mütze – haha – auch der Kopf mit 'nem Mann dran finden lassen. Es war aber nichts. Er hat ja an jedem Tag bei euch das Tor bewacht – –.«

»Ja, aber bis jetzt hat er keinen gefunden.«

»Hm, ja – nun passen Sie nur auf, vielleicht haben wir Glück und fangen ein paar Kerle. Dann wollen wir unsern Plan verwirklichen. Es gibt nur ein Land, das Land der Legion. Guten Abend.«

Etwas enttäuscht machte sich der Steinklopfer plötzlich davon. Callot würde, wenn er von einem Geheimnis des Gérardschen Bauernhofs etwas gewußt hätte, schon im Hinblick auf die ausgelobte Prämie geschwätzt haben.

Er mußte also eine andere Spur verfolgen.

»So'n Boche kann doch nicht zaubern – sich in eine kleine Fliege verwandeln und davonfliegen.

Entweder hielten sich die Burschen verborgen, bis sie der Hunger hervortrieb, oh, dann brauchten der Gendarm und er und die andern heimlichen Aufpasser nur weiter die Augen offen zu halten.

Oder sie waren schon längst über die Grenze und in Sicherheit. Dann waren die Allemands gescheiter, als die ganze französische Polizei«, brummte Brassard.

*

Nach bangen Wochen endlich hatte Reinhart den Tod besiegt. Seine zähe deutsche Natur, seine kraftvolle Jugend hatten den Sensenmann in die Flucht geschlagen.

Er hatte – als es in den November ging, das Bett verlassen.

Er ging wieder umher, gedieh unter der Pflege von Mutter und Tochter, fand nach und nach seine alte Kraft und Gesundheit, und war wieder – auf seinen Wunsch – in die Mansarde zurückgekehrt. Dort hielt er sich tagsüber verborgen.

Nur am Abend kam er – auf ein gegebenes Zeichen – herunter, um mit den Frauen zu plaudern.

Im Dunkeln saßen sie sich zumeist gegenüber und hörten, was er sagte. Mutter Gérard, die die deutsche Sprache nicht beherrschte, mußte sich in Geduld fassen, bis ihr Marie-Anne den Inhalt des Gesprächs in knappen Worten mitteilte.

Bisweilen – wenn sie wußte, daß alles schlief – entzündete sie ein winziges Öllämpchen. Das blendete sie ab, verhängte die Fenster und im matten Schein dieses Flämmchens genoß Reinhart das Glück, seiner Lebensretterin gegenüber zu sitzen, sie zu sehen und mit ihr reden zu dürfen.

Mutter Gérard saß in der Ecke im Schatten des Ofens, in ihrem bequemen Stuhl. Sie sah prüfend auf den Jüngling, beobachtete forschend ihre Tochter und mancher Seufzer entfuhr ihr, wenn sie das junge schöne Paar vor sich sah.

Nun, allzu lange konnte es nicht mehr währen – einige Tage – vielleicht eine Woche noch – dann mußte er fort sein.

Gottlob, dann gab's keine Heimlichkeit mehr auf dem Bauernhof, dann war die Unruhe, die sie bei Tag und Nacht erschreckte, vorüber.

Fehlen würde ihr der junge Deutsche. Gewiß. Sie hatte ihn lieb gewonnen. Mußte man das nicht, wenn man seine lichtvolle sehnige Gestalt sah, ihm in die großen Blauaugen blickte, aus denen Offenheit und Güte und Treue, wie blankes Sonnenlicht strahlten?

Sie hatte sich bereits an ihn gewöhnt, wie an einen Sohn. Und ihren Sohn beweinte sie seit zwei Jahren. Und die Hoffnung, ihn einmal wieder in ihre Arme zu schließen, war immer geringer geworden.

Was sie in bekümmerter Seele dachte, wenn sie Marie-Anne neben Reinhart sah, durfte sie nicht hoffen.

Nur eines wußte sie, wenn alle Deutschen waren wie Reinhart, mußte man sie da nicht achten, schätzen und lieben? Weshalb log man, sie wären keine Menschen, wären gleich schmutzigen Schweinen? Gab es so viel Verleumder in Frankreich?

