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Die lustige Witwe

Eine Stunde war verstrichen, seit Kikimora sich die Freiheit errungen hatte, und schon war sie ganz verwandelt. Sie war heiteren Gemüts und sehr unternehmungsfroh. Deshalb dehnte sie ihre Schwingen und flog einmal um die Insel. Ihr Ruf war ein hexenmäßiges Jauchzen. Die Wachteltöter in den Ölgärten horchten auf. Und der Schuster aus der Grande Marina wunderte sich, daß außer seiner verhätschelten Kikimora noch eine ihrer Art sich hierhergefunden hatte. Aber – Kikimora war ganz allein in der nächtlichen Einsamkeit. Und sie wußte nun: nicht ihr liebenswürdiges Wesen hatte die kleinen Tagvögel bezaubert – sie waren ganz einfach noch mit keiner ihrer Sippe zusammengetroffen. Sie wußten wenig von dem Haß, mit dem das vergnügte Sonnenvölklein die Gevatterin aus der Nacht verfolgte.

Allein! Schade. Die Ruine auf dem Felsen des Tiberius wäre eine recht romantische Wohnung gewesen! Und einer neuen glücklichen Ehe war Kikimora keineswegs abgeneigt. Freilich unter solchen Umständen war das Heiraten eine mächtig schwierige Sache. Selbst für eine so erfahrene und hübsche Witwe. In erster Linie gehörte dazu ein Mann. Unbegreiflich, daß es auf diesem blühenden Fels im Meer so etwas nicht geben sollte!

Sie durchforschte von Mitternacht bis morgens die ganze Insel.

Und dann ließ ein Wachtelhahn seine Morgenglocke klingen. Ganz leise versickerte die Nacht. Kikimora schwang sich vom Kastell des Tiberius, wo sie eine Weile geruht hatte, hinab ins Gebüsch. »Nun, wie haben Sie geschlafen?« fragte sie eine Wachtelhenne.

»Danke, den Umständen nach recht gut. Und heute wollen wir noch nach Afrika! Es ist schrecklich.«

Der Marschall der Wachteln blies das Signal »Sammeln!« Es war schon lichte Dämmerung geworden. Und bald darauf strich Kikimoras neue Freundin inmitten eines geräuschvollen Schwarms von hinnen.

Kikimora aber ging im Kastell des Tiberius zur Ruhe. Wunderhübsch war das hier, so hoch über der Welt! Wenn sie einmal erwachte, spannen sich ihre Gedanken weiter. Bald wollte der Wunsch Entschluß werden, hier in beschaulichem Alleinsein zu leben. Bald wieder drängte ihr jugendliches Herz hinaus in die Ferne. Und als es Abend ward, flog sie nach Neapel. Während der Nacht streifte sie über Gärten und über dem Häusermeer herum. Als der Tag graute, setzte sie sich in eine Pinie zur Rast. Ein bißchen mißvergnügt.

Sieh da, sieh da! Ein Starenpärlein strich über den Wipfel ihres Baumes und schwang sich unfern auf einer Pinie ein.

Stare hatte sie seit ihrem Abschied aus der deutschen Heimat nicht mehr gesehen. Wundervoll, wie ihr das nun ans Herz rührte! Augenblicklich schwebte sie hinüber.

»Ich wünsche Ihnen einen recht schönen guten Morgen!« sagte sie in tiefer Beglückung. »Wohnen die Herrschaften hier?«

Zunächst wurde sie mit einigem Mißtrauen betrachtet. Aber ihre natürliche Liebenswürdigkeit besiegte die Bangigkeit.

»Sie stehen bei uns Sonnenpilgern zwar nicht in bestem Rufe,« sagte der Star, »doch wie kommt es denn, daß Sie sich in dieser Stadt vertrauensvoll über die Grenzen des Tages wagen?«

Kikimora erzählte ihre Geschichte. Das war nun schon so oft geschehen, daß sie gelernt hatte, ihre Erlebnisse in wenige Worte zusammenzufassen.