So kam sie durch eigenes Nachdenken, durch Beobachtung dazu, die ihr von Jugend auf geläufig gewordene Phrase als unwürdig und schlecht zu bezeichnen. Und unwürdig und schlecht war die Politik, die in Frankreich gegen Deutschland getrieben wurde. Sie lehrte, das deutsche Volk hassen und verachten und verurteilte es – in den Schweinekoben –.

Nein, nein, von diesen Dingen wollte sie nichts mehr hören. Sie glaubte davon nichts mehr. Und Marie-Anne erst recht nicht. Und die war gut und rein und log nicht. Sie hatte viel Deutsche im Ausland kennen gelernt und war des Lobes voll.

Ihr Gedankengang wurde unterbrochen. Reinhart sprach auf Marie-Anne ein, lauter und lebhafter als sonst, und Marie-Anne war erschreckt, dann niedergeschlagen und traurig.

»Sie kennen nun mein Leben. Als mein Vaterland bedroht und von allen Seiten angegriffen wurde, verließ ich die Universität und meldete mich freiwillig zur Fahne.

Oh, wir wußten, der Krieg würde kommen. Frankreichs Rachedurst wollte den Frieden, den Deutschland über vierzig lange Jahre hielt, nicht. Unser deutsches Elsaß wollten sie uns wieder rauben, wie sie es uns einst geraubt hatten. Unser schönes Lothringen auch.

Das ist die Wahrheit. Und ich weiß, Sie glauben mir.«

»Ja, ich glaube Ihnen. So sieht kein Mensch aus, der lügt.«

»Ich danke Ihnen, Fräulein Gérard. Für Ihr Vertrauen danke ich Ihnen, für Ihre Güte, Ihre Hilfe. Ohne Sie wäre ich längst tot. Denn ein drittes Mal wär' ich in die teuflische Gefangenschaft nicht mehr zurückgekehrt. Ich hätte schon Mittel und Wege gefunden, ein Ende zu machen.«

Er schwieg eine Weile. Die Erinnerung an seine Leiden in der Gefangenschaft ergriff ihn mächtig.

»Oh, wenn Sie wüßten, wie die deutschen Kriegsgefangenen behandelt werden! Kein wildes Tier martert so grausam seine Beute.

In der Marne-Schlacht geriet ich in Gefangenschaft. Das erste war, daß sich die französischen Soldaten wie die Straßenräuber auf uns stürzten und uns ausplünderten. Sie raubten unser Geld, die Taschenuhren, Ringe, Messer, Feuerzeuge, Zigarren, Zigarettenetuis, Kochgeschirre, kurzum alles, dessen sie habhaft werden konnten. Selbst die Knöpfe von den Mänteln und Uniformen, ja, selbst die Mäntel stahlen uns die Vertreter der » grande nation«.

Der erste bleibende Eindruck bei uns war, wir sind in die Hände von Räubern und Dieben gefallen.

Dann mußten wir marschieren, endlos – zwecklos, Tag um Tag. Ohne Essen, ohne einen labenden Trunk Wassers zu erhalten.

Wir hatten auch Verwundete. Sie wurden erbarmungslos weiter getrieben, geschlagen, bis sie ohnmächtig zusammenbrachen. Es war ja nur ein Boche – wert, daß er am Wege krepiert.

Wir andern wurden durch Kolbenschläge weiter gejagt.

In den Dörfern empfing uns ein moralisch verkommener Pöbel mit widerlichen Beschimpfungen, mit Steinwürfen. Die trefflichen Bürger des ritterlichen Frankreichs waren auf unsern Empfang vorbereitet. Sie bespien uns, bewarfen uns mit Kot und Straßenschmutz, gossen Kübel mit Jauche auf uns, schlugen uns mit Knüppeln und Glasflaschen, schossen und stachen nach den waffenlosen, abgematteten, hungrigen Menschen, die das Unglück hatten, in Gefangenschaft eines so verworfenen Gesindels geraten zu sein, aber das Glück und die Ehre hatten, zum Schutz ihres Vaterlandes ihr Leben eingesetzt zu haben.

Wahrhaftig, es gehörte fast ein größerer Heroismus dazu, solch viehischen Gemeinheiten gegenüber seine äußere Ruhe zu bewahren. Denn in jedem der schmutzstarrenden Dörfer erging es uns so. Ach, und in den Städten, durch die wir wie das Vieh getrieben wurden, war es wie in den Dörfern. Ein teuflisches Pack überall.

Des Nachts wurden wir in schmutzstarrende Viehställe oder ekelhaft mit Unrat angefüllte Scheunen gesperrt, nein, eingepfercht. Die todmüden Menschen mußten stehen, Platz zum Liegen war nicht vorhanden. Etliche fielen um, man konnte ihnen nicht helfen, mußte sie im Schmutz liegen lassen.

Die Luft war verpestet, nicht zum Atmen.

Am nächsten Morgen trieb man uns unter Flüchen, Verwünschungen und Kolbenschlägen in Viehwagen hinein. Wir sollten mit der Eisenbahn einem Gefangenenlager zugeführt werden.

Das war der dritte Tag, an dem wir nichts zu essen hatten.

Die Atmosphäre in dem Wagen war unbeschreiblich. Die Wagen wurden verschlossen. Es war keine Möglichkeit, seine Notdurft zu verrichten. Wir standen oder lagen in schrecklichstem Unrat.

Gegen Abend endlich hielt der Zug. Jeder bekam eine Gamelle mit Kohlsuppe und ein kleines Stück hartes Brot.

Der Zug fuhr weiter, hielt um Mitternacht. Und am nächsten Morgen ging's zu Fuß weiter. Ein Kamerad war vor Erschöpfung gestorben, drei waren erkrankt, sie blieben zurück.

Im Gefangenenlager wurden wir hinter Stacheldraht gesperrt, zu andern unglücklichen Landsleuten. Im strömenden Regen, in bitterkalten Nächten lagen wir auf der schlammigen Erde; etwas verfaultes Stroh, man konnte die Halme zählen, sollte die ›Fürsorge‹ der Militärbehörde vortäuschen.

Wir litten ständig Hunger – wurden aber mit schweren Arbeiten und ausgesuchten Plagen bedacht, – über die ich am besten schweige.

Aber dann kam ein Tag, an dem mich mein Freiheitsdrang, meine Sehnsucht nach Deutschland, meine Kampflust, mein Drang, meinen deutschen Brüdern zu helfen, überwältigend packte.

Alle Qualen ließ ich stoisch über mich ergehen, Kälte, Schmerzen, Hunger, Beleidigungen, – ein einziger Gedanke triumphierte, der Drang nach Freiheit.

Frei sein wollt' ich, mußt' ich, wenn ich weiter leben sollte. In der Gefangenschaft lernte ich erst den Wert, das wahre Glück schätzen, das einem nur die Freiheit zu geben vermag.

Hatte ich vorher mein Vaterland geliebt, in der fürchterlichen französischen Gefangenschaft betete ich Deutschland an, ich begann es glühend zu lieben. Ach, Fräulein Marie-Anne, Sie kennen Deutschland nicht, das Zauberland, dem alle deutschen Herzen in Ewigkeit gehören, gleichviel, ob sie daheim oder fern von seinen rauschenden Wäldern, seinen lieblichen Tälern, seinen ragenden Bergen sind. Sähen Sie erst einmal Deutschland, seine anmutigen kleinen Städte, seine lieblichen Dörfer, eingesponnen in vielhundertjährige Poesie, seine gewaltigen Zentren der Arbeit, des Fleißes, Sie würden es lieben lernen und bewundern.

Deutschland, mit Stolz sag' ich's, ist das edelste Land der Erde. Von der reichen deutschen Gedankenwelt zehren alle Nationen. Es ist doch so, wenn es die Undankbaren auch leugnen. Der deutsche Geist steht auf seinem Siegeszuge nicht still. Er wird die ganze Welt friedlich erobern.

In der Gefangenschaft leben, heißt nicht leben. Wer die Luft der Gefangenschaft atmet, ist ein Sklave und für die Lebenden tot.