»Großartig!« sagte der Star. »Aber rücken Sie gefälligst ein wenig mehr in die Dämmerung zwischen den Ästen! Wir sind nämlich hier in Neapel. Leute im Federrock kommen zwar mitunter hier herein, aber hinaus kaum jemals wieder. Was uns anbelangt, so sind wir nur auf der Durchreise. Wir hofften, im Schutze der Nacht die Stadt zu überfliegen und das Land zu verlassen. Leider ist uns das nicht gelungen. Italien ist nämlich eine äußerst gefährliche Gegend. Wir sind auf dem Wege nach Afrika. Florian ist mein Name. Und dies ist Flora, meine Frau.«

Kikimora stellte sich vor. Im Schutze des breiten Pinienschirmes wurde die Unterhaltung im Flüsterton geführt. Ganz gegen die Gewohnheit der Stare. Zum Glück stand der Baum in einem Villengarten. Hohe Zypressen ragten wie Säulen ringsherum. Florian und Flora waren sehr italienkundig. In einem Heere waren sie über die Alpen gefahren. In den Weingärten aber hatten die Menschen diese fröhlichen Scharen zerschlagen. Die meisten waren tot. Und die wenigen Pärlein, die übriggeblieben, suchten sich so schnell wie möglich über das Meer zu retten. Eine traurige Geschichte!

»Ja ja,« sagte Florian, »wenn Sie mit heiler Haut aus diesem Lande kommen, dann können Sie von Glück reden! Am besten ist es, Sie übertagen in hohen Bäumen draußen in der Campagna. Von kleinen Vögeln werden Sie hier kaum belästigt.«

In freundlichem Plaudertone wurde das Gespräch geführt bis hinein in den hohen Tag. Flora war eingeschlafen. Müde war sie gewesen, und sie hatte nach den Erlebnissen der italienischen Reise ein verängstigtes Herz.

Nun, Kikimora hatte sich das alles anders gedacht.

»Ich bin Ihnen sehr verbunden,« sagte sie, »unsere Bekanntschaft ist für mich von weittragender Bedeutung. Ich wollte nämlich wirklich ein bißchen abenteuern in diesem Lande; denn ich bin so froh, endlich wieder einmal Herrin meiner Freiheit und meiner Flügel zu sein. Aber nun will auch ich mich so schnell als möglich aus dem Staube machen.«

»Das tun Sie mal!« rief ihr Florian zu. Er beschrieb ihr den Weg nach Deutschland. Dann weckte er seine Frau. »Florchen,« sagte er, »so leid es mir tut, mir müssen aufbrechen. Ich denke, wir erreichen vor Sonnenuntergang die afrikanische Küste, wenn wir uns recht sputen. Viel Glück auf die Reise, liebe Frau Kikimora! Vielleicht sehn wir uns einmal wieder in Deutschland. Das würde uns wirklich sehr freuen! Ade! Ade!«

Damit schwangen sich die Stare hinaus in den blinkenden Tag.

Sehr nachdenklich saß Kikimora. Sie wußte nun, wie es um diese Zeit in Deutschland aussah. Der beredte Florian hatte ihr ein ganz anderes Bild von den Witterungsverhältnissen geben können als die Wachteln auf Capri. Sie sagte sich: es war für sie die beste Zeit, daheim einzutreffen. Sie konnte jetzt droben im nordischen Tannenlande in der Wahl des Gatten recht vorsichtig sein. Im Frühjahr, bei dem starken Andrang, war das schwieriger. Na, und überhaupt …

Ohne Säumen begab auch sie sich auf die Reise. Begegnungen wie die im Garten von Neapel mied sie durchaus. Am dritten Abend traf sie in einem sächsischen Bergwald ein.

Es war da schon recht winterlich. Weit und breit war zwar keine Menschenwohnung, wie sie das gern hatte, aber es gab vortreffliche Unterkünfte in hohlen Bäumen. Der Wald war wie ausgestorben; nur von ihrer Sippe traf sie viele an. Sie war auch hier gleich wieder die interessante Frau, denn Leute mit solchen Erlebnissen waren nicht häufig.

Sie bezog eine sehr alte Eiche. Dafür hatte sie vom Moor her eine Vorliebe. Und nach ein paar Tagen – sie traute ihren Ohren nicht – sang einer auf dem Nachbarbaume:

»Da drüben an der Ecke,
Wo die Omnibusse stehn,
Da wohnt die schöne Witwe,
Ja, die müssen Sie mal sehn.
In ihrem kleinen Laden,
Da liegt Musik darin,
Wer einmal dort gewesen,
Geht immer wieder hin.«

Nun, selbst für Kikimora war das ein ganz unerhörtes Ereignis! Man muß bedenken: ein Wald auf dem Gebirge! Der Wind rauschte im welken Laube, das noch an den Zweigspitzen hing, und rauschte in den finsteren Fichten. Alle Vogelstimmen schliefen. Nur ein Goldhähnchen wisperte hin und wieder hoch oben in einer Baumkrone. Und mitten im wintertoten Walde dieser vergnügte Sänger, der ein Lied auf die lustige Witwe zum besten gab!