Wer die unsichtbaren Sklavenketten trägt und nicht den Versuch macht, sie zu zerreißen, ist ein erbärmlicher Wicht, nicht wert, daß ihn ein Sonnenstrahl berührt.

An manches Volk dacht' ich in stiller Nacht, das frei wurde, weil es frei sein wollte und sich die Freiheit erkämpfte.

So tat ich auch.

Ich floh zusammen mit einem Kameraden, dem die Brust auch vor Weh zerspringen wollte, wie mir. Aber er hatte seine Kräfte überschätzt. Nach einem angestrengten sechsstündigen Marsch, konnte er nicht mehr weiter; er brach zusammen. Ich mochte ihn nicht verlassen, obgleich er mich bat, auf ihn keine Rücksicht zu nehmen und allein weiter zu fliehen.

Nun, man brachte uns bald wieder zurück. Er wurde ins Lazarett gebracht, ich kam mit einer Gefängnisstrafe davon, in der ich Hunger und andere Qualen litt.

Vorher durfte ich still halten, als mich ein Dutzend französischer Soldaten mit Knüppeln niederschlugen und mich mit Fußtritten so lange bearbeiteten, bis ich kein Lebenszeichen mehr von mir gab.

Ein halbes Jahr später mißlang mir ein zweiter Fluchtversuch. Nun wurde ich noch barbarischer mißhandelt.

Und jetzt will ich lieber zugrunde gehen, ehe ich in diese französische Hölle zurückgehe.«

Marie-Anne hatte ihn kaum unterbrochen. Nur ein Neigen ihres schönen Kopfes, das er als Zustimmung deuten durfte, zeugte von ihrer inneren Anteilnahme.

»Sie Ärmster,« sprach sie voll Mitleid, »und wenn man Sie jetzt wieder fängt – –.«

»Ist mir eine Kugel sicher. Oder noch Schlimmeres. Der Tod ist nicht das Ärgste. Die vielen Franzosen, die ich bisher kennen lernte, von denen Kameraden Fürchterliches berichten, sind entartete Folter- und Henkersknechte. Es sind grausame Menschen, ohne jede Spur menschlichen Empfindens.

Daß es aber auch noch gute Menschen unter ihnen gibt, haben Sie, bestes Fräulein Marie-Anne, und Ihre prächtige Mutter mich gelehrt. Wie soll ich, wie kann ich Ihnen danken.«

»Nichts davon. Wenn wir gut zu Ihnen waren, dann glauben Sie nur ruhig, es gibt noch viele solcher Menschen in Frankreich, und gewiß auch solche, die noch besser sind als wir. Sie kennen sie nur nicht, ebensowenig wie Sie Frankreich kennen.

Ich glaube an die Gutherzigkeit Ihrer Landsleute. Aber sagen Sie mir, gibt es in Deutschland nicht auch Verbrecher? Das wird wohl überall so sein. Und der Krieg ist die Ursache der allgemeinen Roheit.«

»Und der Haß, der von Ihren Landsleuten künstlich seit Jahrhunderten gegen mein armes, oft geknechtetes, oft beraubtes Vaterland geschürt wurde?«

Reinhart holte tief Atem, seine Wangen glühten, seine Augen blitzten, als er in seiner Empörung gegen die Franzosen sich genug getan hatte. Er erhob sich, um sich zurückzuziehen, denn es war tief in der Nacht. Er tat ein paar Schritte zur Tür, kehrte aber wieder um. Man merkte, daß das, was er vorbringen wollte, ihm schwer fiel. Endlich sagte er:

»Ja – und morgen um diese Zeit – hoffe ich schon weit weg zu sein.«

»Wie?«, rief Marie-Anne, »Sie wollen morgen fort?«

»Ich muß. Schon viel zu lange nehme ich Ihre Güte in Anspruch. Ich fühle mich wieder frisch und gesund. Und wenn ich einen glücklichen Ausgang meiner Flucht erhoffen darf, kann ich's nur jetzt, unter dem Schutze der abendlichen Nebel. Die Zeit ist also günstig.«

Marie-Anne schwieg, sie blickte vor sich nieder. Dann sprach sie leise und eindringlich zu ihrer Mutter. Die antwortete ihr ebenfalls leise, schien aber von dem, was ihre Tochter zu sagen wünschte, nicht erbaut zu sein. Sie sah verdrossen aus, blickte aber trotzdem voll Neugierde auf Reinhart, um aus seinen Mienen die Antwort zu lesen, die er Marie-Anne geben würde.

»Herr von Frundsberg,« begann Marie-Anne zögernd, nachdem sie sich ihm wieder zugewendet hatte, »wir können Ihnen nur sagen: bleiben Sie noch unser Gast, bis Ihre Gesundheit völlig wieder hergestellt ist. Sagen Sie nichts dagegen, ich weiß – ich wollte sagen, wir hören Sie nachts noch stark husten. Aber Sie sind Herr Ihres Schicksals, deshalb wollen wir, meine Mutter und ich, nur versuchen, Ihnen zu raten, wenn Sie das erlauben.«

Sie sah zu ihm auf. Oh wie gern erlaubte er das. Ihre Worte klangen ihm wie Musik. Und er wußte, daß er ihrer Klugheit und ihrem gütigen Herzen vertrauen durfte.

Er bat also um ihren Rat. Und sie riet ihm – sie und ihre Mutter, setzte sie ergänzend hinzu – vorerst noch seine Gesundheit besser zu kräftigen und ruhig in seinem Versteck zu bleiben, bis – ja, bis sie ihn eines Tages als einen zu Besuch gekommenen Verwandten aus der Schweiz offen präsentieren könnten.

Dann brauchte er nicht sein Leben wieder aufs Spiel zu setzen, um die luxemburgische Grenze zu erreichen. Dann könnte er bequem den zwar weiteren, aber sicheren Weg nach der Schweiz nehmen. Ihrer Tante in der Schweiz würde sie ihn schon empfehlen. Sie wollte auch mit dem Gemeindevorsteher reden, ob der sich zur Besorgung eines Passes verstehen würde.

Er schüttelte den Kopf, wehrte lächelnd, dankend ab.

»Nein, nein,« meinte er, »das hieße die Gefahr verdoppeln, für Sie selbst und auch für mich, falls etwas dabei mißlingt. Sie sollen um keinen Preis in die Gefahrzone hineingezogen werden. Dazu sind Sie mir zu,« er verbesserte sich, »dazu bin ich Ihnen zu dankbar.

Die Gefahr, in die ich mich begebe, soll niemand mit mir teilen. Ich allein will sie bestehen – oder allein unterliegen. Wenn es mir beschieden sein soll, in die Freiheit zurückzukehren, will ich ruhig Gottes Führung vertrauen, der mich ja auch hierher zu guten Menschen geleitet hat.

Morgen abend will ich mein Heil versuchen. In der bäuerlichen Kleidung wird mich niemand anhalten. Einen tüchtigen Stock erbitte ich mir noch – zum Stützen,« meinte er lächelnd, auf ihren fragenden Blick, »und – wenn es nötig sein sollte – um mich zu schützen.«

»Was Sie sagen,« entgegnete Marie-Anne, »ist schon alles recht und gut. Sind Sie erst einmal fort von hier, wird man wohl so leicht nicht darauf verfallen, in dem jungen Bauern einen entflohenen Allemand zu suchen. Es sei denn, daß sich nicht etwa ein Gendarm darüber wundert, wieso ein so junger, kräftiger Mann nicht in einer französischen Uniform steckt. Er wird Sie anhalten und fragen und ich fürchte, daß er Sie verhaftet, sobald er Ihr Französisch gehört hat.«

»Ich kann nicht länger hier bleiben. Ich zittere um Ihretwillen täglich, stündlich, daß nicht der Knecht oder eine der Mägde mich aufspürt. Was dann?«

»So muß ich Ihnen sagen. Sie müssen noch warten, bis man keinen Verdacht mehr hat.«

Reinhart war zusammengefahren. »Hat man den? Wie haben Sie das erfahren?«

»Ganz einfach. Callot, der Knecht, ist ein Schwätzer. In der Schenke sprach Brassard den Verdacht aus. Brassard ist ein Strolch, aber ein Spitzel der Polizei. Sie verstehen.