Kikimora guckte zum Fenster hinaus. Da wiegte sich ein Gimpel auf dem Zweig einer bärtigen Fichte und drehte sich wie ein lyrischer Tenor vor dem Spiegel, wenn er eine Glanzrolle studiert.

»Ausgezeichnet!« rief sie. »Ganz ausgezeichnet, junger Mann!«

»Das will ich meinen,« sagte der Gimpel. »Dafür komm' ich auch gerade vom Konservatorium.«

Er war einem Spielwarenschnitzer entflogen, der sich im Nebenamte mit der Abrichtung gefangener Vögel ein paar Groschen verdiente.

»Ich heiße Hans Sachs,« begann der Gimpel wieder. »Wie Sie gehört haben, bin ich ein Meistersinger.«

»Ich habe fast die halbe Welt bereist,« entgegnete Kikimora, »aber ich muß Ihnen gestehen: so etwas ist mir noch nicht vorgekommen. Sie verstehen Ihre Sache prächtig.«

Sie war von jeher beflissen, sich mit den Tagvögeln in ein freundschaftliches Verhältnis zu setzen. Und sie hatte damit Glück. In Capri hatte man von dem alten Hasse gegen ihr Geschlecht wenig gewußt; die Stare im Villengarten von Neapel waren an sich verträgliche Gesellen gewesen; und dieser Meistersinger war unter Menschen aufgewachsen und stand dem Wald und seinen Bewohnern mit kindlicher Einfalt gegenüber.

»Es ist ein bißchen kühl hier,« sagte er zu Kikimora, »und es geht eine recht scharfe Luft auf dem Gebirge. Aber es ist doch ein ganz anderes Dasein!« Und ›Freiheit, die ich meine‹ begann er zu pfeifen. Das klang, als flöte ein Mensch rein und voll seine Begeisterung durch den spätherbstlichen Wald.

Die Unterhaltung war damit in bestem Gange. Natürlich lockte Hans Sachs alle Eulen der Umgegend heran. Im Dämmerdunkel des hohen Nadelholzes brauchten sie um diese Jahreszeit nicht zu befürchten, daß sie einen Auflauf verursachten. Kikimora stellte den Meistersinger im roten Röcklein als ihren Freund vor.

Zu ihrer Genugtuung bemerkte sie: die Teilnahme für sie selber war bei weitem größer unter den Käuzen, die herangekommen waren, den Sänger zu bestaunen. Ihre Überlegenheit trat auch hier wieder sofort in die Erscheinung. Der Kammermusikant, den sie mit sich führte, setzte zwar in Erstaunen, doch fehlte den grauen Nachtwanderern das Maß, seine Kunst richtig einzuschätzen. In stärkerem Grade bewunderte man Kikimoras Erlebnisse; denn keiner von den Käuzen hatte den Bergwald bisher verlassen. Etliche hatten noch nicht einmal ein Menschenhaus gesehen.

Natürlich war Kikimora sehr umworben. Gleich in der ersten Nacht gab es bei mäßigem Hochlandsturm einen Rundflug durch die Bergnebel. Alle Käuze hatten sich vereinigt, den heulenden Wind im Walde zu überschreien. Es war grauenhaft schön. Kikimoren ging das Herz dabei auf. Oh, wie hatte sie sich gesehnt nach solch einer herrlichen deutschen Herbstnacht, durch die der wilde Jäger reitet!

Hans Sachs konnte da freilich nicht mithalten. Er trieb sich den Tag über in den Ebereschen herum. Die hingen noch voll korallenroter Beeren. Und bald brachte er ein junges Gimpelfräulein mit. Die hatte ihr Grauseidenes an. Sie wohnten in der großen Fichte. Und wenn sie miteinander ausgingen, das war schön! Als trieben die ernsten Bergbäume zwei bunte Blüten! Oder als träumten die einen märchenschönen Traum!

Kikimora ließ sich von Hans Sachs vor ihrem Häuschen hin und wieder eins aufspielen. Darauf beschränkten sich allerdings ihre Beziehungen. Aber der Meistersinger war durch sein Glanzlied doch die Ursache geworden, daß sie gleich einen großen Bekanntenkreis hatte. Und das gefiel ihr außerordentlich. Von ihren Verehrern dachte mancher daran, im Februar Hochzeit mit ihr zu halten. Aber sie gab keinem ihr Jawort. Die Herren Käuze bemühten sich in dieser Jahreszeit noch nicht genügend, ihre Vorzüge zur Geltung zu bringen. ›Und man soll in einer so wichtigen Sache nicht leichtsinnig sein‹ dachte Kikimora.


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