Die Chaussee nach Süden bewacht Brassard. Er hat nur ein Auge, sieht aber schärfer als mancher mit zweien, das ist gewiß. Ihn reizt die ausgesetzte Belohnung. Die Straße nach Soissons wird von der Polizei und Militärpatrouillen bewacht. Andere Wege in die Freiheit haben Sie nicht.

Seit ein paar Tagen, seit Callot geplaudert hat, beobachte ich selbst die Aufpasser.

Es ist so wie ich sagte. Sie müssen warten, bis der Verdacht mit der ganzen Affäre eingeschlafen ist. Je länger, je besser. Ihre Sache steht gut, wenn Sie Zeit gewinnen.«

Marie-Anne sah ihn erwartungsvoll an. Aber Reinhart schüttelte traurig den Kopf. Er dürfe keinen Tag mehr bleiben. Seine Gründe habe er genannt. Er danke für ihr liebreiches Anerbieten viel tausendmal. Sie häufe Guttat auf Guttat, die ihn tief zu Boden drückten.

Aber die Hoffnung, ihr in besseren, friedlichen Zeiten dereinst in anderer Form als mit bloßen Worten, danken zu können, bliebe noch. Und die erfülle ihn ganz. Er sage ihr nochmals herzinnigen Dank für alles. Morgen jedoch wolle er seine Flucht fortsetzen, sie möchte ihm nicht zürnen, wenn er ihr Anerbieten ausschlage.

»Gut, so leben Sie wohl.« Marie-Anne hatte sich erhoben und ihm die Hand zum Abschied geboten.

»So zürnen Sie mir?«

»Nicht doch. Ich verabschiede mich nur gleich von Ihnen, weil morgen kaum Gelegenheit dazu sein wird. Und – fast möchte ich glauben, daß Sie noch andere Gründe zu so eiligem Aufbruch haben! Gestehen Sie's nur.«

»Andere Gründe? Gewiß nicht. Und wenn einer vorhanden ist, so betrifft er mich allein. Sie glauben mir das?«

»Ich glaube Ihnen. Aber Ihr Vertrauen zu uns scheint doch nicht so groß zu sein, wie Sie stets betonten. Nun, gute Nacht. Und glückliche Reise. Wir werden Ihrer stets freundschaftlich gedenken. Uns – nicht wahr – sollen die Grenzlinien, die hassende Menschen gegeneinander errichten, nicht für immer scheiden?«

»Nie, nie«, beteuerte Reinhart. »Sie und ich, wir wissen jetzt, daß die alles versöhnende, allgemeine Menschenliebe keine abgesteckten Grenzen kennt. Wir haben uns achten und schätzen gelernt. Und Menschen mit solcher Gesinnung wollen nicht, daß dem Nachbar Böses geschieht.

Und wenn sich erst zwei Nachbarvölker so kennen gelernt haben wie wir, wenn sie sich achten und schätzen, werden sie die bisherige Methode der Annäherung durch Mord und Raub für immer aus ihrem Gedankenkreise verbannen. Das ist gewiß.«

»Wir wollen unsern Völkern als Beispiel dienen.«

»Das wollen wir«, wiederholte Marie-Anne mit Wärme.

»Der Himmel sei mit Ihnen. Ich werde für Sie beten.«

Sie schüttelten sich die Hände. Lange, lange hielt Reinhart die Hand Marie-Annes in der seinigen. Er wollte noch etwas sagen. Die Kehle war ihm wie zugeschnürt. Endlich gab er sie frei. So schieden sie.

Doch weder Reinhart noch Marie-Anne konnten einschlafen.

Was in Reinharts Herzen für seine Erretterin aus größter Not glühte, war das mächtige Gefühl grenzenloser Dankbarkeit. Ihr allein dankte er, daß er noch Freiheit, Leben und Gesundheit hatte. Ihre aufopfernde Pflege, ihre Güte, ihre edle Menschlichkeit retteten ihn vor dem Untergang, gaben ihn der Freiheit, seinem deutschen Vaterlande wieder.

Sein Leben gehörte Deutschland. Für sein geliebtes Heimatland wollte er es freudig hingeben, es nicht den schurkischen Feinden lassen.

Gewiß, wenn seine Flucht geglückt, wenn er wieder bei den Seinen war, er würde sofort wieder die Waffen ergreifen; vielleicht auch gegen Frankreich. Wer weiß – –.

Nie hatte sie ihn danach gefragt. Hatte sie Furcht, mit dem Gedanken an die schicksalsschwere Zukunft zu rühren?

In dieser mitternächtigen Stunde, wo ihn nur noch eine kurze Zeitspanne von Gefahr und Tod trennte, ließ er noch einmal die für immer in seiner Seele ruhenden Bilder der letzten Wochen vorüberziehen. Sein Ausbrechen aus dem Lager, seine Flucht im strömenden Regen, die mehr einem Dahinrasen glich. Einer stellte sich ihm entgegen, er warf ihn nieder. Das war der alte Etappenoffizier, von dem jener Leutnant, der die Verfolgungspatrouille führte, behauptete, der Boche habe den Offizier getötet.

Ha, dieser »Fall« würde ihm das Leben kosten, wenn man seiner habhaft würde.

O, wie oft er zusammenstürzte und weiter galoppierte, er möchte den furchtbaren Weg nicht noch einmal zurücklegen. Sein Herz, seine Lungen gaben schließlich nichts mehr her. Sein Kopf hämmerte zum Zerspringen. Da brach er zusammen. Beim Gehöft.

Er sah das Licht, sah Marie-Anne, – und wurde gerettet. Welch ein Erleben war das.

Dann die Rettung aus Krankheit und drohender Gefangennahme. Die rührende Pflege. Wie oft sprach er davon, nun sei es an der Zeit, sich davon zu machen.

Da hatte sie stets hold gelächelt und gesprochen: »Erst gesund werden. Bleiben Sie nur. Wir schützen Sie.«

Als es mit ihm besser ging, mußte er in mancher Stunde von Deutschland erzählen, von seiner Mutter, seinen Studien, seiner Zukunft.

Und sie gab ihm Kenntnis von ihrer freudlosen Jugend und von den herrlichen Jahren, in denen ihr Geist, ihre Urteilskraft erwacht war.

Wochen waren darüber vergangen. Wie ein anmutiger Traum erschien ihm nun alles.

Sein heißer Dank umfaßte das ihm widerfahrene Glück mit einem Wort: Marie-Anne! Und klarer denn je ward es in seinem Herzen, daß sein Gefühl der Dankbarkeit sich in das machtvollere glühendster Liebe für das anmutige Mädchen verwandelt hatte.

Er liebte sie. Aber auch das wußte er, daß seine Liebe hoffnungslos war. Er war ein Deutscher, sie eine Französin. Ihre Familie würde gegen eine solche Verbindung sein, vorausgesetzt, daß Marie-Anne seine Werbung mit einem »Ja« beantworten würde.

Aber auch die Seinen daheim würden sie als Landesfeindin nicht willkommen heißen.

Seine Zukunft lag dunkel vor ihm. Der Tod blieb sein ständiger Begleiter. Durfte er ein Herz an das seine ketten, um es an seinem unglücklichen Schicksal zugrunde zu richten?

Er wußte es nicht, aber er ahnte es, daß er Marie-Anne nicht gleichgültig war. Mitleid und Erbarmen hatten für den Verfolgten in ihrem Herzen gesprochen und längst zu seinem gesprochen. Die ganze zärtliche Liebe, deren ihr Herz fähig war, hatte sie Reinhart zugewandt.

Er wußte nicht, wie sehr sie ihn liebte. Aber sie erkannte auch die Widerstände, die sich einer Vereinigung mit ihm entgegenstellten.

Beide liebten einander, ohne es sich zu gestehen. Beide erkannten die Aussichtslosigkeit ihrer Wünsche.

Darum wollte Reinhart rasch fort, als er den unglücklichen Zustand seines Herzens gewahr wurde.

Und Marie-Anne? Sie glaubte zu wissen, weshalb er fort wollte. Seine Beweggründe achtete sie, – im stillen glaubte sie den wahren Grund seiner Eile erraten zu haben.


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